Geißel der Niedertracht - P.J. Wolfson - E-Book

Geißel der Niedertracht E-Book

P.J. Wolfson

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Beschreibung

Mit der Macht hält es Inspector Safiotte wie ein König aus dem Morgenland vor dreitausend Jahren, denn die Speakeasys und Bordelle der Stadt zahlen ihm regelrecht Tribut — Dealer und Buchmacher überreichen gewisse Umschläge, Huren sind ihm jederzeit gefällig. Wer weiß, vielleicht zahlen sich diese Gefallen ja eines Tages aus, denn der Inspector ist immerhin ein einflussreicher Mann. Ausgerechnet als der Bürgermeister ihn nicht wie erwartet zum Commissioner ernennt, bekommt Safiotte Probleme mit dem Blinddarm und die Frau eines ihm unterstellten Polizisten erweist sich als die große Liebe seines Lebens. Als der Banker Tinevelli (ein Sandkastenfreund Safiottes, bei dem er sein Schmiergeld anlegt) Geld unterschlägt und untertaucht, um eine Erpressergang zu bezahlen, schmiedet Safiotte einen skrupellosen Plan, um alle Fliegen mit einer Klappe zu schlagen … Im New York der Prohibition beschwört PJ Wolfson eine nahezu alttestamentarische Atmosphäre herauf. In seinem längst vergessenen Polizei-Noir-Roman skizziert er NYC als Gomorrha und relativiert damit selbst moderne Varianten wie Abel Ferrars Bad Lieutenant.

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Inhalte

Titel

Vorwort

Erstes Buch 1

Erstes Buch 2

Erstes Buch 3

Erstes Buch 4

Erstes Buch 5

Erstes Buch 6

Erstes Buch 7

Zweites Buch 8

Zweites Buch 9

Zweites Buch 10

Zweites Buch 11

Zweites Buch 12

Zweites Buch 13

Zweites Buch 14

Zweites Buch 15

Zweites Buch 16

Zweites Buch 17

Zweites Buch 18

Drittes Buch 19

Drittes Buch 20

Viertes Buch 21

Viertes Buch 22

Viertes Buch 23

Abspann

Pulp Banner

P.J. Wolfson
Geißel der Niedertracht
Vorwort
von Silke Buttgereit
Während Black-Novel-Autoren wie Dashiell Hammett, Raymond Chandler und James Mallahan Cain unangefochten im Pantheon großer Autoren des 20. Jahrhunderts neben einem John Dos Passos beheimatet sind, sind deren Zeitgenossen Mickey Spillane, David Goodis, Armitage Trail oder Horace McCoy wenigstens den Kennern des schwarzen Genres ein fester Begriff. Ihre Romane und Storys findet man mal mehr, mal weniger konzeptlos und willkürlich ins Deutsche übersetzt. Warum wieder andere Autoren der 20er und 30er Jahre wie Paul Cain und P. J. Wolfson völlig in Vergessenheit gerieten, ist eine Laune des Nachruhm-Schicksals, die sich aus ihren Werken nicht erklärt.
Versteh einer die Rezeptionsgeschichte — auch in den USA ist Pincus Jacob Wolfson als Schriftsteller vergessen. Bodies are Dust, 1931 erstmals erschienen, wurde dort seit den 40er Jahren nicht wieder aufgelegt. Umso erstaunlicher ist jedoch, dass derselbe Roman unter dem etwas fragwürdigen Titel A nos amours in Frankreich bereits kurz nach Gründung der Série Noire 1950 von Marcel Duhamel höchstpersönlich und in kongenialer sprachlich deftiger Auguste-Le-Breton-Manier ins Französische übersetzt wurde (in der Erstausgabe lautete der Titel allerdings Corps perdus). Dort gilt der Roman seitdem als Klassiker des amerikanischen Roman Noir und wurde im vergangenen Herbst neu aufgelegt.
Als Drehbuchautor vor allem zahlreicher Musicals, Liebesschmonzetten und Komödien der 30er und 40er Jahre ist P.J. Wolfson Filmfans durchaus ein Begriff. Er schrieb Plots und Drehbücher für fast 30 Filme und war so Wegbegleiter der Karrieren von John Wayne, Clark Gable, Joan Crawford, Fred Astaire, James Stewart, Peter Lorre und Barbara Stanwyck.
Wolfson wurde am 22. Mai 1903 geboren und starb im April 1979. Viel mehr ist nicht bekannt, seine produktivste Phase war zwischen 1930 und 1950, danach erschienen bis 1960 noch mehrere Romane. Das komische Genre, in dem Wolfson als Drehbuchautor reüssierte, lässt er als Romancier links liegen, hier ist er dicht, düster, zynisch, schwarz.
Bodies are Dust — Geißel der Niedertracht — ist Wolfsons erster Roman und thematisch eine typische hardboiled Black Novel, wie sie im Umfeld des Black Mask Magazins massenhaft entstanden. Die Themen des Plots sind wenig spektakulär — Geschichten von Betrug, Korruption und Hinterhalt sind ebenso wie zwielichtige Protagonisten klassische Ingredienzen des Genres. Aber im Vergleich zu Geißel der Niedertracht liest sich der fast zeitgleich erschienene Malteser Falke Dashiell Hammetts mit dem zwar verrotteten, aber eindeutig moralisch motivierten Sam Spade wie die rührende Geschichte vom Windmühlen-Kampf eines Gutmenschen.
Buck Safiotte, Wolfsons Protagonist und Ich-Erzähler, mag ein eiskalter Killer sein, er ist reichlich skrupellos, brutal und gewalttätig. Einer, der gelernt hat zu überleben, der nach oben will und mitnimmt, was sich auf dem Weg dahin an Annehmlichkeiten bietet. Das ungut dumpfe Gefühl, das Geißel der Niedertracht verbreitet und hinterlässt, erklärt sich jedoch weniger aus den gewalttätigen Szenen und der fiesen Intrige, mit der Safiotte seinen Nebenbuhler aus dem Weg räumt.
Es ist die absolut klare und präzise Sprache des Ich-Erzählers, der seine eigenen Motive, Emotionen und körperlichen Schmerzen mit einer so kristallenen Teilnahmslosigkeit schildert, dass Welt und Mensch tatsächlich von allen guten und lebendigen Geistern verlassen zu sein scheinen. In Geißel der Niedertracht grassiert das Böse nicht einmal mehr als wütende Bestie, sondern wird mit der gleichen Nicht-Dramatik beschrieben wie das Schattenspiel der Frühjahrssonne auf den Gehwegen einer Großstadt oder die lebensgefährliche Operation des eigenen Blinddarms. Ähnliches liest man gute zehn Jahre später in Camus’ Der Fremde — dort liegt die Amoralität des Ich-Erzählers gleichfalls weniger in der Brutalität des Mordes als in der Zufälligkeit und Leidenschaftslosigkeit der von ihm begangenen Tat.
Geißel der Niedertracht ist jedoch mehr als ein beunruhigend amoralischer Roman.
Wolfson selbst beschwört mit dem Titel des Romans und dem Eingangszitat aus dem Babylonischen Talmud eine alttestamentarische Atmosphäre. Dann aber erzählt er in einem grandios entworfenen modernen Milieu und in erschütternd emotionskargem Stil den biblischen Plot vom großen König David und seiner Mätresse Batseba. David schickt Batsebas Mann, den Hethiter Uriel, im Krieg an die gefährlichste Front und Uriel stirbt wie beabsichtigt. David heiratet Batseba, sie bekommen einen Sohn, den Gott zur Strafe krank werden und sterben lässt. Die Grundzüge dieser Geschichte aus dem 11. und 12. Kapitel des ersten Buches Samuels finden sich frappant detailgenau in Wolfsons Roman wieder.
Dass die literarische Schule der amerikanischen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts aus Shakespeare und der Bibel bestand, ist eine literaturhistorische Plattitüde. Dass ein Autor den alttestamentarischen Stoff so unverblümt ins großstädtische Amerika der 20er Jahre verlegt, ist kaltblütig genial und scheint mir einzigartig. Eine amoralische Geschichte auf der Folie der größten westlichen Moralquelle, der Bibel, zu erzählen, schafft eine sehr eigenwillige und düster dramatische Atmosphäre. Zumal der alttestamentarische Gott mit dem gepflegten lieben Gott, den das zeitgenössische Christentum gerne auf seine Fahnen schreibt, wenig gemein hat. Das alte Testament ist unter anderem eine Sammlung knallharter und bluttriefender Geschichten, denen nichts Menschliches und Unmenschliches fern ist — Mord, Totschlag, Sadismus, sexuelle Gewalt und Misshandlung, Inzest und grausame Intrigen. Der Gott dieser Talmudgeschichten ist auch kein nachsichtiger und vergebender, sondern ein launisch liebender und strafender Choleriker, undurchschaubar und unheimlich. Und es ist der Gott, auf den sich die drei großen monotheistischen Weltreligionen, Judentum, Christentum und Islam, gleichermaßen beziehen.
So lässt sich Geißel der Niedertracht noch einmal lesen als Geschichte des Kleindespoten und Ganovenkönigs Safiotte, als die klassische Geschichte eines Menschen, der irrt. Schuld und Sühne werden durch den biblischen Hintergrund zum zentralen Thema des Romans. Dieser Background-Plot tönt das todtraurige Ende — auch ohne den biblischen Bezug ein minimalistisch herzzerreißendes Klagelied, das die erzählerische Teilnahmslosigkeit der vorangegangenen 200 Seiten rückwärts durchdringt — mit archetypischen Klangfarben:
Das war’s: Jazz und Tränen und Tod.
So viel muss man mit so wenigen Worten erst einmal sagen können und zugleich so souverän den Bogen spannen zwischen archaischer Moraltradition und einsamer Trauer eines gebrochenen Menschen der amoralischen Metropolen des 20. Jahrhunderts.
Die Pulpmaster-Macher sichten gerade weitere Romane P.J. Wolfsons. In dem wenige Jahre später erschienenen Is my Flesh of Bress? ist die biblische Anlehnung ähnlich plakativ wie in Geißel der Niedertracht. Titel und Eingangszitat stammen aus der Klage Hiobs. Hiob und Roman Noir zwischen zwei Buchdeckeln — der Gedanke ist überraschend nahe liegend, es musste eben nur einer drauf kommen. Kann sein, dass es bei Wolfson noch viel zu entdecken gibt.
»Beschwichtige deinen Genossen nicht im Augenblick seines Zorns, tröste ihn nicht, solange sein Toter vor ihm liegt, löse ihm das Gelübde nicht bei seinem Geloben, und bestrebe dich nicht, ihn zu sehen in der Stunde seines Verderbens.«
I
Es war Frühling, als man mich auf den neuen Posten versetzte; nur erinnerte wenig an Frühling, viel hingegen an einen späten Winter. Die Bürgersteige waren voller Eis, vernarbt durch den raschen Wechsel von Tauwetter und neuerlichem Frost. An einigen Stellen schimmerte die vereiste Fahrbahn wie poliert, an anderen wiederum war der Matsch zu dick, um zu gefrieren. So kam es, dass wenn ein LKW langsam vorbeifuhr, der Matsch unter seinen Rädern hervorquoll wie Eiter aus einer entzündeten Wunde. Manchmal aber, wenn ein Pferdekarren aus Richtung der Docks heranrollte, spritzte der Schlamm unter der Kraft der Hufe bis auf den Bürgersteig.
Von den Fenstern der Polizeiwache konnten wir in die Gemeindeschule und das Nonnenkloster auf der anderen Seite der Straße sehen. Zumindest tagsüber, am Abend hielten sich keine Kinder in der Schule auf; auch das Nonnenkloster war dunkel und hinter den heruntergelassenen Jalousien zeichneten sich lediglich Schatten ab.
Das Schulgebäude war gelb und schmucklos, genau wie das Kloster. Rechts und links der Gebäude standen rote Wohnhäuser mit Fenstersimsen, Mauervorsprüngen und verrosteten Feuerleitern. Oft betrachtete ich die Fenster im obersten Stockwerk des roten Hauses neben dem Kloster; ich kannte die Nutte, die dort mal gewohnt hatte. Irgendwann zog sie weg. Wegen der Nachbarschaft, hatte sie gesagt. Die sei schlecht fürs Geschäft.
Wenn es trübe und regnerisch war und die Kinder in knöchellangen Regenmänteln die Schule verließen, vermittelte mir der Blick durch das Fenster, auf dessen schmutziger Scheibe der Regen saubere Schneisen hinterließ, das Gefühl, auf einem großen Hügel zu stehen und auf erwachsene Leute hinunterzuschauen. Die Nonnen hatten dann etwas von schwarzen Riesen, die die Leute überragten.
Von uns aus gesehen verlief das Stadtgebiet Richtung Fluss abschüssig und von den seitlichen Fenstern hatten wir einen Blick über die Dächer hinweg bis zum Grauviolett des Steilufers auf der anderen Fluss-Seite. Den Fluss selbst sah man nicht, aber man wusste, er war da, dafür sorgten die Schiffshörner und die dunklen Rauchwolken, die von den Schornsteinen der Schiffe aufstiegen. Manchmal, bei Sonnenschein, wenn die Schiffe weit genug auf den Fluss hinausfuhren, konnten wir die Schornsteine mit ihren aufgemalten gelben oder roten Querstreifen erkennen. Ein recht netter Anblick vor dem Braun und Grau der Erde und den Felsen.
Wenn die Sonne schien, kamen Tauben von den Simsen der roten Häuser geflogen und pickten den Hafer aus dem Pferdemist, der auf der Fahrbahn lag. Sie hatten ihre Nester unter den Simsen der roten Häuser, das gelbe Nonnenkloster oder die Gemeindeschule waren dafür zu flach.
Oben auf dem Steilufer erstreckte sich ein Waldgebiet, dessen Ausläufer bis an den Abgrund reichten; ich hatte es einmal durchfahren, als ich die Stadt verließ, um Ferien zu machen, und so wusste ich, dass es sich bis tief ins Land ausdehnte, um sich irgendwann in Gestrüpp und dann in hügeliges Farmland zu verwandeln. Als ich dieses Waldgebiet betrachtete, musste ich daran denken, wie wir als Jungen erst mit der heißen, überfüllten Hochbahn fuhren, danach in einem kühlen Zugabteil mit grünen Polstern — das Fahrgeld bedeutete eine ›Ausgabe‹ für unsere Eltern; es bereitete mir zusätzlichen Spaß, eine ›Ausgabe‹ zu verursachen, weil ich mir einbildete, es bleibe dann weniger für die Priester übrig. Die Fahrt ging hinaus auf eine grüne Insel mit Sandstränden, weit außerhalb der Stadt (wie jeder im Slum waren auch wir verrückt nach allem, was grün war und wuchs), wo wir nach Muscheln gruben, badeten und halb nackt im Gras lagen. Später machten wir Feuer, um die Fische zu braten, die wir gefangen hatten.
Ich erinnerte mich, wie Teeny, Danny und ich loszogen, um Holz für das Feuer zu sammeln, und zwei Frauen entdeckten, die eng beieinander im Gras lagen. Eine von ihnen sprach Teeny an und fragte, ob er in ihrem Garten spielen wolle, und er antwortete, wenn ihr Garten groß genug sei für uns drei, würden wir dort spielen. Mit einem Male füllten sich die Muschel-Tümpel mit Schlamm und das Wasser, einen Ölfilm auf der Oberfläche, roch modrig, ich spürte wieder die Atmosphäre, in die ich eingetaucht war, als ich mich einen dunklen Flur entlanggestohlen hatte, einer Hure im Kimono und ihrem Freier auf den Fersen; doch was ich sah, waren zwei Frauen im Gras, bekleidet mit geschlitzten Röcken. Wir nahmen sie mit zu den anderen und stiegen in die Boote. Teeny und eine der Frauen kamen zu mir ins Boot. Wir trugen Badesachen und als Teeny aufstand, langte die Frau nach oben, um ein wenig Seetang wegzuwischen, der an seinem Oberschenkel klebte, dabei berührte sie Teenys nackte Haut und er sprang rasch kopfüber ins Wasser. Sie sah mich an und lachte, und ich lachte auch.
II
Bei den nächsten Wahlen geschah das Übliche: Wir gewannen. Und ich wurde zum Inspector befördert. Doch ich war enttäuscht, ich hatte mehr erwartet. Ich sagte nichts und ließ mir nichts anmerken — Forrester war tot und der Rest hatte ein schwaches Gedächtnis —, sondern ging zur neuen Polizeiwache, wo ich nicht nur eines der oberen Stockwerke für mich allein hatte, sondern auch noch einen Sekretär, einen Mann von einsachtzig, der sich an meinem Schnaps vergriff, wenn ich nicht da war.
Neu war mir die neue Wache nicht, schließlich hatte ich dort als Lieutenant meinen Dienst versehen. Jetzt war ich Inspector, ansonsten war alles beim Alten. Derselbe Sergeant am Empfang und einige der Streifen- und Zivilbeamten waren ebenfalls dieselben; älter zwar, aber immer noch dieselben. Alle gaben vor, froh zu sein, mich zu sehen, doch ich wusste, dem war nicht so. Ich stand jetzt oben und sie waren dieselben geblieben — ›ganz oben‹ war immer mein Ziel gewesen und dafür trampelte ich alles nieder.
Später zog ich mit dem ›Jid‹ los, um einen Teil meines Reviers zu inspizieren; ich kannte es von früher, nur hatte sich alles ein wenig verändert, die Häuser sahen nicht mehr so verhurt aus und die Straßendirnen gingen ihrem Gewerbe nicht mehr so offensichtlich nach. Wir beobachteten, wie eine einen alten Mann aufgabelte, und zwar auf so liebenswürdige Art, dass selbst uns Zweifel kamen, ob sie nicht doch alte Bekannte seien.
Es war sehr angenehm hier und ich war froh, dieses Revier zu haben, auch wenn sie mich nicht zum Commissioner gemacht hatten. Es handelte sich um einen sehr reichen Bezirk, denn ich sah Speakeasys, viele in jeder Straße, und Hotels — ebenfalls viele in jeder Straße —, von denen ich wusste, dass dort Frauen vom Gewerbe wohnten. Mittendrin lag das Theaterviertel, wo die Zocker, Drogendealer und Gangster ihren jeweiligen Beschäftigungen nachgingen. Ich würde vorsichtig sein, aber reich und obendrein zufrieden, denn ich würde unter den attraktivsten Frauen wählen können.
Die Straßen waren nicht mehr für den Bau der U-Bahn aufgerissen und dort, wo keine Gebäude standen, hatte man sie mit Kopfsteinpflaster versehen. Über die glatten und breiten Fahrbahnen rollten viele Automobile, Ampeln blinkten ihnen rote und grüne Befehle entgegen. Die Fahrzeuge sahen aus wie Automaten, die sich mechanisch gesteuert fortbewegten; anders im Theaterviertel, wo es durch die Leuchtreklame so hell war, dass man die Fahrer hinter den Lenkrädern deutlich erkennen konnte.
Während unseres Rundgangs notierte ich mir diverse Adressen — Speakeasys sind so leicht zu finden —, um sie mit der Liste am schwarzen Brett im Zimmer der Detectives zu vergleichen. Eine inoffizielle Liste mutmaßlicher Gesetzesübertretungen, die dort für sie bereithing und auf der jede Geschäftsadresse im Bezirk aufgeführt war, daneben der Name des Inhabers und die ihm unterstellte Gesetzesübertretung. Wer angemessen zahlte, kam nicht auf die Liste, so viel wusste ich; nicht wegen der Loyalität eines Detectives gegenüber demjenigen, der ihn schmiert, sondern weil ein anderer Kollege Wind davon bekommen und sich seinen Teil vom Kuchen holen könnte. Im Geiste versprach ich ihnen drastische Veränderungen. Ich würde mir meinen gesamten Anteil sichern.
Wieder zurück in meinem Büro, nahm ich eine Flasche aus der Schreibtischschublade und bemerkte sofort, dass mein Sekretär mir wieder einmal zuvorgekommen war, denn bei meinem letzten Drink reichte der Schnaps noch bis zum Etikett auf dem Flaschenhals, jetzt lag der Spiegel darunter.
Ich rief den Sekretär herein und zeigte ihm die Flasche. Sein Blick wanderte von mir zur Flasche und wieder zurück. Es war eine rechteckige, kompakte Flasche mit langem Hals, die recht hübsch aussah mit ihrem gold-schwarzen Etikett. Ich nahm ein Whiskeyglas aus der Schreibtischschublade, goss etwas von dem braunen, gluckernden, süßlich riechenden Brandy hinein und hielt es dem Sekretär hin, er möge trinken. Er sah mich an, dann den Schnaps, der im Schein des Lichtes sanft schimmerte.
»Trink!«, befahl ich ihm.
Er nahm das Glas und wollte ansetzen, um den Schnaps hinunterzuschütten.
»Kleine Schlucke, du Trottel«, sagte ich und er nahm kleine Schlucke. »Schmeckt’s?«
»Ja, Sir.«
»Gut, nicht wahr?«
»Ja, Sir.«
»Das war der Letzte. Ab sofort lässt du die Finger von meinem Schreibtisch. Und jetzt mach, dass du rauskommst.«
Er wurde rot und verließ den Raum, eine Minute später hörte ich das Klappern seiner Schreibmaschine, dann war Ruhe. Ich sah nach und da saß er, das Kinn in die Hand gestützt, und starrte ins Leere. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, errötete er wieder und beugte sich über seine Schreibmaschine.
Ich trank ein großes Glas Creme de Cocoa; doch zuerst hielt ich es ins Licht, des warmen, braunen Glanzes wegen, dann trank ich langsam, in kleinen Schlucken, mit Pausen dazwischen, des Geschmackes wegen. Unaufgefordert goss sich der Jid ebenfalls ein Glas ein und trank es aus.
»Wie kannst du nur dieses süße Zeug trinken?«, fragte er.
»Ich mag Süßes.«
»Das ist was für Frauen.«
Ich trinke nicht des Trinkens wegen, sondern wegen des Geschmackes. Deshalb mag ich keinen Gin, einen Schnaps, gemacht für Engländer und Schweden und alle anderen unterkühlten Völker. Wenn es um Schnaps geht, kommt meine italienische Seite zum Vorschein; auch wenn ich betrunken bin, bin ich Italiener, ich werde traurig und verbittert und bemitleide mich selbst. Die Wärme des Brandys in meinen Adern, fiel mir die Ungerechtigkeit ein, die mir — aus meiner Sicht — widerfahren war.
»Diese verdammten Scheißkerle«, sagte ich.
Der Jid schwieg. Er wusste, wovon ich sprach, er war mein Vertrauter. Als mein Leibwächter wusste er so ziemlich alles. Ich benötigte keinen Leibwächter, aber ich konnte den Jid gut leiden und sorgte dafür, dass er in meiner Nähe war.
»Er und ich und dieser Jude, Stein, wir waren zusammen in jedem Bordell dieser Stadt. Und wie oft hatten wir sogar dasselbe Mädchen — und jetzt kommt er mir mit so einem Deal.«
»Wenn du schon diese einmalige Gelegenheit hattest, warum hast du sie nicht genutzt, um etwas in der Hand zu haben, was du gegen ihn verwenden kannst?«
»Wer konnte denn ahnen, dass dieser Idiot Bürgermeister wird und dass Forrester ausgerechnet vor den Wahlen stirbt?«
»Er war alt und das wusstest du.«
»Natürlich hab ich das gewusst, aber er hätte ja nicht unbedingt jetzt abtreten müssen, wo es für mich so gut lief.«
»Ich weiß nicht, worüber du dich beschwerst«, sagte der Jid. Er durfte mir gegenüber diesen Ton anschlagen, denn ich mochte und bemutterte ihn, außerdem begleitete er mich ständig und erlebte mich in Situationen, in denen ich keine offizielle Würde zur Schau trug.
»Warum soll ich mich nicht beschweren, wenn man mir doch den Job des Commissioners versprochen hat? — dieser verdammte, aufgetakelte Lackaffe!«
»Sie haben dich immerhin zum Inspector gemacht.«
»Aus deiner Sicht bedeutet das viel. Aber ich will ganz oben sein.«
Der Schnaps heizte mir ein. Ich schlug mit den Handflächen auf die Schreibtischplatte. »Ganz oben! Ganz oben! Nicht mehr und nicht weniger! Und nichts wird mich aufhalten, verdammt noch mal!«
»Tatsächlich?«, meinte der Jid.
»Tatsächlich«, sagte ich und trank noch mehr.
Im Zimmer war es warm. Ich stand auf und wollte das Fenster öffnen, doch es klemmte; mit aller Kraft zog ich daran, bis es plötzlich aufsprang. Durch die Anstrengung kam mir der Brandy sauer hoch; ich spuckte ihn durch das offene Fenster.
Gleichzeitig spürte ich den bekannten Schmerz, der sich wie ein heißes Band fest um den unteren Teil meiner Brust schlang. Ich stand da, hielt mich am Fensterrahmen fest und atmete die frische Luft in tiefen Zügen ein, doch der Schmerz wurde schlimmer. Mit weichen Knien machte ich mich auf den Weg zur Toilette, der Magenschmerz war so heftig, dass ich nicht einmal spürte, wie ich mir die Wade an der offenen Schreibtischschublade stieß.
III
Am nächsten Morgen weckte mich der Schmerz in meinem Kopf. Im Zimmer war es dunkel, denn ich schlafe immer bei heruntergelassener Jalousie. Selbst wenn ich betrunken bin, vergesse ich nie, sie herunterzulassen. Ich konnte nicht sehen, wie es draußen war, ging zum Fenster, ließ die Jalousie hoch und Sonnenlicht flutete herein. Kalte Luft drang durch den Ventilator in der Scheibe, doch ich blieb stehen, den Kopf an das kühle Fenster gepresst, und blickte hinüber zum Park. Die Zweige der Bäume waren mit Eis bedeckt, das im Licht der Sonne glitzerte. Während der Nacht musste es wohl geregnet haben. Während ich so hinaussah, hielt der Verkehrspolizist dort unten die Autos an — ein Strom aus glänzendem Nickel und leuchtenden Farben — und ein Kindermädchen schob einen Kinderwagen über die Straße Richtung Park. Ich begab mich ins Bad und hielt meinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl, rasierte mich, zog mich an und ging in den Flur.
Auf dem kleinen Tisch lag ein Brief und als ich ihn öffnete, klapperte ein Schlüssel im Türschloss, die Tür ging auf und Myra betrat die Wohnung. Sie sagte »Guten Morgen« und zog sich sofort in die Küche zurück, um mein Frühstück zuzubereiten. Bei ihrem Anblick vergaß ich den Brief. Sie war meine Haushälterin, kümmerte sich um mein Frühstück und blieb danach bis zum Mittag, um die Zimmer sauber zu machen. Uns verband eine Freundschaft, doch welcher Art, hätte ich nicht zu sagen vermocht; aus meiner Sicht dienten Freundschaften zu Frauen nur einem Zweck und mit ihr war das anders — also wusste ich es nicht.
Einmal, als mir ihr gut gewachsener Körper aufgefallen war, ihre glatte, feste Haut und die straffen Brüste, das, was so vortrefflich von ihrer großen Nase ablenkte, nahm ich sie in den Arm und küsste sie mehrere Male auf den Mund. Sie wurde blass, blieb kerzengerade stehen und erstarrte. Es war wie in jener Nacht, als ich völlig betrunken eine Statue in den Venetians Gardens geküsst hatte. Ich unterdrückte den aufkommenden Ärger, zum einen wollte ich keine gute Haushälterin verlieren, zum anderen waren diese Morgenstunden reine Quälerei und stießen mir immer bitter auf. Ich lachte über ihr weißes Gesicht. Genauso weiß wurde sie, wenn sie mich mit einer Frau überraschte und uns bedienen musste.
Später erzählte sie mir, sie habe ein Kind, einen Jungen, aber es gebe keinen Vater. Sie nannte ihren Jungen ein Kind der Liebe. Die ganze Angelegenheit, so wie sie darüber sprach, befremdete mich; es tat ihr nicht Leid, doch in meinen Augen war ein Bastard nun mal ein Bastard. Und das sagte ich ihr auch und ich sagte ihr auch, dass sie jung sei und das Leben noch vor sich habe, schließlich gebe es Einrichtungen für solche Kinder. Sie lächelte nur und erwiderte, dass ich nichts verstünde. Gut möglich, aber ich wusste, dass es demütigend war, Fußböden zu schrubben und leichte Mädchen zu bedienen.
Sie sah hoch und bemerkte, dass ich sie fixierte.
»Ist Ihnen wieder schlecht geworden?«, fragte sie.
»Ja.«
»Wann gehen Sie zu einem Arzt?«
»Keine Ahnung. Irgendwann.«
»Das sollten Sie bald tun. Ich kenne einen Mann, der zu lange gewartet hat, und dann war es zu spät.«
»Ich glaube nicht, dass es etwas Ernstes ist.«
»Dann hätten Sie nicht diese Anfälle. Gehen Sie also besser hin.«
»Und wenn schon«, sagte ich. »Was kümmert es Sie überhaupt?«
»Seien Sie nicht kindisch. So benimmt sich manchmal mein kleiner Sohn.«
»Tut er das?«
»Er ist recht clever ... Sie mögen wohl keine Kinder?«
»Oh doch. Ich mag Teenys Kinder.«
»Da fällt mir ein, Mr. Tinevelli hat gestern angerufen. Ich hab Ihnen eine Nachricht hinterlassen. Sie liegt auf dem Tisch im Flur.«
»Der Brief ist von Ihnen?«
»Ja, ich hab ihn dort hingelegt. Mr. Tinevelli möchte, dass Sie zu ihm kommen.«
»Wann?«
»Irgendwann diese Woche ... Sie sollten jetzt etwas essen. Aber keinen Speck. Dieses gebratene Zeug ist schlecht für Sie.«
»Ist es nicht. Es ist der Fusel, den sie einem als Schnaps andrehen.«
»Egal was es ist, versprechen Sie, dass Sie zum Arzt gehen.«
»Versprechen?! Wieso in aller Welt sollte ich Ihnen das versprechen?«
»Weil Sie allein sind und jemand auf Sie aufpassen muss. Vielleicht will ich Sie ja bemuttern.«
»Bringen Sie mich nicht zum Lachen. Sie hätten meine Mutter sehen sollen.«
»War sie nett?«
»Nett? Du lieber Himmel! Ob sie nett war! So nett, wie eine knallharte Irin sein kann, die mit einem heißblütigen Spaghettifresser verheiratet ist. Ich bin das Ergebnis.«
»So übel sind Sie nun auch wieder nicht.«
»Versuchen Sie wieder, an mir herumzuerziehen?«
Sie wurde weiß.
»Nein«, sagte sie.
»Gut.« Ich stand von meinem Stuhl auf und ging in den Flur, um meinen Mantel zu holen.
Draußen war es kalt und trocken. Der Wind wehte aus westlicher Richtung, was bedeutete, dass es eine Zeit lang klar bleiben würde.
Ich betrat die Drogerie an der Ecke. Mein Mund war trocken und die Wirkung des Kaffees, den ich zum Frühstück getrunken hatte, ließ nach. Hinter dem Tresen stand der Inhaber. Er kannte mich.
»Guten Morgen«, sagte er.
»Morgen. Bromid, bitte.«
»Das können Sie sich sparen, Inspector. Ein Kurzer zum Nachspülen wäre besser.«
»Was haben Sie?«
»Gin.«
»Zum Teufel, nein!«
»Gibson’s?«
»In Ordnung.«
»Kommen Sie mit nach hinten.«
Wir gingen ins Hinterzimmer.
Er öffnete eine Schublade, nahm eine Flasche heraus und füllte zwei Gläser.
»Noch einen?«, fragte er, nachdem wir beide getrunken hatten.
»Nein. Es sei denn, Sie haben etwas Süßes.«
»Nicht hier, aber zu Hause. Einen recht guten Benediktiner. Kommen Sie einfach mal abends rüber, wenn mein Angestellter mich abgelöst hat.«
»Sicher doch, ich kann mal vorbeischauen.«
»Ich möchte, dass Sie meine Frau kennen lernen. Und meinen Sohn. Ist ’n großer Junge, fast so groß wie Sie.«
»In Ordnung. Bis dann und ... auf Wiedersehen.«
Ich wollte bezahlen, aber er meinte, es gehe aufs Haus.
»Auf Wiedersehen«, sagte ich.
Ich ging hinaus und bog in die Seitenstraße ein, wo die Garage war. Um zu meinem Wagen zu gelangen, musste ich eine steile Auffahrt hochgehen. Leicht vornübergebeugt nahm ich die Schräge und es passierte dasselbe wie am Abend zuvor, wieder kam mir der Boden entgegen. War es Autosuggestion oder lag es an dem Speck, den ich gegessen hatte, ich wusste es nicht; jedenfalls war der Schmerz wieder da. Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück in die Drogerie.
»Geben Sie mir was gegen Magenschmerzen«, sagte ich.
»Kein Problem. Das kriegen wir wieder hin.«
Er nahm eine quadratische gelbe Schachtel aus einer Schublade und schüttete ein Viertel des Inhalts in ein Glas, dazu eine rote Flüssigkeit, die nach Bittermandelöl roch.
»Bromidelixier«, bemerkte er.
»Ist mir scheißegal, was es ist, Hauptsache die Schmerzen verschwinden.«
»Davon verschwinden sie. Wie lange haben Sie das schon?«
»Seit sechs Monaten.«
Er rührte die Mischung um, reichte mir das Glas und ich trank davon.
»Wann treten die Schmerzen auf?«, fragte er.
»Sofort nach dem Essen und wenn ich Schnaps getrunken habe.«
»Unternehmen Sie was dagegen?«
»Ja.«
»Und was?«
»Ich stecke mir den Finger in den Hals und übergebe mich. Danach verspüre ich Erleichterung.«
»Es könnte ein Magengeschwür sein.«
»Könnte sein.«
»Sie sollten sich röntgen lassen. Warum lassen Sie sich nicht röntgen?«
Ich blieb ihm die Antwort schuldig, denn mir wurde speiübel. Das Medikament war mir überhaupt nicht bekommen.
»Gibt es hier eine Toilette?«, fragte ich.
»Ja, dort drüben.«
»Dann geh ich mal.«
Als ich wieder herauskam, fühlte ich mich besser, nur war da noch der Geschmack von Erbrochenem in meinem Mund. Es fiel auch dem Drogisten auf, denn er wich ein wenig zurück.
»Geben Sie mir etwas, um den Mund auszuspülen.«
Das Mundwasser, das er mir gab, war knallrot und schmeckte nach Zimt.
»Warum lassen Sie sich nicht röntgen?«, fragte er wieder.
»Das sollte ich wohl.«
»In der Tat. Hier ist eine Adresse ... er ist sehr gut. Und er ist nicht teuer.«
»Es geht nicht ums Geld.«
»Ich weiß. Aber schließlich will man ja nicht geschröpft werden.«
»Nein.«
»Natürlich nicht! Und er ist wirklich gut. Gehen Sie heute noch hin.«
»Heute nicht. Ich kann heute nicht.«
»Na gut, dann morgen.«
»Vielleicht morgen«, sagte ich.
»Ich rufe ihn an und sage Bescheid, dass Sie kommen. Er ist ein Freund von mir und wenn ich ihm erkläre, dass Sie ein Freund von mir sind, behandelt er Sie besser. Er soll doch nicht glauben, dass Sie so eine Art Laufkundschaft sind, oder?«
»Nein. Rufen Sie ihn an.«
Ich nahm die Adresse und verabschiedete mich.
Von der Garage aus rief ich den Jid an und sagte ihm, er solle sich bereithalten, ich sei auf dem Weg nach Downtown, um ihn abzuholen. Er erklärte, ich hätte ihn geweckt, aber er werde rechtzeitig fertig sein.
Je höher die Sonne stieg, desto wärmer wurde es. Ich fuhr am Park entlang; das Eis schmolz und die Tropfen fielen wie Tränen von den Ästen der Bäume. Das war sehr schön. Es gefiel mir. Nach solchen Schmerzen fühlte sich die Erleichterung so gut an; man fühlte sich sogar besser als vor dem Schmerz.
Als ich am Eingang zum Park vorbeifuhr, sah ich, dass die Eiszapfen am großen Kolumbus-Denkmal ebenfalls zu schmelzen begonnen hatten. Ein Polizist hielt den Verkehr an, winkte mich aber weiter, als er das Polizeischild auf dem Kühler sah. Ich fuhr eine Seitenstraße entlang und dann weiter auf einer ruhigen breiten Straße.
Vor dem Hotel, in dem der Jid wohnte, gab es keinen Parkplatz, also parkte ich eine Straße weiter und ging zurück. Es war ein billiges Hotel und genau so sah es aus. Zwar gab es vor dem Eingang eine lange Überdachung, auf der der Name des Hotels zu lesen war, doch der Rest wirkte wie ein heruntergekommenes Wohnhaus. Nebenan befand sich ein Busbahnhof für Überlandbusse; die Häuser auf den Nachbargrundstücken wurden gerade abgerissen, um die Busstation erweitern zu können. Überall war Staub und Schmutz und in der Luft hing ständig der Geruch von Benzin.
Ich betrat das Hotel, um den Jid abzuholen. Der Mann am Empfang rief in seinem Zimmer an. Er rasiere sich gerade und sei in fünf Minuten unten, ließ der Jid mir ausrichten. Ich ging wieder hinaus und schlenderte zur Ecke, um eine Zeitung zu kaufen.
»Kennst du mich noch, Monk?«, fragte ich den Zeitungsverkäufer.
»Klar, Looey, klar!«
»Du hast ein gutes Gedächtnis. Ist ’ne halbe Ewigkeit her.«
»Vergess ich nie.«
Ich kannte Monk schon lange. Er war schwachsinnig — nein, nicht unbedingt schwachsinnig, aber auch nicht ganz richtig im Kopf. Er trug einen knöchellangen braunen Mantel, der oberhalb des Saums völlig zerschlissen war; in diesem Mantel hatte ich ihn zum ersten Mal gesehen. Auf dem Kopf, tief in die Stirn gezogen, saß eine schmutzig graue Kappe. Sie saß jedoch nicht tief genug, um das ungepflegte Haar zu verdecken. Die Augen lagen weit hinten in ihren Höhlen, möglicherweise waren es aber nur die struppigen, dichten Brauen, die diesen Eindruck vermittelten. Monk schniefte unablässig und seine große Nase war vom vielen Schnäuzen rot. Einen Taschentuchfetzen in der Faust, fuhr er sich in einer Aufwärtsbewegung über die Nase und zerrte dabei seine Nasenlöcher nach oben. Einige Schnauber ins Taschentuch beendeten für gewöhnlich die Prozedur.
»Wie läuft das Geschäft, Monk?«, fragte ich.
»Ganz gut, ganz gut. Mal mehr, mal weniger. Steh nicht mehr die ganze Zeit hier, hab jetzt ’nen Stand drüben an der U-Bahn. Verkauf hier nur Morgenzeitungen.«
»Bist du glücklich, Monk?«
»Absolut. Keine Sorgen. Kann jede Nacht schlafen. Hab keine Sorgen.«
»Hört man gern. Eine ›American‹ bitte.«
Er gab mir die Zeitung. Ich hielt ihm eine Münze hin.
»Will dein Geld nicht.«
»Dann will ich deine Zeitung nicht.«
»Alles klar, Looey, alles klar«, sagte er und nahm die Münze.
Ich sah den Jid aus dem Hotel kommen. Er blickte sich um, entdeckte mich und setzte sich in Bewegung.
»Du siehst beschissen aus«, begrüßte er mich.
»Morgen geh ich zum Arzt.«
»Wird auch Zeit.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte ich.
»Wieso gehst du nicht ins Krankenhaus?«
»Du weißt doch, wie man da behandelt wird. Also ... wieso sollte ich?«
»Mit dir würde man anders umgehen«, sagte er.
»Zur Hölle mit denen. Ich kann mir einen Spezialisten leisten.«
»Vielleicht wissen die aber mehr.«
»Um Himmels willen, geht dir denn nie ein Licht auf! Hast du immer noch nicht kapiert, wie’s bei denen läuft?«
»Ich dachte — «
»Zur Hölle mit denen«, schnitt ich ihm das Wort ab.
Inzwischen waren wir am Auto und stiegen ein. Ich fuhr schwungvoll aus der Parklücke und dann hinüber zur East Side.
»Ich hab noch nichts gegessen«, sagte der Jid.
»Das kannst du Downtown machen.«
»Wohin fahren wir?«
»Zu Tinevelli.«
»Sollten wir nicht erst im ›Etablissement‹ vorbeischauen?«, meinte der Jid.
Ich wendete an der nächsten Ecke, fuhr zurück und sprach mit Captain MacDunn. Er war Schotte und geldgierig wie alle anderen, wie jeder von uns. Er liebte Whiskey und hasste Frauen. Als ihm einmal zu Ohren gekommen war, dass man im Anschluss an eine Razzia in einem der Häuser die Mädchen in den Pausenraum und erst danach in die Zellen geschafft hatte, stauchte er nicht die Jungs zusammen, sondern lief hinunter zu den Zellen, stolzierte im Gang auf und ab und beschimpfte die Mädchen aufs Übelste. Wir hatten eine Vereinbarung getroffen und er führte eine inoffizielle, persönliche Akte darüber, wer wie viel bezahlte. Diese Akte war chiffriert, in einem Code, den nur er kannte.
Ich wurde nicht gebraucht, also machten wir uns erneut auf den Weg Richtung Downtown. Ich fuhr sehr schnell; der Verkehr auf der East Side Avenue war nicht sonderlich stark. Schon bald waren wir in den so genannten Slums und dann in ›Little Italy‹. Nichts hatte sich verändert, auch nicht mein Hass. Ich fuhr nur dorthin, um Teeny zu besuchen. Er hatte die Gegend nie hinter sich gelassen, nicht einmal während seines Studiums; und dann die Idee, eine italienische Bank zu gründen, das Ganze zu organisieren und hier aufzubauen. Er wohnte auf Long Island, arbeitete aber dort, wo er gelebt hatte. Er hätte Dichter werden sollen — alles sei so schön hier, meinte er. Ich hingegen sah nur Schmutz und der erinnerte mich zu sehr an meine Kindheit.
Die gleichen Karren, das gleiche vergammelnde Gemüse und dieselben engen Straßen. Schmutz und Gestank und Dunkelheit, überall. Ich fragte mich, was Menschen dazu trieb, einen Ort der Sonne, des Lachens aufzugeben, einen Ort, an dem man alt werden konnte, zugunsten von Dunkelheit und Krankheit, und obendrein noch glücklich zu sein, weil sie Kinofilme hatten und Seidenstrümpfe. (Beine in Seidenstrümpfen, wohin man sah, zwischen dem ganzen vergammelnden Gemüse.)
Wir hatten die Bank erreicht. Sie war wie eine heile Stelle auf wunder Haut. Auch in diesem Punkt musste Teeny sentimental sein. Er hatte das Haus, in dem unsere beiden Familien zusammen mit zwei Dutzend anderer Familien gewohnt hatten, niederreißen und stattdessen die saubere, weiße Bank mit ihren riesigen Fenstern und hohen Decken bauen lassen.
»Mal sehen, ob ich hier was zu essen bekomme«, sagte der Jid, »ich hab Hunger.«
»Hauptsache, du hältst mich nicht auf. Ich bleibe nicht lange und ich will auf keinen Fall warten.«
»Ich esse schnell.«
Er zog los und ich ging durch die Drehtür, mit der Frage beschäftigt, was das nur für ein Gefühl sei, das mich jedes Mal an diesem Ort beschlich. Ich wusste lediglich, dass es kein angenehmes Gefühl war.
Um die Uhrzeit waren noch keine Kunden da und die Kassierer lächelten mich an und einer sagte »Hallo«. Der Polizist, der hier Dienst schob, grüßte mit »Hallo, Captain«. Er hatte nichts von meiner Beförderung zum Inspector gehört. Das hatte ich gemeint. Wäre ich Commissioner geworden, hätte er davon gehört.
Teeny saß am Schreibtisch, als ich sein Büro betrat. Er sah krank aus. Er war schon immer dünn, klein und dunkel gewesen, doch jetzt sah er krank aus. Seine linke Augenbraue zuckte alle paar Sekunden. Er stand auf.
»Zum Teufel, was ist los mit dir?«, fragte ich.
»Nichts.«
»Bist du krank?«
»Nein.«
»Du siehst aber so aus«, sagte ich.
»Du auch.«
»Nun, ich bin’s ja auch.«
»Was hast du denn?« Er schien ehrlich besorgt.
»Weiß ich noch nicht. Ich geh morgen zum Arzt und lass mich röntgen. Ich glaube fast, du hättest es nötiger als ich.«
»Hab ich nicht. Also, was ist nun mit dir?«
»Es ist der Magen«, sagte ich.
»Was genau?«
»Einfach total verkorkst. Erbrechen, Schmerzen, Herzbeschwerden.«
»Warum bist du nicht schon längst hingegangen?«