Gegenwind - Sonja Voß-Scharfenberg - E-Book

Gegenwind E-Book

Sonja Voß-Scharfenberg

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Beschreibung

Er hatte gesagt, er werde nicht wiederkommen, als sie meinte, er könne doch bleiben über Nacht. Er hatte es ihr gleich gesagt, dass er nicht wiederkommen werde. Und sie solle es gut machen. Was es? Das Leben? Und gut ist gut. Wie man das machen soll, allein, möchte sie wissen. So lesen wir in der ersten dieser Geschichten von kleinen Leuten, denen die Windverhältnisse nicht so günstig sind und die in ihrem Leben mit Gegenwird zurechtkommen müssen – was ihnen mal besser, mal schlechter gelingt. Und nachher kennen wir diese Menschen, ihre Träume und ihre Wünsche und ihren täglichen Kampf um ein gutes Leben ein bisschen besser. Da ist die Frau, die sich einen Mann wünscht, einen richtigen Mann, und ein Kind, und die sich dann eine Puppe kauft, um zumindest jemanden für sich zu haben. Da ist der Mann, den sie „Millionen-Pappe“ nennen, weil er mit dem Geld macht, was andere wegschmeißen. Da ist die Frau, in deren Ehe scheinbar alles stimmt. Nur manchmal aber würde sie weglaufen, wenn sie die Kinder nicht hätte. Dabei weiß sie gar nicht, ob sie es aushalten würde. Da ist die Geschichte mit dem Besuch aus dem Westen und wie sich alle verstellen, damit es mit den Geschenken klappt. Da ist die Geschichte von der Frau, die den Charakter von Menschen daran erkennt, was sie in ihre Papierkörbe im Büro werfen: Wegen Kanarecki bleib ich. Da ist die Geschichte von dem Mann, der dank einer Amnestie eher wieder freikommt und sich nur schwer gegen seine alten kriminellen Freunde wehren kann. Da ist der alte Lehrer Weinzieher, den die meisten Leute für einen Eigenbrötler halten. Bei einer Beerdigung kommen sehr unterschiedliche Ansichten über einen Bruder zutage. Und ein Junge denkt etwas ganz anderes über seinen Vater. Ein Silberpaar hat kurz vor dem Jubiläum Schwierigkeiten. In der mecklenburgischen Kleinstadt Menzlin gibt es einen Skandal und eine Frau zieht weg. Deswegen. Ein Golf-Fahrer hat ein gutes Gefühl. Ein Kind denkt zur Jugendweihe über sein Leben nach und freut sich, dass es jetzt so viel Geld hat: Ich werde mir ein anständiges Fernsehgerät kaufen. Dann brauche ich überhaupt nicht mehr ins Wohnzimmer. Ein Mann wird verhaftet und schreibt seiner Frau Briefe. Ein Junge hilft seiner Mutter beim Postaustragen und ist neugierig. Eine Wette sorgt für Ärger. Eine Frau ohne Mann hat eine Idee. Eine andere Frau muss noch viel von ihren Kollegen lernen. Und außerdem berichtet jemand aus seinem Leben. Gegenwind-Geschichten. Spannend.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Impressum

Sonja Voß-Scharfenberg

Gegenwind

Geschichten

ISBN 978-3-96521-734-8 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien 1990 im Verlag Neues Leben Berlin.

© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Puppenspaß

Mit dem schmuddeligen Abwaschlappen wischt sie die Abendbrotkrümel vom abgenutzten Wachstuch. Sie brüht sich einen Kaffee. Nur schwach, wegen des Herzens. Im Fernsehen haben sie gesagt, Kaffee schadet nicht, aber die Leute sagen’s. Und denen im Fernsehen kann man nicht alles glauben. Besonders in der Politik nicht. Aber ihr ist das egal. Wenn bloß Frieden bleibt.

In der Zeitung steht jeden Tag was von Frieden. Sie liest es nicht. Es ist ihr zu lang, und es macht ihr angst. Sie liest das Fernsehprogramm und wer gestorben ist und natürlich die Heiratsannoncen.

Bei der Zeitung haben sie gesagt, es heiße Inserat, als sie so eine Annonce aufgeben wollte. Da hat sie sich nicht mehr getraut. Vielleicht geht sie mal zu einer anderen Zeitung und sagt es gleich richtig. Sie weiß ja jetzt, dass es Inserat heißt.

Sie mag gern Fremdwörter sagen, wenn sie weiß, was sie bedeuten. Aber Inserat mag sie nicht. Weil es so peinlich war. Bei der Zeitung.

Kann sein, dass sie noch einmal auf so eine Annonce antwortet. Mal sehen, wenn ein Behinderter jemanden sucht. Aber auch damit ist sie schon reingefallen.

Den Tag vergisst sie nicht, an dem sie aufgeregt zwei Stunden zu früh auf dem Bahnhof war.

Fünf Briefe waren zwischen ihr und Wolfgang Plettner hin- und hergegangen. Fast jedes zweite Wort ihrer Briefe hatte sie im Duden nachgesehen. Nur mit den Kommagesetzen ist sie nicht klargekommen. Alles, was hinten im Duden steht, ist ziemlich kompliziert und lateinisch, glaubt sie, ausgedrückt. Aber sonst ist der Duden ein gutes Buch.

Unter Inserat hat sie damals dort auch nachgelesen. Es steht, das ist eine Anzeige in der Zeitung. Das steht unter Annonce auch. Annonce hat sie lange nicht gefunden, wegen der zwei n. Sie hat schon gedacht, es steht nicht drin. Der Duden ist doch dazu da, um nachsehen zu können, wie ein Wort geschrieben wird. Wenn sie das vorher wissen muss, um es zu finden, braucht sie nicht mehr nachzusehen. Aber sonst ist der Duden ein gutes Buch.

Zwei Stunden war sie zu früh auf dem Bahnhof. Natürlich konnte sie nicht so lange stehen.

Nichts kann sie. Nicht einmal zwei Stunden lang stehen. Manchmal lässt sie das Rheuma gar nicht aus dem Bett. Und an ganz schlimmen Tagen schafft sie es kaum bis zur Toilette.

Natürlich hatte sie dem Wolfgang Plettner geschrieben, dass sie dick ist. Vollschlank, hatte sie geschrieben. Dabei ist sie viel dicker als vollschlank, aber wie drückt man das aus?

Ein Bild freilich hat sie nicht geschickt. Sie lässt sich nicht fotografieren. Es gibt kein Bild von ihr. Nicht einmal eins aus ihrer Kindheit. Mutter hat sie auch nie fotografieren lassen. Weil sie immer schon so dick war. So dick und so krank und so entsetzlich langsam.

Sie hatte sich auf eine Bank auf dem Bahnsteig gesetzt. Im nagelneuen Umstandskleid. Sie kauft immer in der Abteilung für Umstandssachen. Frau Westphal sagt ihr Bescheid, wenn etwas Billiges gekommen ist. Mit der Invalidenrente kann sie keine großen Sprünge machen.

In die Mitropa hatte sie sich nicht getraut. Wegen der Besoffenen. Es war abgemacht, sie würde an der Treppe stehen. Sie wusste nicht, was man sagt, wenn man sich kennenlernt. Sie würde seine Tasche nehmen, weil er die Hände brauchte für die beiden Krücken. Motorradunfall.

Wenn er ihr doch ein Bild von sich geschickt hätte. Dann hätte sie es gleich gesehen. Nicht, dass das Bein fehlte, das hatte sie ja gewusst. Aber dass er aussah wie einer der Männer, die sie immer als Draufgänger für die Abenteuerfilme nehmen. Schon als er aus dem Zug ausstieg, war sie enttäuscht, weil er so hübsch war. Zu hübsch.

Wie rot er geworden war, als er sagte, er sei nicht Wolfgang Plettner, es tue ihm leid. Er habe hier nur Aufenthalt.

Einen kurzen Moment war sie froh, weil die Anspannung in ihr erlosch. Aber dann ging sie nach Hause, packte das neue Kleid und die Briefe sorgfältig in einen Karton, verschloss ihn im Kleiderschrank und sah sich ab und zu im ungewohnt aufgeräumten Zimmer um.

Das Zimmer ist sonst nie aufgeräumt. Auch jetzt nicht, da sie am Tisch mit dem abgenutzten Wachstuch sitzt und den schwachen Kaffee in der Tasse noch dünner rührt. Wozu soll sie aufräumen, für wen? Wozu das Bettzeug von der Liege nehmen. Es fällt ihr ohnehin schwer, sich zu bücken, die Zudecke unten im Schrank zu verstauen.

Zuerst, als sie hier eingezogen war, hat sie es weggeräumt. Aber es kommt doch niemand. Vater höchstens im Herbst. Einmal, wenn sie Geburtstag hat. Dann kommt Vater, und dann räumt sie auf. Sonst kommt niemand.

Ihr ehemaliger Schwager ist auch weggeblieben, seit er glaubte, sie hätte seine Besuche als Antrag gewertet. Was sollte sie denn davon halten, als er nach der Scheidung von der Schwester immer zu ihr kam. Reden wollte er. Reden, reden.

Manchmal hatte sie sogar Angst, dass sich ihre leise Hoffnung erfüllen könnte. Es ist ja viel einfacher, sich etwas zu wünschen, als das Gewünschte plötzlich zu besitzen und damit fertig zu werden.

Jedenfalls hatte er gesagt, er werde nicht wiederkommen, als sie meinte, er könne doch bleiben über Nacht, brauche nicht nach Hause zu fahren mit dem Bus. Er hatte es ihr gleich gesagt, dass er nicht wiederkommen werde. Und sie solle es gut machen.

Was es? Das Leben? Und gut ist gut. Wie man das machen soll, allein, möchte sie wissen.

Es ist schon lange her, das mit dem ehemaligen Schwager. Und ein anderer Mann hat sie noch nie besucht. Weggehen? Tanzen vielleicht? Manchmal, wenn sie eine Flasche Bowlewein trinkt — einmal im Monat, wenn’s Rente gibt —, da hat sie Lust zu tanzen, probiert es auch aus, wenn der Fernseher oder das Radio Schlager bringt. Vorsichtig, wegen der Dielen und weil sie sich nur so schwerfällig bewegen kann.

Nur aus Puppenspaß. Die Kinder auf der Straße haben das früher immer gesagt: „Ach, lasst sie doch mitspielen. Aus Spaß. Bloß aus Puppenspaß.“

Wenn sie beim Versteckenspielen gefunden oder beim Greifen gegriffen wurde, dann war das nicht so schlimm. Sie wurde sowieso immer sofort gefunden. Meistens kam sie gar nicht erst dazu, sich zu verstecken, weil sie nicht laufen konnte. Und wenn sie wirklich ein Versteck hatte, kam sie heraus, bevor der Letzte gefunden worden war. Es hätte sie auch niemand gesucht.

Manchmal denkt sie, ihr ganzes Leben ist bloß Puppenspaß.

Den Kaffee hat sie nun kalt gerührt. Sie würde gern rauchen. Aber Frau Dr. Schmuhde hat mehr als nur abgeraten. Sie hat es ihr verboten. Streng. Das war schön, weil es sich anhörte, als hätte die Ärztin Angst um sie. Ärzte müssen jeden mögen. Jedenfalls müssen sie so tun. Dr. Schmuhdes Bonbonschublade ist längst für sie passé. Würde auch komisch sein, wenn sie mit achtundzwanzig Jahren immer noch ein Bonbon bekäme, nur weil sie nicht geweint hat. Die Spritzen merkt sie sowieso nicht. Und weinen, glaubt sie, kann sie auch nicht mehr.

Sie weiß nicht genau, wann das war, da hörte das plötzlich auf mit den Bonbons, und Frau Dr. Schmuhde sagte, sie solle doch nun in die Erwachsenensprechstunde kommen. Vielleicht hätte andere das stolz gemacht, aber sie war ganz krank geworden davon. Und manchmal bringt sie sich heute selbst ein Bonbon mit, wenn sie zur Ärztin geht.

Das Zimmer müsste geheizt werden, der Abwasch erledigt und … Aber was macht sie, wenn alles aufgeräumt ist? Seit der Enttäuschung mit Wolfgang Plettner kann sie ein aufgeräumtes Zimmer nicht mehr ertragen.

Überhaupt, seit Plettner ist sie desillusioniert. Das Wort hat sie auch im Duden entdeckt, zufällig. Es ist ein wichtiges Wort. Sie hatte es auf einen Zettel geschrieben mit dicken roten Buchstaben und ihn unter die Glasplatte auf den Rauchtisch gelegt. Dort liegt ein Zettel mit einem Fremdwort so lange, bis sie das Wort nicht mehr vergisst. Dann wird er ausgewechselt.

Nur der Zettel mit dem deus sive natura, der bleibt. Sie ist nicht ganz sicher, ob sie das in der Radiosendung so schnell richtig verstanden hat, für sie bedeutet es soviel wie „Gott ist die Natur“. Und es erinnert sie an ihren ersten Zweifel an Gottes Existenz.

Auf dem Spielplatz, die beiden Schaukeln surrten durch die Luft. Die Mädchen waren aus der Großstadt hier zu Besuch bei ihrer Oma.

Sie sangen zu ihrer Schaukelei lauthals irgendwelche Schlager, die sie, Monika, nicht kannte. Sie saß neben dem Gerüst und sah und hörte zu. Die Mädchen wollten sie am Sonntag mit ins Kino nehmen. Noch nie hatte sie jemand mitnehmen wollen, und dann noch ins Kino.

Aber sonntags war eben auch Gottesdienst. Auf gar keinen Fall würde Oma zulassen, dass ihre Enkelin nicht hinging. Das war nicht ganz so schlimm, aber Gott. Und Gott, würde der nicht merken, dass sie im Kino und nicht in der Kirche war? Und Gott war doch der einzige, den sie hatte.

Sie weiß noch genau, wie das jüngere der beiden Mädchen von der Schaukel sprang, als Monika sagte, sonntags sei Gottesdienst.

„Was denn, du glaubst an Gott? Den gibt’s doch gar nicht.“

Gott sollte es nicht geben? So einen Unsinn hatte sie noch nie gehört.

„Natürlich. Er ist da. In der Kirche, abends im Bett, hier, überall.“

„Hier, sagst du, wo denn, hier? Und wie sieht er aus, der Gott?“

Wie er aussah, das wusste sie nicht genau. Sie hatte ihn immer so ähnlich wie einen Feuerteufel gesehen.

Das Lachen der beiden war nicht so schlimm, aber die Frage des älteren Mädchens, ob nicht der Teufel, sogar ein Feuerteufel, das Gegenstück zu Gott sei.

Sie verstand das mit dem Gegenstück nicht gleich. Aber Teufel, wie hatte sie Gott als Teufel sehen können? Gott war der einzige, den sie hatte.

Oma hatte ihr dann Bilder gezeigt, auf denen Gott in Menschengestalt zu sehen war, aber er sah überall anders aus. Und in der Schule wurde kein Wort über Gott gesprochen. Jedenfalls nicht bis zur achten Klasse.

Irgendwann später ist sie in dieser Radiosendung auf das deus sive natura gestoßen. Es gefällt ihr, weil es Gott nicht ganz ausschließt. Weil jeder Mensch Gott braucht, ob er ihn nun mit der Natur gleichsetzt, als einen Feuerteufel sieht, als mageren Kerl in vornehmer Blässe oder was weiß sie. Sie weiß nur, dass jeder Mensch einen Gott braucht.

Wenn sie einen Menschen hätte, das wäre natürlich schöner. Vielleicht sollte sie wieder in die Kirche gehen. Die Menschen, die in die Kirche gehen, kümmern sich umeinander. Das erlegt Gott ihnen auf. Und es ist eine gute Pflicht.

Außerhalb der Kirche gibt es niemanden, der sich um sie kümmern müsste. Für die Volkssolidarität ist sie noch viel zu jung, und für ein Pflegeheim ist sie Gott sei Dank nicht pflegebedürftig genug. Aber es gibt außerhalb der Kirche niemanden, der sich um sie kümmern müsste. Vielleicht sollte sie deshalb doch wieder dorthin gehen. Aber an manchen Tagen fühlt sie sich ganz gesund. Wenn sie jemanden hätte oder irgendetwas, worum sie sich kümmern könnte, noch viel hilfloser als sie selbst. Sie könnte dann zeigen, dass sie gut sein will zu einem anderen.

Sie merkt schon, obwohl sie es nicht will, es kommt immer wieder in ihr hoch. Ein Kind. Aber ein Kind braucht ständig jemanden. Was, wenn sie an ganz schlimmen Tagen kaum bis zur Toilette kommt? Und woher soll sie auch ein Kind nehmen? Sie kann keines bekommen. Auch dann nicht, wenn sich jemand fände.

Schon als sie noch ein Kind war, hat sie sich abends im Bett eine richtige Babypuppe erträumt, die man warm anziehen kann und baden und ausfahren in einem Puppenwagen mit einem Verdeck, das man hochklappen kann, wenn es regnet.

Der Traum ist nie in Erfüllung gegangen. Nach Mutters Tod war Vater froh, dass er für seine Tochter nähen lassen konnte, weil es für ihre Figur nichts zu kaufen gab. Und die Schwester sollte das Abitur machen. Auch ohne Mutter musste sie das schaffen, war Vaters Devise. Monika nimmt es ihm nicht übel, dass sie oft vergessen wurde. Er kommt ja zu ihrem Geburtstag. Im Herbst. Einmal. Aber eine Babypuppe und einen Puppenwagen mit einem Verdeck, das man hochklappen kann, wenn es regnet, hätte sie gern gehabt.

Und wenn sie sich jetzt … Ihr wird ganz heiß vor Freude und Scham. Die Leute würden denken, sie sei verrückt. Aber sie brauchten es ja nicht mitzubekommen. Auf den Wagen und das Ausfahren müsste sie verzichten, aber wenn sie sich jetzt eine Babypuppe …

Nein, sie wird sich einen frischen Kaffee brühen und Zigaretten kaufen, damit sie besser nachdenken kann.

Das Bettzeug hat sie heute doch weggeräumt, war im Spielzeuggeschäft, nur mal gucken, war Zigaretten kaufen. Jetzt sitzt sie am Rauchtisch und sieht sich im Zimmer um. Es müsste renoviert werden, dringend. Und wenn man den Schrank so stellt, dass er den Raum teilt, könnte man dahinter ein Körbchen verstauen. Man sieht es dann nicht gleich, falls doch jemand kommt.

Ob sie das wirklich machen soll? Sie könnte weiße Wolle besorgen und etwas stricken. Kaufen muss sie das Baby in der Bezirksstadt. Der Taschner vom Spielzeuggeschäft würde fragen, für wen, weil er sie doch kennt. Unbedingt muss sie zur KWV, dass das Zimmer gemacht wird, und einen neuen Ofen braucht sie auch.

Einhundertfünfzig Mark müssten reichen für die Fahrt in die Bezirksstadt, die Puppe und ein paar Babysachen. Einhundertfünfzig Mark. Wenn sie jeden Monat fünfzig Mark zurücklegt, könnte sie im April fahren. Wenn aber die Handwerker noch kommen? Man muss ihnen Frühstück machen und Zigaretten geben, sonst beeilen sie sich nicht. Trotzdem, in spätestens vier Monaten müsste sie das Geld zusammenhaben. Die Puppe soll aussehen wie ein richtiges Baby, nicht mit solchen Kunsthaaren. So eine, wie sie beim Taschner gesehen hat für dreiundsechzig Mark achtzig. So eine. Nur beim Taschner kann sie sie nicht kaufen, weil der doch fragen würde. Und es ist besser, wenn es niemand weiß.

Andere sprechen mit ihrem Vogel oder Hund und tun so, als verstünde das Tier, was sie sagen. Die Leute finden das normal. Sie findet es besser, wenn eine einsame Frau mit einem Puppenwagen auf der Straße Spazierengehen würde als etwa mit einem Hund an der Leine.

Sie will nicht für verrückt gehalten werden, und deshalb wird sie das lassen mit dem Wagen. Und das mit der Puppe braucht niemand zu wissen.

Wenn sie die zweihundert Mark in der Sammeltasse anbrechen würde, könnte sie gleich morgen fahren. Die zweihundert Mark sind für den Notfall.

Wer weiß, ob es die Puppe in vier Monaten noch gibt. Sie darf nicht so lange warten. Sie will die für dreiundsechzig Mark achtzig, die sie beim Taschner gesehen hat und die aussieht wie ein richtiges Baby.

Wenn sie sie morgen kauft, muss sie heute noch alles sauber machen, den Wäschekorb vom Boden holen und zwei Couchkissen neu beziehen. Später wird sie eine Matratze für den Korb kaufen und ein neues Kopfkissen als Federbett.

Ein Kind braucht seine Ordnung.

Liegfeldt

Der Liegfeldt bin ich.

Die Leute sehen mich mitleidig oder geringschätzig an. Andere nennen mich „Millionen-Pappe“. Natürlich habe ich keine Millionen. Ich komme aus.

Wenn Rosi mit eingestiegen wäre, würde es noch besser gehen. Aber sie wollte im Werk bleiben am Band. Na gut. Ich gehe an drei Tagen in der Woche. Mittwochs in der Altstadt. Dort aber nur außerhalb der Heizperiode, weil sonst die Container voller Asche sind, meistens ganz verqualmt. Am Wochenende immer im Neubaugebiet. Da räumen die Leute auf. Und was sie alles wegschmeißen! Heile Tassen. Einzelstücke. Da habe ich schon zweimal Glück gehabt und beim An- und Verkauf fünfunddreißig, einmal sogar siebenundfünfzig Mark bekommen. Die Leute sind zu bequem. Sie bringen kaum etwas weg. Obwohl bei den Sekundärs die Preise erhöht wurden, hat sich trotzdem nicht viel geändert.

Wenn es überhaupt eine Konkurrenz für mich gibt, dann sind das die Kinder. Aber die sind nicht sehr ernst zu nehmen. Größtenteils schaffen sie bloß den eigenen Kram weg. Nur wenige suchen wie ich.

Ich jage sie nicht weg, wenn wir uns an einem Container begegnen. Sie gehen von allein. Vielleicht wegen meiner Ausrüstung. Ich trage einen Trainingsanzug und ’ne Joppe darüber. Große Handschuhe. Das ist bei mir Arbeitsschutz. Wegen der Hygiene.

Nach jeder Tour dusche ich gründlich und ziehe mich ordentlich an, wie jeder andere nach Feierabend auch. Rosi hat nichts gegen meine Arbeit, weil ich mein Geld mache.

Beim alten Janke zieht die Frau voll mit. Die laufen los mit Zweiradkarren und schaffen eine Menge weg.

Ich hab einen Kinderwagen ohne Verdeck. Den habe ich auch rausgeholt und damit keinerlei Transportinvestition gehabt.

Jankes Revier ist ausschließlich sein eigenes Wohngebiet. Das bringt auf die Dauer nichts. Am Wochenende gehen die gar nicht. Ich glaube überhaupt, die machen bloß Tour, wenn das Geld alle ist. Kein System dahinter. Sie leben von der Hand in den Mund.

Ich arbeite jetzt eigentlich mehr als im Werk. Die Dinge, die ich raushole, müssen oft erst noch bearbeitet werden. Das mache ich an den Tagen, wenn ich nicht auf Tour bin. Fahrradrahmen streichen, gelegentlich auch Ersatzteile kaufen, wenn es nicht anders geht.

Einmal habe ich einen Roller gefunden. Daran fehlte nur das Hinterrad. Das habe ich gekauft, den Roller aufgemöbelt, sogar eine Windschutzscheibe am Lenker angebracht und den Sattel mit Fell bezogen. Fünfundsiebzig Mark hat der eingebracht, sechzig Mark Reingewinn.

Das sind Tage, an denen das Geld auf der Straße liegt. Die Tassen und der Roller sind in meinen Büchern mit roter Tinte eingetragen.

Jankes haben sich eingeengt. Die nehmen nur, was sie sofort bei Sekundärs absetzen können. Das bringt nicht viel. Den Roller hätte Janke nicht genommen. Aber er ist wohl auch nicht sehr geschickt und hat keine Ideen.

Lumpen zum Beispiel sehe ich mir vorher genau an, bevor sie zu Sekundärs gehen. Vieles ist noch brauchbar. Manches sogar für uns selbst. Rosi weicht es in Wofaseptlösung ein und wäscht es ein paarmal. Dann geht es zum An- und Verkauf.

Ich mache das nun schon drei Jahre und habe mir alles gut organisiert. Mein Schuppen ist tipptopp. Ich sehe immer zu, dass das Zeug schnell wieder abgesetzt wird. So ’n Roller, der steht bei mir eine Woche, länger nicht. Allerdings hängen drei Fahrradrahmen bei mir. Da muss ich sehen, dass ich wenigstens die Dinge für ein Rad zusammenbekomme. Lenker, Kette, Schläuche, Räder, Mäntel und, und, und. Das zu kaufen wäre unrentabel.

Flaschen und Gläser hole ich bei jeder Tour raus. Die gehen auch immer gleich weg. Und wenn es sich nur um zwei Mark fünfzig handelt. Das macht mir nichts. Zum Lagern habe ich keinen Platz.

Sekundärs kennen mich. Bei dem in der Taubenstraße habe ich neulich einen ziemlich abgewrackten Stuhl gesehen. War wohl sein Pausenstuhl. Jedenfalls hat er mir den überlassen für einen ganz normalen Küchenhocker. Aus dem Stuhl habe ich ein Schmuckstück gemacht. Nun suche ich einen zweiten. Zwei müssen mindestens sein. Einer allein verkauft sich nicht.

Mir gefällt das so, dass ich jetzt mein eigener Herr bin und ganz auf mich allein gestellt, aber dass es gerade Container sind. Ich schäme mich nicht. Ich bin nützlich. Ich bin der Liegfeldt.

Die Leute sehen mich mitleidig oder geringschätzig an. Manche nennen mich „Millionen-Pappe“.

*** Ende der Demo-Version, siehe auch https://www.edition-digital.de/Voss/Gegenwind/ ***

Sonja Voß-Scharfenberg

Geboren am 4. August 1957 in Schwerin, kommt aus der Bewegung der schreibenden Arbeiter, hat ihren literarischen Weg dort begonnen und später (1981-1984) am Institut für Literatur in Leipzig ein Fernstudium absolviert; hat in verschiedenen literarischen Gruppen, Zirkeln und Werkstätten mitgewirkt, Workshops und Seminare geleitet und Lesungen organisiert; lebt in Schwerin.

Veröffentlichungen

Erster Prosaband „Gegenwind“, erschienen 1990 beim Verlag Neues Leben Berlin.

Funkmonolog „Schickelkind“ DS Kultur, 1991. Der Funkmonolog war über längere Zeit auch Bestandteil des Theaterabends „Abwege, ganz normal nach rechts?“ in der Kulturfabrik auf Kampnagel.

„Neue Farm der alten Tiere. Ein Märchen?“ gewissermaßen eine Fortsetzung von Orwells  „Farm der Tiere“, projiziert auf die Wende – erschienen 1994 beim Verlag „Stock & Stein“ Schwerin, Neuauflage 2015 Wieden-Verlag.

 „…dies Land wär lauter Braut“. Lyrik und Fotografie aus Mecklenburg-Vorpommern, gemeinsam mit der Fotografin Angelika Lindenbeck. Erschienen 2000 bei NORA 5 Verlag und Werbe GmbH, Schwerin.

„Im Gelben“, Geschichten aus Mecklenburg-Vorpommern, Edition „M“ 2004, hrsg. vom Litraturhaus „Kuhtor“ Rostock.

„Max und Moritz im neuen Deutschland“, eine Adaption der Bildergeschichte von W. Busch, projiziert auf die heutige Zeit, Vorwort, sieben Teile und Schlusswort, gereimt. Mit Handzeichnungen von L. Meinke, Wieden Verlag, 2013.

Eisblumen, Erzählung freiraum-verlag Greifswald 2014.

Seit 2012 wöchentliche Kolumne in der Schweriner Volkszeitung zu lokalen und auch übergreifenden aktuellen Geschehnissen: Bis 2018 „Neulich am Runden Tisch“ und seit 2018 als Straßenfeger „Vadder Felten“.

- Veröffentlichungen kurzer Prosa in regionalen und überregionalen Zeitschriften, u. a. in der ndl, im „Spiegel“ und im Rundfunk, mehrmals in RISSE, Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern.

- Anna-Seghers-Stipendium der Akademie der Künste Berlin 1990.

- Preisträgerin des 1. Landschreiber-Wettbewerbs (1. Preis) des ADW Verlags und der Gesellschaft für deutsche Sprache (Leipziger Buchmesse 2013)

- Mitglied im VS

E-Books von Sonja Voß-Scharfenberg

Eisblumen

Thea, Jahrgang 1957, ist in Mecklenburg geboren, aufgewachsen und dort geblieben. In schlaflosen Nächten blickt sie auf ihr bisheriges Leben zurück. Erinnerungen an ihre gescheiterte Ehe und an Schicksalsschläge während ihres Alltags in der DDR drängen sich wieder in ihr Bewusstsein. Sie denkt an glückliche, aber auch schwierige Momente mit ihren Kindern und versucht rückblickend, Gründe für das heute eher komplizierte Verhältnis zu ihnen zu finden. Zwischen all das mischen sich Bilder ihrer Liebe zu Reida, mit der Thea nach der Wende ihres Lebens das ersehnte Glück und ihre Unabhängigkeit gefunden hat. Schnörkellos und mit klarem Blick auf die Dinge erzählt Thea von den Einschränkungen und Einsichten ihrer Lebensjahre.

Gegenwind

Infolge der Amnestie ist er vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden. Aus Angst, wieder straffällig zu werden, weil seine Knastkumpel ihn bedrängen, weicht Helling ihnen aus, aber sie durchschauen ihn und lassen ihn nicht in Ruhe.

Nach langjähriger Ehe verliebt sich Phia in eine Frau. Der Skandal in der kleinen Stadt ist groß. Auch über den alten Liegfeldt, der Mülltonnen und Container nach verwendbaren Dingen durchsucht, rümpfen die Leute die Nase, vor allem solche, die meinen, in günstigere Windverhältnisse gestellt zu sein.

Im Gelben

Die Landsleute hier betrügt man nicht mit einem bisschen einheimischer Sprache. Schon gar nicht betrügt man sie mit einem noch größeren und einem noch sicheren Auto.

Man fährt Auto und gut. Und mit diesem Auto entfernt man sich nach Möglichkeit nur so weit, dass man am Abend wieder zu Hause ist. Das ist sehr, sehr mecklenburgisch.

Das Reisen überlässt man hier am liebsten den Zugvögeln und der Fantasie.

Neue Farm der alten Tiere

„Dem Ostdeutschen geschrieben und dem Westdeutschen ins Nest gelegt“ - so kommentiert die Schweriner Schriftstellerin SONJA VOSS-SCHARFENBERG ihr jüngstes Buch „Neue Farm der alten Tiere“.

Nahm George Orwell mit seiner 1943/1944 entstandenen Parabel „Die Farm der Tiere“ noch den Stalinismus Ende der Dreißiger-, Anfang der Vierzigerjahre mit beißendem Spott aufs Korn, so wird die Farm hier zum Schauplatz der Wende und der Wiedervereinigung.

Ein fantasievolles Buch, das die Ereignisse unserer jüngsten Vergangenheit mit einem lachenden und einem weinenden Auge ins Reich der Fabel rückt.

Zugleich unterhaltsam und bitterernst schärft es den Blick auf die Geschehnisse in diesem Land.

Ein „Wendebuch“ besonderer Art, das mit Sicherheit die Gemüter erhitzen wird.

In seiner Neuauflage, fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall macht das Buch sich abermals auf den Weg, sich in die euphorischen Gesänge zu drängen und dem rauschenden Feste beharrlich vom nackten Kaiser zu sprechen.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Puppenspaß

Liegfeldt

Sonja Voß-Scharfenberg

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