Geist und Leben 04/2025 - Christoph Benke - E-Book

Geist und Leben 04/2025 E-Book

Christoph Benke

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Beschreibung

Inhalt Notiz Gratwanderung Bernhard Körner Nachfolge Das Charisma neu beleben. Sehnsucht und Aufgabe von Ordensgemeinschaften Anneliese Herzig MSsR " ... und stelle dein Leben unter das Geheimnis des Kreuzes!" Im Dienst der Seelsorge Michael Schneider SJ Charisma und Krise. Zur Aktualität der Allgäuer Erweckungsbewegung Martin Blay Auf dem Weg zu einer Spiritualität des 21. Jahrhunderts. Josef Sudbrack SJ, Michel de Certeau SJ und Richard Gramlich SJ zum 100. Geburtstag Marco A. Sorace | Raid Al-Daghistani Nachfolge | Kirche Zur Spiritualität der Weiheliturgie. Eine kritische Prüfung aus (befreiungs-)theologischer Sicht Georg Lauscher Polarisierung versus Synodalität. Gedanken zu einem Kulturwechsel Stefan Tertünte SCJ Ein Mosaik aus der Hagia Sophia Fritz Poppenberg Buchara Nachfolge | Junge Theologie Seins-Andenken und Gelassenheit. Fundamentaltheologische Überlegungen zu einem zentralen Anliegen Martin Heideggers Lukas Metz Reflexion "In der Stunde der unerfaßlichen Angst" (Rainer Maria Rilke). Sprachmacht und Versprechen im Kontext gewaltsamer Konflikte Lisa Straßberger "Die Fülle der Zeiten heraufzuführen" (Eph 1,10). Vom Kommen Gottes in schwieriger Zeit Walter Schaupp Die heilsame Lehre vom Sinn. Die Logotherapeutin Elisabeth Lukas über Viktor Frankl zu dessen 120. Geburtstag Elisabeth Lukas | Martin Kammerer OSB Lektüre Salomonisches Lernen. Gerhard Meiers spirituelle Poetik Christoph Gellner

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Seitenzahl: 196

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Heft 4 | Oktober–Dezember 2025

Jahrgang 98 | Nr. 517

Notiz

Gratwanderung

Bernhard Körner

Nachfolge

Das Charisma neu beleben. Sehnsucht und Aufgabe von Ordensgemeinschaften

Anneliese Herzig MSsR

„ … und stelle dein Leben unter das Geheimnis des Kreuzes!“ Im Dienst der Seelsorge

Michael Schneider SJ

Charisma und Krise. Zur Aktualität der Allgäuer Erweckungsbewegung

Martin Blay

Auf dem Weg zu einer Spiritualität des 21. Jahrhunderts. Josef Sudbrack SJ, Michel de Certeau SJ und Richard Gramlich SJ zum 100. Geburtstag

Marco A. Sorace | Raid Al-Daghistani

Nachfolge | Kirche

Zur Spiritualität der Weiheliturgie. Eine kritische Prüfung aus (befreiungs-)theologischer Sicht

Georg Lauscher

Polarisierung versus Synodalität. Gedanken zu einem Kulturwechsel

Stefan Tertünte SCJ

Ein Mosaik aus der Hagia Sophia

Fritz Poppenberg Buchara

Nachfolge | Junge Theologie

Seins-Andenken und Gelassenheit. Fundamentaltheologische Überlegungen zu einem zentralen Anliegen Martin Heideggers

Lukas Metz

Reflexion

„In der Stunde der unerfaßlichen Angst“ (Rainer Maria Rilke). Sprachmacht und Versprechen im Kontext gewaltsamer Konflikte

Lisa Straßberger

„Die Fülle der Zeiten heraufzuführen“ (Eph 1,10). Vom Kommen Gottes in schwieriger Zeit

Walter Schaupp

Die heilsame Lehre vom Sinn. Die Logotherapeutin Elisabeth Lukas über Viktor Frankl zu dessen 120. Geburtstag

Elisabeth Lukas | Martin Kammerer OSB

Lektüre

Salomonisches Lernen. Gerhard Meiers spirituelle Poetik

Christoph Gellner

Buchbesprechungen Jahresinhaltsverzeichnis

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Dieter Fugger (Redaktionsassistenz)

Redaktionsbeirat:

Margareta Gruber OSF / Vallendar

Stefan Kiechle SJ / Frankfurt

Bernhard Körner / Graz

Edith Kürpick FMJ / Köln

Ralph Kunz / Zürich

Jörg Nies SJ / Stockholm

Andrea Riedl / Regensburg

Klaus Vechtel SJ / Frankfurt

Redaktionsanschrift:

Pramergasse 9, A–1090 Wien

Tel. +43–(0)664–88680583

[email protected]

Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter www.echter.de/geist-und-leben/. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis.

Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein. Für Abonnent(inn)en steht GuL im Online-Archiv als elektronische Ressource kostenfrei zur Verfügung. Nichtabonnent(inn)en können im Online-Archiv auf die letzten drei Jahrgänge kostenfrei zugreifen. Registrierung auf www.geist-und-leben.de/.

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Vertrieb: Zu beziehen durch alle Buchhandlungen oder direkt beim Verlag. Abonnementskündigungen sind nur zum Ende des jeweiligen Jahrgangs möglich.

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N

Bernhard Körner | Graz

geb. 1949, Dr. theol., Prof. em. für Dogmatik an der Kath.-Theol. Fakultät Graz, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

[email protected]

Gratwanderung

Papst Franziskus hat sich vom ersten Augenblick seines Pontifikats klar dafür ausgesprochen, wo er den Ort der Kirche sieht: an den Rändern der Gesellschaft. Für viele ist das keine neue oder freie Wahl. Es ist der Platz, wo sie leben, oft auch leben müssen. Und es ist auch für ihren Glauben oft kein gemütlicher, sondern ein ausgesetzter Ort.

So hat es auch die französische Sozialarbeiterin Madeleine Delbrêl (1904–1964) erfahren. Sie hat bekanntlich ihre Berufung darin gesehen, mit einigen Freundinnen nach Ivry, in eine Industrievorstadt von Paris zu ziehen. Die kleine Kirchengemeinde hat sie selbst einmal als die Zurückgebliebenen in einer eroberten Stadt charakterisiert. Die Mehrheit waren atheistische Mitglieder der kommunistischen Partei.

Mit dieser Erfahrung hat sie im geistlichen Leben der europäischen Christenheit auf eigenartige Weise eine Spur hinterlassen. Die Gemeinschaft, die sie mit ihren Freundinnen gegründet hat, gibt es nicht mehr. Aber ihre geistlichen Einsichten in einem Umfeld, in dem Gott nicht einmal der Rede wert ist, und ihre Schriften wirken bis heute in vielen Bereichen und Gemeinschaften der Kirche weiter. Sie sind zur Orientierungshilfe und zur Ermutigung in Zeiten des Umbruchs geworden. Nicht zuletzt das bekannte Wort: „Die Leidenschaft für Gott wird uns klarmachen, dass unser christliches Leben ein Schreiten zwischen zwei Abgründen ist. Der eine ist der messbare Abgrund der Ablehnung Gottes durch die Welt. Der andere ist der unauslotbare Abgrund des Geheimnisses Gottes.“

Nicht immer wird der Glaube an Gott zur Leidenschaft werden. Aber die angesprochene Situation wird wohl von vielen wahrgenommen. Der Glaube führt heute oft ins Ausgesetzte. Er kann zur Gratwanderung werden. Auf der einen Seite die Erfahrung der Vereinsamung. Was ich selbst für das Kostbarste entdeckt habe – Gott, ist anderen nicht einmal der Rede, gar des Widerspruchs wert. Es führt allenfalls zu einem Achselzucken – Gott?! Wozu Gott? Das kann höflich klingen, aber auch spöttisch, manchmal sogar interessiert. Madeleine Delbrêl erkennt darin einen Abgrund, eine Gefahr. Sie hält den Abgrund für messbar, also nicht bodenlos, aber es ist und bleibt eine Gefahr.

Auf der anderen Seite erkennt sie einen unauslotbaren Abgrund. Man erfährt ihn in einer Verunsicherung, die aus dem Glauben selbst kommt. Mehr als in einem schützenden christlichen Milieu und mehr als es in früheren Zeiten gewesen sein mag, entzieht sich Gott in die Verborgenheit. Das kann durchaus zu einer hilfreichen Klärung werden: Gott ist nicht Teil der von uns erfassbaren Wirklichkeit, sondern ihr Schöpfer. Aber es kann auch zur Bedrängnis werden. Ein unfassbarer Gott – ist das nicht doch vielleicht ein Gott, der gar nicht existiert? Eine Fata Morgana? Unvermittelt öffnet sich ein bedrohlicher Abgrund.

Madeleine Delbrêl ist der Gratwanderung zwischen den beiden Abgründen nicht ausgewichen. „Wir erfahren, dass wir auf der Mittelkante wandern, wo die Ränder dieser beiden Abgründe aufeinanderstoßen.“ Nicht wenige haben die Französin schätzen gelernt, weil sie im Bild der beiden Abgründe ihre eigenen Erfahrungen erkennen konnten und erkennen. Der Glaube als ein ausgesetzter Weg. In guten Stunden mag das eine Einladung zu einem Abenteuer sein, auf das man sich guten Mutes einlassen will. In Tagen der Müdigkeit und der Verunsicherung kann der Weg zur Frage werden – warum, wozu das alles?!

Für Madeleine Delbrêl war dieser Weg aber nicht zuletzt eine Chance. Er öffnet eine Möglichkeit. Durch diese Gratwanderung – so schreibt sie – „verstehen wir, auf welche Weise wir Vermittler sind und warum wir es sind.“ Für Madeleine ist diese – wie sie sagt – Mittelkante zwischen den beiden Abgründen ein Ort des Glaubens. Heute vielleicht der Ort des Glaubens schlechthin. Hier kann und soll sichtbar werden, dass christlicher Glaube keine Flucht aus der Wirklichkeit unserer Welt und Zeit sein soll, keine fromme Verzierung des Lebens, sondern die Bereitschaft, der Nachfolge Jesu treu zu bleiben und die Kraft und die Freude des Evangeliums erfahrbar zu machen.

Die Diagnose, die Madeleine Delbrêl erstellt hat, wird heute in unseren Breiten als aktuell anerkannt. Aber eine Gratwanderung bedarf der Vorbereitung und der Einübung. Wie jede Bergwanderung eben. Es ist wohl kaum übertriebener Pessimismus, wenn man vermutet, dass wir mit unserer Jahrhunderte langen Geschichte des Glaubens in Europa noch einige Anstrengungen vor uns haben.

NNachfolge

R

L

N

Anneliese Herzig MSsR | Wien

geb. 1958, Dr. theol.,

Missionsschwester vom Heiligsten Erlöser,

Geistliche Begleiterin und Noviziatsleiterin

[email protected]

Das Charisma neu beleben*

Sehnsucht und Aufgabe von Ordensgemeinschaften

In einer Zeit des Wandels fragen Orden wieder neu und verstärkt nach ihrer spezifischen Aufgabe und Sendung, nach ihrer Identität, kurz gesagt: nach ihrem „Charisma“. „Das Charisma neu beleben“ – das ist vielerorts die Sehnsucht und wird zur Aufgabe. Doch was wird hier eigentlich unter „Charisma“ verstanden und was sollte verstanden werden, wenn dieser Begriff auf Ordensgemeinschaften angewendet wird?

Zum Begriff „Charisma“

Norbert Baumert SJ hat sich jahrzehntelang wissenschaftlich mit dem biblischen Begriff „Charisma“ beschäftigt. In einem seiner Aufsätze hält er fest: „Die Behauptung, dass um diesen Begriff eine heillose Verwirrung herrscht, [ist] eher noch untertrieben“1. Im Prozess der Entwicklung seit Paulus über die Kirchenväter bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil und in unsere Zeit hinein gab es etliche Verschiebungen, Ergänzungen, Verengungen und Weitungen. Darauf aufbauend kommt Baumert zu folgender Aussage: „Charisma ist eine aus der Gnade Gottes hervorgehende, jeweils von Gott besonders zugeteilte Befähigung zum Leben und Dienen in Kirche und Welt.“2 Daraus lassen sich einige Charakteristika ableiten, die wichtig sind, wenn eine Gemeinschaft von „ihrem“ Charisma spricht:

Das Charisma ist ein Geschenk, das Gott frei zugeteilt hat – nicht primär etwas, das Glaubende nach ihren eigenen Ideen hervorbringen.

Das Charisma will zu etwas befähigen, ausrüsten, ermächtigen. Es ist daher eine Gabe und Qualifikation, aus der dann ein Auftrag erwächst.

Die Rede ist hier nicht von „besonderer Befähigung“, sondern von „besonders zugeteilter Befähigung“. Das ist ein feiner, aber wichtiger Unterschied. Es geht nicht nur um spektakuläre Gnadengaben und auch nicht um etwas, durch das sich jemand von anderen in auffälliger Weise abhebt. Charisma soll ausrüsten zum „Leben und Dienen“. Dies kann „schlichter“ oder „leuchtender“ sein (LG 12).

Ein vertrauter Gedanke ist, dass das Charisma eine Gnadengabe ist, die zum Wohl anderer gegeben wird. Baumert betont jedoch, dass sie nicht nur für die anderen gegeben wird, sondern auch zur eigenen Stärkung. Sie gibt einem Menschen Orientierung zum eigenen Leben in einer sich wandelnden Welt und wird zur Kraftquelle.

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Gott gibt diese gnadenvolle Befähigung „jeweils“, also je neu. Charisma ist kein „fertiges Paket“, sondern eher wie ein (beständiger) Strom. Kurz gesagt: Charisma ist eine

Gabe, keine Habe

.

„Charisma“ im Kontext von Ordensleben

Das Zweite Vatikanische Konzil spricht zwar von charismata, aber nicht in Zusammenhang mit einer Ordensgemeinschaft. Nicht einmal im Blick auf die Gründer und Gründerinnen wird das mittlerweile so vertraut gewordene Wort „Charisma“ verwendet.4 Im berühmten Absatz des Ordensdekretes Perfectae Caritatis 2b ist vom „Geist“ (spiritus) der Gründer die Rede, von der Eigenart (indoles) der Ordensgemeinschaften und ihrer besonderen Aufgabe (munus) und vom „Erbe“ des Ordensinstitutes (patrimonium). Erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird der Begriff „Charisma“ nicht nur für Einzelpersonen, sondern auch für Gemeinschaften verwendet.

Zum ersten Mal taucht die Formulierung „Charisma des Instituts“ im päpstlichen Mahnschreiben Evangelica testificatio von Papst Paul VI. zur Erneuerung des Ordenslebens (1971; ET 32) auf.5 Auch vom „Charisma“ der Gründer ist dort das erste Mal in einem offiziellen kirchlichen Dokument die Rede (ET 11).

Es war etwas Neues, das Wort Charisma nicht nur für die gnadenvolle Befähigung von Einzelpersonen zu verwenden, sondern auch für Gruppen von Menschen, wie es Orden sind. Daraus entstehen einige Fragen: In welchem Sinn kann man das tun? Gibt es eine gemeinsame Teilhabe an einem Charisma und wie ist dies zu verstehen? Wie verhält sich das – gemeinschaftliche – „Charisma des Instituts“ zum individuellen „Charisma des Gründers“? Wird „alles“ mitgegeben oder bleibt etwas spezifisch beim Gründer, bei der Gründerin? Welche Rolle spielt die weiterlaufende Zeit, welche Rolle spielen die ersten Gefährtinnen und letztendlich alle, die das Leben dieser Ordensgemeinschaft mittragen? Kann sich etwas weiter entwickeln? Und: Wie wird eigentlich ein Charisma „weitergegeben“?

Hilfreich ist eine Übersicht, die Sandra Schneiders IHM vorgelegt hat.6 Ihrer Ansicht nach lässt sich das Wort „Charisma“ in vierfacher Weise auf das Ordensleben anwenden, wobei die einzelnen Weisen nicht fein säuberlich geschieden sind, sondern miteinander in Beziehung stehen:

Ordensleben als solches ist ein Charisma, eine Gnadengabe nämlich für die Kirche (vgl. LG 43; PC 1; vgl. ET 11). Diese Überzeugung impliziert, dass Ordensleben von niemandem „erfunden“ oder „eingerichtet“ worden ist, weder von den Ordensleuten noch von der Hierarchie. Seine Entstehung und Existenz ist von Gott, von Gottes heiligem Geist inspiriert.

Auf einer zweiten Ebene kann das Wort verwendet werden für die unterschiedlichen Formen des Ordenslebens, die sich im Lauf der Jahrhunderte entwickelt haben. Auch sie sind Gabe an die Kirche.

Der Begriff „Charisma“ findet drittens Anwendung für die Verschiedenheit der einzelnen Ordensinstitute, was in engem Zusammenhang mit dem „Charisma des Gründers / der Gründerin“ gesehen wird. Sandra Schneiders stellt hier einige unangenehme Fragen: Was tun, wenn es keine klare Gründerfigur gibt? Was ist, wenn der Gründer / die Gründerin gar nicht Teil der Gemeinschaft war oder geblieben ist? Wie damit umgehen, dass es große, bedeutende Gründergestalten gibt, durch die ganze Spiritualitätsfamilien entstanden sind, und solche, die „einfach“ eine Ordensgemeinschaft initiiert haben, manchmal inspiriert durch eine der großen Spiritualitätslinien der Kirche? Soll man diese unterschiedlich profilierten Gründergestalten gleich behandeln? Was ist, wenn die Grundintention des Gründers überlebt hat, weil die konkrete Not nicht mehr besteht (z.B. Brückenbau), die Sache jetzt theologisch umstritten ist (z.B. Bekehrung der Juden) oder durch kulturellen Wandel in Frage gestellt ist (z.B. Haushaltsführung für Priester)? Was, wenn man sich eingestehen muss, dass da gar nicht so groß etwas Spezielles war, sondern die „Nachbargründung“ ganz ähnlich verlaufen ist?

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Es hilft, über die Gründung und die Gründer hinaus die „Tiefenströmung“, die sich in der weiterlaufenden Geschichte durchgezogen hat, in Betracht zu ziehen. Was ist heilvoll hinzu gewachsen? Was ist miteinander erlebt und durchgestanden worden? Aus all dem ist ein Narrativ entstanden, das Identität schenkt – unabhängig davon, ob es sich am Anfang um scheinbar unspektakuläre Charismen oder über die Zeiten inspirierende wie die eines Franziskus oder einer Teresa von Avila gehandelt hat. Die vitale und zentrale Frage – und Ausgangspunkt für eine „Neubelebung“ – ist: „Wer sind wir durch die Gnade Gottes geworden?“

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Die Rede vom Charisma der einzelnen Ordensmitglieder ist kaum umstritten. Sandra Schneiders meint damit allerdings die Berufung zum Ordensleben, als Gnadengabe für das Wohl der Kirche empfangen. So verstanden verlangt die Berufung zum Ordensleben nach gemeinschaftlicher Unterscheidung und nach der Bestätigung durch die Gemeinschaft: Diese Kandidatin hat eine Berufung, die dem „Charisma des Instituts“ entspricht.

Ich würde noch eine fünfte Ebene anführen: die jeweils spezifischen Begabungen, die die einzelnen Ordensleute mitbringen und durch die sie das gemeinsame Charisma gestalten, bereichern und weiterentwickeln.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Besser als nach einem „fertigen“ Charisma zu fragen, das nur noch „angewendet“ werden müsste, ist es, sich die Frage von Sandra Schneiders anzueignen: „Wer sind wir durch die Gnade Gottes geworden?“ Zudem ist Charisma eine Gabe, keine Habe, ein Lebensstrom, der immer neu auf uns zukommt, kein fertiges Paket, das ängstlich gehütet werden müsste. „Neu beleben“ könnte dann damit beginnen, dass wir je neu in die Haltung der offenen Hände kommen und darauf vertrauen, dass dieser Strom fließt. Die Haltung der empfangsbereiten Hände entspricht im Übrigen dem Gelübde der Armut. Trotzdem kann es auch sein, dass eine konkrete Gemeinschaft mit ihrem Charisma ihrem Ende bzw. der Vollendung entgegengeht. Johann Baptist Metz hat schon vor Jahrzehnten im Blick auf Orden von der Notwendigkeit einer ars moriendi gesprochen.9

Charisma, Spiritualität, Sendung und Identität

In meiner Gemeinschaft reden wir von der „Spiritualität der Erlösung“, aus der wir leben und unser Leben und Arbeiten gestalten. Ich werde oft gefragt, was denn das Charisma unserer Gemeinschaft ist. Wenn ich dann nicht ordenseigene Werke und Dienste aufzähle, sondern wiederum auf Erlösung verweise, sind viele irritiert. Doch wie „Sendung“ – missio – liegt auch „Charisma“ tiefer als im konkreten Tun. Setzen wir einseitig dort an, fallen diejenigen heraus, die z.B. alters- oder krankheitsbedingt nicht mehr aktiv tätig sein können. Diese Schwestern fühlen sich dann leicht minder wert, so als ob sie ihre Berufung nicht mehr erfüllen könnten, weil sie nicht mehr in der gleichen Weise wie früher arbeiten können. Das „Charisma“ jedoch ist in allen Lebenslagen lebbar, nur nimmt es andere Formen an. Die Chance, dass es auch in veränderten Situationen seine Kraft entfaltet, steigt, wenn es nicht in eins gesetzt wird mit konkreten Aufgaben oder gar mit Werken wie Schulen oder Krankenhäuser.

Eine Anfrage bei der „Künstlichen Intelligenz“ zu den Zusammenhängen zwischen den drei manchmal austauschbar verwendeten Begriffen ergab folgende anregende Antwort: „Das Charisma und die Spiritualität einer Ordensgemeinschaft sind untrennbar miteinander verbunden. Das Charisma gibt die Richtung und den Zweck vor, während die Spiritualität die Art und Weise beschreibt, wie diese Richtung verfolgt und dieser Zweck erfüllt wird. Diese wechselseitige Beziehung ermöglicht es der Gemeinschaft, kohärent und zielgerichtet zu leben und zu dienen.“10 Spiritualität kann sich gemäß den Bedingungen der Zeit und der Kultur wandeln und entfalten, bleibt aber auf das Charisma bezogen. Sie beschränkt sich nicht auf den engeren Bereich des geistlichen Lebens (z.B. Gebetsformen), sondern drückt sich genauso im Tun und im Miteinander-Leben aus. Damit kommen die drei Grundfunktionen des Ordenslebens in den Blick, die Papst Johannes Paul II. im nachsynodalen Schreiben Vita Consecrata (1996) benannt hat: Weihe – Gemeinschaft – Sendung.11 Dazu hat sich in mir das Bild eines Baumes geformt: Das Charisma als Gabe und Befähigung zum Leben und Dienen bildet gleichsam das Wurzelgeflecht, während die Spiritualität als Art und Weise, diese Gabe zu leben, wie der Stamm die Lebenssäfte weiterleitet – zur Krone, in der sich das Leben in Gemeinschaft, konkretem Wirken sowie geistlichem Leben entfaltet.

Am Bild des Baumes wird deutlich, wie wichtig es ist, in Kontakt mit den Wurzeln zu bleiben und wie sehr die Umgebung das Wachstum, die Ausformung, die Verformung und Neugestaltung prägt. Die größte Varietät herrscht in der Krone des Baumes, die ihrerseits die Kraft aus Spiritualität und Charisma zieht.

Die Identität einer Ordensgemeinschaft leitet sich aus dem Wirken des Heiligen Geistes her, das der Kirche eine neue Gründung schenkt und in ihr eine eigentümliche Weise von Spiritualität, Leben, Apostolat und Tradition hervorruft.12 Identitätsstiftend wirkt jedoch auch die weitergehende Tradition einer Gemeinschaft: ihre Aufbrüche und Umbrüche, Gelungenes und Misslungenes, die Traditionen, die entstehen und möglicherweise vergehen oder aufgegeben werden. „Ursprung, Entwicklung, unvorhergesehene Ereignisse, schicksalshafte Fügungen, herausragende Persönlichkeiten, verschiedenartige Einflüsse, die alltägliche oder gegebenenfalls heroische Treue der Mitglieder – all das prägt das Gesicht eines Instituts und macht es zu dem, was es ist“13. Deshalb kann eine Gemeinschaft nur im Blick auf ihre Ursprünge und im Blick auf ihre weiterlaufende Geschichte die eigene Identität entdecken und stetig weiterentwickeln. Dieses Profil wird nicht primär dadurch bestimmt, dass es etwas gänzlich Unterschiedliches zu anderen Profilen wäre. Es weist vielmehr einige beschreibbare Merkmale auf, „die in einer sinnvollen und durchschaubaren Weise einander zugeordnet sind“14.

Das Charisma eines Ordensinstituts ist nicht mit dem Charisma des Gründers, der Gründerin, identisch.15 Um von ihm sprechen zu können, braucht es letztlich alle Nachfolgenden. Denn erst diese ermöglichen die Permanenz des Charismas in den späteren Epochen. Das Ursprungscharisma entfaltet sich, wird um neue Elemente oder Einsichten bereichert, weil der schöpferische Geist weiter tätig ist. Der innere Kern, der sich durchhält, verlangt nach immer neuer „Inkarnation“ – in unterschiedlichen Zeiten, durch unterschiedliche Menschen – und wird in und durch sie erkannt. Ein Wort von Johann Baptist Metz dazu ist immer noch aktuell: Die Gründungsgeschichte wird nicht nur nacherzählt, „sondern weitererzählt: neue Geschichten kommen hinzu, und sie können durchaus orientierende und normierende Kraft für die Ordensgemeinschaft gewinnen – wenn sie Nachfolgegeschichten sind und als solche wirken“16.

Charisma und Institution

„Die Möglichkeit, dass der Geist des Herrn sich durch Charismen, bar jeglicher objektiven Bindung, zeigen könnte, erweist sich als utopisch“17. Diese – manchmal schmerzliche – Erfahrung mussten auch die Ordensstifter oder ihre unmittelbaren Nachfolger machen. Charisma muss auch in rechtliche Bahnen gelenkt werden.18 Kodifizierung und Institutionalisierung sind wichtig für das Überleben des Charismas des Anfangs.19 Der Ursprung wird nur dann wirklich lebendig erhalten, wenn spätere Generationen die je spezifische Selbsthingabe der Gründer im Dienst des Evangeliums und der Kirche neu aktualisieren und zeichenhaft vergegenwärtigen sowie bis hinein in ihre institutionellen und rechtlichen Strukturen darstellen. So kann die gemeinsame Treue dem spezifischen Geist des Instituts gegenüber auf Dauer gelebt werden.

Idealtypisch sieht dieser Prozess folgendermaßen aus:20 Am Anfang steht eine leidenschaftliche Idee (Vision). Ein Mensch (eine Gruppe von Menschen) hört einen Anruf und gibt großherzig Antwort. Andere Personen fühlen sich angesprochen und gerufen und schließen sich an. Eine Gemeinschaft entsteht. Sie sind ganz nah beim feurigen Anfang und nehmen ihn auf. Eine größere Zahl von Personen schließt sich an, der Abstand zur Ursprungsidee wird größer. Deshalb sucht man, diese Ursprungsidee zu verschriftlichen, um sie an kommende Generationen weitergeben zu können (Programm). Je mehr Menschen sich anschließen, desto mehr Organisation braucht es: Leitung, Häuser, Finanzen, Strukturen, geordnete Ausbildungswege etc. (Administration).

Die Gefahr ist, dass die Administration überhandnimmt und das Herz – die Vision – nicht mehr gut spürbar wird. Wo dieser Kern und ebenso die Gemeinschaft nicht genügend gestärkt werden, erstarrt alles. Das Herz aber (das Charisma, die Vision) braucht eine Außenhaut, um geschützt zu sein. Ein gedeihliches Zusammenspiel von Charisma und Institution ist deshalb entscheidend. Das Institutionelle darf das Leidenschaftliche nicht ersticken, sondern soll es behüten und je neu zum Vorschein kommen lassen – für Außenstehende und nicht zuletzt für die Gemeinschaft selbst. Und die Vision kann nicht getrennt von den Strukturen gelebt werden, sondern soll diese durchdringen und prägen.

Mit dem Charisma in Resonanz kommen

Ein Charisma „existiert“ nicht ohne einen Träger quasi als eigene, unabhängige Wirklichkeit. Ein Charisma lebt, weil es jemand lebt. Das Charisma lebt, weil es eine Gründerpersönlichkeit gelebt hat. Das Charisma lebt, weil und insofern nachfolgende Schwestern und Brüder es leben. Das Charisma lebt, weil und insofern es Menschen in ihrem Leben, in ihrem Sein und Tun zum Blühen bringen. Niemand braucht dabei so wie der Gründer, die Gründerin zu sein. Alle indes sind hineingenommen in etwas Größeres, können davon Kraft ziehen, sich inspirieren lassen. Das Charisma einer Stifterin wird für Menschen zum Lebensraum, in dem sie sich bewegen und den sie als Einzelne und als Kongregation mit ihren eigenen Geschichten füllen und so das Charisma des Anfangs im eigenen Leben umsetzen. Mit ihren spezifischen Gaben, die ganz unterschiedlich sein können – und auch mit ihren Grenzen. Daraus entsteht die Vielfalt einer Gemeinschaft, die es möglich macht, viele Menschen zu erreichen. Das Charisma einer Ordensgemeinschaft bleibt ein work in progress, wo auf neue Herausforderungen geantwortet wird – in Verbindung mit dem Ursprung.

Manchmal ist von „Übereinstimmung“ mit einem Ordens-Charisma die Rede. Der Begriff „Resonanz“ (Hartmut Rosa)21 interpretiert „Übereinstimmung“ treffend. In Resonanz sein bedeutet, dass etwas mich erreicht, mich bewegt – und mich verändert, wobei die Richtung der Veränderung (im Unterschied zur Aneignung) nicht in meiner Hand liegt. Zugleich bin ich selbstwirksam und wirke verändernd auf das Ganze ein. Solche Resonanzerfahrungen lassen sich nicht erzwingen, sie bleiben unverfügbar. Wir lassen uns auf sie ein, ohne zu wissen, wohin sie uns führen. Das ist der Erfahrung mit dem Heiligen Geist verwandt: „Der Geist weht, wo er will. Du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht“ (Joh 3,8). Wir können aber als Einzelne und als Gemeinschaften die Umstände bereitstellen, damit solch verwandelnde Resonanz geschehen kann. Dazu zählen z.B. Gebet, Exerzitien, Stille ebenso wie Räume des gegenseitigen Erzählens und Erinnerns: Wie kam es dazu, dass sich bei Einzelnen oder der ganzen Kongregation ein innerliches Schwingen dem Charisma der Gemeinschaft gegenüber eingestellt hat? Meine Erfahrung ist, dass bereits eine solche Erinnerung neu inspiriert und ermutigt.

Erfordert ist stets eine doppelte Bereitschaft: sich verändern – „anverwandeln“ (H. Rosa) – zu lassen und gleichzeitig bereit zu sein, das je Eigene entschieden hineinzugeben. Das gilt auch für neue Mitglieder. Herausforderung für die Gemeinschaft ist, ob sie zulässt, dass auch sie davon verwandelt wird. Auch die Gründungen neuer Kommunitäten oder das Hineingehen in anders kulturell geprägte Räume rufen ähnliche Prozesse hervor.

Außerdem ist das Charisma nicht Besitz einer Ordensgemeinschaft. Gerade in den letzten Jahrzehnten wurde an vielen Orten erfahren, dass andere Menschen ebenso in Resonanz kommen können – Gruppierungen verschiedenster Formen und Ausprägungen haben sich rund um die Ordensgemeinschaften gebildet. Das Schreiben Vita Consecrata formuliert sogar: „Die Beteiligung der Laien führt nicht selten dazu, dass manche Aspekte des Charismas tiefer erwogen und einige unerwartete und fruchtbare Einsichten gewonnen werden, während seine Interpretation geistlicher wird und man auf Zeichen eines erneuerten apostolischen Schwungs stößt und sie betont“ (VC 55).22