Im Gelben - Sonja Voß-Scharfenberg - E-Book

Im Gelben E-Book

Sonja Voß-Scharfenberg

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Beschreibung

In seinem Nachwort macht der Literaturwissenschaftler Wolfgang Gabler der Schriftstellerin ein großes Kompliment: Ihre Geschichten seien eine gute Medizin als menschenfreundliche Geschichten. Mehr ist nicht zu sagen. Was sind das für Geschichten? Sie handeln von ihren Landsleuten, den Mecklenburgern. Sie zeigen, wie sie sind: Weitschweifige Erklärungen gibt es, nach Landessitte, nicht. „Wenn man anderswo jemanden nach dem Weg fragt, wird man gebracht und bekommt die halbe Lebensgeschichte des freundlichen Bringers noch gleich dazu. Macht man denn so etwas? Man macht es nicht! Man gibt Auskunft, wünscht einen guten Tag und damit hat sich das.“ Die Autorin hat Auskünfte bekommen und gibt sie weiter. Lebensgeschichten. Menschenfreundliche Lebensgeschichten. Das ist zum Beispiel „Im Gelben“, die dem Band den Titel gibt und die mit einem Herbstanfang beginnt: Nun ist er also doch gekommen, der Herbst. Und vier Wochen früher sogar, als die Menschen es ihm in ihren Kalendern vorschreiben. Dennoch sehnlichst erwartet. Der Siebenschläfer hatte seinem Namen mehr als alle Ehre gemacht und seinen heißen trockenen Junitag weit über die siebente Woche hinausgezogen. Und hatte doch schon im Vorfeld vierzehn Tage. Elf Wochen wohl hat das Land keinen Tropfen Wasser gehabt. Die Menschen sind müde geworden und haben sich nach anfänglich gierigen Sonnenbädern die verbrannte Haut an schattigen Plätzen gekühlt. Die Erde war spatenstichtief Staub. Nur Staub. Als der erste Regen endlich kam, stieß der Boden ihn zurück, sodass die Platzregentropfen wie kleine Springbälle tanzten. Jetzt ist es ausgestanden. Das Gelbe, denkt der alte Mann, ist wieder einmal ausgestanden. Nach Ansicht einer jungen Schriftstellerin sieht er aus wie „Der der alte Mann und das Meer“. Allerdings hat er kein Meer und reisen würde er auch nicht, wenn er jünger wäre. Nur einmal war er weggewesen und in einem heißen Sommer in sein gelbes Land heimgekehrt. Das war nach dem Krieg, und er hat alles mitgemacht, was unausbleiblich ist und ansonsten sein Tagewerk verrichtet. Was gibt’s da groß zu reden? Man sagt den Menschen nach, hier oben, sie seien stur, ein wenig unterkühlt und rückständig. Rückständig vor allem. Aber ob das so stimmt? Der alte Mann jedenfalls wird sein Tagwerk tun und vielleicht hundert Jahre zum Sterben brauchen. Braucht eben alles seine Zeit. Sie lässt sich nicht überrumpeln, wie die Jahreszeiten sich einen Dreck um den Kalender scheren. Es ist, wie es ist, was gibt’s da groß zu reden?

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Impressum

Sonja Voß-Scharfenberg

Im Gelben

Geschichten aus Mecklenburg

Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern, Band 3

ISBN 978-3-96521-736-2 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Herausgegeben 2004 vom Literaturhaus Kuhtor Rostock.

© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Geschichten

Lebens Lauf I

Neun war ich, als ich beim verbotenen Baden in der Tonkuhle beinahe ertrunken wäre. Ich war geschwommen und wusste nicht, dass ich es schon konnte. Als ich bemerkte, dass ich sehr weit vom Ufer entfernt war, ging ich sofort unter.

Meine Freunde glaubten lange, es sei ein Badespaß gewesen.

Ich hatte keine Angst. Ich dachte: Jetzt kommt der Tod. Und an meine Tante dachte ich, die vor kurzem ins Wasser gegangen war, ihr Baby um den Leib gebunden, damit es nicht abtrieb.

Als meine Freunde mich ins verbrannte Gras setzten, dachte ich: Jetzt weiß ich, wie der Tod ist, und Oma darf nichts rauskriegen.

Ich zählte mir die Menschen auf, die um mich geweint hätten. Ich glaubte, es müssten viele sein.

Am Abend fragte Oma die Freunde, ob es wirklich stimme, dass ich jetzt schwimmen könne. Ich bekam Erdbeeren mit Schlagsahne und Badeerlaubnis für die Tonkuhle.

Im Sommer nach der Jugendweihe fuhr ich zum ersten Mal allein zu Großvater. Da lag er das zweite Jahr. Er bat mich, ihm ein Beil zu bringen oder einen Strick. Ich lief in den Hühnerstall und zitterte und erfüllte seine Bitte nicht. Nachmittags kam die Gemeindeschwester und spritzte Großvater. Ich musste ihr helfen, ihn auf den Eimer zu setzen. Als Großvater fertig war, kippte er mit dem Eimer um. Ich sah sein Geschlecht und die grauen Haare und ekelte mich. Ich würde nicht wiederkommen, bevor Großvater es nicht geschafft hatte, wusste ich.

Großvater schaffte es an dem Tag, als wir auf der Hochzeit meiner Schwester tanzten.

Ich hielt das Telegramm zurück.

Im Kreißsaal konnte ich durch die Glaswand sehen, wie die Frau neben mir ihr Kind gebar. Sie war einundzwanzig Jahre alt und wurde von der Hebamme gelobt. Sie hatte alles richtig gemacht. Ich war sechsundzwanzig und machte alles falsch.

In einer Wehenpause dachte ich daran, dass ich einmal beinahe ertrunken wäre. Ich hatte Angst, dass mein Kind in mir ertrinken könnte. Ich habe eine gesunde Tochter und neue Ängste.

Meine Eltern sind normale Menschen. Man kann ihnen nichts nachsagen.

Ich schreibe und bin in der Partei.

In der Siebenten schrieb ich meinen Namen unter den von Manfred Krause. Ich strich die gemeinsamen Buchstaben, um auszuzählen, ob uns Liebe, Treue, Sehnsucht oder Hass verbinden würden.

Manfred Krause nahm mir das Lesebuch weg. Wir prügelten uns, damit wir uns anfassen konnten.

Mit dem Gelöbnis zur Jugendweihe legte ich auch das ab, immer und ewig Ralf Karsten zu lieben. Ich sang seinen Namen durch alle Schlager und ging einen Sommer lang mit ihm baden.

Im Herbst kam Anke Schomann in unsere Klasse.

Später redete ich mit einem eine Nacht lang über Beethoven, Lenin, Freud und vorsichtig über uns. Danach lag ich lange wach in seinem Bett. Er lag lange wach auf dem Fußboden.

Ich dachte an Manfred Krause und dass es schade sei, dass man sich nicht mehr einfach ein Buch wegnehmen konnte, um sich dann prügeln und anfassen zu müssen. Er schenkte mir ein Buch.

Unser Kind spielt manchmal mit unseren Büchern. Es ist zwei Jahre alt und lernt, dass man alte Zeitungen geräuschvoll zerreißen und in Büchern vorsichtig blättern darf.

Während meiner ersten Herbstferien entdeckte ich im Schaufenster bei „Hollander & Sohn“ eine Puppe. Sie lag in einem Karton ohne Deckel und hatte um das Handgelenk ein Kärtchen.

Auf dem stand: „23,65 Mark“. Mutter sagte, sie könne das jetzt nicht.

Ich ging täglich zum Schaufenster, um nach der Puppe zu sehen. Im November, an Vaters Geburtstag, war bei „Hollander & Sohn“ neu dekoriert, und an der Scheibe stand: Frohes Fest!

Den Trabant haben wir für fünftausend Mark gekauft und siebentausend bezahlt. Es war ein gutes Geschäft. Garagengepflegter Wagen, knapp acht Jahre alt. Zu dem Verkäufer sagen wir Vater.

Als wir heirateten, war ich für die Inanspruchnahme des Ehekredits schon zu alt. Eineinhalb Jahre später hatten die Sparkassen mit mir und den anderen ehemals zu Alten viel zu tun.

Der Kredit gilt bis zu drei Jahren nach der Eheschließung. Wenn wir Glück haben und bis dahin eine Wohnung, können wir die Schecks gegen Möbel einlösen und unsere Kinder bei der Sparkasse „abschreiben“ lassen.

Den Jungen werde alles in den Hintern geblasen, sagen die Alten.

In der Familie meiner Mutter glückten vier Selbstmorde. Bei den Beerdigungen brauchte ich nicht dabei zu sein. Kinder nimmt man da nicht mit hin. Für Kinder sei das zu traurig, sagt Oma.

Später hörte ich von Oma, dass man nicht auf den Friedhof gehen dürfe, wenn man ein Kind unter seinem Herzen trage.

Dann haben wir meinen Vater bestattet.

Ich saß in der ersten Reihe, weil ich ersten Grades war. Noch bevor wir in die Halle gerufen wurden, hatte die Friedhofsverwaltung uns gesagt, dass wir die Kränze selbst mitnehmen müssten zur Stätte, weil bei ihnen so viele Leute krank seien.

Ich starrte auf all die Schleifen mit den letzten Grüßen und zählte neun Druckfehler.

Weil mein Schwager bei seiner Heirat unseren Namen angenommen hatte, brachte der Redner einiges durcheinander mit den Söhnen und Töchtern von Vater. Überhaupt hatte die Rede wenig mit Vaters Leben zu tun.

Nachdem wir alle Sand auf die Urne geworfen hatten, fragte der Träger: „Soll der Rosenkranz mit in das Loch, oder soll er obenauf?“

Als wir in die Autos stiegen, bewegte sich zum ersten Mal unser zweites Kind in meinem Leib.

In meiner Beurteilung von der Neunten steht, ich hätte eine eigene Meinung, würde diese vertreten und fände dabei nicht immer den richtigen Ton.

Nach den Sommerferien damals traf ich den Ton und vertrat die gewünschte Meinung.

Als Jungfacharbeiter verhinderte ich in der öffentlichen Rechenschaftslegung unserer Gewerkschaftsgruppe die erfolgreiche Titelverteidigung. Man nahm mich beiseite und sprach mit mir über rechte Zeiten und richtige Orte.

Ich bin Mitglied der DSF, des DTSB, der AWG und „Freund der Jugend“.

Ich suche nach den rechten Zeiten und den richtigen Orten.

Manchmal bin ich sehr müde. Dann trinke ich Kaffee.

Die Schule und meine Eltern sagten: „Du machst mit bei den Pionieren“.

Im Klassenraum spielten wir unter Aufsicht von Elke aus der Zehnten: Und wer im Februar geboren ist, tritt ein, tritt ein, tritt ein.

Auf dem Schulhof, uns selbst überlassen, spielten wir Schwarzer Mann, Bin ich? oder Ich erkläre den Krieg gegen …

Ich war immer Frankreich.

Bei Bin ich? musste man mit weit in den Nacken gelegtem Kopf und geschlossenen Augen aufgemalte Linien und Zeichen überspringen und in bestimmten Feldern ankommen. Nach jedem Sprung fragte man: „Bin ich?“ - „Du bist“, antworteten die Kinder. Stand man auf der Grenze, war man aus.

Den schwarzen Mann spielte meistens Klaus-Dieter Langener. Er rief: „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?“

„Niemand.“

„Und wenn er kommt?“

„Dann laufen wir!“

Das Kriegsspiel hatte man uns bald verboten. Wir spielten dasselbe Spiel unter anderem Namen.

Es hieß: Lange Nase!

Was Großvater aus Russland mitbrachte, waren häufige Albträume und Frost in den Zehen. Gegeben hat er dafür seinen Glauben an Gott und seinen jüngsten Sohn. Der, gerade fünf Jahre alt, erkannte den heimkehrenden Vater nicht.

Bis zu seinem Tode spürte Großvater, dass sein Jüngster ihm den Vater nicht geglaubt hat.

In der Friedensstraße haben sie 1965 alles aufgerissen, um Gleise für die Straßenbahn zu legen. Abends, wenn nicht gearbeitet wurde, spielte ich mit meinen Freunden und Geschwistern Schützengraben.

„Peng! Tot, du Russe!“

Keiner wollte die Russen spielen.

Was mein Bruder von der Trasse mitbrachte, waren häufige Träume und Schwielen an den Händen. Gegeben hat er dafür seinen Hass auf die Russen und seinen Vater, den Jüngsten des Großvaters. Der, gerade im fünfzigsten Jahr, erkannte den heimkehrenden Sohn mit den Russenmanieren nicht wieder.

Wäschetausch

Am 23. Januar Horst verhaftet! Abends brachte Genosse Balke Bescheid. Horst hat viel Geld unterschlagen. Er ist in Untersuchungshaft in die Klosterstraße gekommen.

Auf seinen Brief ist gelesen gestempelt und vorgedruckt, dass Straf- und Untersuchungsgefangene nur alle vier Wochen einmal Post empfangen dürfen, die in gut lesbarer Schrift gehalten sein muss.

Horst schrieb bloß fünf Zeilen, acht waren vorgedruckt.

Liebe Helga und Kinder! Ich bin hier in der Klosterstraße. Jeden Sonnabend von vierzehn bis sechzehn Uhr ist Wäschetausch. Bringe mir bitte welche. Gehe doch zur Staatsanwaltschaft und verlange Sprecherlaubnis. Es grüßt Euch alle – Horst.

Um das Kindergeld habe ich viele Laufereien gehabt, weil das bisher über den Betrieb von Horst lief.

Am folgenden Sonnabend habe ich das erste Mal Wäsche getauscht. Dienstag war ich zum Amt wegen der Kinderzahlkarten. Anschließend zur Staatsanwaltschaft wegen der Sprecherlaubnis. Wurde abgelehnt.

Am 9. Februar hat Mutti erst einmal die beiden Kleinen mit zu sich genommen. Simone war sehr krank. Masern.

Am 10. Februar habe ich den zweiten Brief von Horst bekommen, er schrieb schon etwas mehr.

Liebe Helga und Kinder! Ich habe heute Gelegenheit, Euch ein paar Zeilen zu schreiben. Wie geht es bei Euch zu Hause? Seid Ihr noch alle gesund? Mir geht es ganz gut, bis auf ein paar Dinge, die man hier abstellen muss. Wir können uns was zu essen kaufen und zu rauchen, das heißt, wenn wir Geld auf dem Konto haben. Meine Kontonummer wirst Du ja erhalten haben. Liebe Helga, Du musst das Kindergeld vom Rat der Stadt abholen, da bekommst Du es jeden Monat.

Wenn ich erst abgeurteilt bin, denke ich doch, dass ich in ein Arbeitskommando komme, und dann kriegst Du das Geld.

Wenn Du diesen Brief hast, kannst Du gleich zurückschreiben. Einmal im Monat. Hast Du Dich bei der Staatsanwaltschaft erkundigt, wie es mit der Sprecherlaubnis aussieht?

Nun herzliche Grüße von Eurem Vati und Horst.

Ich habe das zweite Mal Wäsche getauscht. Am 15. wieder zur Staatsanwaltschaft. Vergebens. Im Briefkasten war Horsts eigentlicher erster Brief. Ich weiß nicht, wer ihn eingesteckt hat und wo Horst ihn geschrieben hat. Er steht nicht auf einem vorgedruckten Formular und wurde auch nicht gelesen.

Meine liebe Helga, lieber Wolfgang, Bärbel und Simone! Seid mir bitte nicht allzu böse, dass ich Euch so enttäuscht habe, aber ich werde Zeit und Gelegenheit finden, meinen Namen wieder ins Reine zu bringen. Wenn ich wieder bei Euch bin, will ich meine ganze Freizeit für Dich und die Kinder aufbringen. Wie geht es Euch? Mir geht es nicht besonders. Wenn Du kein Geld mehr hast, musst Du Unterstützung beantragen. Seid jetzt herzlich gegrüßt von Vati und Horst. (Ich muss wieder raus.)

Opa hat Prämie bekommen, einhundert Mark, die hat er mir gleich geschickt. Ich habe mich sehr gefreut. Dafür werden Kohlen gekauft.

Am 21. endlich Sprecherlaubnis. Ich habe mit Horst gesprochen, aber ich weiß nicht, was.

Sonntag hatte ich große Wäsche, und wie ich gerade fertig war, kamen unverhofft mein Bruder und meine Schwägerin. Ich war so froh.

Werner hat mir das ganze Holz gehauen, und Ilse hat alle Fenster geputzt. Die hinteren Fenster hat Werner noch verkittet. Den neunten Wäschetausch haben auch die beiden erledigt.

Am 1. April sind sie wieder abgefahren. Als ich vom Bahnhof kam, habe ich geheult und konnte nicht mehr bügeln. Wenn ich den Plan nicht genau einhalte, komme ich mit der Woche nicht zurande.

In der anderen Woche, beim zehnten Tausch, bekam ich Bescheid, dass ich Mittwoch ein sauberes Hemd bringen muss. Ich nehme an, dass nun endlich die Verhandlung ist. Jedes Mal beim Wäschetausch gebe ich ein sauberes Handtuch mit und bekomme es immer wieder zurück. Ob Horst dort saubere Handtücher hat?

Ich habe ein weißes Oberhemd in die Klosterstraße gebracht, damit Horst bei der Verhandlung ordentlich aussieht. Am 12. April ist der Termin.

Zwanzig Monate! Die sind nächstes Jahr am 23. September um. Es tut mir leid, dass ich vor Horst geweint habe.

Wir sind zu Ostern reich beschenkt worden. Von meiner Mutter fünfundzwanzig Mark, von meiner jüngeren Schwester bekomme ich, schon seit Horst weg ist, jeden Monat fünfzig Mark, von Ilse und Werner habe ich eine gemusterte schwarze Strumpfhose bekommen, darüber habe ich mich am meisten gefreut, weil ich sie mir nicht gekauft hätte, von Horsts Mutter fünfzig Eier, Speck und Schinken.

Wir sind Ostersonntag spazieren gewesen, auch in der Klosterstraße. Ich hoffte, Horst am Fenster zu sehen, und wirklich, er hat mir zugewinkt. Ich bin nun jeden Tag dort, um ihm zu winken. Ich habe schon das dreizehnte Mal Wäsche getauscht. Ich staune, dass Horst immer noch seine eigenen Sachen trägt.

Sein fünfter Brief ist gekommen, aber er schreibt nichts vom Winken.

… ja, liebe Helga, zwanzig Monate sind eine lange Zeit, aber ich hoffe auf Dein Versprechen. Vielleicht lässt sich was mit einem Gnadengesuch machen, wenn ich die Hälfte meiner Strafe rum habe. Am besten, Du erkundigst Dich mal da, wo Du die Sprecherlaubnis geholt hast, oder auch bei der Frau vom Schlachter Rust, wo Du immer einkaufen gehst. Der Mann ist doch auch weg von zu Hause. Bestimmt kann Frau Rust dazu etwas Genaues sagen …

Es ist schon der 19. Mai, und bevor ich wieder Wäsche tauschen wollte, war ich unten am Fenster, um zu winken. An der Wache hat man mir gesagt, dass Horst gar nicht mehr da ist. Verlegt, haben sie gesagt, und ich soll die nächste Adresse abwarten. Trotzdem haben sie die ganze geplättete Wäsche durchwühlt, ich muss alles noch einmal bügeln.

Ich habe vier Wochen lang einem fremden Menschen zugewinkt, beinahe jeden Tag.

Auf den Briefen aus der Anstalt steht nicht mehr gelesen, sondern zensiert und nicht beanstandet.

… liebe Helga, hast Du Sorgen mit Geld? Wenn ja, dann gehe zu meinem Betrieb und lass dir was geben. Das schaffen wir dann wieder zurück. Ich werde auch dieser Tage anfangen zu arbeiten, dann bekommst Du ja von mir auch etwas. Viel wird es nicht sein, aber doch was. Schreib bitte gleich wieder. Liebe Helga, wäre es möglich, dass Du mit den Kindern zum Fotografen gehst, Du natürlich auch mit drauf Ich würde mich sehr freuen und dankbar sein …

Der Dieter war hier, mit dem Horst früher zusammen war. Er hat mir erzählt, dass der Musiker, den sie Musikus genannt haben, zwei Jahre bekommen hat. Der hat das ganze Geld mit Frauen um die Ecke gebracht. Horst hat ja alles auf die Bank geschafft, aber dann wurde es beschlagnahmt und unser bisschen Gespartes erst mal dazu.

Ich habe wieder Post von Horst bekommen, vor allem war dies kein Feldpostbrief mehr, so nenne ich die immer.

… nun noch zu dem Geld, das ist gar nicht so einfach, denn 75 Prozent von dem, was ich verdiene, bleiben in der Anstalt, und von den restlichen 25 Prozent geht die Hälfte auf Rücklage, und für die andere Hälfte kann ich mir etwas kaufen. Das reicht gerade zum Rauchen.

Ich freue mich schon auf das Bild. Liebe Helga, hast Du noch ein Foto von denen, wo Du in dem schwarzen Kleid drauf bist? Schicke mir das bitte auch mit.

Ich denke doch, dass ich bald wieder bei Euch bin. Jeder hat die Möglichkeit, durch gute Arbeitsleistung und Führung schneller nach Hause zu kommen. Könntest Du zu Staatsanwalt Lemke gehen und Dicherkundigen? Es ist eine Frau …

Frau Rust war hier, sie will mir helfen bei dem Schreiben wegen der vorzeitigen Entlassung. Ich habe einen Paketschein erhalten. Horst darf ein Sonderpaket bekommen für gute Arbeit. Ich will das schnell erledigen. Habe gleich mit Frau Rust gesprochen, dass sie mir etwas Schinken zurücklegt. Ich kenne die Leute bei Schlachter Rust ganz gut, seit ich nun im Bäckerladen gegenüber verkaufe. Es ist eine Umstellung, arbeiten zu gehen, wenn man immer bei den Kindern zu Hause war, aber ich habe mich da gut eingelebt.

Freitag war ich bei der Staatsanwältin, sie hat mir gesagt, dass sie sich erst in der Anstalt erkundigen muss, wie Horst sich führt. Ich soll dann schriftlich Bescheid bekommen. Bin so gespannt. Vielleicht wenigstens zu Weihnachten.

Das Paket ist angekommen. Ich habe Horst gefragt, ob ich ihm zu seinem Geburtstag noch eins schicken soll. Er schreibt:

… liebe Helga, auf Deine Frage nach dem Geburtstagspaket, ich weiß es nicht. Wenn Du keinen Schein hast, dann kommt es doch wieder zurück. Aber ich werde einen beantragen. Wenn es genehmigt wird, dann schicke mir doch bitte meine Uhr und das Feuerzeug mit. Die Uhr kann ich hier gut gebrauchen.

Wenn Du von der Staatsanwältin Bescheid kriegst, wann ich rauskomme, musst du sofort ein Wäschepaket abschicken mit der guten Hose, dem Wintermantel, Oberhemd und Binder und meiner Aktentasche …

Ich bin einfach in Ohnmacht gefallen auf der Straße. Gegenüber vom Fischladen. Sie haben mich aufgesammelt und nach Hause gebracht.

Meine Chefin hat mir gesagt, dass ich mir andere Arbeit suchen muss, weil die Tochter jetzt auslernt, und die soll ins Geschäft. Jetzt habe ich wieder solche Sorgen. Ich hab doch nichts gelernt. Manchmal möchte ich mir einen Strick nehmen. Wolfgang sagt, er sei ja nun der Vati, solange der auf Schule sei. Ich habe den Kindern gesagt, von Anfang an, dass Horst auf Schule ist, weil sie sich sonst schämen, und sie nehmen es ja auch mit hinaus ins Leben.

Ich habe die ganze Nacht gespuckt und bin nicht von der Toilette gekommen. Wir hatten gestern Pilze. Ob ich die nicht vertragen habe? Aber die Kinder haben sie auch gegessen.

Zu Horsts Geburtstag darf ich wieder ein Paket schicken.

… liebe Helga, ich gratuliere Dir zu unserem elften Hochzeitstag. Ich wünsche Dir alles Gute und dass die nächsten elf Jahre für uns besser verlaufen. Hast Du schon Bescheid von der Staatsanwältin? Viel Hoffnung habe ich nicht mehr. Hier rührt sich gar nichts, und wir haben schon Oktober.

Ich war heute den ersten Tag in der Wäscherei arbeiten. Es ist sehr schwer, aber die eine Kollegin ist nett.

Ich habe immer noch keinen Bescheid vom Gericht. Die trauen sich wohl nicht, die Absage loszuschicken. -

… ich habe mich sehr über das Geburtstagspaket gefreut. Habt vielen Dank. Von Oma, Werner und Ilse und von Deiner Schwester habe ich Karten bekommen. Auch darüber habe ich mich gefreut. Bitte schreibe ihnen doch, wenn Du nach Hause schreibst, dass ich mich bedanke, denn ich kann es von hier aus nicht tun, sonst ist wieder ein Brief weniger für Dich.

Helga, wenn Du es nicht schaffst in der Wäscherei, dann höre auf und lass Dich unterstützen. Ich tue alles, wenn ich wieder da bin, dass wir das zurückzahlen. Es nützt uns nichts, wenn Du Dich ganz kaputtmachst.

Ich weiß bloß nicht, warum Du immer noch nicht Bescheid hast von der Staatsanwältin wegen meiner vorzeitigen Entlassung. Hier habe ich auch noch nichts gehört, dass ein Führungsbericht angefordert wurde. Bloß eins weiß ich, dass ich mich gut führe. Das zeigt sich darin, dass ich in der kurzen Zeit schon zweimal Geldprämie bekommen habe, die ich Dir ja geschickt habe, und zu jeder Veranstaltung, die im Fernsehen war, durfte ich auch hin. Ich hatte immer gedacht, dass ich zu Weihnachten wieder zu Hause bin, aber der Traum ist wohl aus.

Ich habe Dir im letzten Monat kein Geld geschickt, weil ich gern zu Weihnachten für Euch etwas in den Händen haben wollte. Nun schicke ich es doch ab …

Der neue Chef hat mir zu verstehen gegeben, dass ich in den FDGB soll, da sind alle drin. Ich habe kein Glück. Mir steht das alles bis zum Halse.

Der erste Schnee ist gefallen, es sieht sehr nach Weihnachten aus - und immer noch keine Nachricht.

Ich war wieder bei der Staatsanwältin. Sie hat mir gesagt, wir sollen warten. Bis Anfang Dezember.

Der Fleischer Rust kommt zu Weihnachten. Sie hat schon Bescheid. Bloß ich noch nicht.

Wolfgang ist krank geworden. Er ist in der Schule hingefallen und hat Gehirnerschütterung. Hoffentlich bleibt da nicht mal was zurück.

Ich war wieder bei der Anwältin. Sie sagt, mein Antrag ist im Laufen, und sie hofft, bald etwas zu erreichen.

Ich glaube nichts mehr.

Liebe Helga, heute war nun hier Besuchstag. Schade, dass Du nicht selbst kommen konntest, und die Nachricht, die Du mir über Frau Rust mitgeschickt hast, hat mich so traurig gemacht. Der Antrag ist abgelehnt? Du glaubst gar nicht, was ich für eine Stimmung habe. Schreib mir doch bitte, was für Gründe zu dieser Ablehnung vorliegen. Ich kann das gar nicht begreifen, denn ich tue alles, was in meinen Kräften steht, um zu beweisen, dass ich aus meinen Fehlern gelernt habe, und ich darf doch auch immer zum Fernsehen. Vielleicht hat Frau Rust da auch was verwechselt. Ich kann mir das nicht anders vorstellen.

Heiligabend. Die Kinder sind um einundzwanzig Uhr ins Bett gegangen. Ich bin noch zwei Stunden aufgeblieben, warum, weiß ich nicht. Ich habe nicht einmal Radio gehört. Sollte rüberkommen zu Frau Strauß zum Fernsehen, aber ich mochte nicht. Gleich in der Woche nach Neujahr werde ich wieder zur Staatsanwältin gehen.

… bitte kannst Du noch einmal, nur dieses eine Mal, zur Anwaltschaft gehen? Glaube mir, ich habe alle Hoffnung und allen Mut verloren, aber wenigstens sollen sie Dir sagen, ich bin ein schlechter Mensch und kann nicht früher entlassen werden. Helga, ich kann nicht mehr, aber ich will stark sein.

Ich bin noch zwischen Weihnachten und Neujahr in den FDGB eingetreten, und ein paar Tage später wurde ich krank. Dabei ist so viel zu tun in der Wäscherei. Hoffentlich denken sie nicht schlecht von mir.

Heute war Frau Strauß für mich zur Staatsanwältin, weil ich Bettruhe habe. Sie hat gesagt, Horst wird nächste Woche entlassen.

Ich muss gesund werden. Es ist so viel zu tun in der Wäscherei.

Der Mantel

Achthundert Mark! Ich glaubte es nicht! Also nicht, dass der Mantel so viel kostete. Er kostete eben so viel. Aber dass ich ihn überhaupt in Erwägung hatte …

Hatten sich nicht meine Wünsche längst in Bescheidenheit gefügt? Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt diesen Laden betrat. Ich mochte solche Läden nicht. Man sieht ihnen von außen schon an, dass sie teuer sind. Nie ist ein Kunde in ihnen. Sofort kommt die gelangweilte Verkäuferin auf einen zu und fragt einen nach dem Begehren. Man hätte keines, lügt man dann, man wolle nur mal so gucken. Diese Typen kennt die Verkäuferin genau, diese „Nur-mal-gucken-Typen“. Sie bemühte sich trotzdem um Freundlichkeit, und ich selbst sah zu, dass ich wieder hinauskam. Was sollte ich die arme Frau belästigen, wenn ich sowieso nicht …, aber der Mantel, der dort hing. Ich hatte ihn gar nicht richtig gesehen, aber wohl bemerkt, er war der Mantel der Mäntel. Siebenhundertneunundachtzig Mark. Meine Güte!

Der, den ich trug, hatte zwei Winter zuvor einhundertsiebzig gekostet und war von der Stange bei C& A. Nicht, dass er mir missfiel, ich hatte ihn damals probiert, er hatte mir gepasst und vor allem hatte er zu mir gepasst.

Achthundert. Das war mehr als eine Monatsmiete. Das wären die Weihnachtsgeschenke für die Kinder und essen gehen an allen drei Festtagen dazu. Wahrscheinlich sogar noch die im Dezember erheblich höhere Telefonrechnung.

Wenn …, überlegte ich, als ich, den Schock zu überwinden, im Café saß und natürlich einen Kuchen nahm, die Boutique noch immer im Auge … Meine Kontoauszüge musste ich nicht lange sortieren. Wer mit dem Minimum auskommen muss, weiß immer, was noch notwendig und was noch da ist.

Also, ich könnte, wenn ich alles andere neu bemessen würde. Claudi, kam es mir in den Sinn. Claudia! Meine Cousine aus Kindertagen.

Im Herbst 1968 hatte Claudias Vater Wenzel in einer deutschen Kleinstadtkneipe zu viel und zu laut über den Prager Frühling geredet. Man war ihm auf den Fersen. Jedenfalls hieß es später hinter vorgehaltener Hand in unserer Familie so. Ich weiß nicht sicher, ob die Angst vor denen, die ihm auf den Fersen waren, ihm allein den Mut gegeben hatte, sich aufzuhängen. Eines Tages erhielten wir in Schwerin ein Telegramm: „Wenzel tot.“ Beerdigung dann und dann.

Seine Frau Waltraud, Claudis Mutter, hatte es nicht ertragen können. Sie war ihm ein halbes Jahr später gefolgt. Wieder ein Telegramm nach Schwerin: Waltraud am soundsovielten gestorben!

„Kein gutes Jahr“, hatte Mutter heulend gesagt, und „meine Schwester ist tot.“

Zurückgelassen hatte Mutters Schwester Waltraud ihr Kind Claudia. Claudi war kurz vor ihrer Einschulung. Die Familie entschied, dass Claudi fortan ein neues Zuhause bei ihres Vaters Bruder Joseph und dessen Frau erhalten sollte. Die Ehe war kinderlos und wohl situiert.

Für Joseph und dessen Frau waren der Tod des Bruders und der Schwägerin geradezu ein Glück. Ganz über Nacht hatten sie plötzlich das lang ersehnte Kind bekommen, dazu eines, das bereits aus den Windeln war, das brav betete und überhaupt alles tat, was es sollte. Es erledigte alle Pflichten im Haus und darüber hinaus war Claudi auch noch begabt, was man seinerzeit so begabt nannte, wenn ein Kind aus der Schule Einsen und Zweien brachte. Überdies war meine Cousine Claudia auffallend hübsch. Sie hatte langes schwarzes Haar und einen dunklen Teint, braune Augen natürlich. Wenzel, ihr Vater, dem man Zigeunerblut nachgesagt hatte, hatte ihr zumindest das dunkle Haar gegeben und die Verwegenheit in den Augen. Auch Bruder Joseph hatte all das in seinem Gesicht, und jeder, der um die traurige Geschichte nicht wusste, sagte von der Claudia: „Das ist dem Sepp seine!“

Und der Sepp ließ sich sein Kind was kosten.

Claudi hatte alles: eine Babypuppe, die sie fünfmal umziehen konnte, einen Puppenwagen natürlich, eine Gitarre, ein Fahrrad und einen Plattenspieler.

Ich dagegen besaß eine viel kleinere Puppe, die um die Weihnachtszeit verschwand, damit sie neu bestrickt werden konnte. Statt mich auf einer Gitarre zu üben, blies ich im Hühnerstall auf einem mit Pergament bespannten Kamm „Da war Gold in deinen Augen“, und Fahrrad fahren lernte ich auf Großvaters 28er Herrenrad, mit erheblichen Hüftverrenkungen, weil ich mit sieben Jahren zu klein war, schon auf dem Sattel zu sitzen und mein rechtes Bein kurzerhand durch das Dreieck des Rahmens steckte. Manchmal durfte ich auch mit Claudis Fahrrad fahren, aber immer nur so weit, dass sie mich noch sehen konnte. Was heißt mich? Ihr Rad!

Soweit ich mich erinnerte, verbrachte ich alle Sommerferien bei den Großeltern, die auch Claudis Großeltern waren und die von ihrem neuen Zuhause vielleicht fünf Minuten entfernt wohnten. Dennoch sahen sie ihre Enkelin Claudia nicht viel öfter als mich, die ich fünf Zugstunden entfernt lebte. „Dem Sepp seine“ hatte die Großeltern freundlich zu grüßen, wenn sie sie sah, ihnen zum Geburtstag zu gratulieren oder der Oma die Tasche mit Lebensmitteln zu tragen, wenn man sich begegnete.