II
Bei den nächsten Wahlen geschah das Übliche: Wir gewannen. Und ich wurde zum Inspector befördert. Doch ich war enttäuscht, ich hatte mehr erwartet. Ich sagte nichts und ließ mir nichts anmerken — Forrester war tot und der Rest hatte ein schwaches Gedächtnis —, sondern ging zur neuen Polizeiwache, wo ich nicht nur eines der oberen
Stockwerke für mich allein hatte, sondern auch noch einen Sekretär, einen Mann von einsachtzig, der sich an meinem Schnaps vergriff, wenn ich
nicht da war.
Neu war mir die neue Wache nicht, schließlich hatte ich dort als Lieutenant meinen Dienst versehen. Jetzt war ich
Inspector, ansonsten war alles beim Alten. Derselbe Sergeant am Empfang und
einige der Streifen- und Zivilbeamten waren ebenfalls dieselben; älter zwar, aber immer noch dieselben. Alle gaben vor, froh zu sein, mich zu
sehen, doch ich wusste, dem war nicht so. Ich stand jetzt oben und sie waren
dieselben geblieben — ›ganz oben‹ war immer mein Ziel gewesen und dafür trampelte ich alles nieder.
Später zog ich mit dem ›Jid‹ los, um einen Teil meines Reviers zu inspizieren; ich kannte es von früher, nur hatte sich alles ein wenig verändert, die Häuser sahen nicht mehr so verhurt aus und die Straßendirnen gingen ihrem Gewerbe nicht mehr so offensichtlich nach. Wir
beobachteten, wie eine einen alten Mann aufgabelte, und zwar auf so liebenswürdige Art, dass selbst uns Zweifel kamen, ob sie nicht doch alte Bekannte seien.
Es war sehr angenehm hier und ich war froh, dieses Revier zu haben, auch wenn
sie mich nicht zum Commissioner gemacht hatten. Es handelte sich um einen sehr
reichen Bezirk, denn ich sah Speakeasys, viele in jeder Straße, und Hotels — ebenfalls viele in jeder Straße —, von denen ich wusste, dass dort Frauen vom Gewerbe wohnten. Mittendrin lag das
Theaterviertel, wo die Zocker, Drogendealer und Gangster ihren jeweiligen Beschäftigungen nachgingen. Ich würde vorsichtig sein, aber reich und obendrein zufrieden, denn ich würde unter den attraktivsten Frauen wählen können.
Die Straßen waren nicht mehr für den Bau der U-Bahn aufgerissen und dort, wo keine Gebäude standen, hatte man sie mit Kopfsteinpflaster versehen. Über die glatten und breiten Fahrbahnen rollten viele Automobile, Ampeln blinkten
ihnen rote und grüne Befehle entgegen. Die Fahrzeuge sahen aus wie Automaten, die sich mechanisch
gesteuert fortbewegten; anders im Theaterviertel, wo es durch die Leuchtreklame
so hell war, dass man die Fahrer hinter den Lenkrädern deutlich erkennen konnte.
Während unseres Rundgangs notierte ich mir diverse Adressen — Speakeasys sind so leicht zu finden —, um sie mit der Liste am schwarzen Brett im Zimmer der Detectives zu
vergleichen. Eine inoffizielle Liste mutmaßlicher Gesetzesübertretungen, die dort für sie bereithing und auf der jede Geschäftsadresse im Bezirk aufgeführt war, daneben der Name des Inhabers und die ihm unterstellte Gesetzesübertretung. Wer angemessen zahlte, kam nicht auf die Liste, so viel wusste ich;
nicht wegen der Loyalität eines Detectives gegenüber demjenigen, der ihn schmiert, sondern weil ein anderer Kollege Wind davon
bekommen und sich seinen Teil vom Kuchen holen könnte. Im Geiste versprach ich ihnen drastische Veränderungen. Ich würde mir meinen gesamten Anteil sichern.
Wieder zurück in meinem Büro, nahm ich eine Flasche aus der Schreibtischschublade und bemerkte sofort,
dass mein Sekretär mir wieder einmal zuvorgekommen war, denn bei meinem letzten Drink reichte der
Schnaps noch bis zum Etikett auf dem Flaschenhals, jetzt lag der Spiegel
darunter.
Ich rief den Sekretär herein und zeigte ihm die Flasche. Sein Blick wanderte von mir zur Flasche und
wieder zurück. Es war eine rechteckige, kompakte Flasche mit langem Hals, die recht hübsch aussah mit ihrem gold-schwarzen Etikett. Ich nahm ein Whiskeyglas aus der
Schreibtischschublade, goss etwas von dem braunen, gluckernden, süßlich riechenden Brandy hinein und hielt es dem Sekretär hin, er möge trinken. Er sah mich an, dann den Schnaps, der im Schein des Lichtes sanft
schimmerte.
»Trink!«, befahl ich ihm.
Er nahm das Glas und wollte ansetzen, um den Schnaps hinunterzuschütten.
»Kleine Schlucke, du Trottel«, sagte ich und er nahm kleine Schlucke. »Schmeckt’s?«
»Ja, Sir.«
»Gut, nicht wahr?«
»Ja, Sir.«
»Das war der Letzte. Ab sofort lässt du die Finger von meinem Schreibtisch. Und jetzt mach, dass du rauskommst.«
Er wurde rot und verließ den Raum, eine Minute später hörte ich das Klappern seiner Schreibmaschine, dann war Ruhe. Ich sah nach und da
saß er, das Kinn in die Hand gestützt, und starrte ins Leere. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, errötete er wieder und beugte sich über seine Schreibmaschine.
Ich trank ein großes Glas Creme de Cocoa; doch zuerst hielt ich es ins Licht, des warmen, braunen
Glanzes wegen, dann trank ich langsam, in kleinen Schlucken, mit Pausen
dazwischen, des Geschmackes wegen. Unaufgefordert goss sich der Jid ebenfalls
ein Glas ein und trank es aus.
»Wie kannst du nur dieses süße Zeug trinken?«, fragte er.
»Ich mag Süßes.«
»Das ist was für Frauen.«
Ich trinke nicht des Trinkens wegen, sondern wegen des Geschmackes. Deshalb mag
ich keinen Gin, einen Schnaps, gemacht für Engländer und Schweden und alle anderen unterkühlten Völker. Wenn es um Schnaps geht, kommt meine italienische Seite zum Vorschein;
auch wenn ich betrunken bin, bin ich Italiener, ich werde traurig und
verbittert und bemitleide mich selbst. Die Wärme des Brandys in meinen Adern, fiel mir die Ungerechtigkeit ein, die mir — aus meiner Sicht — widerfahren war.
»Diese verdammten Scheißkerle«, sagte ich.
Der Jid schwieg. Er wusste, wovon ich sprach, er war mein Vertrauter. Als mein
Leibwächter wusste er so ziemlich alles. Ich benötigte keinen Leibwächter, aber ich konnte den Jid gut leiden und sorgte dafür, dass er in meiner Nähe war.
»Er und ich und dieser Jude, Stein, wir waren zusammen in jedem Bordell dieser
Stadt. Und wie oft hatten wir sogar dasselbe Mädchen — und jetzt kommt er mir mit so einem Deal.«
»Wenn du schon diese einmalige Gelegenheit hattest, warum hast du sie nicht
genutzt, um etwas in der Hand zu haben, was du gegen ihn verwenden kannst?«
»Wer konnte denn ahnen, dass dieser Idiot Bürgermeister wird und dass Forrester ausgerechnet vor den Wahlen stirbt?«
»Er war alt und das wusstest du.«
»Natürlich hab ich das gewusst, aber er hätte ja nicht unbedingt jetzt abtreten müssen, wo es für mich so gut lief.«
»Ich weiß nicht, worüber du dich beschwerst«, sagte der Jid. Er durfte mir gegenüber diesen Ton anschlagen, denn ich mochte und bemutterte ihn, außerdem begleitete er mich ständig und erlebte mich in Situationen, in denen ich keine offizielle Würde zur Schau trug.
»Warum soll ich mich nicht beschweren, wenn man mir doch den Job des
Commissioners versprochen hat? — dieser verdammte, aufgetakelte Lackaffe!«
»Sie haben dich immerhin zum Inspector gemacht.«
»Aus deiner Sicht bedeutet das viel. Aber ich will ganz oben sein.«
Der Schnaps heizte mir ein. Ich schlug mit den Handflächen auf die Schreibtischplatte. »Ganz oben! Ganz oben! Nicht mehr und nicht weniger! Und nichts wird mich
aufhalten, verdammt noch mal!«
»Tatsächlich?«, meinte der Jid.
»Tatsächlich«, sagte ich und trank noch mehr.
Im Zimmer war es warm. Ich stand auf und wollte das Fenster öffnen, doch es klemmte; mit aller Kraft zog ich daran, bis es plötzlich aufsprang. Durch die Anstrengung kam mir der Brandy sauer hoch; ich
spuckte ihn durch das offene Fenster.
Gleichzeitig spürte ich den bekannten Schmerz, der sich wie ein heißes Band fest um den unteren Teil meiner Brust schlang. Ich stand da, hielt mich
am Fensterrahmen fest und atmete die frische Luft in tiefen Zügen ein, doch der Schmerz wurde schlimmer. Mit weichen Knien machte ich mich auf
den Weg zur Toilette, der Magenschmerz war so heftig, dass ich nicht einmal spürte, wie ich mir die Wade an der offenen Schreibtischschublade stieß.
III
Am nächsten Morgen weckte mich der Schmerz in meinem Kopf. Im Zimmer war es dunkel,
denn ich schlafe immer bei heruntergelassener Jalousie. Selbst wenn ich
betrunken bin, vergesse ich nie, sie herunterzulassen. Ich konnte nicht sehen,
wie es draußen war, ging zum Fenster, ließ die Jalousie hoch und Sonnenlicht flutete herein. Kalte Luft drang durch den
Ventilator in der Scheibe, doch ich blieb stehen, den Kopf an das kühle Fenster gepresst, und blickte hinüber zum Park. Die Zweige der Bäume waren mit Eis bedeckt, das im Licht der Sonne glitzerte. Während der Nacht musste es wohl geregnet haben. Während ich so hinaussah, hielt der Verkehrspolizist dort unten die Autos an — ein Strom aus glänzendem Nickel und leuchtenden Farben — und ein Kindermädchen schob einen Kinderwagen über die Straße Richtung Park. Ich begab mich ins Bad und hielt meinen Kopf unter den kalten
Wasserstrahl, rasierte mich, zog mich an und ging in den Flur.
Auf dem kleinen Tisch lag ein Brief und als ich ihn öffnete, klapperte ein Schlüssel im Türschloss, die Tür ging auf und Myra betrat die Wohnung. Sie sagte »Guten Morgen« und zog sich sofort in die Küche zurück, um mein Frühstück zuzubereiten. Bei ihrem Anblick vergaß ich den Brief. Sie war meine Haushälterin, kümmerte sich um mein Frühstück und blieb danach bis zum Mittag, um die Zimmer sauber zu machen. Uns verband
eine Freundschaft, doch welcher Art, hätte ich nicht zu sagen vermocht; aus meiner Sicht dienten Freundschaften zu
Frauen nur einem Zweck und mit ihr war das anders — also wusste ich es nicht.
Einmal, als mir ihr gut gewachsener Körper aufgefallen war, ihre glatte, feste Haut und die straffen Brüste, das, was so vortrefflich von ihrer großen Nase ablenkte, nahm ich sie in den Arm und küsste sie mehrere Male auf den Mund. Sie wurde blass, blieb kerzengerade stehen
und erstarrte. Es war wie in jener Nacht, als ich völlig betrunken eine Statue in den Venetians Gardens geküsst hatte. Ich unterdrückte den aufkommenden Ärger, zum einen wollte ich keine gute Haushälterin verlieren, zum anderen waren diese Morgenstunden reine Quälerei und stießen mir immer bitter auf. Ich lachte über ihr weißes Gesicht. Genauso weiß wurde sie, wenn sie mich mit einer Frau überraschte und uns bedienen musste.
Später erzählte sie mir, sie habe ein Kind, einen Jungen, aber es gebe keinen Vater. Sie
nannte ihren Jungen ein Kind der Liebe. Die ganze Angelegenheit, so wie sie darüber sprach, befremdete mich; es tat ihr nicht Leid, doch in meinen Augen war ein
Bastard nun mal ein Bastard. Und das sagte ich ihr auch und ich sagte ihr auch,
dass sie jung sei und das Leben noch vor sich habe, schließlich gebe es Einrichtungen für solche Kinder. Sie lächelte nur und erwiderte, dass ich nichts verstünde. Gut möglich, aber ich wusste, dass es demütigend war, Fußböden zu schrubben und leichte Mädchen zu bedienen.
Sie sah hoch und bemerkte, dass ich sie fixierte.
»Ist Ihnen wieder schlecht geworden?«, fragte sie.
»Ja.«
»Wann gehen Sie zu einem Arzt?«
»Keine Ahnung. Irgendwann.«
»Das sollten Sie bald tun. Ich kenne einen Mann, der zu lange gewartet hat, und
dann war es zu spät.«
»Ich glaube nicht, dass es etwas Ernstes ist.«
»Dann hätten Sie nicht diese Anfälle. Gehen Sie also besser hin.«
»Und wenn schon«, sagte ich. »Was kümmert es Sie überhaupt?«
»Seien Sie nicht kindisch. So benimmt sich manchmal mein kleiner Sohn.«
»Tut er das?«
»Er ist recht clever ... Sie mögen wohl keine Kinder?«
»Oh doch. Ich mag Teenys Kinder.«
»Da fällt mir ein, Mr. Tinevelli hat gestern angerufen. Ich hab Ihnen eine Nachricht
hinterlassen. Sie liegt auf dem Tisch im Flur.«
»Der Brief ist von Ihnen?«
»Ja, ich hab ihn dort hingelegt. Mr. Tinevelli möchte, dass Sie zu ihm kommen.«
»Wann?«
»Irgendwann diese Woche ... Sie sollten jetzt etwas essen. Aber keinen Speck.
Dieses gebratene Zeug ist schlecht für Sie.«
»Ist es nicht. Es ist der Fusel, den sie einem als Schnaps andrehen.«
»Egal was es ist, versprechen Sie, dass Sie zum Arzt gehen.«
»Versprechen?! Wieso in aller Welt sollte ich Ihnen das versprechen?«
»Weil Sie allein sind und jemand auf Sie aufpassen muss. Vielleicht will ich Sie
ja bemuttern.«
»Bringen Sie mich nicht zum Lachen. Sie hätten meine Mutter sehen sollen.«
»War sie nett?«
»Nett? Du lieber Himmel! Ob sie nett war! So nett, wie eine knallharte Irin sein
kann, die mit einem heißblütigen Spaghettifresser verheiratet ist. Ich bin das Ergebnis.«
»So übel sind Sie nun auch wieder nicht.«
»Versuchen Sie wieder, an mir herumzuerziehen?«
Sie wurde weiß.
»Nein«, sagte sie.
»Gut.« Ich stand von meinem Stuhl auf und ging in den Flur, um meinen Mantel zu holen.
Draußen war es kalt und trocken. Der Wind wehte aus westlicher Richtung, was
bedeutete, dass es eine Zeit lang klar bleiben würde.
Ich betrat die Drogerie an der Ecke. Mein Mund war trocken und die Wirkung des
Kaffees, den ich zum Frühstück getrunken hatte, ließ nach. Hinter dem Tresen stand der Inhaber. Er kannte mich.
»Guten Morgen«, sagte er.
»Morgen. Bromid, bitte.«
»Das können Sie sich sparen, Inspector. Ein Kurzer zum Nachspülen wäre besser.«
»Was haben Sie?«
»Gin.«
»Zum Teufel, nein!«
»Gibson’s?«
»In Ordnung.«
»Kommen Sie mit nach hinten.«
Wir gingen ins Hinterzimmer.
Er öffnete eine Schublade, nahm eine Flasche heraus und füllte zwei Gläser.
»Noch einen?«, fragte er, nachdem wir beide getrunken hatten.
»Nein. Es sei denn, Sie haben etwas Süßes.«
»Nicht hier, aber zu Hause. Einen recht guten Benediktiner. Kommen Sie einfach
mal abends rüber, wenn mein Angestellter mich abgelöst hat.«
»Sicher doch, ich kann mal vorbeischauen.«
»Ich möchte, dass Sie meine Frau kennen lernen. Und meinen Sohn. Ist ’n großer Junge, fast so groß wie Sie.«
»In Ordnung. Bis dann und ... auf Wiedersehen.«
Ich wollte bezahlen, aber er meinte, es gehe aufs Haus.
»Auf Wiedersehen«, sagte ich.
Ich ging hinaus und bog in die Seitenstraße ein, wo die Garage war. Um zu meinem Wagen zu gelangen, musste ich eine steile
Auffahrt hochgehen. Leicht vornübergebeugt nahm ich die Schräge und es passierte dasselbe wie am Abend zuvor, wieder kam mir der Boden
entgegen. War es Autosuggestion oder lag es an dem Speck, den ich gegessen
hatte, ich wusste es nicht; jedenfalls war der Schmerz wieder da. Ich machte
auf dem Absatz kehrt und ging zurück in die Drogerie.
»Geben Sie mir was gegen Magenschmerzen«, sagte ich.
»Kein Problem. Das kriegen wir wieder hin.«
Er nahm eine quadratische gelbe Schachtel aus einer Schublade und schüttete ein Viertel des Inhalts in ein Glas, dazu eine rote Flüssigkeit, die nach Bittermandelöl roch.
»Bromidelixier«, bemerkte er.
»Ist mir scheißegal, was es ist, Hauptsache die Schmerzen verschwinden.«
»Davon verschwinden sie. Wie lange haben Sie das schon?«
»Seit sechs Monaten.«
Er rührte die Mischung um, reichte mir das Glas und ich trank davon.
»Wann treten die Schmerzen auf?«, fragte er.
»Sofort nach dem Essen und wenn ich Schnaps getrunken habe.«
»Unternehmen Sie was dagegen?«
»Ja.«
»Und was?«
»Ich stecke mir den Finger in den Hals und übergebe mich. Danach verspüre ich Erleichterung.«
»Es könnte ein Magengeschwür sein.«
»Könnte sein.«
»Sie sollten sich röntgen lassen. Warum lassen Sie sich nicht röntgen?«
Ich blieb ihm die Antwort schuldig, denn mir wurde speiübel. Das Medikament war mir überhaupt nicht bekommen.
»Gibt es hier eine Toilette?«, fragte ich.
»Ja, dort drüben.«
»Dann geh ich mal.«
Als ich wieder herauskam, fühlte ich mich besser, nur war da noch der Geschmack von Erbrochenem in meinem
Mund. Es fiel auch dem Drogisten auf, denn er wich ein wenig zurück.
»Geben Sie mir etwas, um den Mund auszuspülen.«
Das Mundwasser, das er mir gab, war knallrot und schmeckte nach Zimt.
»Warum lassen Sie sich nicht röntgen?«, fragte er wieder.
»Das sollte ich wohl.«
»In der Tat. Hier ist eine Adresse ... er ist sehr gut. Und er ist nicht teuer.«
»Es geht nicht ums Geld.«
»Ich weiß. Aber schließlich will man ja nicht geschröpft werden.«
»Nein.«
»Natürlich nicht! Und er ist wirklich gut. Gehen Sie heute noch hin.«
»Heute nicht. Ich kann heute nicht.«
»Na gut, dann morgen.«
»Vielleicht morgen«, sagte ich.
»Ich rufe ihn an und sage Bescheid, dass Sie kommen. Er ist ein Freund von mir
und wenn ich ihm erkläre, dass Sie ein Freund von mir sind, behandelt er Sie besser. Er soll doch
nicht glauben, dass Sie so eine Art Laufkundschaft sind, oder?«
»Nein. Rufen Sie ihn an.«
Ich nahm die Adresse und verabschiedete mich.
Von der Garage aus rief ich den Jid an und sagte ihm, er solle sich
bereithalten, ich sei auf dem Weg nach Downtown, um ihn abzuholen. Er erklärte, ich hätte ihn geweckt, aber er werde rechtzeitig fertig sein.
Je höher die Sonne stieg, desto wärmer wurde es. Ich fuhr am Park entlang; das Eis schmolz und die Tropfen fielen
wie Tränen von den Ästen der Bäume. Das war sehr schön. Es gefiel mir. Nach solchen Schmerzen fühlte sich die Erleichterung so gut an; man fühlte sich sogar besser als vor dem Schmerz.
Als ich am Eingang zum Park vorbeifuhr, sah ich, dass die Eiszapfen am großen Kolumbus-Denkmal ebenfalls zu schmelzen begonnen hatten. Ein Polizist hielt
den Verkehr an, winkte mich aber weiter, als er das Polizeischild auf dem Kühler sah. Ich fuhr eine Seitenstraße entlang und dann weiter auf einer ruhigen breiten Straße.
Vor dem Hotel, in dem der Jid wohnte, gab es keinen Parkplatz, also parkte ich
eine Straße weiter und ging zurück. Es war ein billiges Hotel und genau so sah es aus. Zwar gab es vor dem
Eingang eine lange Überdachung, auf der der Name des Hotels zu lesen war, doch der Rest wirkte wie
ein heruntergekommenes Wohnhaus. Nebenan befand sich ein Busbahnhof für Überlandbusse; die Häuser auf den Nachbargrundstücken wurden gerade abgerissen, um die Busstation erweitern zu können. Überall war Staub und Schmutz und in der Luft hing ständig der Geruch von Benzin.
Ich betrat das Hotel, um den Jid abzuholen. Der Mann am Empfang rief in seinem
Zimmer an. Er rasiere sich gerade und sei in fünf Minuten unten, ließ der Jid mir ausrichten. Ich ging wieder hinaus und schlenderte zur Ecke, um
eine Zeitung zu kaufen.
»Kennst du mich noch, Monk?«, fragte ich den Zeitungsverkäufer.
»Klar, Looey, klar!«
»Du hast ein gutes Gedächtnis. Ist ’ne halbe Ewigkeit her.«
»Vergess ich nie.«
Ich kannte Monk schon lange. Er war schwachsinnig — nein, nicht unbedingt schwachsinnig, aber auch nicht ganz richtig im Kopf. Er
trug einen knöchellangen braunen Mantel, der oberhalb des Saums völlig zerschlissen war; in diesem Mantel hatte ich ihn zum ersten Mal gesehen.
Auf dem Kopf, tief in die Stirn gezogen, saß eine schmutzig graue Kappe. Sie saß jedoch nicht tief genug, um das ungepflegte Haar zu verdecken. Die Augen lagen
weit hinten in ihren Höhlen, möglicherweise waren es aber nur die struppigen, dichten Brauen, die diesen
Eindruck vermittelten. Monk schniefte unablässig und seine große Nase war vom vielen Schnäuzen rot. Einen Taschentuchfetzen in der Faust, fuhr er sich in einer Aufwärtsbewegung über die Nase und zerrte dabei seine Nasenlöcher nach oben. Einige Schnauber ins Taschentuch beendeten für gewöhnlich die Prozedur.
»Wie läuft das Geschäft, Monk?«, fragte ich.
»Ganz gut, ganz gut. Mal mehr, mal weniger. Steh nicht mehr die ganze Zeit hier,
hab jetzt ’nen Stand drüben an der U-Bahn. Verkauf hier nur Morgenzeitungen.«
»Bist du glücklich, Monk?«
»Absolut. Keine Sorgen. Kann jede Nacht schlafen. Hab keine Sorgen.«
»Hört man gern. Eine ›American‹ bitte.«
Er gab mir die Zeitung. Ich hielt ihm eine Münze hin.
»Will dein Geld nicht.«
»Dann will ich deine Zeitung nicht.«
»Alles klar, Looey, alles klar«, sagte er und nahm die Münze.
Ich sah den Jid aus dem Hotel kommen. Er blickte sich um, entdeckte mich und
setzte sich in Bewegung.
»Du siehst beschissen aus«, begrüßte er mich.
»Morgen geh ich zum Arzt.«
»Wird auch Zeit.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte ich.
»Wieso gehst du nicht ins Krankenhaus?«
»Du weißt doch, wie man da behandelt wird. Also ... wieso sollte ich?«
»Mit dir würde man anders umgehen«, sagte er.
»Zur Hölle mit denen. Ich kann mir einen Spezialisten leisten.«
»Vielleicht wissen die aber mehr.«
»Um Himmels willen, geht dir denn nie ein Licht auf! Hast du immer noch nicht
kapiert, wie’s bei denen läuft?«
»Ich dachte — «
»Zur Hölle mit denen«, schnitt ich ihm das Wort ab.
Inzwischen waren wir am Auto und stiegen ein. Ich fuhr schwungvoll aus der Parklücke und dann hinüber zur East Side.
»Ich hab noch nichts gegessen«, sagte der Jid.
»Das kannst du Downtown machen.«
»Wohin fahren wir?«
»Zu Tinevelli.«
»Sollten wir nicht erst im ›Etablissement‹ vorbeischauen?«, meinte der Jid.
Ich wendete an der nächsten Ecke, fuhr zurück und sprach mit Captain MacDunn. Er war Schotte und geldgierig wie alle
anderen, wie jeder von uns. Er liebte Whiskey und hasste Frauen. Als ihm einmal
zu Ohren gekommen war, dass man im Anschluss an eine Razzia in einem der Häuser die Mädchen in den Pausenraum und erst danach in die Zellen geschafft hatte, stauchte
er nicht die Jungs zusammen, sondern lief hinunter zu den Zellen, stolzierte im
Gang auf und ab und beschimpfte die Mädchen aufs Übelste. Wir hatten eine Vereinbarung getroffen und er führte eine inoffizielle, persönliche Akte darüber, wer wie viel bezahlte. Diese Akte war chiffriert, in einem Code, den nur er
kannte.
Ich wurde nicht gebraucht, also machten wir uns erneut auf den Weg Richtung
Downtown. Ich fuhr sehr schnell; der Verkehr auf der East Side Avenue war nicht
sonderlich stark. Schon bald waren wir in den so genannten Slums und dann in ›Little Italy‹. Nichts hatte sich verändert, auch nicht mein Hass. Ich fuhr nur dorthin, um Teeny zu besuchen. Er
hatte die Gegend nie hinter sich gelassen, nicht einmal während seines Studiums; und dann die Idee, eine italienische Bank zu gründen, das Ganze zu organisieren und hier aufzubauen. Er wohnte auf Long Island,
arbeitete aber dort, wo er gelebt hatte. Er hätte Dichter werden sollen — alles sei so schön hier, meinte er. Ich hingegen sah nur Schmutz und der erinnerte mich zu sehr
an meine Kindheit.
Die gleichen Karren, das gleiche vergammelnde Gemüse und dieselben engen Straßen. Schmutz und Gestank und Dunkelheit, überall. Ich fragte mich, was Menschen dazu trieb, einen Ort der Sonne, des
Lachens aufzugeben, einen Ort, an dem man alt werden konnte, zugunsten von
Dunkelheit und Krankheit, und obendrein noch glücklich zu sein, weil sie Kinofilme hatten und Seidenstrümpfe. (Beine in Seidenstrümpfen, wohin man sah, zwischen dem ganzen vergammelnden Gemüse.)
Wir hatten die Bank erreicht. Sie war wie eine heile Stelle auf wunder Haut.
Auch in diesem Punkt musste Teeny sentimental sein. Er hatte das Haus, in dem
unsere beiden Familien zusammen mit zwei Dutzend anderer Familien gewohnt
hatten, niederreißen und stattdessen die saubere, weiße Bank mit ihren riesigen Fenstern und hohen Decken bauen lassen.
»Mal sehen, ob ich hier was zu essen bekomme«, sagte der Jid, »ich hab Hunger.«
»Hauptsache, du hältst mich nicht auf. Ich bleibe nicht lange und ich will auf keinen Fall warten.«
»Ich esse schnell.«
Er zog los und ich ging durch die Drehtür, mit der Frage beschäftigt, was das nur für ein Gefühl sei, das mich jedes Mal an diesem Ort beschlich. Ich wusste lediglich, dass
es kein angenehmes Gefühl war.
Um die Uhrzeit waren noch keine Kunden da und die Kassierer lächelten mich an und einer sagte »Hallo«. Der Polizist, der hier Dienst schob, grüßte mit »Hallo, Captain«. Er hatte nichts von meiner Beförderung zum Inspector gehört. Das hatte ich gemeint. Wäre ich Commissioner geworden, hätte er davon gehört.
Teeny saß am Schreibtisch, als ich sein Büro betrat. Er sah krank aus. Er war schon immer dünn, klein und dunkel gewesen, doch jetzt sah er krank aus. Seine linke
Augenbraue zuckte alle paar Sekunden. Er stand auf.
»Zum Teufel, was ist los mit dir?«, fragte ich.
»Nichts.«
»Bist du krank?«
»Nein.«
»Du siehst aber so aus«, sagte ich.
»Du auch.«
»Nun, ich bin’s ja auch.«
»Was hast du denn?« Er schien ehrlich besorgt.
»Weiß ich noch nicht. Ich geh morgen zum Arzt und lass mich röntgen. Ich glaube fast, du hättest es nötiger als ich.«
»Hab ich nicht. Also, was ist nun mit dir?«
»Es ist der Magen«, sagte ich.
»Was genau?«
»Einfach total verkorkst. Erbrechen, Schmerzen, Herzbeschwerden.«
»Warum bist du nicht schon längst hingegangen?«