Geheimkommando Ciupaga - Rudolf Böhm - E-Book

Geheimkommando Ciupaga E-Book

Rudolf Böhm

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Beschreibung

Herbst 1944. Über polnischem Gebiet, südöstlich von Kraków, springen eines Nachts aus einer "Nebelkrähe" zwei Fallschirmspringer ab; dabei werden sie von deutschen Alarmeinheiten und polnischen Einwohnern beobachtet. Wird es den beiden gelingen, der Treibjagd zu entgehen? Wer sind sie überhaupt? Handeln sie im Auftrage der Roten Armee, oder planen sie eine Provokation des faschistischen Sicherheitsdienstes? Auf alle Fälle haben sie die unglaublichsten Abenteuer zu bestehen: Unverhofft tauchen sie als Gäste einer polnischen Bauernhochzeit auf, wo sie gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, später treffen wir den einen auf dem Weg zur Exekution, während der andere mit einer Partisanin durchs Gebirge hetzt, um den Freund zu retten. Heimlich auf dem Dachboden einer Villa einquartiert, in der der deutsche Verwalter eines Sägewerkes wohnt, gelingt es ihnen, Kontakt zu polnischen Partisanen zu finden. "Geheimkommando Ciopaga" lief vor einiger Zeit als Fernsehfilm über unseren Bildschirm und wurde ob seiner spannenden Handlung mit großem Interesse aufgenommen. Die vorliegende Erzählung unternimmt es, das Filmgeschehen in einem breiter angelegten Handlungsrahmen literarisch nachzuzeichnen.

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Rudolf Böhm

Albrecht Börner

Geheimkommando

Ciupaga

Erzählung

Nach dem gleichnamigen Fernsehfilm von Rudolf Böhm

Bild und Heimat

eISBN 978-3-95958-770-9

1. Auflage

© 2018 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

(Der Roman erschien erstmals 1976 im Verlag der Nation, Berlin.)

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: Deutsches Rundfunkarchiv (DRA)

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Das Flugzeug gleitet durch die Nacht. Wolken liegen über dem weiten polnischen Land östlich der Weichsel. Manchmal wird das wässrig-trübe Grau unterbrochen von einem tiefen Dunkel, das ins Unendliche zu gehen scheint. Wenn man an den wolkenfreien Stellen genauer hinunterschaut, entdeckt man bisweilen ein aufblitzendes Licht, das aber sofort wieder erlischt. Werner Schütt weiß, dort unten herrscht emsige Geschäftigkeit. Die Lampen abgeblendet und die Geräusche gedämpft, bewegen sich lange Kolonnen westwärts. Panzer, Geschütze, Lastwagen, Tausende, Zehntausende. Sie unterstehen dem Kommando des Marschalls Konjew und rücken in ihre Bereitstellungsräume für den nächsten Vorstoß ein. Wann werden sie über die Weichsel setzen?

Wann deutsches Gebiet erreichen? Sicher ist nur eins – Toni und er müssen vor ihnen dort sein!

Werner Schütt wendet sich seinem Begleiter Toni Burian zu, der sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen hat.

Er hat recht, ein bisschen zu entspannen, denkt Werner Schütt. Toni ist überhaupt ein richtiger Tat- und Gegenwartsmensch. Er vermeidet sinnlose Grübeleien und packt zu, wo er gebraucht wird. Was helfen alle Klagen über das Schicksal der deutschen Landsleute, die in ihrer Not Hilfe brauchen, über die Genossen und Freunde, die im Untergrund kämpfen oder die in Kerkern und Konzentrationslagern gequält und gemordet werden, über die vielen Irregeleiteten, die im guten Glauben einer schlechten Sache dienen. Auch von den sowjetischen Soldaten, die dort unten marschieren, werden Tausende Berlin nicht erreichen. Die Zahl der Opfer zu verringern sind wir unterwegs. Ja, auch deswegen.

»Du schläfst doch nicht? Wir überfliegen bald die Weichsel!«

Toni atmet tief ein, öffnet die Augen und erwidert nach einer Pause: »’n Katzensprung, und man wäre zu Hause – in Berlin. Wie’s da jetzt aussehen mag? Meine Hilde schläft sicher schon … Oder sie sitzt mit ihrem Köfferchen im Luftschutzkeller, das kleine Murkel.« Er lächelt.

»In einer halben Stunde springen wir«, stellt Werner sachlich fest und schaut prüfend aus dem Fenster, als wolle er feststellen, ob die Luft noch so lange trägt.

»Verdammt, da reißt die Wolkendecke auf. Das gibt ein Fressen für die Flak.«

»Aus dieser Höhe spucken wir darauf!«, winkt Werner ab. Er ist überzeugt, dass die beiden Piloten sie schon heil hinüberbringen werden.

Tatsächlich reißt die Wolkendecke umso mehr auf, je näher sie der Weichsel kommen. Der Kopilot wendet sich lächelnd den beiden zu und fordert sie auf, sich festzuhalten, denn es werde ein Tänzchen geben.

»Da hörst du es«, bemerkt Toni mit Genugtuung.

»Ihr könnt vorher aussteigen«, ruft der Kopilot den beiden schmunzelnd zu.

»Bitte nach euch«, kontert Werner.

»Gäste haben den Vortritt«, erwidert der sowjetische Flieger. Dann aber zwingt ihn das einsetzende Flakfeuer zu voller Konzentration. Die Maschine wird von den explodierenden Geschossen heftig geschüttelt.

»Für Ersatzreserve zwei schießen die verdammt gut«, kommentiert Toni.

Endlich haben sie die Flaksperre hinter sich gelassen. Aber das Motorengeräusch klingt verändert. Werner und Toni gehen zur Kanzel, um zu hören, was passiert ist.

Die beiden sehen den Piloten fragend an. Der Flugzeugführer arbeitet voll konzentriert und kümmert sich nicht um sie. Er hat offenbar zu tun, die Maschine unter Kon­trolle zu bringen. Auch der Kopilot ist ernst geworden. Das Flugzeug verliert an Höhe. Der Pilot fordert Werner und Toni auf, sich wieder zu setzen. Schweigend gehen die beiden auf ihre Plätze zurück.

»Mir legt sich so was immer auf den Magen. Da ist nischt zu machen«, sagt Toni und streicht über die Gurte des Fallschirms, als wolle er prüfen, ob alles in Ordnung ist.

»Wenn’s dich tröstet, mir auch«, pflichtet ihm Werner bei.

»Das hilft, mir ist gleich wohler«, versucht Toni mit Galgenhumor den Ernst der Situation zu überspielen. Er nestelt immer noch an einem seiner Fallschirmgurte herum. Der Stern seiner Feldwebelschulterklappe hat sich verhakt, und er macht ihn frei.

Werner sieht ihm nachdenklich dabei zu, dann sagt er: »So ähnlich haben wir schon mal zusammengesessen, in diesem gottverdammten Schuppen. So lange ist das noch gar nicht her. Knapp zwei Monate. Man möcht’s kaum glauben.«

Toni nickt. »Ja, jeder ein paar Stricke um die Händchen, aber wir haben’s überlebt, Gottvater sei Dank.«

»Boris, unserm alten Kumpel Boris sei Dank! Ohne ihn säßen wir eine Etage höher«, dabei schaut er mit gerunzelter Stirn zur Decke des Flugzeugs. Ihre Lage erinnert sie an ihren letzten Einsatz. Keiner sagt etwas, und doch haben beide die gleichen Bilder vor Augen, wie zwei Menschen, die nebeneinander im Kino sitzen. Es begann mit einem Funkspruch von Oberstleutnant Schellner, der mit etwa zweihundert deutschen Soldaten hinter den Linien der Roten Armee in einem ausgedehnten Waldgebiet festsaß. Dem Rufe folgend, quälten sich Werner, Toni und Boris im Auftrage des Nationalkomitees »Freies Deutschland« und von der anderen Seite Maschmann, Essberger und der Exilrusse Sergej im Auftrage des Reichssicherheitshauptamtes der SS durch das sumpfige Gelände. Und ausgerechnet Werner und Toni mussten der sowjetischen Miliz eines abgelegenen Ortes in die Hände fallen. Gefesselt lagen sie in einem Schuppen, während ihre Rivalen frei operieren konnten. »Damals hat uns Boris rausgehauen; hier oben hilft kein Gott, kein Kaiser und Tribun«, murmelt Werner vor sich hin.

Toni versucht ihn zu trösten: »Die beiden da vorn sind auch keine heurigen Hasen. Wirst sehen, in einer Viertelstunde steigen wir der lädierten Dame aus dem Bauch und fallen – vom Himmel hoch, da komm ich her – dem alten Boris direkt um den Hals.«

Es vergeht aber keine Minute, bis der Kopilot nach hinten kommt und ihnen eröffnet: »Es hilft nichts, wir müssen zurückfliegen!«

»Was?«, fragt Werner ungläubig.

Der Flieger hebt bedauernd die Schultern und erläutert ihnen die Lage: »Wir haben zu viel Höhe verloren, und überdies ist eine Treibstoffleitung beschädigt. Wenn wir Glück haben, reicht’s gerade noch, hinter die Weichsel zurückzurutschen. Haltet euch fest, wir wenden.«

Damit schickt sich der Pilot an, in die Kanzel zurückzuklettern. Toni hält ihn an der Schulter fest. Der sowjetische Offizier sieht erst Toni, dann Werner fragend an. Werner weiß, was Tonis Geste bedeutet. Kann man das riskieren? Einen Atemzug lang blickt Werner seinen Freund an. Er scheint nicht davor zurückzuschrecken, mitten in der Nacht im Wipfel einer Tanne zu landen oder, was schlimmer wäre, vor den MPi-Läufen der Feldgendarmen. Wenn wir zurückfliegen, ist das Unternehmen für diesmal geplatzt. Und später ist es womöglich zu spät.

»Wir springen, auf Biegen oder Brechen!«, sagt Werner dem Piloten, und Toni unterstreicht das durch einen Klaps auf die Schulter des sowjetischen Freundes, die er bis dahin festgehalten hatte. Der wiegt den Kopf, was offenbar bedeuten soll: Das ist eure Sache. Ihr müsst wissen, was ihr tun wollt. Er steigt in die Kanzel und unterrichtet den Flugzeugführer. Auch der wendet sich kurz um und scheint mit einem Blick zu fragen: Habt ihr euch das auch gut überlegt?

Werner nickt ihm zu.

»Macht euch fertig«, ruft der Flugzeugführer.

Werner und Toni fassen ihr Sprunggepäck, prüfen den Sitz der Fallschirme und gehen nach vorn zu den beiden Fliegern. Sie drücken ihnen dankbar die Hände.

»Kommt gut rüber!«

»Kommt gut runter!«

Der Kopilot begleitet sie zur Ausstiegluke. Sie klinken die Karabinerhaken der Reißleine ihrer Fallschirme an ein Drahtseil, das über der Ausstiegluke gespannt ist. Sie blicken hinaus. Es sind kaum noch Wolken zu sehen. Die Nacht ist klar, aber unter ihnen ist alles dunkel. Sie haben keine Ahnung, wo sie landen werden. Toni murmelt: »Der Himmel ist verdammt hell. Wir schaukeln wie die Glühwürmchen durch die Nacht und sehen selbst nicht die Bohne!«

»Im September fliegen keine Glühwürmchen mehr«, tröstet Werner seinen Genossen sarkastisch. Dann fügt er sachlich hinzu: »Dicht zusammenbleiben, das kann unten wichtig sein. Ich springe zuerst. Du mit deinem Gewicht überholst mich spielend. Ab geht’s!«

Unmittelbar danach springt Toni. Der sowjetische Genosse brummt vor sich hin: »Macht’s gut, Jungs!« Dann schließt er die Luke, nimmt seinen Platz ein, und die Maschine wendet mit einer weiten Kurve.

Sie ist längst verschwunden, als Werner und Toni auf einer buschbestandenen Waldwiese aufsetzen. Während sie ihre Fallschirme zusammenraffen, hören sie ziemlich nah eigenartige metallische Klänge. Nein, Glocken sind es nicht, eher Schmiedegeräusche. Aber der Rhythmus der Schläge hat mit einem Gehämmer nichts gemein. Plötzlich hören sie diese Geräusche auch aus anderen Richtungen. Das sind offenbar Alarmsignale, die ihr Absprung ausgelöst hat. Schnell entledigen sie sich ihrer Fallschirme und scharren sie unter einem Gebüsch ein. Dann rennen sie, von diesen merkwürdigen Tönen beunruhigt, in den Wald. Ein Stück Weges laufen sie durch einen Bach, für den Fall, dass sie von Spurenhunden verfolgt werden sollten. Am Fuße eines mit Sträuchern bewachsenen Berghanges bleiben sie stehen und verschnaufen. Gedeckt von einem dichten Gebüsch horchen sie, ob ihnen Verfolger auf den Fersen sind. Sie bemerken nichts Verdächtiges. Erschöpft lassen sie sich zu Boden fallen und ruhen sich von der atemberaubenden Flucht aus.

»Wohin mögen die uns bloß gescheucht haben?«, fragt Werner nach einer Weile.

»Vielleicht sind wir vor einem Phantom davongelaufen?«

»Hörte sich eigentlich ziemlich real an und war verdächtig nah.«

»Gottverlassene Gegend!«, murrt Toni.

Mühsam versuchen sie sich anhand ihrer Karte zu orientieren und stellen fest, dass sie sich in den nördlichen Beskiden, südöstlich von Kraków, befinden müssen. Danach zieht Werner den Kompass aus der Kartentasche und prüft die Himmelsrichtung. »Dieser Weg führt nach Südwesten«, sagt er und weist auf einen Bergpfad. »In dieser Richtung liegt die Hohe Tatra.«

»Das könnte hinhauen«, bekräftigt Toni, mehr aus dem Bedürfnis, ihr Unternehmen überhaupt fortgesetzt zu sehen, als aus der Überzeugung, dass sie auf diesem Bergpfad an ihr Ziel gelangen.

Janek Dubjenski ist ein schmächtiger, aber geschmeidiger und drahtiger Bursche Anfang Zwanzig, der in den polnischen Bergen und Wäldern aufgewachsen ist. Nach unstetem Umherwandern ist am Vortage der Trupp seines Vaters wieder in sein Heimatdorf eingeritten. Große Freude erfüllt alle, die vertrauten Berge wieder zu sehen, die alten Häuser wieder zu beziehen.

Aber mehr als alle anderen hat seine Schwester auf diesen Augenblick gewartet, denn der erste Tag in der alten Heimat sollte ihr Hochzeitstag sein. So hatte es der alte Dubjenski bestimmt. Er versteht sich darauf, Erwartungen zu wecken und ein Zeremoniell zu inszenieren.

Janek aber nimmt an dem allgemeinen Hochzeits- und Heimkehrtrubel nicht teil. Der alte Dubjenski wusste keinen geeigneteren Kundschafter, der ihm über den nächstgelegenen Standort der deutschen Wehrmacht zuverlässig und schnell Auskünfte verschaffen konnte. Janek ist über diesen Auftrag glücklich, denn die klare Nachtluft ist ihm lieber als die alkoholbeschwingte Fröhlichkeit der Menschen. Kurz vor dem Nachbarort, der einige Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt liegt, bleibt er hinter einer dicken Fichte stehen. Er lauscht. Ein Flugzeug. Unverkennbar der Klang! Eine »Nebelkrähe«. Ein Russe also. Trotzdem, der Klang ist merkwürdig verändert. Da sieht er plötzlich im fahlen Mondlicht zwei Fallschirme. Sie trudeln wie zwei riesige Schneeflocken, wachsend und wachsend, zur Erde. Er beobachtet dieses Schauspiel eine Weile wie eine lauernde Katze, die zwei arglose Singvögel heranflattern sieht. Kurze Zeit später hört er das Alarmsignal der deutschen Posten. Sie schlagen mit einer Eisenstange an kurze Schienenstücke, die freischwebend an Seilen pendeln. Das Flugzeug hat gewendet und ist in östlicher Richtung verschwunden. Die nächtlichen Besucher gleiten lautlos zu Boden. Schemengleich hantieren die beiden Gestalten zwischen den Büschen. Offenbar vergraben sie die Fallschirme. Dann laufen sie davon. Was tun? Dubjenski berichten? Inzwischen sind die beiden auf und davon. Also dranbleiben! Wer sind diese beiden, und was wollen sie?

Werner und Toni gehen einen breiten Fahrweg entlang, nach allen Seiten spähend und lauschend. Dabei geben sie sich den Anschein, als marschierten sie einen vertrauten Pfad und seien ganz mit sich beschäftigt.

»Irgendein bewohntes Nest muss doch zu finden sein. Der Weg ist noch vor kurzem befahren worden«, sagt Werner leise.

Vor ihnen liegt eine Weggabelung. Ein breiter Pfad zweigt talwärts ab. Plötzlich hören sie die Geräusche eines Autos, das ihnen entgegenkommt. Beide springen in den Schutz der Felsen und Bäume, die längs der Straße stehen. Werner zieht die Pistole. Auch Toni hält seine Maschinenpistole schussbereit. Ein Kübelwagen der Wehrmacht rast heran, die Scheinwerfer sind mit Fliegerblenden abgedeckt. Nur aus einem schmalen Schlitz fällt spärliches Licht auf den Weg. Vor der Weggabelung, nur wenige Schritte von Werner und Toni entfernt, stoppt der Wagen. Beide erkennen vier Feldgendarmen. Die breiten silbrigen Metallschilder, die auf ihrer Brust hängen, von weitmaschigen Metallhalsketten gehalten, schimmern matt im Mondlicht. Offenbar eine Streife, ob aber auf einer Routinefahrt oder im Sondereinsatz, das kann man nicht wissen. Vielleicht sind sie ihnen schon auf der Spur?

Der Fahrer stoppt. »Geradeaus oder wieder runter, Herr Wachtmeister?«

»Mir langt’s für heute. Ab ins Quartier!«

»Wenn Sie mich fragen, mir reicht’s auch«, kommentiert der Fahrer die Entscheidung seines Vorgesetzten, während er die Kupplung durchtritt und den Rückwärtsgang zum Wenden einlegt.

Der Wagen fährt talwärts davon.

Toni atmet auf: »Ein Glück, dass die mit sich zu tun hatten.«

Werner steckt die Pistole ein. »Nun wissen wir wenigstens, dass dort unten die Kettenhunde sitzen. Also kehrt marsch, probieren wir die andere Richtung.«

Sie gehen auf dem Weg zurück, der am Berg entlangführt. Plötzlich hören sie hinter sich einen Stein ins Tal rollen, so als habe er sich unter den Füßen eines Menschen gelöst.

»Was war denn das?«, fragt Toni leise.

»Weiter«, flüstert Werner und fasst Toni am Ärmel. »Hinter der Biegung wär’s günstig. Wer bleibt zurück?«

»Ich«, zischelt Werner.

An der bezeichneten Stelle gibt ihm Toni seine MPi, Werner verschwindet lautlos im Gestrüpp. Tatsächlich, da kommt jemand angeschlichen, kaum wahrzunehmen. Geschickt bewegt er sich auf dem Gras- und Moosrand des Bergweges vorwärts. Er ist nicht zu hören und vor dem dunklen Gebüsch zugleich gegen Sicht geschützt. Wegen der Dunkelheit ist nichts Genaueres zu erkennen. Jetzt geht er vorüber. Da springt Werner hervor, hebt die MPi und ruft: »Stehen bleiben!« Die Überrumpelung ist gelungen. Der Pole fährt herum. Werner steht jetzt dicht vor ihm.

Janek ist erstaunt, einen deutschen Oberleutnant vor sich zu sehen. An der Knopfleiste der Uniform und auf der linken Brustseite bemerkt er mehrere Auszeichnungen, dar­unter das EKI und das Verwundetenabzeichen. Merkwürdig, denkt er. Ist das einer der beiden aus der »Nebelkrähe«, die vor der Streife Deckung suchten? Sollte ich deren Spur verloren haben und nun einem anderen gegenüberstehen? Aber das kann nicht sein. Ich habe sie nie aus den Augen gelassen, kein Zweifel, das ist einer von ihnen.

Janek hat sich von dem Schreck wieder erholt. Er beobachtet Werner genau. Wie zwei Boxer stehen sich die beiden lauernd gegenüber. Janek hört hinter sich den zweiten Mann kommen. Wie ein Wiesel huscht er plötzlich ins Gebüsch. Werner richtet die MPi auf den dahinhuschenden Schatten. Aber er drückt nicht ab. In Windeseile ist Janek verschwunden – wie vom Erdboden verschluckt.

»Warum hast du nicht geschossen?«, fragt Toni.

»Konnte ein polnischer Partisan sein«, rechtfertigt sich Werner und gibt Toni die MPi zurück. Beide spähen und lauschen noch eine Weile in die Richtung, in die ihr Verfolger entkommen ist.

Toni gibt Werner nur zu gern recht. Es ist unangenehm, zu denken, dass der junge Mann natürlich auch die Gendarmerie alarmieren und ihnen auf den Hals hetzen kann. Nur den Teufel nicht an die Wand malen, denkt er. »Die Feldgendarmerie schickt uns eine Galakutsche zum Empfang, und die Partisanen zeigen uns den Rücken. Reizende Gegend!«

»Wundert dich das? Die Partisanen sind sicher ganz versessen darauf, einen deutschen Oberleutnant nebst seinem Feldwebel herzerfrischend an die Brust zu drücken. Wenn’s hier Partisanen gibt, dann haben die keinen blauen Dunst von uns und unseren Absichten. Es würde denen nicht im Traum einfallen, uns erst nach der Erkennungsmarke zu fragen. Ein bisschen Dusel brauchen wir schon.«

Werner weist mit einer Kopfbewegung in die Richtung, in der sie weitergehen müssen. Toni klappt die Hacken zusammen und erwidert mit militärischer Höflichkeit: »Bitte nach Ihnen, Herr Oberleutnant!«

Verborgen hinter bewaldeten Bergrücken, abseits der großen Straßen liegt eine kleine polnische Waldsiedlung. Die Bauernhäuser haben alle einen massiven Unterbau aus mächtigen Gesteinsquadern. Der Oberbau ist aus Holz, wetterfest gefügt, das Dach sorgfältig mit Schindeln gedeckt. Einige der Firste und Fassaden weisen kunstvolle Schnitzereien auf. Dahinter stehen gleichfalls festgebaute Ställe und Schuppen.

Werner und Toni sind überrascht, als sich der Wald plötzlich vor ihnen lichtet und sie dieses kleine Dorf vor sich sehen. Die beiden gehen am Waldrand in Deckung und beobachten den Ort eine ganze Weile. Nichts rührt sich. Das Dorf scheint unbewohnt zu sein. Nur das Murmeln des Baches und das Rauschen des Waldes sind zu hören. Der Ort streckt sich lang im Tal hin, zwischen den einzelnen Gehöften liegen Wiesen und vereinzelt Felder. Dieses Bild unberührten natürlichen Lebens, das im Mondschein tot und erstarrt zu sein scheint, hat etwas Unheimliches an sich. Doch Werner und Toni haben keine Zeit für Beschaulichkeiten und Meditation, und an die friedliche Idylle vor ihnen glauben sie nicht!

»Wir müssen’s riskieren«, sagt Werner. »Dort, das erste Haus. Du sicherst, einverstanden?«

Toni nickt.

Werner verlässt die Deckung, während Toni mit schussbereiter MPi in einer Buschreihe stehen bleibt. Werner erreicht das erste Haus, klopft an die Haustür, drückt auf die Klinke: Verschlossen! Nichts rührt sich. Toni sieht Werner hinter dem Haus verschwinden. Hoffentlich ist er nicht in eine Falle gelaufen. Toni wird unruhig. Endlich! Da taucht er wieder auf. Er gibt ein Handzeichen. Toni folgt ihm.

»Ich dachte schon, es wäre was mit dir«, sagt er erleichtert zu seinem Oberleutnant.

»Mit dem Haus stimmt etwas nicht. Keine Menschenseele ist da, alles verriegelt und verrammelt. Aber hinten im Stall stehen Pferde!«

»Pferde sind doch normalerweise längst requiriert!«

»Bei Leuten, die es nicht zu verhindern wissen.«

»Partisanen? Meinst du, die würden ihre Pferde unbewacht lassen?«

»Hier ist nichts unbewacht, sag ich dir, kein Haus, kein Stein. Aber für uns gibt es kein Zurück.«

Sie gehen weiter. Plötzlich hören sie Schritte hinter sich.

»Hab ich’s nicht gesagt?«, raunt Werner Toni zu.

»Wollen wir?«, fragt Toni und blickt forschend auf seinen Kameraden.

»Nein, ruhig weitergehen.«

»Du hast Nerven. Wenn’s Partisanen sind, dann schießen die uns zusammen, in unseren Uniformen.«

»Wenn wir türmen oder uns plötzlich umwenden, wahrscheinlich. So aber?«

»Die können doch jeden Moment abdrücken!«

»Könnten sie längst. Aber sie haben es nicht getan.«

»Sie lassen uns in eine Falle laufen!«

»Oder sie wollen uns lebendig haben. Das ist unsere Chance.«

»Wenn sie uns Zeit lassen, den Schnabel aufzumachen.«

Sie hören die Schritte hinter sich näher kommen. Trotzdem gehen sie im gleichen Tempo weiter, ohne sich umzuwenden.

»Jetzt sind sie ganz nahe, wir können uns nicht mehr taub stellen. Ich drehe mich um«, raunt Toni Werner zu.

»Aber nicht stehen bleiben! Weitergehen, als wären sie uns schnuppe«, erwidert der flüsternd.

Langsam dreht sich zunächst Toni, etwas später auch Werner im Gehen um. Sie erkennen in geringem Abstand zwei Männer und etwas zurück drei weitere. Werner und Toni setzen ihren Weg fort, als sei es für sie das Natürlichste von der Welt, diese Dorfstraße entlangzugehen und dabei auf Leute zu treffen. Ihre Verfolger scheinen auf dieses Spiel einzugehen. Nur haben sie, wer wollte es leugnen, die günstigere Position.

»Hast du gesehen, ob sie Waffen haben?«, fragt Toni.

»Ich bin sicher, dass sie bewaffnet sind«, erwidert Werner. Was kann die nur hindern, uns festzusetzen?, überlegt Toni weiter. Es kribbelt ihm in den Fingern, der quälenden Ungewissheit ein Ende zu machen. Was mag nur in Werner vorgehen. Der latscht – links, zwo, drei, vier – wie ein Rekrut beim ersten Ausgang.

»Wir könnten mit ihnen fertig werden!«, drängt Toni.

»Und erschießen Partisanen, was?«

»Danach sehen die mir nicht aus«, bezweifelt Toni Werners Vermutung. Aber er vermag ihn nicht umzustimmen.

Werner will klarsehen, bevor er etwas unternimmt, während Toni etwas tun möchte, um klar sehen. Und jeder weiß, dass der andere ebenso recht haben kann. Es gibt Situationen, in denen einfach andere das Spiel bestimmen. Werner und Toni kommen an einem Haus vorbei, an dessen Ecke sich zwei junge Männer lässig lehnen. Sie rauchen, scheinbar gelangweilt, und nehmen von Werner und Toni keine Notiz. Toni sieht provozierend lange und eindringlich auf die beiden Gestalten, was diese aber nicht stört. »Das sind gottverdammt nicht unsere Leute! Sieh dir die doch mal genau an!«

»Woran willst du das erkennen? Unsere Uniformen täuschen auch«, wehrt Werner ab, den Tonis Ungeduld allmählich reizt und ärgert.

Toni merkt es und lenkt ein: »Wem sagst du das!«

»Uns beiden. Wehe, wenn wir’s bei den anderen vergessen!«

Kurz darauf bleibt Toni stehen und hält Werner am Ärmel fest: »Mensch, jetzt wird’s ganz verrückt! Ich glaube, ich drehe langsam durch. Das ist doch … Hörst du nichts? Tanzmusik!«

Zwei Gebäude des Ortes unterscheiden sich deutlich von den üblichen Bauerngehöften: die Dorfkirche und die Schule. Sie sind aus massiven Steinen gefügt, mit Schiefer gedeckt und größer. Hinter der Schule rauscht der Bergbach, der reichlich Wasser führt, zu Tal. Eine breite Bohlenbrücke gestattet den Bergbauern, auch das jenseitige Gelände zu nutzen. Das raue Klima des Gebirges zwingt die Bewohner, möglichst alle Erwerbsquellen zu erschließen. Vor allem das Holz der stämmigen Fichten, die aus dem feuchten Talgrund hoch himmelwärts streben, bildet ein unschätzbares Kapital – wenn es genutzt werden kann. Der Schlüssel dazu ist der talwärts führende Fahrweg. Er ermöglicht selbst modernen Schleppern den Zugang zu diesem abseits gelegenen Dorf.

Im Augenblick allerdings scheint sich niemand von den Bergbewohnern um die Erwerbsquellen Sorgen zu machen, denn der große Raum der Einklassenschule ist in einen Tanzsaal verwandelt. Bänke und Stühle sind zur Seite gerückt, nach der Fensterfront hin entstand dadurch eine freie Fläche, auf der einige Paare tanzen. Vier kräftige Bauernburschen musizieren mit Geige, Klarinette, Bassgeige und einer Ziehharmonika. Sie spielen volkstümliche polnische Weisen, schwungvoll, routiniert.

In einem kleineren Nebenzimmer, das früher offensichtlich dem Lehrer als Aufenthaltsraum gedient hat, sitzen die Angehörigen der Dubjenskifamilie um einen blank gescheuerten Holztisch. Der alte Dubjenski, ein Mann etwa um die Fünfzig, von hünenhafter Gestalt und mit einem wind- und wettergegerbten Gesicht, dreht ein großes Schnapsglas zwischen den Fingern.

Ohne eine Miene zu verziehen, hat er sich Janeks Bericht angehört und auch davon Kenntnis genommen, dass Wanda und Janek verlangen, man solle mit den beiden merkwürdigen Deutschen, die bei Nacht und Nebel aus einem russischen Flugzeug über polnischem Gebiet abgesprungen sind, kurzen Prozess machen. Dubjenski überlegt: Wenn nun die Deutschen bloß ein Manöver veranstalten? Wenn sie uns so nebenbei auf den Zahn fühlen wollen? Dann sitzen wir schön in der Tinte. Andererseits – wenn es sich wirklich um Moskauer Leute handelt und die Deutschen nach ihnen fahnden und wir sie einfach laufen lassen …?

Plötzlich leuchtet es in seinen Augen auf. Er scheint einen Ausweg gefunden zu haben. Mit einem Ruck setzt er das Schnapsglas auf den Tisch, erhebt sich und sagt: »Warum sollen wir die zwei erschießen?«

Dann geht er zur Tür, wendet sich noch einmal um und sagt: »Kommt, wir wollen sie erst einmal begrüßen, wie es sich gehört.«

Dubjenski hat sich mit einer Gruppe seiner Leute auf der Dorfstraße postiert. Er beobachtet die beiden Deutschen genau. Das scheinen keine Russen zu sein, die man in deutsche Uniformen gesteckt hat.

»Mann, geben Sie den Weg frei«, herrscht ihn der Oberleutnant an.

Kein Zweifel, das sind Deutsche, sagt sich Dubjenski. Er verbeugt sich leger. »Mein Name ist Dubjenski. Józef Dubjenski.«

Werner und Toni sind erstaunt.

»Will der Herr Offizier uns nicht die Ehre geben?«, spielt Dubjenski mit einer zum Schulhaus einladenden Geste den biederen Gastgeber.

Werner weiß nicht, was von diesem Auftritt zu halten ist.

»Was soll das? Vielleicht verschwinden Sie bald! Ein bisschen dalli!«, kommandiert er.

Janeks Hand fährt unwillkürlich unter das Jackett. Toni hebt die MPi.

Dubjenski legt mit einem Lächeln, aber nicht ohne Würde seine Linke begütigend auf Janeks Arm und sagt auf Deutsch, also mehr für Werner und Toni als für Janek bestimmt: »Wo der Herr Offizier doch nicht auf Polen schießt!« Und dann, als habe er sich ein Versäumnis zuschulden kommen lassen, das er nun ausbügelt: »Übrigens, Janek, mein Sohn. Ich glaube, der Herr Offizier kennt ihn bereits.«

Ein unheimlicher Patron, denkt Toni. Wie er diese Zurückweisung seines Sohnes in eine Vorstellung umgestaltet hat! Und wie er mit scheinbar freundlichen Worten die bedrohliche Andeutung macht, dass er mehr von ihnen weiß, als sie vielleicht annehmen.

»Was bedeutet das alles?«, fragt Werner, in einem Ton, der ein Einlenken, eine Verständigung nicht mehr ausschließt.

Dubjenski erwidert: »Ich stehe zu Diensten …«

»Ich brauche Ihre Dienste nicht!«

»Vielleicht doch, Herr Offizier?«

Werner betrachtet die Front der drohend schweigenden Männer vor sich, die eine beängstigende Kulisse bilden. Es bleibt keine andere Wahl, als die fragwürdige Einladung anzunehmen, in die der seltsame polnische Patriarch seine Festnahme zu kleiden beliebt.

Toni weiß, dass Werner darauf eingehen muss, aber er spürt zugleich, wie schwierig es für ihn ist, vom hohen Ross des Trägers deutscher Wehrhoheit wieder herunterzukommen. Und er verhilft ihm zu einem Übergang. »Die Leute feiern hier, da sollten es Herr Oberleutnant nicht so genau nehmen.«

»Was ist das für eine Feier?«, fragt Werner.

Dubjenski, der die Fäden sicher in seiner Hand weiß, lässt die entgegenkommende Herablassung des Deutschen gelten und spielt seine hintergründig-devote Rolle zu Ende: »Beim heiligen Kreuz, wir werden Sie für Gottes Lohn bewirten als Hochzeitsgäste seiner Schwester.« Dabei weist er mit ausgestrecktem Arm auf seinen Sohn Janek.

»Ihre Tochter heiratet also. Na schön«, willigt Werner ein, das Schulgebäude zu betreten. Noch immer weiß er nicht, was diese Komödie bedeuten soll.

Auch Janek und die anderen Leute Dubjenskis haben keine Ahnung, worauf der Alte hinauswill. Ob er sich einen Jux erlaubt? Aber niemand glaubt, dass es nur um ein Spiel geht.

Der Klassenraum, in dem die Feier stattfindet, ist schmucklos und kahl. Nur ein Tisch ist mit einem buntbestickten Tuch bedeckt und zu Ehren der Brautleute geschmückt. Wanda, Dubjenskis Tochter, sitzt neben ihrem Bräutigam an diesem Tisch. Sie trägt eine reich verzierte, bunte Tracht. Das junge Paar trinkt einen wohlschmeckenden Wein aus zwei kostbaren Römern, einem alten Familienbesitz der Dubjenskis. Auf den anderen Tischen stehen zahlreiche Wodkaflaschen und billige Wassergläser. Nur das Brautpaar hat sich gesetzt. Alle anderen – verwegen aussehende Männer und einige Frauen – stehen in Gruppen umher. Einige tanzen auch zu den rhythmischen Weisen der unermüdlichen Musikanten. Als Dubjenski mit den beiden deutschen Soldaten den Raum betritt, verstummen Musik und Unterhaltung.

Dubjenski bleibt in demonstrativer Pose am Eingang stehen und verkündet mit lautem Bariton »Ich bringe Gäste.« Dann winkt er dem Brautpaar und ruft: »He, Töchterlein, komm her mit deinem Mann, der Himmel hat dir einen Trauzeugen geschickt. Danke es ihm beim heiligen Kreuz, wie es sich gehört.«

Dubjenski scheint zu fürchten, dass seine eigensinnige Tochter die Vorstellung schmeißt. Die joviale Freundlichkeit auf seinem Gesicht erlischt für einen Augenblick und weicht unerbittlicher Entschlossenheit.

Toni, der diesen Vorgang genau beobachtet, bewundert erneut den Komödianten Dubjenski, der jetzt eine theatralische Entrüstung heuchelt.

»Was kommst du ohne Gläser! Wo bleibt der Wein?«, herrscht er seinen Schwiegersohn an, der auf dem Absatz kehrtmacht und an den Tisch zurückgeht, um für die Gäste Wein einzuschenken.

Dubjenski hakt seine Tochter unter und sagt, Werner und Toni dabei nicht aus den Augen lassend: »Die Herren sind von weit hergekommen, dir die Ehre zu erweisen.«

Werner hat sich inzwischen ein bisschen gefasst und erwidert lächelnd: »Und nur damit ich der Braut … Ja, was wünscht man denn einer jungen Frau am Tage der Hochzeit? Feldwebel, Sie kennen sich da besser aus«, wendet er ich an Toni, allerdings mehr, um mit Toni wieder einmal einen Blick austauschen zu können.

Toni erwidert: »Bisher noch keine Gelegenheit gehabt, Herr Oberleutnant!«

Wanda bemerkt dazu: »Der Herr Feldwebel versteht sich wohl besser aufs Schießen als auf Frauen? Ist auch sicherer!« Dabei tippt sie mit dem Zeigefinger auf die Mündung von Tonis MPi.

Toni lächelt die Dubjenski-Tochter an, während er ihr antwortet: »Und treu ist so eine MPi und zuverlässig.« Mit wieder etwas gestraffterer Haltung und dem gebotenen Respekt fügt er, Werner zugewandt, hinzu: »Das wär’s übrigens, was man Brautleuten wünschen könnte.«

Inzwischen ist der Bräutigam mit den Weingläsern zurückgekommen. Dubjenski holt sich ein mit Wodka gefülltes Schnapsglas. Dann ruft er in den Saal: »Trinken wir drauf. Beim heiligen Kreuz, wohl bekomm’s!«

Dubjenski leert das Glas in einem Zug, dann fordert er Werner auf: »Trinken Sie, Herr Offizier, trinken Sie. Man muss das Leben auskosten bis zum letzten Tropfen.« Und dann wendet er sich an Toni: »Sie auch, Feldwebel! Die Hochzeit meiner Tochter sollen Sie nicht vergessen!«

Schließlich ruft er den Musikanten auf polnisch zu: »Und Ihr dort, spielt, bis euch die Saiten platzen!«

Die Kapelle beginnt einen temperamentvollen Tanz. Die Polen stampfen den Rhythmus mit ihren Stiefeln. Werner und Toni trinken langsam, Schluck um Schluck, ihren Wein aus und beobachten dabei die kraftvollen Tanzbewegungen der Männer und Frauen. Dubjenski hat während der ersten Takte seinen Sohn Janek beiseite genommen und spricht leise mit ihm. Auch Wanda gesellt sich zu den beiden. Nur der Schwiegersohn bleibt bei Werner und Toni.

Familienrat oder Kriegsrat?, denkt Werner. Auf alle Fälle wird dort etwas ausgeheckt. Aus einigen heftigen Gesten der Tochter und aus dem verdrossenen Mienenspiel des Sohnes schließt Werner, dass sich die Dubjenskis nicht ganz einig sind. Aber dann spricht Dubjenski, wobei er Wanda und Janek beschwörend anblickt. Was er sagt, scheint beide zu überzeugen. Janek lächelt und schlendert zum Ausgang. Wanda nickt und kehrt zu ihrem Bräutigam zurück. Dubjenski steuert auf den mit Speisen und Getränken reich gedeckten Tisch der Brautleute zu, schiebt einen dicht daneben stehenden zweiten Tisch ein Stück beiseite, um Platz zu schaffen. Die beiden Deutschen treten näher. Werner blickt dabei auf seine Uhr und deutet mit einer bedauernden Geste der Braut gegenüber an, dass sie sich leider verabschieden müssten, so schwer es ihnen auch falle, sich von der heiteren Gesellschaft zu trennen. Aber Wanda lässt diese Abschiedsandeutung nicht zu. Sie protestiert energisch: »Sie werden uns doch wohl nicht kränken wollen?!«

Dieser Appell scheint Werner und Toni jedoch nicht zu beeindrucken, als sie Toni plötzlich zum Tanz auffordert.

»Der Braut schlägt man den Tanz nicht ab!«, unterstützt der Bräutigam ihre Bitte.

Während dieses Vorgangs sind mehrere Männer an die Vierergruppe herangerückt.

Toni wendet sich streng militärisch an Werner: »Gestatten, Herr Oberleutnant?« Erklärend für Wanda fügt er hinzu: »Ich bin im Dienst.«

Alle Blicke richten sich nun auf Werner. Der schaut um sich und erkennt: Die Situation ist unverändert. Wir werden nach wie vor mit aller Höflichkeit in Fesseln gehalten. Der Knoten scheint unlösbar. »Na schön, bei so viel Gastfreundschaft!« Damit gibt er Toni einen Brauttanz frei.

Werner beobachtet, wie Wanda und Toni sich nach anfänglichen Schwierigkeiten auf eine gemeinsame Tanzweise einigen. Die Gruppe, die sich um die Deutschen gebildet hatte, zerstreut sich wieder, und Werner erblickt im Hintergrund den lächelnden Dubjenski, der seine einladende Geste wiederholt. Der Kerl hat etwas Diabolisches!, flucht Werner in sich hinein. Aber auch der Teufel ist nicht allmächtig; und er muss an das Märchen denken, in dem ein Schmied den Teufel buchstäblich in den Sack steckt und jämmerlich verprügelt. Aber hier bleibt ihm vorerst keine andere Wahl, als sich mit dem Satan an einen Tisch zu setzen. Er schlendert, den Tanzenden ausweichend, an der Fensterfront entlang, auf Dubjenski zu. Da hört er Pferdestampfen und Wiehern und dann Janeks Stimme, der einem aufgeregten Pferd beruhigend zuzureden scheint. Dann galoppiert das Pferd davon. Werner stutzt einen Augenblick, will unwillkürlich hinausschauen, blickt aber nur auf die verdunkelten Scheiben. Dickes, dunkles Papier ist auf Rahmen genagelt, die einfach innen in die Fenster gestellt sind.

Inzwischen galoppiert Janek durch den Ort, den Weg zurück, auf dem Werner und Toni gekommen sind. Er freut sich, dass sein Vater das Ganze so schlau eingefädelt hat. Sogar Wanda, seine Schwester, ist beeindruckt. Sonst hält sie Dubjenski für einen alten Dorfpascha, der die neue Zeit nicht versteht. Sie hat viel gelesen, hört oft Radio. Sie kennt die Frontlage im Osten und Westen. Von ihr weiß Janek, dass die Russen die Vorberge der Karpaten erreicht und bereits im August die Weichsel überschritten haben und einen großen Brückenkopf bei Sandomierz bilden konnten. Auch von der Landung der Amerikaner und Engländer in der Normandie hat sie ihm erzählt. Und sie sprach sogar davon, dass die polnischen Regimenter des Generals Anders, die früher einmal in der Sowjetunion gestanden hätten, jetzt in Frankreich im Einsatz seien. Und dann soll es in Deutschland eine Offiziersrevolte gegen Hitler gegeben haben. Und das muss es gewesen sein, was ihr den Plan des Alten schmackhaft gemacht hat. Von Janek wollte sie wissen, ob es nicht auch eine englische oder amerikanische Maschine gewesen sein könnte, die er gesehen habe. Oder eine deutsche, hatte Dubjenski hinzugefügt. Er dachte daran, dass die Deutschen vielleicht ein Manöver inszenierten, um die Wachsamkeit ihrer Posten zu prüfen – und so nebenbei auch die Polen der umliegenden Dörfer auf die Probe zu stellen. Die Deutschen versuchen alles.

Dubjenski will nicht kurz vor Toresschluss Kopf und Kragen riskieren. Sollen die Deutschen selbst das Rätsel lösen, entscheidet er darum. Er wird die beiden bewirten, bis Janek die Feldgendarmerie alarmiert hat. Sind es den Deutschen angenehme Leute, dann wird er seine Gastfreundschaft herausstreichen. Sind es unangenehme, dann wird er betonen, dass er sie festgehalten und die Feldgendarmen benachrichtigt hat. So bleibt er mit seinen Leuten auf alle Fälle aus der Schusslinie. Im Saal wird weiter getanzt. Toni und Wanda verharren in Schweigen. Wanda überlegt schließlich, ob sie ihrer Neugier nachgeben und auf eigene Faust recherchieren darf. Warum eigentlich nicht? Was kann schon passieren? Deshalb sagt sie plötzlich: »Man könnte auf den Gedanken kommen, dass die Herren Janek laufen ließen, weil sie sich selbst in einer gefährlichen Lage befinden?«

Toni gerät in Verlegenheit. Was wissen die von ihnen? Was darf er zugeben, was nicht? Etwas leugnen, was sie wissen, ist genauso schlimm, wie etwas sagen, was sie nicht wissen. »Was für merkwürdige Gedanken so einer schönen Braut kommen«, weicht er zunächst aus. Aber dann möchte er doch gern herausbekommen, was man von ihnen weiß. Deshalb fragt er: »Woraus wollen Sie das übrigens schließen?«

Wanda erwidert lachend: »Das Scheppern der abgesägten Eisenbahnschienen war doch bis hierher zu hören!«

Auf seine Frage aber, wieso sie da einen Zusammenhang zu seinem Kameraden und sich sehe, lächelt Wanda nur zweideutig, als wolle sie ausdrücken: Wer weiß? Wir werden ja sehen!

Toni begreift, dass er hier auf Granit bohrt. Er wird nichts erfahren, was ihnen weiterhilft. »Für eine Polin sprechen Sie übrigens ausgezeichnet deutsch«, lenkt er dann das Gespräch wieder ins Unverbindliche.

»Ja, das mag sein. Den meisten fällt es schwer. Ich hab’s gelernt.«

Toni nickt und kommentiert ihre Antwort mit einem Satz, der zugleich als ironisches Resümee ihres Geplänkels gewertet werden kann: »Zwei Sprachen, zwei Zungen.«

Wanda sieht Toni noch einmal prüfend an, dann löst sie sich von ihm und wendet sich einer Gruppe von jungen Polen zu, um mit ihnen weiterzutanzen.

Um Toni scheint sich niemand zu kümmern. Er lehnt sich einen Augenblick an die Wand, um ein wenig zu verschnaufen und sich einen Überblick zu verschaffen. Dabei betrachtet er genau, wie die Verdunklung befestigt ist.

Werner spricht und trinkt am Tisch der Brautleute noch immer mit Dubjenski. Plötzlich betritt ein kräftiger Bauer den Raum, bleibt neben der Tür stehen. Seine Mütze behält er auf dem Kopf. Als er Dubjenski entdeckt, will er auf ihn zueilen, aber dieser kommt ihm zuvor und geht ihm entgegen.

Toni benutzt die Gelegenheit, setzt sich neben Werner und mahnt ihn leise, aber eindringlich: »Sag, was du willst, das sieht hier nicht gut aus. Wir müssen raus!«