Geheime Rache - Angela Lautenschläger - E-Book
SONDERANGEBOT

Geheime Rache E-Book

Angela Lautenschläger

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nordisch frische Spannung: Der Kriminalroman »Geheime Rache« von Angela Lautenschläger als eBook bei dotbooks. Als die junge Nachlasspflegerin Friedelinde Engel im winterlichen Hamburg das Erbe der Kindergärtnerin Charlotte Belling regeln soll, steht sie vor einem Rätsel: Warum hat die Frau sich auf das viel zu dünne Eis des Sees gewagt, in dem sie ertrunken ist? Selbstmord kann Friedelinde schnell ausschließen – und beginnt, sehr zum Unwillen von Hauptkommissar Sander, zu ermitteln. Schon bald stoßen sie gemeinsam auf eine erschreckende Verbindung: Es kann kein Zufall sein, dass eines der Kindergartenkinder nur wenige Tage vor Charlotte Bellings Tod verschwunden ist. Wo steckt das kleine Mädchen? Ein atemloser Wettlauf mit der Zeit beginnt … Ein ungewöhnliches Ermittlerduo: Die Bestsellerreihe um die eigenwillige Nachlasspflegerin Friedelinde Engel und Kommissar Nicolas Sander geht weiter! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Hamburg-Krimi »Geheime Rache von Angela Lautenschläger ist Band 2 ihrer »Engel und Sander«-Bestsellerreihe und wird auch Fans von Eva Almstädt begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 493

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Alles ist still um sie herum, der Schnee glitzert in der Sonne, das dunkle Eis des Sees funkelt. Doch als sie es betritt, weiß sie schon, dass es sie nicht tragen wird …

Als Nachlassverwalterin Friedelinde Engel im winterlichen Hamburg das Erbe der Kindergärtnerin Charlotte Belling regeln soll, steht sie vor einem Rätsel: Warum hat die Frau sich auf das viel zu dünne Eis des Sees gewagt? Selbstmord kann Engel schnell ausschließen – und beginnt zu ermitteln. Gemeinsam mit Kommissar Sander stößt sie auf mysteriöse Vorfälle, die kein Muster zu haben scheinen. Und doch befürchten beide, dass noch mehr Namen auf der Todesliste stehen …

Eiskalte Spannung und zwei Ermittler zum Verlieben: Die Krimi-Reihe um die eigenwillige Nachlasspflegerin Friedelinde Engel und Kommissar Nicolas Sander geht weiter!

Über die Autorin:

Angela Lautenschläger arbeitet seit Jahren als Nachlasspflegerin und erlebt in ihrem Berufsalltag mehr spannende Fälle, als sie in Büchern verarbeiten kann. Ihre Freizeit widmet sie voll und ganz dem Krimilesen, dem Schreiben und dem Reisen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in Hamburg.

Angela Lautenschläger veröffentlicht bei dotbooks auch:

»Stille Zeugen. Ein Fall für Engel und Sander«

»Tödlicher Nachlass. Ein Fall für Engel und Sander«

»Blindes Urteil. Ein Fall für Engel und Sander«

»Gerechte Strafe. Ein Fall für Engel und Sander«

Weitere Bände sind in Arbeit.

***

Originalausgabe April 2016, Januar 2018

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Philipp Bobrowski

Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-95824-529-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Geheime Rache« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Angela Lautenschläger

Geheime Rache

Ein Fall für Engel und Sander

dotbooks.

Kapitel 1

Irgendein Scherzkeks hatte auf dem Gehweg vor dem Schaufenster ihres Büros, dem ehemaligen Feinkostgeschäft Riekmann, einen Schneemann gebaut, der jetzt zu ihr hereinsah. Sie mochte diesen Winter. Seit einigen Tagen lagen die Temperaturen unter null, so dass der Schnee, der täglich fiel, auch liegen blieb und lediglich auf den Straßen zu unansehnlichem Schneematsch mutierte.

Friedelinde zog ihre Strickjacke um die Schultern zusammen und pustete in ihren heißen Tee. Es fielen bereits wieder Schneeflocken vor ihrem Fenster. Passanten eilten mit ihren Einkäufen und Taschen vorüber. Eigentlich musste sie auch noch einmal weg, aber im Moment wartete sie auf ihre Freundin Marie, die vorhin angerufen und eine Überraschung angekündigt hatte. Inzwischen war es beinahe zwölf Uhr, und sie hatte keine Lust, erst loszufahren, wenn es dunkel wurde. Aber ein bisschen Zeit hatte sie noch, auch wenn die Lust, das kuschelig warme Büro zu verlassen, mit jeder Minute sank.

Sie ging zum Schreibtisch hinüber, auf dem die Akte zu ihrer jüngsten Nachlasspflegschaft lag. Bisher kannte sie nur den Inhalt der Gerichtsakte, und sie hatte mit der Bank der Toten Kontakt gehabt. Deshalb war ihre Akte noch ziemlich dünn, ebenso wie ihr Kenntnisstand. Sie stellte ihren Teebecher neben dem Stapel mit der Eingangspost ab. Wenn sie den Nachlass alter Menschen zu regeln hatte, war das der natürliche Lauf der Dinge, aber Charlotte Belling war erst 42 Jahre alt gewesen. Und sie war im Eis eingebrochen und ertrunken. Oder erfroren. Oder beides zusammen. Das war vor einer Woche unbemerkt geschehen, am nächsten Tag war sie nicht zur Arbeit erschienen. Die Polizei hatte nach ihr gesucht, wobei Friedelinde allerdings den Eindruck hatte, dass die Suche nicht sehr angestrengt verlaufen war. Einen Hinweis hatte schließlich der Wagen von Charlotte Belling gegeben, der auf einem Parkplatz an einem einsamen See gestanden hatte. Und in diesem See war schließlich ihr Leichnam gefunden worden. Alles in allem eher dürftige Informationen.

Friedelinde setzte sich und blätterte einige Seiten weiter. Die Bank hingegen hatte sich deutlich mehr ins Zeug gelegt. Offenbar kniff es in Charlotte Bellings finanzieller Lage. Ihre Eigentumswohnung war noch hoch belastet, und die Bank schien zu befürchten, dass die Darlehensrückzahlung ausblieb. Darum würde sie sich allerdings erst an zweiter Stelle kümmern. Vermutlich würde sie die Wohnung ohnehin verkaufen müssen, um das Darlehen tilgen zu können. Und ob sie dann noch Erben ermitteln würde, hing davon ab, ob am Ende Geld übrig blieb. Friedelinde streckte sich und sah nach draußen. Man sollte wirklich mal wieder selbst einen Schneemann bauen.

Sie schrak zusammen, als die Türglocke, ein Überbleibsel des Feinkostgeschäfts, läutete.

»Hi, da bin ich.« Marie brachte einen Schwall kühler Luft und Schnee mit herein.

»Tür zu, Marie.« Friedelinde fröstelte.

Marie hängte ihre Jacke an den Garderobenständer und zog sich die Mütze vom Kopf. Anschließend putzte sie sich die Stiefel umständlich auf der Fußmatte ab.

»Nun mach es nicht so spannend, Marie. Ich muss los.«

Marie wandte sich ihr zu und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Sie ließ sich auf den Besucherstuhl fallen und beugte sich vor, um an Friedelindes Becher zu gelangen.

»Was ist das für ein Tee?«

»Schwarzer Tee mit Vanillearoma.«

»Oh Gott.«

»Vanillearoma, Marie. Kein Arsen. Ich trinke den seit Jahren. Du übrigens auch.«

»Hast du nicht etwas anderes?«

»Doch. Kaffee, Wein, Wasser.«

»Anderen Tee.«

»Nein. Was wolltest du mir sagen, Marie?

»Nun, wir werden hier in den nächsten Wochen einiges ändern.«

Friedelinde hob eine Augenbraue. »Das wüsste ich aber, wenn sich in meinem Wohnbüro irgendetwas ändert. Und hör mal auf so zu grinsen.«

»Bist du bereit?«

»Wozu? Brauchst du medizinische Hilfe?«

»So in etwa.« Marie nahm ihre Handtasche vom Boden auf und wühlte darin herum, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.

Es dauerte eine Weile, bis Friedelinde begriff, was sie da sah. »Du bist schwanger?«, rief sie, nachdem sie begriffen hatte, dass sie die Ultraschallaufnahme eines Fötus in Händen hielt.

»Und wie! Im doppelten Sinne.«

Friedelinde stürzte um den Tisch herum. »Hach, das ist toll, ich freue mich.«

»Das kannst du auch«, antwortete Marie, nachdem sie sich ausführlich geherzt hatten. »Du wirst künftig viel zu tun haben.«

»Wieso ich? Ich bin nicht schwanger. Ich weiß das nur zu genau.«

Marie lief in die Küche von Friedelindes angrenzender Wohnung. »Du kannst eines abhaben.«

Friedelinde folgte ihr. »Wovon?«

»Hast du nicht hingeguckt?«

»Wenn du mir nicht gesagt hättest, dass du schwanger bist, hätte ich gedacht, dass du schwer krank bist. Ich weiß nicht, was man in diesem Schwarz-weiß-Gekrissel erkennen soll.«

Marie ließ Wasser aus dem Hahn in ein Wasserglas laufen. »Ultraschall, Friedelinde. Und was du dort siehst, sind zwei sich entwickelnde Lebewesen.«

»Zwillinge? Du bekommst Zwillinge«, stellte Friedelinde fassungslos fest. Marie war schon immer maßlos gewesen. Selbst ihre Hochzeit hatte sie wie eine Prinzessin feiern wollen, wozu es schließlich nicht gekommen war. Friedelinde war nicht ganz unschuldig daran, dass sie schließlich im Waschsalon ihrer gemeinsamen Freundin Elvira auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf eher unkonventionelle Weise gefeiert hatten.

»Toll, nicht?«

»Ja, wirklich toll.« Friedelinde lehnte am Küchenschrank, während Marie ihr gegenüber auf der Arbeitsplatte saß. »Und was sagt Pablo dazu?«

»Das wird eine Überraschung!« Marie strahlte.

»Mit anderen Worten, er weiß es noch nicht?«

»Richtig.«

Friedelinde zögerte, aber schließlich rang sie sich doch dazu durch, ihre Freundin zu ermahnen. »Du sagst es ihm aber gleich. Gleich, wenn du rübergehst.«

»Das mache ich. Der wird Augen machen.«

»Das glaube ich auch. Und was ist mit der Flamencoschule?«

»Was soll damit sein? Die liegt auf der anderen Seite des Innenhofs, und Pablo spielt Gitarre.«

»Und du gibst Tanzunterricht. Das dürfte dir in Kürze sehr schwer fallen. Ihr braucht dann Ersatz.«

»Können wir uns nicht leisten.«

»Ihr könnt es euch aber auch nicht leisten, keinen Unterricht zu geben. Abgesehen davon, dass euch die Einnahmen fehlen, werden euch die Schülerinnen weglaufen.«

»Und jetzt?«

Friedelinde stellte ihren leeren Teebecher ab. »Wie auch immer. Ich muss jetzt los, und du weißt selbst genau, wie es beinahe ausgegangen wäre, als du Pablo nicht in die Vorbereitungen für seine eigene Eheschließung eingebunden hast.«

Marie hopste von der Arbeitsplatte und folgte Friedelinde in das Büro. »Wohin musst du denn?«

»Nach Eimsbüttel.«

»Prima, dann kannst du mich beim Drogeriemarkt absetzen. Ich muss jetzt Fencheltee und allerhand anderes Gesundes zu mir nehmen.«

»Ich setz dich gern dort ab, aber deine gesunden Sachen kannst du allein zu dir nehmen.«

Der Schneefall nahm zu, nachdem sie Marie abgesetzt hatte, und Friedelinde kam nur langsam voran. Der Räumdienst schaffte seine Arbeit nicht mehr, und die Autofahrer teilten sich in zwei Fraktionen: die einen, die mit nicht einmal 30 Stundenkilometern dahinschlichen und vorsorglich 50 Meter vor einer grünen Ampel bremsten, und die Hartgesottenen, die beschlossen hatten, jede Verkehrsbeeinträchtigung zu ignorieren.

Als sie endlich angekommen war, quetschte Friedelinde ihren Wagen in eine Parklücke zwischen einem schneebedeckten Auto und einem Schneehaufen und ging die paar Meter zu dem Haus, in dem Charlotte Belling gewohnt hatte. Das Sechsparteienhaus lag zwischen zwei schicken Altbauten und war nach Friedelindes Einschätzung erst etwa zehn Jahre alt. Sie nahm das Schlüsselbund hervor, das die Polizei in Charlotte Bellings Tasche gefunden und das sie auf dem Polizeirevier abgeholt hatte, und suchte den Haustürschlüssel heraus. Nach einer Weile hatte sie den passenden Schlüssel gefunden und schob die Tür auf. Der Hausflur war sauber, die Briefkästen ordentlich beschriftet. Ihr fiel eine ganze Menge Post entgegen, als sie die Klappe öffnete. Die Wohnung lag im zweiten Stock auf der rechten Seite. Sie öffnete die Tür und lauschte einen Moment in die Stille, ehe sie die Wohnungstür hinter sich schloss.

Für die 200.000 Euro, die die Wohnung gekostet hatte, war sie ziemlich klein. Von einem kleinen Flur ging auf der rechten Seite ein kleines Bad ab, nebenan lag das Schlafzimmer, gegenüber das Wohnzimmer mit einem kleinen Balkon, der ausreichte, dass sich eine Person darauf einmal umdrehte, und dann war da noch die Küche. Im Abtropfkorb standen ein Teller und ein Becher, der Kühlschrank war einigermaßen gut bestückt, jedenfalls besser als ihr eigener. In der Badewanne stand ein Wäschetrockner mit Wäsche, im Schlafzimmer ein kleiner Sekretär, über dem zahlreiche Kinderzeichnungen an der Wand hingen. Friedelinde nahm die ordentlich beschrifteten Ordner und Mappen aus dem Schränkchen und packte sie in ihre mitgebrachte Tasche. Eine Wohnung in gutem Zustand und guter Lage. Es würde vermutlich leicht werden, sie zu verkaufen, allerdings war es fraglich, ob sie dafür auch den erforderlichen Preis würde erzielen können.

Als sie die Wohnungstür abschloss, wurde die Tür der gegenüberliegenden Wohnung geöffnet. Eine alte Frau sah heraus. »Guten Tag«, grüßte sie, und es klang fragend.

»Hallo.« Friedelinde ging auf sie zu. Sie wusste, dass Nachbarn misstrauisch reagierten, wenn ein Fremder aus der Wohnung eines Verstorbenen trat, noch dazu mit mehr Gepäck als er beim Hineingehen hatte. »Ich bin Friedelinde Engel, Nachlasspflegerin für Frau Belling.«

»Dann stimmt es also. Die junge Frau ist tot?«

»Ja.«

Die Frau kniff die Augen zusammen. »Sie soll sich umgebracht haben.«

»Tja, das weiß man nicht so genau.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Hätte ich nicht gedacht, na ja, man kann in einen Menschen nicht hineinsehen.« Die Frau seufzte. »Ist vielleicht unpassend, aber falls Sie vorhaben, die Wohnung zu verkaufen. Ich wäre daran interessiert. Also nicht ich, aber mein Sohn.« Sie senkte die Stimme. »Er hat sich gerade von seiner Frau getrennt und braucht eine neue Wohnung. Und es wäre schön, wenn er in meiner Nähe wäre.«

»Es kann schon sein, dass ich die Wohnung verkaufen werde. Das kann ich aber heute noch nicht sagen. Vielleicht schreiben Sie mir Ihre Nummer mal auf.« Friedelinde griff in ihre Handtasche. »Und ich gebe Ihnen meine Visitenkarte.«

Die Nachbarin hieß Keller und schrieb vorsorglich auch die Nummer ihres Sohnes auf. Auch wenn Friedelinde Verständnis dafür hatte, dass Mutter und Sohn die günstige Gelegenheit ausnutzen wollten, machte sie Frau Keller klar, dass es einfach eine Frage des Preises war, an wen sie die Wohnung verkaufen würde.

Friedelinde kehrte noch vor Einbruch der Dämmerung in ihr Büro zurück und widmete sich Charlotte Bellings Unterlagen.

Henriette Klaws legte den Telefonhörer auf und flitzte drei Schreibtische weiter durch das Dienstzimmer, wo sie schlitternd vor dem Schreibtisch von POM Helmut Kahn zum Stehen kam, der eben eine Zwischenmahlzeit einnahm.

»Wir müssen los«, sagte sie atemlos. »Verkehrsunfall.«

Helmut Kahn ließ den Blick von seiner angebissenen Stulle zum Cappuccino aus der Kantine wandern. Bei diesen Witterungsverhältnissen war diese Nachricht nichts, was einen gestandenen Polizeibeamten von seiner wohlverdienten Mahlzeit abhielt. Aber die junge Beamtin kam frisch von der Polizeischule, und er hatte den bösen Verdacht, dass der Polizeipräsident sich irgendetwas dabei gedacht hatte, ihm die junge Elevin zuzuteilen. Als er die Mitteilung erhalten hatte, waren ihm unvermittelt Begriffe wie frischer Wind und neue Besen kehren gut durch den Kopf gegangen.

Helmut biss von seiner Stulle ab. »Gleich.«

»Ist aber UK 1«, erklärte Henriette freudestrahlend.

Helmut schluckte runter und nahm einen Schluck Cappuccino. Noch ein Grund weniger, in Hektik zu verfallen. Wenn es einen Getöteten gab, konnte der ihn wenigstens nicht anmotzen, weil er so lange auf die Polizei warten musste.

»Mit Fahrerflucht!« Henriette strahlte.

Oh Mann, was machten die auf der Polizeischule heutzutage mit den jungen Dingern, dass die sich nichts Schöneres vorstellen konnten, als bei Eiseskälte im Schneematsch einen Verkehrsunfall mit Leiche zu untersuchen. Das war doch – krank! Seufzend erhob sich Helmut, trank den Cappuccino auf ex und nahm die Stulle in die Hand. »Von mir aus können wir los«, brummte er.

PM Klaws heizte vom Polizeipräsidium in Alsterdorf zum Unfallort in Lurup, als gelte es, auf dem Weg dorthin weitere Unfälle zu verursachen, damit sie ordentlich was zu tun hatte. POM Kahn nahm davon Abstand, während der Fahrt von seinem Brot abzubeißen.

Am Ziel angekommen hievte er sich ächzend aus dem Wagen, den Henriette rumpelnd auf dem schneebedeckten Gehweg abgestellt hatte, zwei Räder auf dem Weg, zwei noch auf der Fahrbahn. Es war ihm ein Rätsel, wie sie überhaupt ihren Führerschein bekommen hatte, geschweige denn in den Polizeidienst aufgenommen worden war. Na ja, blond und hübsch. Vielleicht reichte das heute schon.

Er knallte die Fahrzeugtür zu und warf den neugierigen Gaffern böse Blicke zu. Selbst das Wetter hatte die Menschen nicht davon abgebracht, auf die Straße zu gehen und auf einen Toten herabzuglotzen. Er wusste, dass das Blaulicht auf dem Dach ihres Fahrzeuges, das über die Häuserfassaden und die Gesichter der Menschen huschte, der Szenerie einen ganz besonderen Kick gab.

Die Hände ins Kreuz gestemmt betrachtete er den Unfallort. Die Luruper Hauptstraße war hier eine eigentlich vierspurige Verkehrsader, die in den Nordwesten Hamburgs und schließlich aus der Stadt hinausführte. Allerdings waren die äußeren Spuren in beide Fahrtrichtungen zum Abstellen von Fahrzeugen freigegeben, so dass die Straße hier nur zweispurig befahrbar war.

Er erblickte Henriette, die hektisch durch die Landschaft lief, und griff seufzend zum Funkgerät. »Klaws«, sagte er mit sonorer Stimme. »Rufen Sie mal vier Funkstreifen, zwei Wagen sollen die Straße an den nächstliegenden Querstraßen absperren, und die Besatzungen der anderen sollen diese Menschen hier verscheuchen. Solange hier keine Ruhe einkehrt, machen wir gar nichts.«

Auf der stadtauswärts führenden Spur lag ein Toter im Schneematsch, vier Meter dahinter begann eine Wagenschlange. Auch auf der Gegenspur hatte sich ein Stau gebildet, obwohl die Fahrbahn dort offenbar nicht von dem Unfall beeinträchtigt worden war. Helmut griff wieder zum Funkgerät. »Klaws, alles, was stadteinwärts will, weiterfahren lassen. Die sollen hier nicht alles verstopfen. Sonst sind sie wegen Behinderung der Ermittlungen dran.« Helmut war sicher, dass sich die Leute ganz schnell verdünnisieren würden, ehe sie Gefahr liefen, am Ende des Tages Opfer der Bürokratie zu werden. »Haben Sie die Kollegen alarmiert?«

»Ja, hab ich«, kam es mit piepsiger Stimme aus dem Funkgerät. Hatte offenbar doch nicht so viel Pep wie gedacht.

Helmut stapfte durch den Schneematsch zu dem Toten auf der Fahrbahn und fühlte vorsorglich den Puls am Hals. Hatte ja keinen Zweck, davon auszugehen, dass der Mann tot war und tatsächlich lebte der noch und erfror ihnen jetzt hier. Der lebte aber nicht mehr. Lag auch ziemlich verdreht da und hatte offenbar eine Menge Blut verloren. Helmut griff wieder zum Funkgerät. »Klaws, sind Gerichtsmedizin und Bestatter unterrichtet?«

»Äh, Bestatter und Notarzt ja, Gerichtsmedizin wusste ich jetzt nicht …«

»Machen Sie mal lieber, kann uns hinterher keiner einen Strick draus drehen.«

»Okay.«

Helmut ging auf das erste Fahrzeug hinter dem Toten zu. In der geöffneten Fahrertür stand ein Mann, den Arm über die Tür gehängt. Er hatte sich vermutlich damit abgefunden, dass sich sein Feierabend im schleswig-holsteinischen Eigenheim noch etwas hinauszögern würde.

»Moin, Polizeiobermeister Kahn, was haben Sie denn gesehen?«

»Ähm, ich hab gesehen, dass hier rechts aus einer Parklücke, etwa auf meiner Höhe, ein Fahrzeug ausgeschert ist. Der ist direkt vor mir in meinen Sicherheitsabstand zum Vordermann rein. Ich hab den angehupt, aber der hat Gas gegeben und ist losgerast, und dann hab ich aus dem Augenwinkel gesehen, dass von rechts jemand auf die Fahrbahn gelaufen ist.« Der Mann sah an Kahn vorbei auf den Unfallort. »Der war dann plötzlich weg, das Fahrzeug von dem Raser machte einen kleinen Hopser, und dann war das Auto weg, und der Mann lag auf der Straße.« Er nickte. »Ja, so war das.« Er sah auf seinen Hintermann. »Man kann ja von Glück sagen, dass die Leute im Moment so schleichen. Ich bin sofort in die Eisen. Der hinter mir wär mir ja sofort hinten draufgeknallt.«

»Wo ist das Fahrzeug ausgeschert?«

»Etwa zehn Meter weiter hinten, würde ich jetzt mal schätzen.«

Kahn nickte. »Was war das denn für ein Fahrzeug, das sich da vor Sie gesetzt hat?«

»Ich würde sagen A-Klasse, schwarz.«

»Haben Sie was vom Kennzeichen gesehen?«

Der Mann schob die Unterlippe vor. »Hinten vielleicht eine Sieben, aber aufs Nummernschild hab ich natürlich nicht geachtet.«

»Und haben Sie was vom Fahrer erkennen können?«

»Nein. Der war ja erst gleichauf mit mir und ist dann an mir vorbeigezogen. Von dem hab ich gar nichts gesehen.«

»Gut.« Kahn fingerte eine Visitenkarte aus der Brusttasche. »Wenn Ihnen was einfällt, rufen Sie mich an.«

Anschließend notierte er die Personalien des Mannes. Christian Schuster aus Rellingen, einer kleinen Gemeinde in Schleswig-Holstein. Die Menschen waren heute so berechenbar. Nach so vielen Dienstjahren brauchte Kahn inzwischen nur noch einen Blick auf das Kennzeichen, den Fahrzeugtyp und den Zeugen zu werfen, um eine bildliche Vorstellung von dessen Lebensumständen zu haben. Er ging zu dem Hintermann weiter, der bestätigen konnte, dass sein Vordermann unvermittelt gebremst hatte, so dass er Mühe gehabt hatte, nicht aufzufahren. Von rechts war wohl ein anderes Fahrzeug aus der Parklücke geschert und hatte sich vorgedrängelt. Von einem Fußgänger habe er nichts sehen können. Der nächste Fahrer konnte das alles nur noch schemenhaft bestätigen, und danach schimpften alle nur noch, weil sie nichts gesehen und keine Ahnung hatten, warum es nicht endlich weiterging.

Klaws hatte derweil den Gegenverkehr weiterfahren lassen. Derjenige, der von der Gegenspur etwas hätte sehen können, war natürlich direkt nach dem Vorfall weitergefahren. Gestanden und geglotzt hatten nur noch die Nachfolger.

Die Absperrungen griffen inzwischen, es rückten keine neuen Fahrzeuge nach, und die sich hinter Schuster stauenden Fahrzeuge wurden über die Gegenfahrbahn um den Unfallort herumgeleitet. Kahn atmete auf, als auch die Gaffer verscheucht und die Straße menschenleer war. Bis auf den Toten. Die herbeigerufenen Kollegen begannen bereits mit der Spurensicherung, während die Klaws daneben stand und von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Die hatte inzwischen schon eine rote Nase und würde vermutlich doch lieber im geheizten Dienstzimmer sitzen und Berichte schreiben. Er ließ sie hektisch auf und ab laufen, hinter Hecken gucken und die nicht verwertbaren Spuren im Matsch auf der Straße suchen. Das Leben war ein Lernprozess, und die Ausbildung war Teil des Lebens.

Charlotte Belling war von Beruf Kindergärtnerin gewesen und hatte 1.710 Euro netto verdient. An die Bank hatte sie monatlich 590 Euro für das Darlehen gezahlt, das monatliche Wohngeld betrug 290 Euro. Blieben zum Leben 830 Euro. Davon hatte sie ihr Auto, Lebensmittel, Kleidung und was man sonst noch so zum Leben brauchte bezahlt. Sie war nie verheiratet gewesen und hatte allein gelebt. Es gab auch keinen Hinweis darauf, dass sie einen Freund hatte.

Tja, stellte Friedelinde fest. Zu derselben Erkenntnis würde der Nachlasspfleger kommen, der sich mit ihrem eigenen bescheidenen Nachlass befassen würde. Und da es ihr selbst gut ging, bestand eigentlich keine Veranlassung, Mitleid mit Charlotte Belling zu haben. Jedenfalls nicht mit ihrem Leben.

Friedelinde schrieb ein paar Briefe an Versicherungen und andere Institutionen und googelte dann den Preis für Zweizimmerwohnungen in Eimsbüttel. Die Preisspanne lag zwischen 170.000 und 230.000 Euro. Vielleicht würde sie doch den erforderlichen Kaufpreis erzielen können, um das Darlehen abzulösen.

Ein bisschen Sorge machte ihr noch das Auto der Toten. Das stand immer noch auf dem Parkplatz bei dem See, in dem Charlotte Belling ertrunken war. Der Mözener See lag in der Nähe von Bad Segeberg, über die Autobahn etwas mehr als 60 Kilometer von Hamburg entfernt. Friedelinde hätte gern gewusst, was die Frau dort gewollt hatte. Die Vermutung der Polizei, dass sie sich dort umbringen wollte, konnte Friedelinde nicht nachvollziehen. Zum einen gab es keinen Anhaltspunkt dafür, dass sich Charlotte Belling überhaupt das Leben nehmen wollte, zum anderen konnte sie keine Verbindung zwischen der Toten und dem See erkennen. Wenn man unbedingt im Winter ertrinken wollte, lagen Alster und Elbe deutlich näher. Die Chancen, auf dem Weg zum Mözener See auf vereisten Straßen zu verunglücken, waren allerdings groß – wenn man es dem Zufall überlassen wollte, wie und wo man sein Leben aushauchte. Aber der Weg zum Mözener See war einigermaßen umständlich, und es war unklar, warum Charlotte Belling sich bei diesen Witterungsverhältnissen auf den Weg dorthin gemacht hatte. Wenn es in der Nacht nicht wieder wie verrückt schneite, würde Friedelinde morgen dorthin fahren und das Auto suchen. Jetzt hatte sie erst mal Hunger. Sie knipste die Schreibtischlampe aus.

An das Ladenbüro grenzte direkt ihre Wohnung mit zwei Zimmern, Küche und Bad an. Da der Kühlschrank allerdings nicht sehr voll war, hatte es wenig Wert, sich darin nach Essbarem umzusehen. Friedelinde zog ihren Mantel an und schloss die Bürotür von außen, dann huschte sie ein paar Häuser weiter zum Kebabladen. Mit einem leckeren Döner bewaffnet wechselte sie die Straßenseite und betrat den Waschsalon. Drei Kunden widmeten sich darin ihrer Wäsche, von der Inhaberin Elvira Schmidt war nichts zu sehen. Auch nicht von Marie, die hier eigentlich ihre gesamte Freizeit verbrachte, wenn sie nicht gerade Flamencounterricht gab oder Friedelindes Büro belagerte. Das würde vermutlich in der nächsten Zeit auch eher weniger der Fall sein. Friedelinde hängte ihren Mantel über einen Barhocker vor dem Tresen und packte ihren Döner aus. Irgendwann würde Elvira schon wieder auftauchen.

Sie hopste auf einen Hocker und biss herzhaft in das gefüllte Fladenbrot, als Elvira ächzend einen Karton aus dem Raum hinter dem Laden hereintrug.

»Ah, hab ich doch gerochen, dass es hier etwas zu essen gibt.« Elvira hievte den Karton auf den Tisch hinter dem Tresen.

»Ich hab dir keinen mitgebracht.«

»Ist auch besser so.« Elvira schlug sich auf ihre stattliche Körpermitte. »So, mal sehen, was wir hier haben.« Sie faltete den Deckel auf und griff in den Karton hinein, aus dem sie einige Kleidungsstücke hervorholte.

»Ich denke, du hast keine Kinder?«, stellte Friedelinde mit fragendem Unterton fest.

»Hab ich auch nicht. Aber in so einem Waschsalon bleibt allerhand liegen. Man glaubt es nicht, aber die Leute waschen hier ihre Socken und nehmen nur eine wieder mit nach Hause.«

»Na ja, weil die andere von der Waschmaschine gefressen wurde.« Damit handelte sie sich einen strafenden Blick von Elvira ein.

»Du redest auch so einen Schwachsinn. Das Phänomen der gefressenen Socke.«

Friedelinde hob die Schultern.

»Hier.« Elvira hielt einen Strampelanzug in die Höhe. »Der ist doch noch gut, oder?«

»Von hier aus sieht er ganz okay aus. Hast du was zu trinken?«

»Gleich.« Elvira holte weitere Sachen aus dem Karton. Handtücher, Socken, T-Shirts, Hemden, Bettlaken.

»Verstehe. Du hast die Aussteuer für die zwei Blagen schon zusammen.«

»Tu mir einen Gefallen und sei nett zu Marie. Die Hormone einer Schwangeren sind ohnehin schon durcheinander, da braucht sie nicht auch noch kluge Sprüche.«

»Falls du darauf anspielst, dass ich ihr geraten habe, ihren Ehegatten vorsorglich darauf hinzuweisen, dass er in Kürze Vater von Zwillingen wird, kann ich dir nur sagen, dass ich dazu stehe. Du weißt, dass ihre Heimlichtuerei bei den Hochzeitsvorbereitungen beinahe nach hinten losgegangen wäre. Wir würden uns dann nicht über zwei neue Erdenbürger, sondern über ihre Trennung unterhalten.«

Seufzend packte Elvira alles, was nicht kindgerecht war, wieder zurück. »Du hast ja recht. Es wäre trotzdem schön, wenn du etwas mehr Feinfühligkeit walten lassen könntest.«

»Mach ich. Wie sieht’s jetzt mit was zu trinken aus?«

Elvira stellte den Karton auf den Boden und betrachtete den mickrigen Haufen, der übrig geblieben war. »Sieh dir das an. Die Leute kriegen so wenig Kinder, dass sie noch nicht mal genug Kleidungsstücke zum Verlieren übrig haben.«

Friedelinde ließ diese merkwürdige Theorie unkommentiert und nahm das Glas Rotwein entgegen, das Elvira ihr reichte. Sie hatte eben daran genippt, als Marie neben ihr auftauchte.

»Hi.«

»Hi.« Friedelinde betrachtete die Jutetasche, die ihre Freundin auf den Tresen warf. Die wiederum betrachtete naserümpfend Friedelindes Mahlzeit.

»Also ernährungstechnisch ist das, was du da zu dir nimmst, ganz weit hinten.« Marie zog sich die Mütze vom Kopf, so dass die elektrisierten Haare zu Berge standen. »Fleisch zweifelhafter Herkunft, rohe Zwiebeln und was in dem restlichen Zeug an Bakterien herumschwirrt, will ich lieber gar nicht wissen.«

»Ich auch nicht.« Friedelinde biss noch mal ab. »Und das eine sage ich dir: Ich höre mir hier die nächsten neun Monate nicht täglich deine Kritik an meinen Mahlzeiten an.«

»Welche neun Monate?«

Friedelinde warf einen Blick auf Maries Bauch. Einen Bauch, der schon ziemlich rund war. Als sie ihren Blick hob, sah sie in Maries grinsendes Gesicht.

»Sechs Monate. Ihr habt alle gedacht, ich würde zu viel futtern.«

»Dann eben sechs Monate.«

»Ist okay, jeder bringt sich auf seine Weise um.« Marie leerte den Inhalt ihrer Tasche aus. »Hier Elvira, kannst du das für mich verstauen. Wenn ich zu dir komme, werde ich künftig nur diese Sachen hier verzehren.«

Etwas irritiert nahm Elvira Obst, Vollkornbrot, Gläser undefinierbaren Inhalts und kleine Döschen entgegen, auf denen Friedelinde die Worte Eisen, Spurenelemente, Vitamine entziffern konnte. Friedelinde schenkte Elvira ein freundliches Lächeln. Sie würden noch sehen, wer langmütiger im Umgang mit ihrer gemeinsamen Freundin war.

»Und, wie hat Pablo die Nachricht aufgenommen?«

»Er denkt, ich will abnehmen, weil wir uns jetzt künftig gesünder ernähren werden.«

»Marie!«

»Ja, was denn. Morgen früh sag ich es ihm gleich.«

Friedelinde knüllte die Alufolie ihres Döners zusammen. »Das tust du allerdings. Ich werde ihm jedenfalls mittags gratulieren.«

»Nun setz mich doch nicht so unter Druck. Das ist gar nicht gesund in meinem Zustand.«

»In deinem Zustand ist es auch nicht gesund, allein vor der Aufgabe zu stehen, zwei Kinder aufzuziehen. Warum sagst du es ihm nicht?«

Marie murmelte etwas.

»Wie?« Elvira beugte sich vor. »Ich hab nichts verstanden.«

»Ich auch nicht«, schloss sich Friedelinde an.

»Er hat neulich mal gesagt, dass wir uns mit Kindern noch Zeit lassen müssen, weil wir sie uns im Moment noch nicht leisten können«, sagte Marie so laut, dass einer der Kunden interessiert herübersah.

Friedelinde rollte mit den Augen.

Elvira tätschelte Maries Hand. »Schätzchen, wir sind doch bei euch. Wir helfen euch natürlich, wo wir können.« Sie stieß mit ihrem freien Ellenbogen Friedelinde an.

»Ja, natürlich helfen wir.« Friedelinde warf Elvira einen fragenden Blick zu. Wie zum Teufel sollten sie den beiden mit ihren Zwillingen helfen?

Marie gab Elvira ein Päckchen. »Kannst du mir davon mal einen Beutel aufbrühen?«

Elvira studierte die Aufschrift. »Fencheltee?«, fragte sie zweifelnd.

»Mir kannst du noch ein Glas Wein einschenken«, forderte Friedelinde Elvira auf.

»Was macht eigentlich dein Kommissar?«, fragte Elvira, während sie den Wasserkocher anstellte.

»Er ist nicht mein Kommissar.«

»Also, was macht der, der nicht dein Kommissar ist?«

»Er ruft mich hin und wieder an, und neulich waren wir mal essen.«

»Das war vor Weihnachten. Nach meiner Zeitrechnung ist das über einen Monat her.«

»Führst du Buch?«, Friedelinde hatte wirklich keine Lust, sich hier zu rechtfertigen. Das Thema Nicolas Sander gehörte zu den komplizierten Kapiteln ihres Lebens und ließ sich nicht zwischen Döner und Fencheltee klären. Der Mann zeigte deutliches Interesse an ihr und hatte mit Angeboten für Verabredungen in den letzten vier Wochen keineswegs gegeizt, aber er war nun trotzdem immer noch verheiratet und seine heimische Situation war so katastrophal verfahren, dass dagegen selbst Maries derzeitige Lebenssituation als ideal und problemlos bezeichnet werden konnte.

»Macht euch um mich mal keine Sorgen, ich kom…«

Friedelindes Handy unterbrach sie. Die Nummer auf dem Display kannte sie nicht, aber für den Fall, dass etwas mit ihrem Vater nicht stimmte, wollte sie das Gespräch lieber annehmen. »Engel?«

»Guten Abend, Frau Engel. Entschuldigen Sie, dass ich Sie vermutlich außerhalb Ihrer Bürozeiten anrufe. Mein Name ist Sven Keller. Sie haben heute mit meiner Mutter gesprochen.«

»Charlotte Bellings Nachbarin.«

»Genau. Meine Mutter hat mir gesagt, dass Sie Ihnen schon unser Interesse an der Wohnung deutlich gemacht hat. Ich will Sie auch keineswegs nerven, aber ich wollte mich einfach mal persönlich gemeldet haben. Sie hatten meiner Mutter erklärt, dass es eine Frage des Preises sei, an wen die Wohnung verkauft wird. Nun ist es so, dass meine Mutter allein lebt, und ich gern in ihrer Nähe wäre. Ich würde natürlich keinen astronomischen Preis zahlen, aber ich denke doch, dass ich ein gutes Angebot noch toppen würde, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Verstehe. Ich habe mich noch nicht abschließend damit befasst, was die Wohnung einbringen muss, um alle Nachlassverbindlichkeiten zu begleichen, aber wir können uns ja mal darüber unterhalten.«

»Ja, das wäre sehr schön. Also vielen Dank für Ihr Verständnis und einen schönen Abend noch.«

»Ihnen auch, danke.« Friedelinde drückte die rote Taste, versenkte das Handy in ihrer Manteltasche und sah in zwei sehr neugierige Gesichter. »Das war beruflich.«

»Aha.«

»Ja, es geht um eine Immobilie.« Dass der Mann eine sehr angenehme Telefonstimme hatte, ging die beiden nun wirklich nichts an.

Henriette unterdrückte ein Gähnen. Sie wettete eines ihrer kargen Monatsgehälter darauf, dass Kahn ihr gleich zum dritten Mal ihren Bericht zurückmailen würde, versehen mit Unterstreichungen und Anmerkungen. Die erste Fassung hatte er zwischenzeitlich derartig zusammengestrichen und mit kritischen Nachfragen versehen, dass davon kaum mehr als Datum und Uhrzeit übrig geblieben waren. Der ganze Bericht war auf eine lausige halbe Seite zusammengeschrumpft und enthielt überhaupt nichts Aussagekräftiges mehr. Wenn ein Außenstehender die letzte Fassung las, würde er sagen: Aha, irgendein Depp auf die Straße gerannt und von einem Mercedesfahrer, der es eilig hatte, plattgemacht worden. Alles, was Anhaltspunkte auf den tatsächlichen Ablauf gab, fehlte inzwischen, und dann war da auch noch ihr Bauchgefühl. Und ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass irgendetwas nicht stimmte. Dafür gab es natürlich keinen sachlichen Grund, wie das mit Bauchgefühlen nun mal so war, aber irgendwie glaubte sie einfach nicht, dass die Dinge so einfach lagen.

Und was sie überhaupt noch nicht gecheckt hatten, war das flüchtige Fahrzeug. Ein Mercedes A-Klasse mit einer Sieben als letzter Ziffer des Kennzeichens, wenn der Zeuge die letzte Zahl überhaupt richtig erkannt hatte. Sie rief die Datenbank mit den in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen auf und gab die wenigen bekannten Daten in die Suchmaske ein. Das Symbol für die Verarbeitung ließ sich ordentlich Zeit. Zeit, um sich eine Dose Cola aus dem Automaten auf dem Flur zu holen. Immerhin hatte sie noch eine Stunde Schicht, und sie war bereits jetzt hundemüde.

Als sie zurückkam, war die Datenbanksuche zwar noch nicht beendet, aber es war eine eMail von Kahn eingetroffen. In Erwartung weiterer Kritik klickte sie die Nachricht an, aber Kahn hatte geschrieben: Ist okay so. Also druckte sie die letzte Fassung aus und heftete sie in die dünne Unfallakte. Die ausführlichere erste Fassung hatte sie zusammengefaltet in die Innentasche ihrer Handtasche gesteckt, und da würde sie sie auch vorerst lassen. Sie würde zu Hause darüber nachdenken, was sie damit anstellte.

Das Wartesymbol verschwand von ihrem Bildschirm, und es erschien eine unendlich lange Liste mit in Betracht kommenden Fahrzeugen. Selbst wenn sie die Suche auf Hamburg beschränkte, blieben noch zu viele Fahrzeuge übrig. Und da auch Fahrzeuge aus Schleswig-Holstein in Betracht kamen, wurde die Liste eher länger. Ganz davon abgesehen gab es keinen Anhaltspunkt, dass der Fahrer aus einem der beiden Bundesländer stammen musste. Henriette hatte keine Ahnung, wie sie das Fahrzeug ausfindig machen sollten, geschweige denn den Fahrer.

Sander stieg die Treppe hinauf, schloss die Wohnungstür auf und stellte die Tüte mit seinen Einkäufen in die Küche. Er nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete es mit dem Öffner an seinem Schlüsselbund und drückte auf den Knopf vom Anrufbeantworter, der ihm durch hektisches Blinken mitzuteilen versuchte, dass er unbedingt eine Nachricht loswerden wollte.

»Nicolas, hier spricht Hilde. Ruf mich bitte umgehend an, wenn du die Nachricht abhörst. Ich habe dir etwas mitzuteilen.«

Er löschte die Nachricht und ging zum Fenster. Er hatte ungefähr so viel Lust, seine Schwiegermutter anzurufen, wie zum Zahnarzt zu gehen oder den Keller aufzuräumen. Irgendwas war im Busch, das spürte er. Seine Schwiegermutter würde nicht anrufen, wenn es nicht um etwas Wichtiges ginge, wobei eigentlich alles, was mit seiner Frau zu tun hatte, wichtig war. Aber es ärgerte ihn, dass sie tagsüber zu Hause bei ihm anrief und auf den AB quatschte, statt im Präsidium anzurufen, wo die Chance, ihn zu erreichen, hundert Mal größer gewesen wäre. Oder gleich auf dem Handy, wie es jeder normale Mensch tun würde. Nicht einmal, wenn es um ihre eigene Tochter ging, konnte sie es sich verkneifen, sich mit ihm anzulegen.

Sander rief nicht zurück. Er hatte Angst vor dem, was Hilde ihm mitteilen wollte.

Friedelinde wurde von Geklapper in ihrer Küche geweckt. Sie zog ihren Bademantel über und entdeckte Marie, die emsig wie eine Küchenfee war. Sie sollte wirklich darüber nachdenken, ihren Schlüssel für ihre Wohnung nicht mehr draußen zu verstecken.

»Morgen.«

»Ah, hallo. Ich hab dir Frühstück gemacht.«

Friedelinde beäugte ein Stück Vollkornbrot mit Hüttenkäse und schnupperte an einer Tasse Tee. »Wenn du vorhast, mich zu bestechen, musst du etwas servieren, was mir schmeckt.« Sie nahm ein Glas Nutella aus dem Schrank und steckte einen Teelöffel hinein, den sie genussvoll ableckte.

»Ich kann dir die Kinder später nicht überlassen, wenn du nicht verantwortungsbewusst bist. Du musst sie anständig ernähren.«

»Sag mal, ich glaube, es hakt. Der Kindsvater ist noch nicht mal ordnungsgemäß unterrichtet und ich soll schon deine Kinder aufziehen?« Friedelinde nahm Kaffeepulver aus dem Schrank und stellte den Wasserkocher noch mal an. »Bei mir werden die Kleinen wenigstens anständig ernährt. Wenn du sie mit deinem Hüttenkäse fütterst, werden sie schon im Säuglingsalter traumatisiert.« Sie brühte sich einen Becher Kaffee auf und ging in ihr Büro hinüber. Heute hatte ein anderer Scherzkeks dem Schneemann eine Schiebermütze aufgesetzt. Vielleicht war es auch derselbe gewesen, der ihn gebaut hatte. Es hatte offenbar nur wenig geschneit, jedenfalls lag nur eine leichte Puderschicht auf dem Gehweg.

Sie fuhr den PC hoch und checkte den Wetterbericht. Es gab keine Stau- oder Unfallmeldungen für die Autobahnen und Landstraßen, und es war erst wieder Schneefall für den Abend angekündigt.

Nachdem sie geduscht und ihre Aktentasche gepackt hatte, brachte sie den Becher mit dem Rest kalten Kaffee in die Küche zurück, wo Marie das für Friedelinde gedachte Frühstück verputzte.

»Ich muss jetzt los. Schließ hinter dir ab und sag Pablo Bescheid. Ich bin heute Mittag wieder da.«

Sie war weg, ehe Marie reagieren konnte. Mit einem Handfeger beseitigte Friedelinde die Schneeschicht von ihrem Auto, anschließend kratzte sie die Scheiben frei.

Als sie auf der Autobahn war, hatte es die Heizung geschafft, das Wageninnere zu erwärmen und die Scheiben frei zu halten. Friedelinde fuhr hundert Stundenkilometer, ließ die Eiligen an sich vorüberziehen und genoss den Blick über weite, schneebedeckte Felder. Dazwischen lagen malerische kleine Häusergruppen und Bäume mit weißen Kronen. Die Aussicht war so schön, dass sie beinahe die Ausfahrt verpasste.

Das Hinweisschild zum See war unter einer Schneeschicht kaum lesbar. Der Weg dorthin war nicht geräumt, und Friedelinde hoffte sehr, dass sie hier jemals wieder wegkam, wenn es ihr überhaupt gelang, nicht in den Spurrillen stecken zu bleiben. Aber es gelang ihr, und sie stellte den Wagen neben zwei anderen ab. Der pinkfarbene Polo neben ihrem Wagen war schneefrei und den Fahrspuren nach zu urteilen kurz vor ihrer Ankunft abgestellt worden, der andere unter einer dicken Schneeschicht verborgen. Es brauchte nicht viel Fantasie für die Entscheidung, welches der Opel Corsa von Charlotte Belling war.

Mit ihrem Handfeger entfernte sie die Schneeschicht von dem geparkten Wagen und sah durch die Seitenscheibe ins Auto. Auf dem Beifahrersitz lagen zwei Überraschungseier, eine Tüte Capri-Sonne und ein Stadtplan. Die Fernbedienung des Autoschlüssels versagte, weshalb sie es mit einem Türschlossenteiser und dem guten alten Autoschlüssel versuchte – und Erfolg hatte. Der Wagen ließ sich allerdings nicht mehr starten. Mit dem Handy rief sie im Auktionshaus Gerber an, die den Wagen abschleppen sollten. Während sie auf den Abschleppwagen wartete, guckte sie ins Handschuhfach und in den Kofferraum. Unter dem Beifahrersitz fand sie eine Kinderzeichnung.

»Entschuldigung?«

Friedelinde kämpfte sich aus dem Wagen. »Hallo.«

Neben der geöffneten Fahrertür stand eine dick eingemummelte Frau, neben ihr saß ein cremefarbener Retriever im Sand und sah treuherzig zu Friedelinde auf. »Ist das nicht der Wagen der toten Frau?«

»Ist er. Das ist der Wagen der Frau, die im See ertrunken ist. Ich bin ihre Nachlasspflegerin.«

»Ach, dann kommt der Wagen jetzt weg. Wissen Sie, ich hab mich schon ein bisschen gegruselt, weil die Frau schon so lange tot ist, und ihr Wagen steht immer noch hier.«

»Es kommt gleich ein Abschleppwagen und holt ihn ab.« Friedelinde beugte sich vor und ließ den Hund an ihrer Hand schnuppern. »Haben Sie die Frau gesehen?«

Die Spaziergängerin schüttelte den Kopf. »Nein. Siegfried und ich gehen immer mittags eine Runde um den See, wenn ich aus der Schule komme.« Der Hund klopfte bei der Nennung seines Namens mit der Rute auf den Schnee. »Ich habe in den letzten Tagen immerzu darüber nachgedacht, was hier mit dieser Frau passiert ist. Am vergangenen Mittwoch habe ich zwei Vertretungsstunden gemacht, deshalb waren wir etwas später unterwegs als sonst.« Die Frau wandte sich um und sah über den See. »Als wir hierherkamen, stand der Wagen schon da und die Frau war vermutlich bereits ertrunken.« Sie schüttelte sich. »Wenn ich nicht ausgerechnet an diesem Tag später hier gewesen wäre als sonst, hätte ich vielleicht irgendetwas tun können. Aber es läuft eben nicht immer alles gleich. Heute zum Beispiel sind wir schon unterwegs, weil die Heizung in der Schule defekt ist und der Unterricht ausfällt.«

»Seit wann ist der See schon zugefroren?«

»Seit Sonntag kann man drauf gehen. Es wird nicht mehr lange dauern und die Kinder kommen zum Schlittschuhlaufen her. Aber erst einmal schlafen sie aus.«

»Das heißt am vergangenen Mittwoch konnte man das Eis noch nicht betreten?«

»Nein, das Eis war noch sehr dünn und am Ufer noch richtig matschig.« Die Frau senkte den Blick zu Boden und tätschelte dann Siegfried den Kopf.

»Ja?«, fragte Friedelinde.

»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.« Sie sah Friedelinde an. »Immerhin ist der Tod doch von der Polizei untersucht worden.«

»Nur zu, auch die Polizei kann sich irren.«

»Ich weiß nicht, wie man so dumm sein kann, das Eis zu betreten, wenn es gerade mal zwei Tage gefroren hat. Na ja, vielleicht war es eben auch Absicht.«

»Haben Sie die Frau hier früher schon mal gesehen? Vielleicht im Sommer?«

»Ich weiß gar nicht, wie sie aussah. Und den Wagen kenne ich nur, weil er hier Tag und Nacht stehen geblieben ist.«

»Was macht man denn eigentlich hier so an diesem See? Außer drum herumgehen?«

Die Frau wandte sich um und zeigte mit dem Finger auf das linke Ufer. »Es gibt auf beiden Seiten des Sees einen Campingplatz, da ist vermutlich nicht viel los im Winter. Sonst gibt es hier viele Gassigeher wie uns, Spaziergänger, Jogger, Radfahrer.«

»Eine Menge los.«

»Nur nicht im Winter.«

Der Hund hatte sich von ihnen entfernt und schnupperte auf dem Boden um die Fahrzeuge herum.

»Siegfried wird unruhig. Wir müssen weiter.«

»Natürlich, vielen Dank. Auf Wiedersehen.«

Nachdem die Frau über den Parkplatz zu einem geräumten Weg in Richtung des Ortes gegangen war, ging Friedelinde zum See hinüber. Es gab einen langen Steg, der in den See hineinreichte. Es war für sie unvorstellbar, darauf entlangzugehen und sich am Ende in das eiskalte Wasser zu stürzen.

Vom Parkplatz ertönte ein lautes Hupen. Friedelinde winkte dem Abschlepper zu und lief zu Charlotte Bellings Opel.

Henriette Klaws atmete tief ein, klopfte an und öffnete im selben Augenblick die Tür. Polizeihauptkommissar Nicolas Sander hatte einen gewissen Ruf im Präsidium, und seit einiger Zeit machten Gerüchte im Flurfunk die Runde. Henriette hatte ihn bisher nur aus einiger Entfernung in der Kantine gesehen. Und die Kolleginnen kriegten sich immer gar nicht mehr ein, wenn von ihm die Rede war. Er sei der am besten aussehende Beamte im Präsidium und kein Neinsager. Aber es hatte keinen Zweck, sich ins Hemd zu machen. Damit kam man auf der Karriereleiter nicht weiter. Und jemand, der es mit POM Kahn aufnehmen konnte, würde wohl auch diesen Schönling knacken.

»Herr Polizeihauptkommissar Sander?«

Sander, der am Fenster gestanden und die Stirn gegen die kühle Scheibe gelehnt hatte, um seinen Blutdruck zu senken, fuhr herum. »Was!«

Die Polizistin blieb in der Tür stehen.

Sanders Blick fiel auf den leeren Schreibtisch seines Kollegen Gernot Hagemann, der seit einer Woche wegen Grippe krankgeschrieben war, und ihm in jeder Hinsicht fehlte.

»Was gibt es?«, fragte er in einem Tonfall, der die vorherige Abfuhr leicht abschwächte. Gernot wäre immer noch nicht zufrieden.

»Sie sind der einzige anwesende Kommissar der Mordkommission«, fuhr die Beamtin fort. »Die anderen sind krank oder beschäftigt.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Also gerade in Mordermittlungen … Kann ich Sie kurz sprechen?«

»Kommen Sie rein.« Sander wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Bin gleich wieder da.« Er entlockte dem Automaten auf dem Gang zwei Coladosen und stellte ihr eine hin.

»Vielen Dank.« Sie stand wieder auf, ging um den Schreibtisch herum und legte Sander eine Akte hin. Dann zog sie ein klitzeklein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Hosentasche, faltete es auseinander und strich es glatt, ehe sie sich wieder setzte.

Sander öffnete seine Dose und sah sie an. »Worum geht’s?«

»Ich bin Polizeimeisterin Henriette Klaws vom Verkehr.« Sie errötete leicht. »Wir haben gestern einen Verkehrsunfall mit Todesfolge untersucht.«

»Wer ist wir?«

»Polizeiobermeister Helmut Kahn und ich. Also, Herr Kahn leitet die Ermittlungen.«

»Warum sprechen wir beide jetzt miteinander und nicht Sie mit Ihrem Vorgesetzten?«

»Weil POM Kahn und ich unterschiedlicher Auffassung über den Fortgang der Ermittlungen sind. Also, vielleicht wird es deutlicher, wenn Sie den Bericht in der Akte und den Bericht, den ich Ihnen oben drauf gelegt habe, miteinander vergleichen.«

Sander seufzte, nahm einen Schluck Cola und schlug die Akte auf. Er las alles durch, auch den zerknitterten Bericht. Anschließend sah er Frau Klaws auffordernd an.

»Herr Kahn hat mich dazu veranlasst, den Bericht um die meines Erachtens ermittlungsrelevanten Punkte zu kürzen. Die Witterungsverhältnisse waren wegen der einsetzenden Dunkelheit und der Schneedecke auf der Fahrbahn ausgesprochen schlecht für die Spurensicherung.«

»Verstehe. Und weiter?«

»Nun, es könnte ja immerhin sein, dass der zeitliche Zusammenhang zwischen dem rücksichtslosen Ausscheren des Fahrzeugs und dem Zeitpunkt, zu dem der Mann auf die Straße gerannt ist, eine Bedeutung hat.«

»Warum?«

»Ist nur so ein Bauchgefühl.«

»Bei den Sicherungsmaßnahmen haben Sie erwähnt, dass Sie die Schaulustigen durch eine herbeigerufene Streife haben verstreuen lassen. Wurden die vorher befragt?«

Frau Klaws stieg erneut die Röte ins Gesicht. »Scheiße!«, sagte sie leise.

»Gab es keine entsprechende Anweisung von POM Kahn?«

»Er hat gesagt, ich soll die Leute zum Weiterfahren veranlassen.«

»Was wissen wir über das Opfer?«

»Sebastian Kraft, 38 Jahre alt, hat eine Freundin und hat in einer Firma, die Werbemittel herstellt, gearbeitet.«

»Welche Veranlassung hatte er, in den Verkehr auf der Luruper Hauptstraße zu laufen?«

Henriette Klaws hob die Schultern.

»Und das Tatfahrzeug?«

Sie hob wieder die Schultern.

Sander drehte sich mit seinem Drehstuhl um und sah aus dem Fenster. Noch nie hatte er Gernot so sehr herbeigesehnt wie jetzt. Er drehte sich wieder zurück. »Wissen Sie, das Problem ist nicht Ihr Bauchgefühl und auch nicht die total verkackte Ermittlung. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, wie ich das Ganze Helmut Kahn verklickern soll, ohne dass ich ihm eine reinhaue. Oder er mir. Oder es sonst irgendeinen Zoff hier im Haus gibt.«

»Okay.« Henriette stand auf und nahm die Akte an sich. »Verstehe.«

»Was?«

Sie war schon auf dem Weg zur Tür. »Dass es nicht geht.«

»Das hat keiner gesagt. Lassen Sie die Akte mal hier.«

Sie legte ihm die Akte mit einem flüchtigen Lächeln wieder hin.

»Oder machen Sie mir mal besser von allem eine Kopie und bringen diese Akte wieder dahin, wo sie hingehört. Ich sage Ihnen später, wie wir es machen.«

»Alles klar.« Sie war weg wie der Blitz.

Diese Klaws war niedlich. Und ehrgeizig. Kein Wunder, dass sie den Kahn als Klotz am Bein empfand. Natürlich konnte es alles so gewesen sein, dass ein an Selbstüberschätzung leidender Fußgänger einfach auf die Fahrbahn lief und überfahren wurde. Es konnte aber auch viel komplizierter sein. Es war nicht nur sein beruflicher Ehrgeiz, der ihn dazu brachte, ihr zu helfen. Er musste auch irgendetwas Positives machen. Irgendetwas, was ihn davon abbrachte, sich zu Tode zu ärgern. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Wenn er Hilde zurückgerufen hätte, wüsste er, was los ist. Um Mitternacht war er noch mal aufgestanden und hatte sich neben seine Whiskeyflasche gesetzt.

Das Telefon läutete.

»Sander.«

»Hallo, Herr Sander, Friedelinde Engel hier.«

»Hi.« Wahnsinn. In diesem ganzen Chaos rief sie an, und er freute sich.

»Haben Sie kurz Zeit?«

»Worum geht’s?«

»Ist was Berufliches.«

»Schade.«

»Nur der Anruf ist jetzt beruflich.«

»Meine letzten Verabredungsversuche haben Sie im Keim erstickt.«

»Verabredung gegen Hilfe. Okay?«

»Na schön.«

»Können Sie in Ihrem Computer mal den Todesfall Charlotte Belling checken?«

»Was ist mit der Frau?«

»Sie ist ertrunken. Ihre Kollegen wollten sich nicht festlegen, ob sie Selbstmord begangen hat oder einfach nur zu dumm war zu erkennen, dass das Eis vor einer Woche noch nicht tragfähig war.«

»Das kann doch sein.«

»Sie war Kindergärtnerin. Sie wäre nicht so dumm gewesen, auf den See zu gehen. Da war praktisch noch keine Eisschicht drauf.«

»Und warum kann sie nicht Selbstmord begangen haben?«

»Warum sollte sie? Das macht man nicht so einfach. Und dann auf so eine grausame Art und Weise. Und das Ganze auch noch an irgendeinem See in der Pampa, 60 Kilometer von zu Hause weg. Und man wäscht auch nicht vorher sein Frühstücksgeschirr ordentlich ab und hat den Kühlschrank voll.«

»Man weiß nicht, was einen Menschen dazu bewegt, seinem Leben ein Ende zu setzen.« Er wusste nur, dass ihm die jüngsten Ereignisse deutlich gemacht hatten, wie sehr er am Leben hing. Hatte Friedelinde vielleicht recht?

»Nein, das weiß man nicht. Deshalb muss man es ja auch untersuchen. Und den Hinweisen nachgehen. Es gibt jedenfalls keinen vernünftigen Anhaltspunkt dafür, dass sie es vorhatte. Ihre finanzielle Lage war angespannt, aber nicht aussichtslos. Sie hat zurückgezogen gelebt, aber war sie deshalb einsam?«

»Kann es sein, dass wir hier wieder mal über so etwas wie ein Bauchgefühl sprechen?«

»Genau.«

»Ihr Frauen und euer Bauchgefühl. Soll ich als Grund für meine Datenbankrecherche Bauchgefühl einer Nachlasspflegerin eingeben?«

»Gibt’s nicht so was wie eine Akte? Aus Papier? Da könnten Sie doch einen Blick reinwerfen.«

»Auch wenn ich eine Akte anfordere, muss ich dafür eine gute Erklärung haben.«

»Richtig. Zweifel an der Selbstmordtheorie.«

»Aha, und wie bin ich überhaupt aufmerksam geworden auf diese Zweifel?«

»Durch eine umsichtige und mit allen Wassern gewaschene Nachlasspflegerin.«

Sander rieb sich die Nasenwurzel. Da hatte sie ausnahmsweise mal recht. Schließlich hatte sie in ihrem ersten gemeinsamen Fall eine Mörderin entlarvt, und diese Erkenntnis beinahe mit dem Leben bezahlt. »Um acht im La Provence?«

»Okay.«

»Gut, dann sehe ich mir die Akte mal an.«

Ganz kurz war er versucht, Gernot anzurufen und zu fragen, wann er wieder gesund wäre. Es gab so viel zu besprechen.

Friedelinde legte den Hörer auf. Sie war so eine Idiotin. Ein Date mit Sander für ein paar Informationen. Das konnte ja nur schiefgehen. Er würde die Akte aufklappen, reingucken und sie wieder zuklappen, nur um zu wissen, worum es ging, wenn er sich mit ihr traf. Sie bildete sich nicht ein, ihn dazu ermuntern zu können, ernsthafte Ermittlungen anzustellen. Das musste sie schon selbst machen.

Neben dem Schlüsselbund hatte die Polizei ihr das Portemonnaie von Charlotte Belling ausgehändigt. Beides hatten sie in den Taschen ihrer hellblauen Daunenjacke gefunden, die sie getragen hatte, als sie aus dem See gezogen wurde. Das Leder des Portemonnaies war durch das lange Liegen im Wasser und das anschließende Trocknen völlig ausgedörrt und steif. Darin hatten sich zwei Zwanzigeuroscheine, ein bisschen Münzgeld und eine Tankquittung befunden.

Danach war Charlotte Belling über die 432 gefahren, hatte in Leezen getankt und zwei Überraschungseier und die Capri-Sonne gekauft. Auf ihrer Rückfahrt nach Hamburg war Friedelinde bei der Tankstelle vorbeigefahren und hatte sich danach erkundigt, ob sich jemand an diesen Verkauf erinnerte, aber nach einer Woche war das zu viel verlangt. Der Kauf von Benzin an einer Tankstelle war nichts Außergewöhnliches, und Charlotte Belling schien nicht der Typ Frau gewesen zu sein, der einem im Gedächtnis blieb.

Friedelinde versetzte eines der beiden Überraschungseier mit Daumen und Zeigefinger in eine Drehbewegung. Ihre eigene Lebenssituation war nicht so weit von der Charlotte Bellings entfernt, dass sie sich nicht in sie hineinzuversetzen vermochte. Und da tankte man eben nicht voll, wenn man vorhatte, sich in den nächstgelegenen See zu stürzen. Aber wie hatte die Nachbarin gesagt: Man kann in einen Menschen nicht hineinsehen. Vielleicht wollte Charlotte Belling ihr Vorhaben nicht dadurch gefährden, dass ihr Auto mit leerem Tank auf der Landstraße verreckte. Und vielleicht hatte sie noch einmal in ihrem Leben Überraschungseier essen wollen.

Schöne Theorie, aber die Eier waren noch da, war ihr Gedanke, als das Telefon läutete.

»Engel?«

»Miesbach, Hamburger Friedhöfe, hallo, Frau Engel.«

»Hallo, Frau Miesbach.«

»Ich hab gehört, dass Sie Nachlasspflegerin für Charlotte Belling sind.«

»Bin ich, ja.«

»Die liegt hier noch.«

»Ja, ich bin noch nicht ganz so weit. Ich muss noch ein bisschen Geld zusammenkratzen.«

»Wenn Sie nicht wissen, ob es ausreicht, können wir sie ja schon mal verbrennen.«

»Nein, auf keinen Fall!«, rief Friedelinde hektisch. Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: »Das geht nicht. Sie hat ausdrücklich verfügt, dass sie nicht verbrannt werden will.« Sie wusste nicht, ob die gekreuzten Finger gegen diese Notlüge ausreichten.

»Na ja, Wasserleiche, Frau Engel. Und Bestattungsgesetz. Wir müssten in den nächsten Tagen irgendwas machen. Entweder verbrennen, dann haben Sie noch ein bisschen Zeit zum Geldzählen, oder gleich unter die Erde.«

»Ich sage Ihnen so bald wie möglich Bescheid. Versprochen.«

»Okay, ich höre dann von Ihnen. Tschüss, Frau Engel.«

Scheiße. Sie wollte auf keinen Fall, dass der Leichnam verbrannt wurde. Wusste ja jeder, dass damit auch die letzten Spuren vernichtet wurden. Und so leicht wollte sie es dem Mörder nicht machen. Denn, das wurde ihr jetzt bewusst, wenn es weder Selbstmord noch ein Unfall war, kam nur ein Mord in Betracht.

»Ding Dong.« Marie stürmte das Büro.

»Ding Dong.«

Marie setzte sich und strahlte über die roten Wagen. »Hast du schon mit Pablo gesprochen?«

»Wie?«

Marie sah enttäuscht aus. »Du wolltest ihm doch heute Mittag gratulieren. Zu den Zwillingen. Schon vergessen?«

Friedelinde sah auf Maries Bauch. »Nee, nur noch nicht dazu gekommen. Mach ich gleich noch.« Sie musterte Marie nachdenklich. »Du hast es ihm aber schon gesagt, oder? Ich meine, du benutzt mich nicht als Nachrichtenübermittler.«

»Auf gar keinen Fall. So was muss er ja von seiner eigenen Frau erfahren.«

»Das meine ich auch.«

Maries Blick fiel auf die beiden Überraschungseier. »Mal abgesehen davon, dass es noch zu früh ist, so was für die Zwillinge zu besorgen, steht das natürlich nicht auf dem Speiseplan für den Nachwuchs.«

»Ach, Marie.« Friedelinde knipste die Schreibtischlampe aus und ging in ihre Wohnung.

Marie folgte ihr. »Was machst du?«

»Feierabend.« Friedelinde ging ins Schlafzimmer und zog sich den Pullover über den Kopf.

»Und da gehst du schon zu Bett?«

»Nein. Ich geh duschen.«

»Aha.« Es klang vielsagend und zugleich fragend. »Und danach?«

»Gehe ich weg.«

»Wenn du in den Waschsalon kommst, bist du nie frisch geduscht.«

»Dann werde ich wohl nicht in den Waschsalon gehen.«

»Ah!«, quiekte Marie. »Du hast ein Dahate! Ein Date mit dem Kommissar! Oh, ich freue mich. Geh du mal in Ruhe duschen. Ich such dir schnell was zum Anziehen raus.«

Seufzend ging Friedelinde ins Bad. Wenn sie das anziehen würde, was Marie ihr raussuchte, würde sie das Haus heute vermutlich nicht mehr verlassen.

Kapitel 2

»Hatschi!«

Als Sander von seiner Akte aufsah, stand Gernot in der Tür und schnäuzte sich. Sander sprang von seinem Stuhl auf. »Gernot, alter Haudegen. Komm rein, wie geht es dir, kann ich irgendetwas für dich tun?«

Gernot verstaute das Taschentuch in der Jackentasche und zog die Jacke aus, die Sander ihm gleich abnahm und an die Garderobe hängte. »Du kannst mir ein Bad einlassen.«

»Mal ehrlich.« Sander nahm Gernots Füße und legte sie auf den Schreibtisch. »Kannst du schon wieder arbeiten? Bist du nicht noch krank?«

»Ich hatte einfach keine Lust mehr, die Decke anzustarren.«

Sander nahm Gernots Kopf in beide Hände und küsste ihn auf die Stirn. »Habe ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe?«

»Du hast es früher mal erwähnt, aber es wäre mir lieber, du würdest es nicht so in der Öffentlichkeit zeigen.« Gernot wischte sich mit dem Pulloverärmel über die Stirn.

»Na, ich laufe nicht Gefahr, verdächtigt zu werden, meine Orientierung geändert zu haben.«

»Nee, du nicht.«

»Soll ich dir einen Tee holen?«

»Du kannst mir einen kochen.« Gernot hob die mitgebrachte Tasche hoch. »Betty hat alles eingepackt, was ich brauche.«

Betty war Gernots große, schlanke, sympathische Freundin, die Sander seinem unscheinbar wirkenden Kollegen nie zugetraut hätte. Sander packte einen Wasserkocher, verschiedene Kräutertees, Honig und einen Becher mit der Aufschrift Punk macht krank aus.

»Witziger Becher, nicht? Hat Betty mir geschenkt.«

»Ja, deine Betty hat Humor. Du hast Verständnis, wenn ich mir von deinen Tees nichts aufbrühe? Vermutlich würde ich davon eine Magenverstimmung bekommen.«

Während Gernot sich an seinem Arbeitsplatz einrichtete, bereitete Sander ihm leise vor sich hin summend einen Tee zu.

Gernot zerstörte die Idylle mit einer einzigen Frage. »Und, was gibt’s hier Neues?«

»Oh Mann, wollen wir nicht erst noch ein bisschen quatschen?«

»Versuch ich doch gerade.«

Sander goss das heiße Wasser in den Becher. Der Teebeutel trieb nach oben, es roch fürchterlich. »Kannst du nicht noch was erzählen?«

»Sander, ich hab eine Woche im Bett gelegen und ferngesehen. Was kann ich da schon erzählen.«

»Echt, du hast ferngesehen?«

»Denk mal an. Das macht doch jeder, der krank ist. Und hinterher beschwert er sich über das miese Programm.«

Sander setzte sich an seinen Tisch und faltete die Hände auf der Tischplatte. »Im Moment ist eigentlich nicht viel los.«

»Aber?«

»Aber gestern bin ich von zwei Frauen angesprochen worden, die meinen, sie seien einem Mord auf der Spur.«

»Ein Mord?«

»Genau genommen zwei Morde.« Sander berichtete Gernot von dem Verkehrsunfall.

»Nachwuchs muss man fördern, Sander. Ganz wichtig. Wenn die junge Frau tatsächlich ein Gespür dafür hat, einen hundsgemeinen Verkehrsunfall von einem Mord zu unterscheiden, dann sollten wir das nicht abbügeln.«

»Sehe ich genauso. Ich hab aber keine Lust, mich mit dem dickfelligen Kahn auseinanderzusetzen. Für einen von uns beiden geht das nicht gut aus.«

»Dann müssen wir uns was überlegen. Wir könnten die Kollegin sozusagen undercover bei ihren Ermittlungen unterstützen. Wenn ich es richtig sehe, müssten Anwohner befragt und das Tatfahrzeug ermittelt werden.«

»Siehst du richtig.«

Gernot nahm die Füße vom Tisch und fuhr seinen PC hoch. »Dann machen wir das doch mal. Und der zweite Mord?«, fragte er, während er wartete.

Sander senkte den Kopf und verschränkte die Hände im Nacken, deshalb war er schwer zu verstehen.

»Ich versteh dich so schlecht, aber es hörte sich so an, als habest du gesagt, Friedelinde Engel sei der Auffassung, dass ihr jüngster Nachlassfall ertränkt wurde. Und worauf stützt sie diese Annahme?«

»Auf ihr Bauchgefühl.« Sander schob seinen Stuhl zurück und spielte mit dem Teebeutel in der Tasse herum.

»Hört sich im ersten Moment komisch an, aber wenn ich dich dran erinnern darf, ist diese Frau sehr findig und war uns das letzte Mal eine Nasenlänge voraus. Und zu guter Letzt dein Befinden?«

»Ich bin ein karierter Hornochse.«

»Juhu!«, rief Gernot. »Ich bin wieder im Büro.«

Während Gernot intensiv seinen PC bearbeitete und Henriette Klaws’ Liste in Betracht kommender Unfallfahrzeuge überprüfte, suchte Sander gemeinsam mit dem Kollegen Gabler die Anwohner in der Luruper Hauptstraße auf. Anhand der von Kahn gefertigten Skizze versuchten sie den Unfallhergang nachzuvollziehen und herauszufinden, von wo Sebastian Kraft gekommen war. Jedes der Mehrfamilienhäuser aus der Jahrhundertwende hatte einen mehr oder weniger gepflegten Vorgarten. Kraft war etwa in Höhe der Hausnummer 157 über die Straße gelaufen. Um die Ermittlungen zu beschränken, wollten sie zunächst die Hausnummern 155 bis 159 überprüfen.

Jetzt um die Mittagszeit waren naturgemäß nicht alle Bewohner im Haus. Diejenigen, die sie antrafen, kannten jedoch das Opfer nicht und konnten auch zum Unfallhergang nichts aussagen. Zum Zeitpunkt des Unfalls waren viele in ihren Wohnungen beschäftigt gewesen, vornehmlich mit der Vorbereitung des Abendessens oder damit, die Kinder ins Bett zu bringen, einige hatten sich auf dem Heimweg befunden. Sie beschlossen, dass Gabler einen Zeugenaufruf anfertigen und in jeden Briefkasten werfen sollte.

Anschließend standen sie auf dem Gehweg und sahen über die Straße hinweg auf die gegenüberliegende Fahrbahn.

Gabler kratzte sich am Kopf und rückte anschließend die Dienstmütze wieder gerade. »Wer sagt denn eigentlich, dass der auf dieser Straßenseite aus einem Haus kam. Vielleicht kam der von dieser Seite und wollte drüben in ein Haus.«

Sander versetzte ihm einen kräftigen Schlag ins Kreuz. »Keiner, Gabler, Sie Genie. Sie bringen auch in die Häuser 154 bis 158 einen Zeugenaufruf. Aber erst mal laufen wir beiden rüber und checken, wer zu Hause ist und Kraft kennt.«

Aber dort waren sie ebenfalls erfolglos. »Sie machen noch einen zweiten Aufruf, Gabler. Hinter den Scheibenwischer jedes Fahrzeugs, das hier im Laufe des Tages parkt, stecken sie einen Zettel. Die Leute sollen sagen, ob sie sich daran erinnern, wer am Mittwochabend vor oder hinter ihrem Wagen geparkt hat.«

Gabler unterdrückte ein Seufzen.

»So ist das mit guten Ideen, Gabler. Einer muss sie auch umsetzen.«

Sie kehrten ins Präsidium zurück, wo Sander Gabler absetzte und stattdessen Gernot mitnahm, um mit ihm gemeinsam Christian Schuster aufzusuchen, den Zeugen, der direkt hinter dem Unfallfahrzeug gefahren war. Schuster arbeitete in einer Versicherungsagentur. Gefolgt von Gernot durchquerte Sander das Büro mit fünf Arbeitsplätzen. Die junge Dame, die sie freudig als potenzielle Kunden empfangen hatte, brachte sie zu Schusters Schreibtisch.

»Polizei?«, fragte er nach, nachdem die junge Frau sie vorgestellt hatte und an ihre Arbeit zurückgekehrt war.

»Polizei«, bestätigte Gernot und stellte Sander und sich vor.

»Gut. Möchten Sie etwas trinken?«