Geist und Dunkelheit - Lisa Billhardt - E-Book

Geist und Dunkelheit E-Book

Lisa Billhardt

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Beschreibung

Daniel wollte zu den Huntern gehören, solange er denken kann. Schattengestalten und längst vergessene Wesen sind nicht die einzigen Ziele dieser Dämonenjäger und in der ewigen Schlacht wird jede Hilfe gebraucht. Doch als er eines Tages einen Unfall verursacht und schwer gezeichnet in seine Heimat zurückkehrt, ist er sich seiner Sache nicht mehr so sicher. Verstrickt in alte und neue Probleme, einen tödlichen Fluch und rätselhafte Angriffe muss er schnell feststellen, dass diese Stadt ein zweites Gesicht verbirgt. Als sich auch noch der arrogante Dämon Cody unter die Hunter mischt, um einer tödlichen Kopfgeldjagd nachzugehen, steht Daniel zwischen den Fronten. Während ein drohendes Unheil zur ungewollten Zusammenarbeit zwischen den beiden führt, stecken sie bereits tiefer drinnen, als sie ahnen können. Denn plötzlich steht nicht nur das Schicksal zweier Welten auf dem Spiel, sondern auch eine verbotene Liebe.

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Seitenzahl: 1015

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Für meinen Bruder, der sich endlose Pläne über dieses Buch anhören musste.

Und für meine Mutter, die als Erste daran geglaubt und nie damit aufgehört hat.

Prolog

»Guten Tag. Kann ich Sie vielleicht für ein Gespräch über Gott gewinnen? Dauert nur ein paar Minuten!«

Mein Gegenüber hob den Kopf und starrte mich wenig begeistert an. Die Dame hinter dem Tresen verzog die dünnen Lippen und schob sich demonstrativ die Brille in die Haare.

»Was haben Sie gesagt?«

Gut, du bist es schon mal nicht.

»Nichts!«, antwortete ich und steckte unruhig die Hände in die Taschen. »Dann ähm … Ich habe ein Buch vorbestellt, vielleicht ist es schon da. Können Sie nachschauen? Bitte?«

Hinter mir kicherte jemand und ich bemühte mich, nicht darauf zu achten. Während die Frau mit einem pikierten Naserümpfen etwas in ihren Steinzeitlaptop tippte, warf ich einen Blick auf ihr Namensschild. Mrs. Q. Uller.

»Qualle« wäre an dieser Stelle der passendere Ausdruck gewesen, dachte ich missmutig.

»Wie ist Ihr Name?«, schnarrte besagte Qualle auch schon, hörte dabei aber nicht auf zu tippen, und das, obwohl sie gar nicht mehr auf den Bildschirm sah, was auf irgendeine Art gruselig war.

»Daniel Santhwood.« Meine Stimme klang etwas schief.

»Uns liegt aktuell nichts vor.«

»Das ist gar kein Problem!« Ich grinste breit und wechselte bereits in den Rückwärtsgang. »Ich schaue mich trotzdem ein wenig um, ja? Schönen Tag noch!«

Bevor mich ihr Blick weiterhin aus der Bibliothek verwünschen konnte, hatte ich mich auch schon herumgedreht und wäre fast mit den beiden jungen Männern zusammengestoßen, die dicht hinter mir lauerten. »Geht’s noch auffälliger?«, zischte ich, aber sie lachten nur.

»Oh, möchten Sie vielleicht mit mir über Gott sprechen? Selbst Christus höchstpersönlich hätte dieses Angebot nicht angenommen. Gib dir mal ein wenig Mühe, Mann!« Immer noch kichernd stieß Ricardo mich an und ich verdrehte die Augen.

»Witzig. Verteilt euch ein bisschen, da draußen steht eine ganze Mannschaft und wartet auf Ergebnisse. Wo ist Sasha?«

»Hier!« Sasha tauchte hinter einem Stapel Neuerscheinungen auf und trat unauffällig an unsere Seite. »Daniel hat recht«, knurrte sie scharf und sofort hörten die beiden auf zu grinsen.

»Elon, Ricardo: Ihr übernehmt den hinteren Teil, setzt euch in Bewegung. Wir sind im Dienst und nicht auf einem Kindergeburtstag!«

Ricardo verdrehte die Augen, allerdings so, dass Sasha es nicht sah, und verzog sich dann gemeinsam mit Elon kommentarlos zwischen die engen Regale in den hinteren Teil der Bibliothek. Ich blickte ihnen noch einen Moment nach, dann sah ich mich nach dem nächsten Schritt um.

Besagter nächster Schritt saß nämlich nicht allzu weit entfernt in einer der Leseecken und blätterte gelangweilt in einem Bildband über die Bestimmung verschiedener Baumarten.

»Geh schon«, raunte Sasha neben mir und stieß mich an, ehe ich ein weiteres Mal in meine Tasche greifen konnte. »Und lass das, das macht dich verdächtig.«

Ich nickte knapp und schlenderte an der Anmeldung vorbei zur Leseecke. Als die Qualle aufblickte, widerstand ich dem Drang, ihr unbeholfen zuzuwinken, und verschwand rasch hinter einem der Zeitungsständer. Die Gestalt auf dem Sessel entpuppte sich beim Näherkommen als ein alter Herr mit Halbglatze. Da er die Seiten nur überflog, sah er sich offenbar bloß die Bilder an.

Dann auf einen zweiten Versuch.

»Entschuldigen Sie, Sir … Haben Sie Interesse an einem Gespräch über Gott?«

»Über wen?« Der Alte hielt den Kopf gesenkt. Sein milchiger Blick huschte über den Rand seines Buches und musterte mich. »Was wollen Sie?«

»Über … Ach, vergessen Sie’s.«

Verdammt! Ich ging zurück zu Sasha, doch bevor ich sie erreichen konnte, baute sich plötzlich die Qualle wie eine faltige, nach Duftbaum riechende Mauer vor mir auf.

»Ich möchte Sie bitten, unsere Besucher nicht weiter zu belästigen«, zischte sie. »Dies ist eine Bibliothek und kein Platz für ethische, statistische oder politische Umfragen, Themen oder Anwerbungen. Habe ich mich klar ausgedrückt? Ansonsten müssen Sie diesen Ort leider verlassen.« Hinter den Gläsern ihrer Brille kniff sie die kleinen Augen etwas zusammen und ich hob abwehrend die Hände.

»Verzeihung«, murmelte ich und trat einen Schritt zur Seite, um an ihr vorbeizukommen. »Wir reißen uns zusammen. Manchmal ist der Drang nach Gottes Wegen eben doch zu stark.«

»Dann suchen Sie woanders danach«, schnarrte sie hinter mir, aber ich nahm Sashas Arm und verschwand eilig hinter einer Ecke, fort aus dem Sichtfeld der Mitarbeiterin.

»Er war es auch nicht«, flüsterte ich frustriert und traf Sashas angestrengten Blick. »Was machen wir jetzt?«

»Zwei haben wir noch.« Sasha strich sich eine goldene Haarsträhne aus dem Gesicht und spähte um die Ecke mit den Kinderbüchern. Wie gewohnt klirrten die beiden Anhänger um ihren Hals leise – ein ungewohnt helles Geräusch in der düsteren Bibliothek. Von Ricardo und Elon war nichts mehr zu sehen. So wie ich die beiden kannte, hatten sie sich irgendwohin verdrückt, um am Handy zu hängen. Dafür fielen mir zwei andere Gestalten ins Auge, die auf den ersten Blick Zwillinge hätten sein können.

Es war weit nach zwanzig Uhr und um diese Zeit hielt sich normalerweise niemand mehr in der Bibliothek auf, was zwei Personen in der Abteilung mit den Kochbüchern umso verdächtiger erscheinen ließ. Es handelte sich um einen Mann und eine Frau. Die Frau trug einen auffallend hässlichen, dunkelgrünen Hut und dazu Gummistiefel, die ihr mindestens zwei Nummern zu groß waren. Sie hatte sich einen Regenschirm unter den rechten Arm geklemmt und in der linken Hand hielt sie ein aufgeschlagenes Buch, das sie so schnell durchblätterte, als hätte sie ein Zeitlimit. Der Mann stand etwas näher an uns dran und war nicht ganz so auffällig gekleidet. Auf seinem dunklen Mantel schmolz noch der Schnee von draußen und ein ordentlicher Vollbart verbarg den unteren Teil seines Gesichts. Auch er zog gerade ein Buch aus den Reihen, aber anstatt sich die »101 grünen und veganen Pastagerichte der Neuen Welt« näher anzuschauen, flog sein Blick suchend über die anderen Regale. Sasha und ich brauchten nur einen Blick zu tauschen, da lenkten mich meine Schritte auch schon in die Lücke zwischen den beiden. Ich wollte mich gerade an die seltsam gekleidete Frau wenden, da nahm ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr.

Das darf doch jetzt nicht ihr Ernst sein! Wie durch Zufall entdeckte ich Frau Q. Uller an einem der Regale in Sichtweite, ihr stechender Blick sprach eine lautlose Warnung aus. Als müsste sie gerade jetzt zwei neue Bücher zwischen die anderen schieben, quälend langsam noch dazu.

Na schön. Dann eben anders.

So authentisch wie ich konnte, langte ich nach einem Buch über meinem Kopf, wandte mich dann rasch ab und tat so, als müsste ich husten. »… Deus!«

Weder der Mann noch die Frau reagierte. Auch das lateinische Wort für »Gott« schien die beiden nicht aus der Reserve zu locken. Außer der Tatsache, dass mich die Frau mit einem schiefen Blick bedachte, geschah nichts. Frustriert zog ich die Luft ein, versuchte es aber gleich noch ein weiteres Mal. »DEUS … Verzeihung, ich muss mir da draußen was eingefangen haben.«

Die Qualle blickte erneut zu mir herüber, diesmal sichtlich genervt. Hastig vollführte ich die beste Version einer Bekreuzigung, die ich zusammenbekam, und verschwand aus ihrem Sichtfeld, ehe sie ihre Drohung wahr machen konnte. Keine zwei Atemzüge, und Sasha tauchte wieder neben mir auf. Ihr Blick wirkte nicht weniger gereizt.

»Das war falsch herum, Idiot!«

»Was?«

»Dein Kreuz. Vergiss es! Das funktioniert nicht, sie müssen mächtiger sein, als wir gedacht haben. Jedes Wesen ohne Seele reagiert auf Gottes Namen, sei es mit einem Wimpernzucken oder einem Blinzeln. Aber da war nichts, nicht einmal ihr Atem hat sich verändert.«

»Bist du dir sicher, dass sie überhaupt hier sind?«, fragte ich und vernahm, während ich sprach, ein leises Surren aus der Ecke, aus der wir gekommen waren; als säße dort eine große Stubenfliege. »Ich meine, vielleicht haben wir sie knapp verpasst. Sie könnten draußen gewesen sein, bevor wir …«

Etwas krachte. Ein kurzes, abgeschnittenes Poltern ertönte aus der Ecke mit den Kochbüchern, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag und anschließender Stille. Ohne Worte hasteten Sasha und ich wieder um das Regal herum, nur damit meinen Worten von eben die Bedeutung genommen wurde.

Auf dem Boden vor dem Bücherwagen lag die Frau von der Anmeldung, regungslos, mit dem Gesicht nach unten auf den Holzdielen. Von unseren beiden interessierten Köchen war keine Spur mehr zu sehen. »Verdammt! Was …«, rief Sasha aus, da gab es auf einmal einen lauten Knall und der Rest ihrer Worte ging in dem Lärm unter. Mit einem Schlag erlosch das Licht in der gesamten Bibliothek. Gleichzeitig ging der Feueralarm los und das grelle Kreischen der Alarmsirenen übertönte jeden Gedanken gnadenlos.

»Wo sind Ricardo und Elon?«, schrie ich und versuchte, in der Finsternis überhaupt irgendwas zu erkennen. Jemand griff nach meinem Arm, aber es war nur Sasha, die hektisch die schmale Taschenlampe aus ihrer Westentasche fischte. Der Lichtkegel war lächerlich winzig, reichte aber aus, dass ich das gehetzte Funkeln in ihren Augen erkennen konnte.

»Geh nach hinten und hol sie. Ich bringe die beiden Zivilisten nach draußen und sage der Einheit Bescheid! Hier kommt niemand raus, das Gebäude ist umstellt. Finde Ricardo und Elon und bleibt zusammen, ich hole das Team!«

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu nicken, da ließ Sasha mich auch schon los und verschwand vor mir in der Dunkelheit. Obwohl mein Instinkt mich gern dazu überredet hätte, mich unter einem der Regale zu verkriechen und abzuwarten, riss ich mich zusammen und suchte in meiner Tasche nach meiner eigenen Lampe. Ich nahm das Licht in die eine Hand, mit der anderen griff ich unter meinen Pullover und zog den langen Dolch hervor, der darunter verborgen lag.

»Dann wollen wir mal sehen«, murmelte ich und versuchte, in den Schatten um mich herum Bewegungen auszumachen.

An der Decke über mir ertönte ein Klacken und ein Sprühregen ergoss sich über sämtliche Bücher, mich eingeschlossen. Das automatische Löschsystem war angesprungen, obwohl ich bezweifelte, dass es überhaupt ein Feuer gab. Angewidert schlug ich meinen Kragen höher und versuchte, nicht auf das Wasser zu achten, das mir in den Nacken lief. Im selben Moment verstummte die Sirene wie auf Knopfdruck und hinterließ ein Klingeln in meinen Ohren.

Der Abend wird ja immer besser.

Den hinteren Teil der Bibliothek trennte ein kleiner Durchgang vom Rest des Gebäudes, hier befand sich eine ansehnliche Sammlung sämtlicher Ausgaben über Tiere und die Natur. Im vergangenen Jahr hatte die Bibliothek einen großzügigen Zuschuss für die Aufarbeitung dieser Abteilung erhalten und daraufhin fast so etwas wie ein kleines Museum erschaffen.

Jemand hatte sich die Mühe gemacht, einen Schwarm ausgestopfter Zugvögel über die Decke des Raumes zu spannen. Jetzt lag mir das Federvieh völlig durchnässt zu Füßen.

Direkt neben der Tür stand ein gewaltiger Bär auf den Hinterbeinen, seine schwarzen Augen glänzten unheimlich im Schein meiner Taschenlampe und ich duckte mich eilig unter ihm hindurch. Links und rechts bildeten zwei große Ausstellungstische einen Gang. Darauf standen riesige Gläser mit Körperteilen oder ganzen Kleintieren darin – zumindest sollte es so sein, denn mehr als die Hälfte der Behälter lag zerbrochen am Boden und die stinkende Flüssigkeit hatte sich zu einer einzigen braunen Pfütze auf dem Parkett vereint. Dicker, dunkelgrauer Nebel waberte zähflüssig zwischen den restlichen Ausstellungsstücken umher und ich war mir fast sicher, dass dies kein normaler Wasserdampf war.

Der Gestank war fürchterlich – eine Mischung aus Verwesung, Alkohol und Schwefel – und ließ den Druck in meiner Brust wachsen.

Flach atmend, um mich nicht übergeben zu müssen, stieg ich über die Pfütze hinweg und versuchte, irgendein Geräusch zu erfassen. »Ist hier jemand?«, fragte ich, laut genug, um meinen Atem zu übertönen. Überraschenderweise klang meine Stimme entschlossener, als ich mich fühlte. »Ich warne dich, wir sind in der Überzahl. Entweder du stellst dich freiwillig, oder wir suchen und finden dich.«

Ich erwartete keine Antwort und erhielt auch keine. Aber etwas in der Luft um mich herum veränderte sich, kaum, dass ich das letzte Wort ausgesprochen hatte. Es schien, als würde sich ein eisiger Blick in meinen Rücken bohren, eine scharfe Welle aus Hass schleuderte mir entgegen und ich unterdrückte den Impuls, mich umzudrehen.

Ich war also nicht allein.

Langsam setzte ich meinen Weg durch den Raum fort und ließ den Blick über die Einrichtung wandern.

Rechts von mir hatte jemand zwei Wölfe so aufgestellt, als wären sie mitten in einen wilden Kampf verwickelt. Der Größere der beiden stand auf den Hinterbeinen, die Pfoten knapp vor der Brust seines Gegners. An seinen Zähnen klebte Kunstblut und zwischen seinen Krallen hingen Fellbüschel seines Widersachers. Wer auch immer diese ehemals schönen Tiere präpariert hatte, er hatte ganze Arbeit geleistet.

Mein Blick fiel auf den unteren Wolf und ich schauderte. Das Tier lag auf dem Rücken und hatte die Zähne breit gefletscht, eine Pfote stemmte sich gegen den Bauch seines Feindes, die andere streckte sich nach dessen Schnauze aus. Sein Fell wirkte so zerrupft, als wäre er tatsächlich in einen Kampf verwickelt, und Blut war um sein Maul geschmiert worden.

Als ich seine Augen betrachtete, blinzelte ich verwirrt. Der Blick des Tieres war nicht auf den Wolf über ihm gerichtet, sondern schien sich vage im Raum zu verlieren. Wenn ich es recht bedachte, konnte ich mir sogar einbilden, dass es mich ansah.

Du schaust zu viele Filme, ermahnte ich mich unruhig, wandte den Blick von den Ausstellungsstücken ab und horchte ein weiteres Mal auf den Druck in meiner Brust. Er hatte zugenommen, aber das würde sich legen, sobald ich wieder an die frische Luft kam.

Gerade als ich den Gedanken in Erwägung zog, zu Sasha zurückzugehen, um ihr zu sagen, dass Ricardo und Elon nicht hier waren, ertönte hinter mir ein Geräusch. Ein langsames, dumpfes Knacken; so als würde jemand einen dicken Ast in Zeitlupe auseinanderbrechen.

Mein Herz machte einen Satz und ich fuhr herum.

In der Dunkelheit regte sich nichts.

»Hallo?«, rief ich laut, um meine Angst zu überspielen. Ich machte zwei entschlossene Schritte und drehte mich eilig um mich selbst, um den gesamten Raum in Augenschein zu nehmen.

Zuerst dachte ich, alles wäre beim Alten – dann stockte mir der Atem und mir wurde mit einem Mal eiskalt.

Der zweite Wolf war verschwunden. Der geschlagene Gegner, dessen Augen nicht zum Rest seines Körpers gepasst hatten. Er war wie vom Erdboden verschluckt.

Das darf doch nicht wahr sein!

Ehe ich reagieren konnte, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts eine Gestalt neben mir in der Dunkelheit auf und ich zuckte heftig zusammen.

»Ricardo!«, zischte ich scharf. »Bei allen Göttern, wo warst du? Und wo ist Elon?«

Ricardo rieb sich mit einem angewiderten Blick auf die verschüttete Flüssigkeit die Nase und erweckte nicht den Anschein, als würde er den Ernst der Lage verstehen. Er hatte noch nicht einmal seine Waffe gezogen, stattdessen steckte sein Handy halbherzig in seiner Hosentasche. Wenig überraschend.

»Mach dir nicht ins Hemd«, knurrte er gelassen. »Soll ich deine Hand halten? Elon ist schon auf dem Weg zu Sasha. Kaum ging der Alarm los, war hier drinnen die Hölle los. Ich habe niemanden gesehen, aber irgendwas hat den ganzen Kram hier zerlegt und ist abgehauen.« Er kickte gegen einen der zersplitterten Behälter und ich schluckte.

»An deiner Stelle hätte ich Elon nicht allein da rausgeschickt.«

»Sei doch nicht immer so überängstlich«, spottete Ricardo missfällig. »Wer auch immer hier war, er ist bestimmt längst draußen. Durch euer blödes Rumgefrage hat man doch schon zehn Meilen gegen den Wind gerochen, dass hier irgendwas nicht stimmt. Wer will denn an einem Dienstag und ohne die Aussicht auf Werbegeschenke über Gott sprechen?«

Er wandte sich mir wieder zu und ich runzelte die Stirn. Ohne dass ich es verhindern konnte, flog mein Blick zu dem einzelnen Wolf. Das ungute Gefühl in meinem Nacken verstärkte sich, als würde jemand seinen Blick stetig und ohne zu blinzeln hineinbohren.

»Was auch immer hier war, ist es nach wie vor«, sagte ich ernst. »Sasha meinte, wir können nicht …«

Der Rest meines Satzes blieb unausgesprochen, denn in diesem Moment bewegte sich etwas in den Schatten hinter Ricardo. Innerhalb einer Sekunde baute sich eine große, dunkle Figur zwischen den Nebelschwaden auf, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Ich öffnete den Mund, um Ricardo zu warnen, aber es war zu spät. Der Mann riss die Augen auf, als sich plötzlich Finger um sein Schienbein schlossen und heftig daran rissen. Ohne Widerstand stürzte er und schlug mit dem Kinn auf dem mit Glassplittern übersäten Boden auf. Ich machte einen Satz nach vorne, um ihm zu helfen, doch kaum hatte ich mich in Bewegung gesetzt, gruben sich scharfe Krallen in meine Schultern und heißer Atem strich über meine Kehle.

Ich schrie auf und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, als mein Gegner an mir zerrte und eine viel zu dunkle Stimme etwas in mein Ohr zischte, das ich nicht verstand.

Mit einem einzigen Ruck stieß ich meine Klinge blind nach hinten. Ein Aufschrei verriet mir, dass ich mein Ziel getroffen hatte – der Angreifer rutschte von mir herunter, riss mich jedoch noch im Fall mit sich und ich knallte auf den durchweichten Fußboden. Glas schnitt in meine Unterarme und die Luft wurde schmerzhaft aus meinen Lungen gepresst, Adrenalin vernebelte meine Gedanken.

Links neben mir ertönte ein wütendes Knurren. Gerade noch rechtzeitig rollte ich mich auf den Rücken, um in zwei pupillenlose Augen zu blicken, die auf mich hinabstierten.

Irgendwo vor mir in der Dunkelheit schrie Ricardo schmerzerfüllt auf und jemand keuchte heftig, aber ich konnte nicht erkennen, wo sich die beiden befanden. Während des Angriffs hatte ich meine Taschenlampe verloren und das einzige verbliebene Licht fiel durch die winzigen Fenster weit über uns.

»Bleib weg von mir!«, rief ich gegen meine Panik an und rappelte mich hastig wieder auf. Der Griff des Dolches fühlte sich plötzlich unnatürlich heiß an.

Die Augen verharrten für einige Herzschläge, wo sie waren, dann ging die Gestalt erneut zum Angriff über. Sie duckte sich unter meinem ersten Schlag hinweg, krallte sich in meine Brust und versuchte mir mit dürren Fingern die Waffe aus der Hand zu reißen. Der widerliche Gestank nach Rauch und Ammoniak drang in meine Lungen. Keuchend holte ich Luft, riss die Klinge über die Stelle, an der ich das Gesicht meines Gegners vermutete, und wich zurück.

»Ricardo?«

Mein Schrei wurde von der Finsternis verschluckt. Irgendwo ertönte ein schleifendes Geräusch und jemand atmete abgehackt. Ich erhielt keine Antwort.

»Ricardo!«, rief ich erneut. Als abermals keine Reaktion kam, machte sich ein ungutes Gefühl in meiner Brust breit und mischte sich mit einer dunklen Vorahnung. Totenstille herrschte in der Bibliothek.

Meine Gedanken rasten, als ich mich zusammenriss und die Flucht in die Dunkelheit ergriff. Ich rannte, so schnell ich konnte, auf die gegenüberliegende Tür zu. Glas knirschte unter meinen Stiefeln. Hastig scharrende Geräusche folgten mir dicht auf den Fersen. Meine Brust verengte sich und allmählich stieg Panik in mir auf. Ich darf jetzt keinen Anfall bekommen, nicht hier und nicht in diesem Moment!

Mit einem Satz durchquerte ich den Rest des Raumes, hastete durch den kleinen Durchgang und kehrte zurück in den Hauptteil der Bibliothek. Noch immer war kein Laut vom Eingang zu vernehmen. Hätte Sasha nicht längst die anderen alarmieren sollen?

»Sasha? Ricardo?«

Meine Stiefel stießen gegen etwas Weiches und ich stolperte. Noch bevor mein Körper den Boden berührte, erhaschte ich einen Blick auf mein Hindernis. Ich fing mich nicht rechtzeitig und stieß hart auf den Dielen auf, den Schmerz nahm ich allerdings kaum wahr.

Ist das …

»Gottverdammt!«, ächzte ich und kniff die Augen zusammen, als ließe sich dieses Bild aus meinem Kopf verbannen.

Übelkeit stieg in mir auf, so heftig, dass ich beinahe würgen musste, und eine klebrige, noch warme Flüssigkeit sickerte in meine Kleidung. Der Schock lähmte mich und ich bekam mit jedem Atemzug weniger Sauerstoff in meine Lungen.

»Ich muss hier weg«, flüsterte ich heiser, fühlte mich aber wie festgewachsen. Langsam löste sich ein Schatten aus der Finsternis hinter dem Durchgang, aus dem ich soeben gekommen war. Er bewegte sich so elegant, als würde er schweben und obwohl ich seine Gestalt nicht erkennen konnte, spürte ich seine Wut. Ohne über dem Körper vor mir innezuhalten, näherte er sich mir und bohrte seinen unsichtbaren Blick in meinen.

Ich reagierte nicht schnell genug, als er angriff. Er duckte sich, krabbelte ein Stück auf allen vieren und sprang schließlich. Als sein Körper gegen meinen prallte, hatte ich noch nicht mal meinen Dolch erhoben. Ein dunkles Flüstern drang in meinen Kopf und verzerrte jeden Gedanken. Wie in Trance fühlte ich eine eisige Hand, die sich um mein Handgelenk legte und zudrückte. Augenblicklich breitete sich ein wahnsinniges Brennen auf meiner Haut aus. Ich schrie auf und versuchte mich loszureißen, aber jede Bewegung schien den Schmerz nur noch zu verschlimmern.

»Verdammt!« Es fühlte sich an, als wollte jemand meinen Knochen durchschneiden. Mit letzter verzweifelter Kraft riss ich das Knie hoch und rammte es meinem Angreifer so heftig in die Brust, wie es mir möglich war.

Ein rasselnder Schrei ertönte, der Druck auf meinen Arm ließ endlich nach und ich rappelte mich so hektisch auf, dass ich beinahe wieder gestürzt wäre.

Wie von selbst schlugen meine Füße den Weg zum Eingang ein, während das Flüstern hinter mir zu einem Dröhnen anschwoll. Verzweifelt packte ich die Klinke und riss daran, doch zu meinem Entsetzen rührte sie sich nicht.

Das ist nicht wahr. Das ist alles nur eine verdammt unlustige, schlechte Übung!

»Scheiße!«, hörte ich mich schreien, und diesmal war es mir egal, dass meine Stimme panisch klang. Durch das Milchglas sah ich die dunkle Straße und einzelne Straßenlaternen nur verschwommen. Weder von unserer Gruppe noch von Sasha oder irgendeiner lebenden Seele war eine Spur zu sehen.

Ich war hier eingesperrt.

Hektisch fuhr ich herum, und als hätte er meine Aufmerksamkeit magisch angezogen, fiel mein Blick plötzlich auf den Fahrstuhl.

Das ist es! Ich muss nach oben kommen, irgendwohin, wo sie mir nicht folgen können und ich Hilfe rufen kann!

Ohne noch einen Blick auf meine Verfolger zu richten, hastete ich über den durchnässten Teppich auf die silberne Doppeltür zu. Ich prallte beinahe dagegen, drückte den Knopf mehrmals hintereinander und betete innerlich, der Fahrstuhl würde auch nach dem Feueralarm noch funktionieren.

Er funktionierte.

Sanftes gelbes Licht leuchtete auf und ein Knarzen verriet mir, dass sich die Kabine auf den Weg machte. Ein Blick nach hinten ließ mich erkennen, dass sich die Schatten ebenfalls in Bewegung setzten.

»Komm schon!«, zischte ich und atmete viel zu schnell ein und aus. Ich stand kurz vor einem Anfall. Die Enge in meiner Brust war bereits so groß, dass mir schwarz vor Augen wurde, und ich schaffte es nicht, meine Atmung zu regulieren. Es passierte schon wieder, nur dass es diesmal meinen Tod bedeuten würde.

»Nur ein bisschen noch!«, würgte ich hervor und fasste neuen Mut, als sich die Fahrstuhltüren endlich öffneten. Viel zu helles Licht strömte mir entgegen und blendete mich, aber das war mir in diesem Moment egal. Ich quetschte mich durch die Türen, noch ehe diese sich vollständig geöffnet hatten, und drückte ruhelos den Knopf für das vierte Stockwerk.

Eine fröhliche Stimme kündigte besagte Etage an und quälend langsam setzten sich die Stahltüren wieder in Bewegung.

»Nun mach schon!«, schrie ich, als würde das irgendetwas ändern, und sah aus den Augenwinkeln, wie eine der Gestalten gefährlich nah gekommen war. Das Licht der Kabine erhellte mehr von ihrem Körper, als mir lieb war, und mir drehte sich erneut der Magen um. Die Gestalt schoss auf mich zu und streckte die Hand aus, nur eine Millisekunde bevor die Türen endlich zuschlugen. Ein dumpfes Krachen verriet mir, dass der Angriff jetzt nur noch dem silbernen Metall galt.

Ich wich zurück, bis mein Rücken an die hintere Wand des Fahrstuhls stieß, und versuchte zitternd einzuatmen. Unter meinen Stiefeln vibrierte der Boden, als sich der Fahrstuhl quietschend in Bewegung setzte. Meine Muskeln waren so verkrampft, dass ich es kaum schaffte, mein Handgelenk zu heben. Blut sammelte sich an der Unterseite meines Armes und verdeckte den größten Teil der Wunde. Darunter konnte ich jedoch erkennen, was dieses Monster wirklich angerichtet hatte.

»Das kann nicht wahr sein«, stöhnte ich heiser und schloss die Augen. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn …

Nein, das konnte nicht sein.

Dunkelheit breitete sich an den Rändern meines Sichtfeldes aus und die Enge des Fahrstuhls machte es nicht gerade besser. Ich versuchte, den Anfall so lange hinauszuzögern, wie es mir möglich war, aber keiner meiner Skills half – dafür war ich schon zu weit.

Der Boden schwankte ein weiteres Mal, als die Kabine plötzlich ruckelnd anhielt und mich aus meinen Bemühungen riss.

Ich bin unmöglich schon im vierten Stock! Irgendwas stimmt da nicht …

»Hallo?«, rief ich heiser.

Die Türen blieben verschlossen, es rührte sich rein gar nichts. Hinter dem Metall war nichts als eine drückende Stille, und das Einzige, was ich wahrnahm, waren meine verzweifelten Versuche zu atmen sowie das Klopfen meines Herzens.

Der Fahrstuhl steckt nicht fest. Er fährt sicherlich gleich weiter, das ist normal in alten Gebäuden. Ich werde nicht …

Vergeblich rang ich nach Luft.

Die Wände der Kabine rückten näher, mein Sichtfeld verkleinerte sich, bis es nur noch ein winziger Punkt war, und mir wurde schwindelig. Ich fühlte mich eingeengt, verlor Blut und bekam keine Luft mehr.

Es tut mir leid, Sasha, dachte ich verschwommen, als ich spürte, wie mein Körper erst gegen die Rückwand der Kabine sank und dann zusammensackte. Selbst meine Schmerzen waren nur noch ein taubes Gefühl, während dieser unerträglich hohe Pfeifton in meinen Ohren nicht abbrechen wollte. Ich habe dich im Stich gelassen. Ich wollte nicht …

Dann verschluckte mich eine zähflüssige Dunkelheit und die Welt um mich herum verstummte.

Kapitel 1

»… und ich konnte sie doch nicht einfach auf der Straße sitzen lassen, verstehen Sie das? Es war so ein verfluchtes Wetter wie heute, wer weiß, wie schnell sie erfroren wäre? Ich griff also meine Jacke – obwohl es schweinekalt war und ich dachte, ich hol mir den Tod – und fing Plötze ein! Aber natürlich hatte das kleine Ding erst mal panische Angst vor mir, verstehen Sie das? Das war ein Akt, muss ich Ihnen sagen …«

Der Bus fuhr über ein Schlagloch und ich schlug beinahe mit dem Kinn auf der Rückenlehne des Sitzes vor mir auf. Eilig setzte ich mich gerade hin und sank im selben Moment so tief in meinen Sitz, dass der redselige Fahrer mich im Rückspiegel nicht sehen konnte.

»Mhm. Das sagten Sie bereits.«

Eine schlanke, silbern getupfte Katze schlüpfte auf den Platz neben mir und rieb ihren Kopf schnurrend an meiner Schulter. Gedankenverloren strich ich ihr über das Fell, während ihr Besitzer eifrig mit seiner Geschichte fortfuhr.

»Ich musste ja arbeiten, verstehen Sie das? Jeden Tag raus, und das mit einem Kitten. Das war ein Akt, muss ich Ihnen sagen, Plötze ist praktisch zwischen diesen Sitzen groß geworden! Aber jetzt sind wir Partner. Sie vertreibt mir die einsamen Stunden, wenn nachts niemand mehr auf den Straßen ist. Nicht wahr, Plötze?«

Plötze zuckte nicht mal mit dem Ohr, sondern begann mit ihren Pfoten mein Bein zu kneten. Sanft schob ich sie aus dem Weg und warf einen Blick nach draußen ins Dunkel der Nacht.

»Sie können mich hier rauslassen!«, verkündete ich und erhob mich.

Ich traf den überraschten Blick des Fahrers im Rückspiegel, spürte aber erleichtert, wie er an den Straßenrand fuhr und der Bus knirschend zum Stehen kam. Das beruhigende Brummen verstummte und ließ eine merkwürdige Stille zurück.

»Sind Sie sich sicher? Ich kann Sie bis zur Bushaltestelle bringen!«

»Das passt schon so.«

Er zögerte noch einen Herzschlag lang, dann zuckte er mit den Schultern und quetschte sich aus seinem Fahrersitz. Er schob das lächerlich winzige Türchen neben seiner Kabine auf und wuchtete seinen gewaltigen Körper in den Mittelgang. Trotz der angenehmen Temperaturen im Bus trug er eine viel zu enge, dicke Daunenjacke und schwere Winterstiefel. Seine Schultern waren so breit, dass er beinahe eins der sieben Duftbäumchen abriss, die unter der Anzeige befestigt waren.

Ich atmete ein letztes Mal den künstlichen »New Car«-Geruch ein und griff nach meiner Sporttasche.

»Ich danke Ihnen.«

»Tss, Sie bezahlen und ich fahre. So ist das doch, nicht wahr? Den ganzen Tag nur fahren und fahren und immer nur das Gleiche hinter den Scheiben. Bisschen deprimierend mit der Zeit, das könn’ Se mir glauben.« Er schob sich durch die Sitzreihen zur Tür und fummelte an den Griffen herum. Seit auf halbem Weg die Automatik ausgefallen war, hatte er das bei jedem Stopp tun müssen und die Schweißperlen auf seiner Stirn waren von Mal zu Mal mehr geworden. Bestimmt war er froh, dass ich in dieser Nacht der letzte Fahrgast war.

»Na ja, ich hab ja Plötze hier … Hoffentlich haben Sie ’nen besseren Job abbekommen, oh Mann, aber es gibt auch kaum was Schlechteres, möchte ich sagen.«

Seine kleinen Augen schielten zu mir herüber und die unausgesprochene Frage stupste mich auffordernd an. Ich ignorierte sie gekonnt, strich meinen zerknitterten Mantel glatt und straffte die steifen Schultern. Für Small Talk hatte ich keine Zeit.

Als der Fahrer bemerkte, dass er aus mir nichts herausbekommen würde, grunzte er missmutig. Endlich bekam er den Griff zu fassen und die Tür schwang auf. Eisige Luft schlug mir entgegen. Schnee peitschte durch das geöffnete Glas und hinterließ kleine Wassertropfen vor mir auf dem Boden.

Die Katze maunzte empört und zog sich in den hinteren Teil des Busses zurück. Am liebsten hätte ich es ihr gleichgetan.

»Also dann«, brummte der Fahrer. »Lassen Sie sich nicht von den Geistern fangen, ist ’ne schlechte Zeit für einen Nachtspaziergang.«

Als wenn ich das nicht wüsste.

Ich nickte ihm kurz zu und sprang hinunter auf den Fußweg – die Absenkautomatik schien den klapprigen Bus ebenfalls verlassen zu haben. Meine Füße versanken knöcheltief im Schnee und ich unterdrückte einen Fluch. Ich hatte ja damit gerechnet, dass die Temperaturen hier deutlich niedriger sein würden als zu Hause, aber so, wie es aussah, wütete hier schon seit Wochen ein Schneesturm.

Wie gut, dass ich nicht für einen Urlaub hierhergekommen bin.

Während sich hinter mir knirschend die Türen des Busses schlossen und er wieder anfuhr, schirmte ich mit der freien Hand meine Augen ab, um mich zu orientieren. Es war schon recht spät, kurz vor Mitternacht. Um diese Uhrzeit bewegten sich Menschen normalerweise entweder in kleinen Gruppen oder gar nicht auf den Straßen, dementsprechend herrschte um mich herum eine angenehme Stille.

Als das Scheinwerferlicht des Busses im dichten Schneetreiben verschwunden war, hüllte mich Dunkelheit ein. Vereinzelte Wohnhäuser waren noch erleuchtet, aber die Fenster waren so dicht mit Vorhängen und Laken zugehängt, dass eher ein unheimliches Strahlen als ein Lichtschein auszumachen war.

Das einzig wirkliche Licht kam von einem riesigen, gläsernen Komplex auf der anderen Straßenseite. Prachtvoll geschmückte Säulen zierten den Eingang und in das Glas der Eingangstür war das breite Firmenlogo eingearbeitet worden. Leise Musik drang durch die geschlossenen Türen, um einsame Wanderer anzulocken. Eine Ansammlung exotischer Grünpflanzen bildete einen starken Kontrast zu der Schneedecke, die mich umgab. Wäre das Gewächs echt, hätte es einen solchen Winter keine zwei Tage überstanden.

»So ein Blödsinn«, murmelte ich und rieb mir das Gesicht, um die versteinerten Züge loszuwerden. Während der gesamten Fahrt hatte ich so angestrengt über das gegrübelt, was mich in dieser Stadt erwarten würde, dass ich kaum dazu gekommen war, die Landschaft zu betrachten. Hier war nicht nur die Luft kälter, die Häuser schienen auch enger zusammenzustehen als in meiner Heimatstadt. Kleine, altertümliche Straßenlaternen säumten die Fußwege wie Unkraut und bemühten sich, ihr erbärmliches Licht durch den dichten Schneefall dringen zu lassen. Hier schien die Zeit schon seit einigen Jahren stillzustehen, isoliert von dem stetigen Wandel der Außenwelt.

Noch mehr Schnee knirschte unter meinen Stiefeln, als ich die Straße überquerte und auf den beleuchteten Eingang zuhielt. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, war das Glass Castle nicht mehr als eine heruntergekommene Bleibe für Reisende gewesen, jetzt hatten sie offenbar beschlossen, daraus einen wahren Großstadtpalast zu machen. Fast wirkte es ein wenig fehl am Platz zwischen all den altertümlichen Häuschen.

Als ich mich dem Gebäude näherte, fielen mir zwei Dinge auf.

Zum einen wirkte das Glas bei genauerer Betrachtung plötzlich gar nicht mehr so sauber. Winzige Eiskristalle krochen vom Boden aus über das Material und bildeten verschlungene Muster, durch die man nur noch vage ins Innere schauen konnte. Die Scheibe war beschlagen, als hätte jemand zu heiß geduscht, und irgendetwas daran erregte mein Misstrauen.

Zum anderen vernahm ich dahinter eine hohe, hektische Stimme, gefolgt von einer viel tieferen.

Die leise Musik verschluckte den größten Teil des Gesprächs, aber auch ohne die Worte zu verstehen, erkannte ich, dass es sich um keine normale Unterhaltung handelte. Durch den Dunst konnte ich von hier draußen nur den breiten Rücken eines Mannes erkennen, der bewegungslos im Eingang stand.

Na großartig! Ich dachte, um diese Uhrzeit ist niemand mehr unterwegs.

Kurz überlegte ich, einfach draußen zu warten, bis die Person vor mir verschwunden war, aber mein ungutes Gefühl und meine Ungeduld trieben mich schließlich doch durch die geschwungenen Eingangstüren.

Eine Welle heißer Luft drängte die Kälte zurück, vermischt mit dem schwachen Geruch nach Lavendel und Desinfektionsmittel. Leise Musik ertönte aus unsichtbaren Lautsprechern und verursachte zusammen mit den künstlichen Pflanzen ein schwaches Gefühl von Sommer.

Wäre da nicht die zierliche Gestalt gewesen, die knapp hinter dem Eingang auf dem Boden lag, hätte ich mich fast wohlfühlen können.

Es war ein junges Mädchen, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich. Sie hatte ein feines, recht hübsches Gesicht, trug ein dezentes Make-up, das ihre großen Augen betonte, und war in eine gelbe Bluse, auf dem das Hotellogo abgebildet war, gekleidet. Eine Strähne ihres blonden Haares war ihr in die Stirn gefallen, doch das schien sie gar nicht zu bemerken. Halb lag sie, halb kniete sie jetzt vor der Rezeption und drückte sich eine Hand gegen die Rippen; ihr Blick war starr auf die Person vor ihr gerichtet.

»Guten Abend«, sagte ich lauter und lockerer, als nötig gewesen wäre, und warf dem Mann einen prüfenden Blick zu.

Er hatte sein Gesicht unter einer weiten Kapuze verborgen, der Rest seines Körpers steckte in eng anliegenden Hosen, einer teuren Daunenjacke und schwarzen Handschuhen. Schnee, der trotz dieser Temperaturen noch nicht geschmolzen war, haftete auf seinen Schuhen.

Als ich einen Schritt näher kam, bemerkte ich auch, warum das so war. Eine eisige Kälte umgab die Gestalt, so kalt, dass ich plötzlich ein schmerzhaftes Brennen in meiner Kehle verspürte. Der Kontrast zu dem angenehmen Klima in der Lobby war derart stark, dass sich auf der kleinen Wasserpfütze rund um die Stiefel des Mannes eine Eisschicht gebildet hatte. Mein Atem wurde in Wölkchen sichtbar und ich war mir sicher, dass die Temperaturen draußen nicht annähernd so niedrig waren, wie ich sie gerade erlebte.

Hab ich’s mir doch gedacht, stellte ich angespannt fest, während ich eine Hand in die Manteltasche gleiten ließ.

»Gibt es hier ein Problem?«

Das junge Mädchen schien mich nun doch zu bemerken. Als sie mich entdeckte, öffnete sie den Mund und krächzte etwas, das sich nach »Hilfe« anhörte. Glücklicherweise konnte ich kein Blut oder Ähnliches an ihr entdecken, doch das Eis zu Füßen des Fremden hatte sie bereits erreicht und kroch bedächtig über ihre Hände und die Knie.

Ich erwiderte ihren Blick als Zeichen, dass ich sie gehört hatte, und wandte mich an den Fremden. »Sind Sie hier, um ein Zimmer zu buchen?«

Jeder normale Mensch hätte sich bei der Frage umgedreht, mich angesehen oder zumindest irgendeine Reaktion gezeigt. Menschen konnten gar nicht anders, als auf Ansprache zu reagieren, auch wenn sie noch so sehr versuchten, ihr Gegenüber zu ignorieren. Ein winziges Muskelzucken, ein tieferes Einatmen oder ein angespanntes Blinzeln – wenn man wusste, worauf man achten musste, fiel einem immer irgendetwas auf.

Aber das hier war kein Mensch.

Der Körper des Fremden rührte sich keinen Millimeter und noch immer wandte er den Blick nicht von der Rezeption ab, während er wie versteinert davor stand. Unter seiner zerschlissenen Jacke wirkte sein Atem steif und mechanisch, als müsste er sich zu jedem Atemzug zwingen.

Dann hätten wir das ja geklärt.

Meine Finger schlossen sich um die vertraute Schatulle und ich ließ sie mit einem leisen Klick aufschnappen.

»Oder möchten Sie dazu n…«

Noch ehe ich meinen Satz beenden konnte, schnellte plötzlich sein Arm hervor; so unerwartet, dass ich nicht mehr ausweichen konnte. Mit einer Kraft, die ich seinem Körper nie im Leben zugetraut hätte, krachte seine Faust gegen meinen Kiefer und ich stolperte zurück, bis mein Rücken gegen die geschlossenen Glastüren stieß. Ein Knacken ertönte, das hoffentlich vom Glas und nicht von meinem Schädel herrührte, und das Mädchen am Boden schrie auf. Schmerz schoss durch mein Gesicht und ich schmeckte Blut. Mit zwei hastigen Schritten brachte ich mich außer Reichweite und starrte den Fremden gereizt an.

»Scheiße!«

Obwohl die Kapuze immer noch den größten Teil seines Kopfes verbarg, bot sich mir jetzt ein einwandfreier Blick auf sein Gesicht – oder zumindest auf das, was davon übrig geblieben war.

Seine Haut war so weiß, dass sie mit dem Schnee unter seinen Füßen konkurrieren konnte, und auf seiner rechten Gesichtshälfte prangten rote, blutige Streifen. Als hätte er sich mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzt, waren seine bleichen Lippen aufgerissen. Sein Mund stand leicht offen, bereit, jeden Moment zu sprechen, aber es kam kein Ton heraus.

Kleine Muster, wie Verbrennungen durch Stromschläge, zogen sich von einem seiner Ohren bis hinunter zu seiner Kehle, während zottelige graue Haare sein kantiges Gesicht einrahmten. Gewiss war er vor der Verwandlung schon keine Schönheit gewesen, aber das schien ihm den Rest gegeben zu haben. Armer Kerl.

»Nein«, presste er hervor, wobei seine Stimme beinahe in dem Gurgeln, das aus seiner Kehle drang, unterging.

Er trat einen Schritt auf mich zu, obwohl sein Blick irgendwo über meine rechte Schulter gerichtet war, und holte erneut aus. Mit einem Ruck zog ich die Hand aus der Tasche, zerdrückte das Kügelchen zwischen meinen Fingern und duckte mich unter seinem Arm hindurch. Mit einer einzigen Bewegung schmierte ich ihm das Öl über Nase und Mund und musste angesichts seiner viel zu weichen, glitschigen Haut beinahe würgen. Kaum hatten meine Finger ihn berührt, zuckte er zurück, sein Schlag erwischte die Scheibe hinter mir und er griff sich mit einem Aufschrei ins Gesicht.

Angewidert wischte ich mir die Hand an meiner Hose ab und nutzte seine Verwirrung, um den kleinen, rechteckigen Stempel aus meiner Manteltasche zu ziehen.

»Treten Sie zurück, irgendwohin, wo Sie nicht aus Versehen getroffen werden können!«, rief ich der jungen Frau am Boden zu, und zu meiner Erleichterung reagierte sie. Zitternd rappelte sie sich auf und stolperte hinter ihren Tresen, die aufgerissenen Augen starr auf den Angreifer gerichtet.

Der hatte sich mittlerweile wieder gefangen und fuhr zu mir herum. Dort, wo ihn das Öl berührt hatte, war die Haut aufgeplatzt wie eine überreife Frucht. Schwarzer, zähflüssiger Schleim lief ihm übers Kinn.

Den Anblick hätte ich heute Nacht nun auch nicht mehr gebraucht.

Ich gab ihm keine Möglichkeit, sich zu sammeln. Eilig drückte ich den Stempel in meine Handfläche und spürte, wie sich mein Herzschlag beruhigte, als das Siegel auf meine Haut traf. Die schwarzen Linien waren aufgrund meiner Hektik etwas verwackelt, aber es musste reichen.

»Bleiben Sie ganz ruhig, das wird nicht wehtun«, keuchte ich und drückte die Finger zusammen, damit sich die Farbe erwärmte. Der Mann schien meinen Ratschlag nicht zu beherzigen, denn er machte einen Satz nach vorne, erwischte mich am Kragen und riss mich mit sich zu Boden. Mein Kiefer schmerzte, als mein Kopf aufschlug, und ich duckte mich, damit der nächste Hieb mich nicht erwischte.

Ein scharfer Gestank nach Ammoniak und Zigarettenrauch stieg mir in die Nase, als ich den Fremden von mir runterstieß und ihm in der gleichen Bewegung einen Schlag versetzte. Meine Faust landete irgendwo in seinem verformten Gesicht, sein Körper zuckte unter mir zusammen und seine kalten Finger gruben sich in meinen Rücken. Die Berührung jagte eine eisige Welle durch meinen Körper, aber diesen Moment der Ablenkung hatte ich gebraucht.

Ich öffnete die Finger wieder, packte mit einer Hand sein Kinn und drückte meine Handfläche mit der anderen fest auf seine Stirn. Wärme kribbelte unter meiner Haut. Abermals bäumte sich sein Körper auf und kämpfte gegen meinen Griff an, als wollte sich die Farbe eigenhändig von seiner Haut abstoßen.

Ich zählte siebzehn Sekunden, dann war es vorbei.

»Idiot!«, knurrte ich atemlos, kaum dass seine Gegenwehr von der einen Sekunde auf die andere erschlafft war. Sein Kiefer spannte sich ein letztes Mal an, dann schien sein Gesicht in sich zusammenzufallen wie ein nasser Lappen und der Griff um meine Jacke löste sich.

Mit klopfendem Herzen verharrte ich einige Atemzüge lang, dann nahm ich die Hand von seiner Stirn und ließ sein Gesicht los. Dort, wo meine Haut ihn berührt hatte, prangte das Siegel wie frisch aufgemalt über seinen Augen.

Das hätte auch danebengehen können, dachte ich, als ich mich langsam aufrappelte. Schmerz pochte in meinem Schädel und sein Schlag hatte einen metallischen Geschmack in meinem Mund hinterlassen, aber ansonsten war ich höchstens ein bisschen außer Atem.

Ich bin kaum zwei Minuten in dieser Stadt, und es geht schon wieder los. Allmählich kommt es mir vor, als würden diese Viecher nur auf mich warten.

»Haben Sie ein Team herbestellt?«, fragte ich über den rasselnden Atem des Fremden hinweg und die junge Frau nickte hastig. Sie hatte sich mittlerweile aus ihrer Deckung gewagt und stand unsicher einige Schritte hinter mir.

»Gleich zu Anfang, als er hereinkam, aber ich weiß nicht, wo sie bleiben! Ich … Ich danke Ihnen. Wenn Sie nicht …«

»Haben Sie vielleicht Handschellen parat?«, unterbrach ich sie schroff. »Ich habe ihn zwar ruhig gestellt, würde ihn aber ungern ungefesselt hier herumliegen lassen.« Aufmerksam beobachtete ich seine geschlossenen Augenlider, damit mir nicht entging, wenn sich noch irgendwo ein Zucken oder Ähnliches bemerkbar machte. Doch das Öl und das Siegel hatten ihre Arbeit getan. Wie in einen tiefen Schlaf gefallen, lag der Fremde mitten in der Eingangshalle, während das Wesen in seinem Inneren von beidem ruhig gestellt war.

Die schleimige schwarze Masse hatte kleine Löcher in meinen Mantel gebrannt und ich spürte einen schmerzhaften Punkt knapp unterhalb des Kinns, wo sie auf die Haut gekommen war, aber in der geringen Menge würde es nicht einmal eine Verbrennung werden.

So schnell, wie die Kälte, die den Fremden umgab, gekommen war, so schnell verzog sie sich auch wieder. Endlich schmolz der Schnee auf seiner Kleidung und ich atmete tief durch, als sich die Luft erwärmte.

Das war ein ausgesprochen schwaches Exemplar.

»Was … Also, was genau war das?«, fragte die junge Frau leise, während sie mir ein Paar billige Handschellen reichte. Seit einigen Jahren waren Hotels und öffentliche Einrichtungen dazu verpflichtet, eine Grundausstattung an Sicherheitsmaßnahmen gegenüber Eindringlingen vorzuweisen, doch nicht wenige sparten an der Qualität. Was ihnen früher oder später zum Verhängnis werden würde, denn nicht jeder ließ sich so leicht einschüchtern wie dieser Vorfall.

»Sagen wir mal so«, antwortete ich, während ich mich neben dem Fremden auf den Boden kniete, das Eisen um seine Handgelenke legte und das Schloss zuklicken ließ. »Seine Seele war auf dem besten Weg, von jemandem oder etwas ausgenommen zu werden. Vermutlich ist er gar nicht mehr Herr seiner Sinne. Das Licht muss ihn angezogen haben, und als er hier war, wusste er nicht mehr, weshalb er gekommen war. Die Leute von der Firma werden sich um ihn kümmern, der wird die nächsten Stunden keinen Ärger mehr machen.«

Ich blickte zu ihr auf und erinnerte mich daran, wie sie eben noch auf dem Boden gekniet hatte.

»Ist alles in Ordnung?«

Die junge Frau nickte und bedachte den zusammengekrümmten Körper mit einem ängstlichen Blick.

»Er hat mir nichts getan, er hat mich nur … festgehalten, als ich Hilfe holen wollte. Plötzlich ist mir so kalt geworden, dass ich nicht mehr sprechen konnte. Ich konnte nur noch dasitzen und …« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und betrachtete die schwarzen Spuren in meiner Hand. »Was war das, was Sie ihm gegeben haben? Es sah aus wie Farbe!«

»Wenn man es so sieht, ist es das auch irgendwie«, erwiderte ich nachdenklich und wischte den Rest des Siegels achtlos an meiner Hose ab. »Bei Verlorenen kann man sich zwischen Austreiben oder Einsperren entscheiden. Eine Austreibung dieser Wesen ist verdammt aufwendig und wird meistens von Profis übernommen, also ist es der schnellere Weg, sie einzusperren. Das Siegel raubt dem Dämon für kurze Zeit die Kontrolle, in den meisten Fällen jedenfalls.« Ich besah mir meine Finger. »Man trägt die Farbe auf die eigene Haut auf, erwärmt sie kurz, und schon kann man sie als Waffe verwenden. Es sei denn, dein Feind hält lange genug still, dass du ihm das Siegel separat aufmalen kannst, aber das ist häufig nicht der Fall.«

Zu meiner Lieblingswaffe wird das Zeug allerdings nie werden. Ich werde diesen Schleim tagelang nicht von den Fingern bekommen.

»Ich danke Ihnen«, wiederholte die Frau und strich sich die Haare aus der Stirn. Es hatte den Anschein, als wollte sie noch mehr Fragen stellen, aber offensichtlich fiel ihr wieder ein, dass sie eigentlich arbeiten musste. Zögernd trat sie hinter den Tresen. »Kann ich … Also, kann ich Ihnen denn behilflich sein? Wollen Sie ein Zimmer buchen? Oder sind Sie nur wegen … ihm hier?«

Während sie sprach, nahm sie sich zum ersten Mal die Zeit, mich richtig anzusehen.

Unter meinen schlammverschmierten Stiefeln hatte sich eine Pfütze gebildet, die langsam zu einem der Plastikblumentöpfe wanderte, als wollte sie den toten Pflanzen Wasser spenden. Meine Hose war schmutzig und durchnässt, ebenso wie der Mantel. Die verbrannten Flecken machten das Ganze auch nicht besser und meine Wange brannte, wo mich die Faust des Fremden erwischt hatte.

Auch wenn ich mich im Moment nicht selbst sehen konnte, wusste ich, dass meine dunklen Haare fürchterlich aussahen und die Schatten unter meinen Augen kaum über Nacht verschwunden waren.

Sicherlich hat sie sonst die Ehre und kann hochwertigere Gäste bedienen.

»Nein, ich bin ursprünglich wegen eines Zimmers hergekommen. Ich werde ein paar Tage in der Stadt bleiben, eventuell verlängere ich meinen Aufenthalt gegen Ende der Woche. Außerdem …«

Die junge Frau hatte bereits begonnen, eifrig die Tastatur ihres Laptops zu bedienen, und als ich weitersprach, blickte sie auf.

»Kennen Sie eine gewisse Even Santhwood? Sie arbeitet hier, und wenn ich richtigliege, hat sie heute Nacht Dienst.«

Ich trat näher an den Tresen heran, um nicht wie ein Idiot in der Eingangshalle herumzustehen, und behielt ihr Gesicht ganz genau im Auge. Kaum hatte ich den Namen ausgesprochen, blinzelte sie für den Bruchteil einer Sekunde überrascht, bevor sie sich wieder hinter ihrer antrainierten Maske verbarg.

Das war es. Ich bin also richtig.

»Ich würde gerne kurz mit ihr sprechen. Es ist ziemlich wichtig.«

»Ich fürchte …«, begann sie, wobei sie sich auf die Unterlippe biss. »Wir dürfen eigentlich keine Mitarbeiterinformationen herausgeben. Die stehen leider unter Datenschutz.« Sichtlich nervös fuhr sie sich durch die Haare.

»Das weiß ich, aber bedauerlicherweise habe ich nicht die Zeit zu warten, bis ich ihr hier über den Weg laufe. Könnten Sie Even trotzdem kurz herholen?« Zwei Herzschläge lang schaffte sie es, meinem Blick standzuhalten, dann wandte sie den Kopf ab und nickte knapp. Entweder machte ich einen ziemlich verzweifelten Eindruck oder sie fühlte sich schuldig.

»Ich werde sehen, ob sich was machen lässt. Even? Bist du gerade beschäftigt? Falls du ein paar Minuten hast, es gab hier gerade einen Überfall und ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Die Eingangshalle sieht aus wie nach einem Orkan und ich habe hier einen Kunden.« Die letzten Worte richtete sie nicht mehr an mich, sondern an das Ansteckmikrofon an ihrer Weste.

Ihre Stimme zitterte zwar immer noch leicht, aber sie hatte sich erstaunlich schnell gefasst.

Einige Sekunden verstrichen und ich steckte die Hände in die Manteltaschen. Mein Kopf fühlte sich schwer an, und das lag nicht allein an dem Temperaturwechsel. Ich war nervös, die lange Anfahrt hatte mich erschöpft, und das, was mir bevorstand, würde nicht gerade entspannender werden.

Als nach einer gefühlten Ewigkeit ein Knacken und eine Antwort, die ich nicht hören konnte, aus dem Mikrofon kamen, wäre ich beinahe zusammengezuckt.

Reiß dich zusammen, verdammt!

»Sie kommt, aber sie hat nicht viel Zeit. Ich werde währenddessen die Hunter ein weiteres Mal kontaktieren, da muss etwas schiefgelaufen sein. Für gewöhnlich sind sie innerhalb weniger Minuten hier.«

»Vielleicht sollten Sie mal Ihre Notrufzentrale überprüfen«, erwiderte ich, obwohl ich nur mit einem Ohr zugehört hatte. »Manchmal gibt es einen Wackelkontakt und der Notruf geht gar nicht erst raus.«

Hinter dem Empfang öffnete sich plötzlich eine Tür und ich brach ab. Die junge Frau drehte sich um und nickte dann in meine Richtung, als wären neben mir noch zwanzig andere Leute in der Eingangshalle.

»Hey Eve«, sagte sie, »es gab gerade einen kleinen Notfall. Scheinbar haben wir unerwünschten Besuch angelockt. Ich dachte im ersten Moment …«

Ich hörte den Rest ihrer Worte nicht und war mir sicher, dass es der Frau im Türrahmen genauso erging. Sie schien sich in den letzten Jahren kein bisschen verändert zu haben. Das honigfarbene Haar trug sie immer noch offen und schulterlang, ihre Bluse war wie gewohnt an den Ärmeln etwas zerknittert und in den warmen, blauen Augen lag das gleiche herausfordernde Funkeln, das sie schon als kleines Mädchen gezeigt hatte. Sie war gerade einen Schritt aus der Tür herausgetreten, erstarrte jedoch in der Bewegung, als sie mich entdeckte.

Ich wusste, dass sie mich erkannte. Ich las es in ihrem Gesicht – zunächst die Erkenntnis und anschließend die gemischten Emotionen darin. Sie zog die Augenbrauen zusammen und blieb stehen.

»Hallo Even«, sagte ich ruhig, um die angespannte Stille zu durchbrechen, und rang mir ein schiefes Lächeln ab. »Hast du eine Sekunde?«

Das hier wird wohl länger als eine Sekunde dauern, vor allem wenn sie mich weiterhin so ansieht.

»Kennst du ihn?«, flüsterte die junge Frau vom Empfang viel zu laut und blickte prüfend in Evens Gesicht, als könnte sie darin meinen Namen ablesen. »Und du musst dich gleich bereithalten, wenn die Hunter kommen, ich brauche deine Unterschrift.«

»Schon gut, Roxy«, entgegnete Even beschwichtigend, während sie sich vollständig durch die Tür schob und um den Tresen herumkam. »Das hier ist Daniel, mein Bruder.«

Obwohl ich spüren konnte, dass Even alles andere als froh war, mich zu sehen, war sie dennoch so taktvoll und führte mich in den angrenzenden schummrigen Frühstückssaal. Dem Körper am Boden warf sie nur einen kurzen, angewiderten Blick zu, aber ich war mir sicher, Roxy würde ihr später die ganze Geschichte auftischen. Überfälle waren in den letzten Monaten fast schon zur Normalität geworden, vor allem wenn sie so simpel abliefen wie der heutige.

Ich setzte mich mit dem Rücken zum Fenster, darauf bedacht, die blütenweiße Tischdecke nicht zu berühren, und schlug die Beine übereinander. Meine Sporttasche schob ich hinter den Stuhl. Den Mantel ließ ich an, obwohl das durchweichte Leder eisig auf meiner Haut lag.

»Ich muss zugeben, du wärst der Letzte, den ich heute Nacht erwartet hätte«, begann Even spitz und lehnte sich in den dunkelroten Sessel. Ihr misstrauischer Blick wanderte über mein Gesicht und meine Arme, als würde sie darunter jemand Fremdes vermuten. »Was machst du hier?«

»Du bist verärgert«, stellte ich fest, ohne auf ihre Frage einzugehen. Obwohl sich meine Schwester um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte, funkelte in ihren Augen der Zorn und ihre Finger strichen unruhig über ihren Ärmel.

Was hatte ich auch anderes erwartet? Ich wusste, sie würde mich nicht mit offenen Armen empfangen. Nicht nach all dem, was die letzten Jahre vorgefallen ist.

»Ich bin hier, um mit dir zu reden.«

Even presste die Lippen zusammen und erwiderte: »Ich muss arbeiten. Das weißt du, schließlich wusstest du ja auch von irgendwem, dass ich hier angestellt bin.«

Der scharfe Unterton in ihrer Stimme entging mir nicht, und plötzlich fühlte ich mich wieder wie früher, wenn sie mich als Kind ausgeschimpft hatte. Ich hatte die vollen zwei Tage der Anreise Zeit gehabt, um mir zu überlegen, was ich ihr sagen wollte, und jetzt, da dieser Moment gekommen war, fehlten mir auf einmal die Worte.

»Ich weiß, wo du arbeitest, weil ich dich auf der Plattform des Hotels gefunden habe«, entgegnete ich. Leise seufzend fuhr ich mir durch die feuchten Haare. »Hör mal, ich bin nicht hier, um die alten Geschichten wieder aufzurollen. Ich hätte mir jedes Hotel in der Stadt aussuchen können, aber ich wollte mit dir reden. Dir sagen, dass ich wieder da bin, und dir die Chance geben, dir das Ganze aus meiner Sicht anzuhören.«

Ein Fehler bleibt ein Fehler, egal aus welcher Sicht er erzählt wird.

»Du willst mir eine Chance geben?«, fuhr sie mich an, senkte die Stimme jedoch wieder, als Roxy durch die gläserne Wand des Frühstückssaals neugierig zu uns herübersah. »Eigentlich müsste ich dich nach dieser Aussage sofort wieder auf die Straße setzen, aber zu deinem Glück habe ich hier nicht das Sagen. Wenn überhaupt, dann wäre ja wohl ich diejenige, die dir eine Chance gibt! Du bist damals abgehauen und hast mich sitzen lassen, nach allem, was ich nach Moms Unfall für dich getan habe! Was ich für uns getan habe!«

Ihre blauen Augen, die meinen so ähnlich waren, dass es fast schmerzte, funkelten wütend, und mit einem Mal hörte sich meine Entschuldigung auch in meinen Ohren lahm an. Sie hatte recht, und das Schlimmste daran war, dass sie das auch wusste.

»Hast du mich in den letzten Jahren mal angerufen oder nachgefragt, wie es Mom geht? Die Antwort auf diese Frage kennen wir beide, Dan, das hast du nämlich nicht. Du warst wie vom Erdboden verschluckt, und als ich durch Zufall – jawohl, es war ein Zufall! – erfahren habe, dass es dir gut geht, war ich kurz versucht, zu dir zu fahren. Letztendlich habe ich es nicht getan, weil du uns das Gefühl gegeben hast, du wolltest uns so schnell wie möglich aus deinem Leben streichen. Bei dir lief es ja trotzdem prächtig mit deiner Freundin und deinem Job und was auch immer du dir aufgebaut hast.«

Während sie gesprochen hatte, hatte sie sich ein Stück über den Tisch gelehnt und mich wütend angefunkelt. Jetzt schien sie sich ihres kleinen Ausbruchs bewusst zu werden und atmete tief durch.

Ich nutzte die kurze Pause und entgegnete ernst: »Ich weiß, Even. Genau deshalb bin ich hier. Es gab die letzten zwei Wochen einige Komplikationen und ich werde für eine Weile hier in der Stadt bleiben. Ich habe mich schon im Oktober von Sarah getrennt, aber … Das kannst du natürlich nicht wissen. Es war, zugegeben, nicht meine Entscheidung, dass ich wieder hier lande – allerdings wäre es ungerecht, wenn ich so nah bei dir wäre und dir nicht Bescheid geben würde.«

Für einen kurzen Moment wich die Missgunst aus den Augen meiner Schwester und sie blinzelte überrascht. »Du bist nicht mehr mit Sarah zusammen? Ich dachte, ihr wärt so ein Traumpaar. Hat sie nicht sogar schon über euer erstes Kind …«

»Ich bin einundzwanzig!«, knurrte ich und versuchte die Gedanken an Sarah zu verdrängen. »Ich kann mich nicht einmal um einen Hamster kümmern, wie zum Teufel sollte ich da über ein Kind nachdenken? Das waren nur ihre Pläne, sie hat immer nur an sich …«

Schnell schloss ich den Mund und biss die Zähne zusammen. Ich war ganz sicher nicht hier, um mit meiner älteren Schwester über meine Beziehungsprobleme zu sprechen; schon gar nicht, wenn sie noch so frisch waren. Es war Sarah gewesen, die sich von mir getrennt hatte; auch wenn ich mittlerweile an der gleichen Stelle gestanden hatte. Sicherlich war sie froh, dass sie ihre Wohnung wieder für sich hatte und ich Hunderte Kilometer weit weg in einem Hotel schlafen musste.

»Ich brauche einfach eine Pause von meinem alten Leben«, fuhr ich fort. »Wenn alles gut läuft, habe ich hier eine neue Arbeit und genügend Luft, um mir über die nächsten Monate Gedanken zu machen.« Den eigentlichen Grund für diesen plötzlichen Umschwung verschwieg ich Even bewusst – aber ein »Hey, ich habe übrigens vier Menschen getötet!« wäre auch kein guter Gesprächsanfang. »Ich dachte nur, du solltest es wissen.«

»Und währenddessen wolltest du dich bei mir entschuldigen?«

Even zog eine Augenbraue hoch und biss sich auf die Unterlippe, was sie immer tat, wenn sie nachdachte. Ich hatte mir zwar in den letzten Tagen so viele Gedanken über unsere Beziehung gemacht wie in den vergangenen zwei Jahren nicht mehr, doch erst jetzt, als ich hier vor ihr saß, bemerkte ich, wie sehr ich gehofft hatte, dass sie mir verzieh. Even war die einzige Familie, die mir noch geblieben war, wenn man gewisse Mitglieder außen vor ließ. Und dennoch schienen all die Worte, die ich gerne ausgesprochen hätte, in meinem Kopf keinen vernünftigen Satz zu bilden.

Mein Zögern musste eine Sekunde zu lange gedauert haben, denn da sprach meine Schwester bereits weiter. »Weißt du was? Lass uns dieses Gespräch verschieben. Hör zu«, sie seufzte und richtete ihre Haare mit einer beiläufigen Handbewegung, »ich bin müde und habe noch einige Stunden Schicht vor mir, außerdem hattest du bestimmt eine lange Anreise.«

Sie erhob sich und ich tat es ihr gleich. Für einen Moment zog sich ein Knoten in meiner Brust zusammen und ich dachte schon, ich hätte es endgültig vermasselt, da sah sie mich mit ernster Miene an und fuhr fort: »Ich kann dir sowieso nicht verbieten, hier zu übernachten. Wenn du für einen Neuanfang gekommen bist, dann werde ich dem zustimmen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass es keine Geheimnisse mehr gibt. Ich möchte wissen, warum du auf einmal hier auftauchst, anstatt bei deinem Job zwei Tage entfernt von hier zu sein, und was du als Nächstes zu tun gedenkst. Nach fast vier Jahren, die wir uns nicht gesehen haben, kennen wir uns kaum noch. Wenn du die Wahrheit sagst und tatsächlich länger in der Stadt bleibst, dann hätten wir allerdings alle Zeit der Welt, einander wieder anzunähern.«

Sie verzog den Mund und ich war erstaunt über ihren plötzlichen Sinneswandel.

Bilder und Erinnerungen drängten sich zwischen meine Gedanken – Erinnerungen, die ich während der Anreise und der kalten Nächte im Bus so gut wie möglich hatte verdrängen können. Doch ich hatte keine Wahl, Even hatte recht. Sie verdiente die Wahrheit, wenn auch nicht heute Nacht.

»Abgemacht!«, erwiderte ich und nickte entschlossen. »Wenn mein Plan aufgeht und ich hier für eine Weile bleiben kann, dann erzähle ich dir alles in Ruhe.«

Ja, wenn mein Plan aufgeht. Falls nicht, muss ich mir ziemlich schnell etwas anderes ausdenken.

Meine Schwester nickte und fast meinte ich, in ihren Augen so etwas wie Erleichterung zu entdecken. Vielleicht war ich auch nur übermüdet und das viel zu grelle Licht spielte mir einen Streich.

*

Das Hotelzimmer stellte sich als deutlich luxuriöser heraus, als ich es erwartet hatte. Roxy hatte meine Daten aufgenommen und mir den Preis genannt, und auch wenn dieser nicht ganz ohne war – mit einer solchen Ausstattung hatte ich nicht gerechnet.

Das Glass Castle machte seinem Namen alle Ehre. Aufgrund der hufeisenähnlichen Form konnte ich durch das riesige Panoramafenster frontal auf die andere Seite des Hotels schauen. In einigen Fenstern brannte ein schwaches Licht und hier und da bewegte sich dahinter ein Schemen.

Der Fokus meines Zimmers lag auf dem großen Doppelbett, das in der Mitte des Raumes auf einem kleinen Podest aufgebaut war. Links und rechts waren kunstvolle Stufen angebracht, ebenfalls aus Glas und scheinbar mit künstlichen, aber umso farbenfroheren Blüten befüllt. Es gab einen großen Fernseher, vor dem Fenster einen schmalen Schreibtisch mit etwas Papier und einer gläsernen Lampe darauf. Ein schwacher Lavendelduft wurde aus unsichtbaren Lüftungen in den Raum geblasen und vertrieb den Geruch nach Reinigungsmitteln.

Ich verschloss die Tür hinter mir, prüfte zweimal, ob sie auch wirklich abgeschlossen war, und stand für einige Sekunden etwas ratlos im Zimmer.

Wäre ich hier, um Urlaub zu machen und Champagner zu trinken, dann wäre das sicherlich der Jackpot. Aber ich gehöre hier nicht her, genauso wenig wie in diese Stadt.

Schließlich gab ich mir einen Ruck, streifte mit einem Blick auf den flauschigen Teppich die schlammverschmierten Stiefel ab und trat im Dunkeln durch eine kleine Tür rechts von mir in das Badezimmer. Ich wusste, dass Even irgendwo in einem der Zimmer arbeitete. Säße sie direkt gegenüber, könnte sie mich womöglich durch die Glasfront sehen. Also ließ ich das Licht aus und schaltete nur mein Handy ein, auch wenn das wahrscheinlich lächerlich war.

Dem bläulichen Schein gelang es kaum, mein Gesicht auszuleuchten, doch im Moment wollte ich mich sowieso lieber nicht so genau betrachten.

Während ich mir die Hände wusch und den Mantel zum Trocknen über die Heizung hängte, warf ich einen Blick auf das Display. Zwei verpasste Anrufe, einer von Sarah und einer von einer unbekannten Nummer. Beide waren mir im Moment egal.