Geisterwand - Sarah Moss - E-Book

Geisterwand E-Book

Sarah Moss

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Beschreibung

Eine einzige Tochter. Ihr dominanter Vater. Ein Wald in Northumberland, in dem eine Gruppe Archäologen einen Sommer lang leben will wie in der Eisenzeit ... Uralte Rituale, die seltsame Anziehungskraft ferner Zeiten und Lebensweisen verschränken sich in diesem brillanten Roman auf wahrhaft atemberaubende Weise mit sehr heutigem Missbrauch. Geisterwand komprimiert große und dringliche Themen – die Gefahren eines nostalgischen Nationalismus, Gewalt gegen Frauen und Kinder, was verloren, was gewonnen wird, wenn der Mensch nicht mehr als Knecht der Natur lebt – in einer rasiermesserscharf geschliffenen Spannungserzählung.

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Aus dem Englischen von Nicole Seifert

 

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Ghostwall bei Granta, UK

© 2018 Sarah Moss

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2021

Covergestaltung und -motiv: zero-media.net, München nach einem Entwurf von Richard Bravery

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Danksagung

Sie führen sie raus. Die Augen unverbunden, geweitet zum letzten Himmel, zum letzten Licht. Die letzte Kälte beißt ihr in Finger und Gesicht, die Steine – nicht die letzten Steine – schrammen ihre bloßen Füße. Sie taumelt. Sie halten sie aufrecht. Kein Grund, grob zu sein, jeder weiß, was nun kommt. Aus den Tiefen ihres Körpers, aus dem Mark ihrer Wirbelsäule und den geweiteten Blutbahnen unter den Rippen, aus der Leere ihres Schoßes und ihrer sich hebenden Brust zittert sie. Ein Körper in Angst. Sie führen den angsterfüllten Körper über das Gras, den Pfad entlang, ihre bloßen Füße zumeist taub für den Schmerz durch Steine und schneidendes Schilf. Gesang hebt an, Trommeln klingen schleppend, nicht synchron mit der letzten Panik ihres Herzens. Andere folgen, eingemummt gegen die Kälte, eine Prozession dunkler Gestalten in der Abenddämmerung.

Angekommen, ziehen sie sie aus. Es geht leicht; sie haben sie in eine weite Tunika gesteckt. Ihr Körper ist im hellroten Licht weiß, fest vor Schwaden aus Nebel und dem Maßwerk aus Reet. Sie versucht sich mit den Händen zu bedecken und darf es nicht. Einer hält sie, während der andere sie fesselt. Ihr Atem geht immer schneller, kondensiert auf ihrem Gesicht. Alle sind in Begleitung ihrer Atemwolken, die sich langsam in der Luft auflösen. Sie drehen sie mit dem Gesicht zur Menge, stellen sie ihren Nachbarn und ihrer Familie zur Schau, den Menschen, die sie an der Hand hielten, als sie laufen lernte, die ihr beibrachten, ihr Brot in die Schüssel zu tunken und sich die Lippen abzuwischen, einen Korb zu flechten und einen Fisch auszunehmen. Mit den Kindern, die sie jetzt hinter ihren Müttern hervor anlugen, hat sie gespielt, hat bei ihrer Geburt Gebete für sie gemurmelt. Sie war eine von ihnen, normal. Ihr Bruder und ihre Schwester sehen sie zurückschrecken, als die Männer zum Messer greifen, ihr helles Haar an der linken Seite des Kopfes hochnehmen und abschneiden. Sie scheren sie kahl. Jetzt sieht sie nicht mehr aus wie eine von ihnen. Sie zittert. Sie stecken das Haar in das Seil an ihren Handgelenken.

Sie wimmert, wehklagend. Der Ton hallt übers Moor, singt in den kahlen Ästen von Eberesche und Birke.

Es gibt keine Überraschungen.

Sie legen ihr nun ein Seil um den Hals, halten das Messer in Richtung der untergehenden Sonne, die sich hinter die Felsen schiebt. Was nötig ist, liegt bereit, die gespitzten Weidenruten, ein Haufen Steine, die kleinen Messer und das große. Der Stock, um das Seil fester zu ziehen.

Noch nicht. Es ist eine Kunst, sie dort zu halten, wohin sie nun kommt, am Rand der Wasser-Erde, einem Raum und einer Zeit zwischen Leben und Tod, zu spät, um zu den Lebenden zurückzukehren, aber nicht an der Zeit, noch nicht, eine ganze Weile noch nicht, um ganz tot zu sein.

Es dauerte lange, bis es dunkel wurde. Das Feuer knisterte, durchscheinend vor den Bäumen, sein Zweck zeremoniell, nicht mehr und nicht weniger. Die Hitze, die niemand wollte, hatte uns auseinandergetrieben. Der Holzrauch brannte in meinen Augen, und an meinen Hintern drückte der Fels, die grobe Tunika juckte unter meinen Oberschenkeln. Ich zog den Fuß aus einem Mokassin und hielt die Zehen ohne Grund Richtung Feuer, nur um zu sehen, wie das war. Dir kann gar nicht kalt sein, sagte mein Vater, dabei hatte er das Feuer gemacht und darauf bestanden, dass wir uns darum versammelten. Kann es doch, dachte ich, wenn ich es will, aber ich sagte, nein, Dad, mir ist nicht kalt. Durch die Flammen konnte ich die Jungs sehen, wie sie miteinander sprachen, halb hinter den Bäumen, als wollten sie eins werden mit dem Wald, sich irgendwohin schleichen für irgendeine Jungssache, die ich wahrscheinlich besser könnte. Meine Mutter saß auf dem Stein, den mein Vater ihr zugewiesen hatte, die Tunika unvorteilhaft über ihre dicken weißen Knie gekrumpelt, und starrte in die Flammen, wie es Menschen so tun; es war langweilig, und mein Vater hielt uns dort fest, gelangweilt, Kraft seines Willens. Wo willst du denn hin, sagte er, als ich aufstand. Ich muss mal, sagte ich, und er grunzte und sah in Richtung der Jungs, als könnte schon die Erwähnung biologischer Vorgänge ihre jugendlichen Leidenschaften wecken. Aber geh außer Sichtweite, sagte er.

Innerhalb weniger Tage würden unsere Füße einen Pfad durch die Bäume zum Bach treten, aber an diesem ersten Abend war da Moos unter den Füßen, weich im Dämmerlicht, und Stellen mit wilden Erdbeeren, so reif und rot, dass sie im Halbdunkel zu glühen schienen. Ich ging in die Hocke, um ein paar zu pflücken, und zog weiter, eine nach der andern mit den Lippen aus der hohlen Hand pickend, als würde ich sie küssen. Fledermäuse blitzten durch die Räume zwischen den Ästen, verliehen dem flächigen Himmel Tiefe: damals konnte ich sie noch hören. Es war seltsam, in den dünnen Lederschuhen zu gehen, nur eine Schicht geliehener – gestohlener – Haut zwischen meinen Füßen und den Stöcken und Steinen, den feuchten und weichen Stellen im Wald. Ich kam zum Bach und hockte mich hin, tauchte meine Finger hinein, lauschte. Wasser über Steinen und Torf, hinter mir und über meinem Kopf sich regende Blätter, auf dem Hügel ein rufendes Schaf. Frischer Tau drang durch meine Schuhe. Der Bach zog an meinen Fingerspitzen, und das Heidekraut erforschte meine unter der Tunika nackten Beine. Nicht, dass ich nicht verstand, warum mein Vater diese Orte liebte, dieses Leben im Freien. Nicht, dass ich fand, Häuser wären besser.

Als ich zum Feuer zurückkam, kniete meine Mutter an seinem Rand, nicht um die Götter günstig zu stimmen, sondern mit einem Haufen grüner Grassoden. Hilf mir mal, Sil, sagte sie, er sagt, wenn man es richtig macht, kann man es für die Nacht abdecken und die Soden morgens wieder wegnehmen, er sagt, so hat man es schon immer gemacht. Also, damals. Klar, sagte ich und kniete mich neben sie, aber ich vermute mal, er hat nicht gesagt, dass es damals jemanden gab, der einem gezeigt hat, wie es geht, statt einfach Anweisungen zu geben und sich zu verpissen. Sie setzte sich auf. Aber da wussten sie das doch, oder, sagte sie, damals, da musste einem das keiner sagen, man lernte es an der Seite seiner Mama, und benutz nicht solche Wörter, er könnte dich hören.

Wir schliefen im Rundhaus, meine Eltern und ich. Die Studenten hatten es vor wenigen Monaten gebaut, als Teil eines Kurses zu Empirischer Archäologie, aber der Ansicht meines Vaters, dass alle gemeinsam darin schlafen sollten, hatten sie sich entschieden widersetzt. Es gebe keinen Grund zu der Annahme, sagte mein Vater, dass die Haushalte der alten Britannier organisiert gewesen wären wie moderne Familien; wenn die Studenten die echte Erfahrung wollten, sollten sie zu uns kommen, auf die splitterigen Pritschen, die sie gebaut und mit Hirschhäuten gepolstert hatten, gespendet vom hiesigen anachronistischen Gutsherrn. Oder zumindest in seinem Namen, von irgendeinem Bediensteten, denn der Gutsherr lebte in London und verbrachte seine Sommer sicher nicht in Northumberland. Professor Slade sagte, ja nun, Authentizität sei sowieso unmöglich und eigentlich ja auch nicht das Ziel, es gehe ja darum, eine Ahnung vom Leben in der Eisenzeit zu bekommen und vielleicht Einblick in manche Vorgänge oder Techniken. Sollen die Studenten doch in ihren Zelten schlafen, wenn sie das vorziehen, sagte er, mit ziemlicher Sicherheit gab es auch in der Eisenzeit Zelte. Zelte aus Leder, sagte Dad, nicht aus diesem modischen Nylonzeug. Das Zelt, das wir in den Ferien benutzten, war aus apricotfarbenem Drillich, der vermutlich aus dem Zweiten Weltkrieg stammte. Ich hatte gesehen, dass die Studenten ihre nicht authentischen, farbenfrohen und wasserfesten Nylonzelte auf der Lichtung unterhalb unserer Hütte aufgeschlagen hatten, durch Bäume und den Hang abgeschirmt sowohl von unserem Rundhaus als auch vom größeren Zelt des Professors, das näher an dem Weg lag, auf dem sein Auto stand. Ich könnte doch auch in einem schlafen, Dad, sagte ich, dann habt ihr ein bisschen Privatsphäre, Mum und du, aber Dad wollte keine Privatsphäre, er wollte sehen können, was ich machte. Sei nicht albern, sagte er, du kannst doch nicht bei den Jungs schlafen, schäm dich. Privatsphäre ist auch so eine modische Vorstellung, genau das, wovon wir wegkommen wollen, jeder versucht sich abzuschotten, um zu machen, was er will, du bleibst bei uns. Ich weiß nicht, was mein Vater glaubte, was ich damals hätte tun wollen, aber er betrieb erheblichen Aufwand, damit ich es nicht tun konnte.

Die Pritschen waren genauso unbequem wie erwartet. Ich hatte mich geweigert, in der kratzigen Tunika zu schlafen, die die alten Britannier, wie mein Vater ohne jeden Beweis behauptete, nicht nur tagsüber, sondern auch nachts getragen hatten; aber der Strohsack pikte auch durch einen Schlafanzug aus gekämmter Baumwolle hindurch, roch nach Bauernhof und raschelte bei jeder Bewegung, als sprängen irgendwelche Kleintiere darin herum. Die Dunkelheit in der Hütte war absolut, beunruhigend; ich lag auf dem Rücken, bewegte die Hand vorm Gesicht und sah rein gar nichts. Mein Vater drehte sich um, seufzte und begann zu schnarchen, ein unregelmäßiges Rinder-Geräusch, das den Gedanken an Schlaf lächerlich erscheinen ließ. Mum, flüsterte ich, Mum, bist du wach? Schh, zischte sie, schlaf jetzt. Ich kann nicht, sagte ich, er ist zu laut, kannst du ihn anstupsen. Schh, sagte sie, schlaf jetzt, Silvie, mach die Augen zu. Ich drehte mich auf die Seite, mit dem Gesicht zur Wand, und dann wieder zurück, weil es mir keine gute Idee zu sein schien, einer derartigen Dunkelheit den Rücken zuzukehren. Was, wenn im Stroh Insekten waren, Zecken und Flöhe, was, wenn sie in meinen Schlafanzug krochen, was, wenn da gerade ein Floh war, an meinem Fuß, und vielleicht mein Bein hochkrabbelte, mich biss und auf meinen Rücken sprang, was, wenn sie aus dem Sack kamen, viele, bis zu meinen Schultern und meinem Hals – Silvie, zischte Mum, hör auf, so rumzuzappeln und schlaf jetzt, du gehst mir so was von auf die Nerven. Er geht mir so was von auf die Nerven, sagte ich, wahrscheinlich kann man ihn noch in Morbury hören, ich weiß nicht, wie du das aushältst. Ein Grunzen, eine Bewegung. Das Schnarchen hörte auf, und wir lagen beide stocksteif da. Pause. Vielleicht atmet er nicht mehr, dachte ich, vielleicht war es das, Ende – aber dann ging es wieder los, ein Sägemesser durch Pappe.

Als ich aufwachte, drang Licht durch die Schaffelle vor der Tür. Vermutlich hatten sie damals gar keine Schafe, hatte der Professor gesagt, aber da wir Tiere nicht mit Eisenzeit-Techniken töten dürfen, sollten wir nehmen, was wir kriegen können, und Schaffelle sind auf dem freien Markt sehr viel leichter zu bekommen als Hirschhäute. Ich war zwar froh, dass wir nicht im Wald mit Feuersteinklingen an Hirschen herumsäbeln würden, um sie auszuweiden, fand aber, dass der Professor die Idee, in diesem Sommer die Lebensweise vormoderner Jäger und Sammler wiederzuentdecken, gründlich zunichtemachte, wenn er sich vor jedem Blutvergießen drückte. Wie der Name schon sagt, murmelte ich, Jäger und Sammler. Wie bitte, Silvie, sagte Dad, würdest du für Professor Slade noch mal wiederholen, was du gerade gesagt hast? Ach, bitte, nennt mich doch Jim, sagte Professor Slade, und keine Sorge, ich habe selbst Teenager, ich weiß, wie das ist. Klar, dachte ich, deine Teenager sind bloß nicht hier, weil sie garantiert irgendwo schön Urlaub mit ihrer Mum machen, wahrscheinlich in Frankreich oder Italien. Ich drehte mich auf meinen steifen Rücken und stieß mir den Ellenbogen an dem Holzbrett, das den Strohsack oben hielt. Ich schlängelte mich vorsichtig um die Splitter herum und stand barfuß auf der nackten Erde, die trocken und staubig war. Es war kaum hell genug, um zu erkennen, dass Mums und Dads Lager leer waren, die Andeutung der Mittelstange verschwand in der Dunkelheit unter dem Dach. Manche Eisenzeitmenschen haben die halb geräucherten Kadaver ihrer Vorfahren in den Dachsparren aufbewahrt, in kauernder Haltung dort festgebunden, sodass sie mit leeren Augen nach unten starrten. In manchen Häusern waren Teile toter Kinder unter dem Eingang begraben, weil es Glück brachte oder vor Schlimmerem schützte.

Mum hockte neben dem Feuer und blies in die Glut, neben sich einen Stapel Grassoden. Es funktioniert also, sagte ich, wie hast du die Soden bewegt, ohne dich zu verbrennen? Sie holte erneut Luft, beugte sich vor und pustete mit geschürzten Lippen in den glühenden Unterbau des Feuers. Die Glut leuchtete im Sonnenlicht auf. Die Schatten der Blätter flackerten. War sehr schwer, sagte sie, hier, probier mal, es zerreißt mir die Knie wie nur was. Ich ging auf Knie und Ellenbogen, in der Hoffnung, dass keiner der Studenten hochkam und mich sah, mit dem Hintern in der Luft, pustete und pustete. Pass auf deine Haare auf, sagte Mum. Ich holte Luft, roch Erde und grünes Holz. So, sagte ich. Flammen. Was gibt es zum Frühstück? Sie schüttelte den Kopf. Haferbrei, sagte sie, na ja, wohl eher Haferschleim, wir haben keine Milch und es ist auch kein Hafer, eher Roggen, glaube ich, hoffen wir mal keine Gerste, sonst kriegen wir es vor Weihnachten nicht mehr weich. Haben wir Honig?, fragte ich; generell aß ich Haferbrei nur, wenn es dazu noch mal genauso viel Zuckersirup gab, während Dad ihn pur und stark gesalzen mochte und daran glaubte, wie andere Menschen an Homöopathie oder Weihwasser. Dieser ganze Krebs, hatte er angesichts der Diagnose von Mums Freundin gesagt, Menschen brauchen Ballaststoffe, für diesen ganzen verarbeiteten Mist sind wir nicht gemacht, Cornflakes und so ’n Kram, da kann man auch gleich die Verpackung essen. Und zum Mittagessen, Mum, sagte ich, und heut Abend? Da gibt es, was du heute Vormittag sammelst, sagte sie, vielleicht Fisch, und Beeren muss es zu dieser Jahreszeit ja geben. Fisch sammelt man nicht, dachte ich, dafür muss man morden, und das wirst du sicher nicht tun, Mum, aber statt es auszusprechen, warf ich noch etwas Anmachholz ins Feuer und einen der schönen Scheite, die die Studenten gehackt hatten, als Teil ihrer archäologischen Erfahrung.

Mum fing an, die großen Steine am Rand der Feuerstelle zu verschieben, und ich kam ihr zu Hilfe. Sie müssen so weit rein, dass der Kessel drauf stehen kann, sagte sie, er sagt, ein Gerüst, an das wir ihn hängen können, machen wir dann später. Dreifuß oder wie das heißt. Woraus denn, sagte ich, er will doch wohl nichts schmieden, oder? Schmieden faszinierte ihn. Er konnte sich, wie er sagte, an den letzten Schmied im Dorf erinnern, der ein paar Jahre nach dem Krieg aufgegeben hat, er weiß noch, wie er in der Tür stehen und zusehen durfte, wie das feste Metall erst zu einer glühenden Flüssigkeit wurde und dann wieder fest, das Zischen und das plötzliche Aufwallen von Dampf, die vernarbten Hände des Mannes. Heilige Arbeit sei das gewesen in der alten Zeit, sagte er, flüssiges Feuer und gehärtete Klingen. Mum zuckte mit den Schultern. Er hat gesagt, fürs Erste sollen wir Steine nehmen. Hol mal den Kessel, Silvie, er steht gleich bei der Tür. Der Kessel war aus Eisen, sehr schwer. Ich ging in die Knie, umarmte ihn herzlich, nahm meine Knie zu Hilfe, aber natürlich war er immer noch lächerlich schwer. Verdammt, Mum, sagte ich, wie wär’s stattdessen mit einem Toast, ein paar Würstchen am Stock, aber ich konnte an ihrem Gesicht sehen, dass ich den Mund hätte halten sollen. Hinter mir stand Dad. Du weißt sehr gut, dass sie damals keinen Toast hatten, sagte er, und wenn ich dich dabei erwische, dass du dich davonschleichst, um irgendwelchen Mist zu essen, gibt es Ärger, ist das klar? Ja, Dad, sagte ich, tut mir leid, hab nur einen Witz gemacht. Lass es, sagte er, das ist nicht witzig. Und zieh dir was an, zieh die Tunika an, ich will diesen Schlafanzug nicht sehen, und ich will schon gar nicht, dass der Professor ihn sieht. Der Professor, hätte ich sagen können, trägt Tennissocken, weil er glaubt, dass er sonst in den Mokassins Blasen bekommt; aber ich ging in die Hütte, wühlte in dem Koffer, den Mum von Oma geerbt hatte, zog Unterhose und BH an und dann die kratzige Tunika. Vor Wochen hatte es zu Hause in der Küche eine Diskussion darüber gegeben. Aber du wirst doch wollen, dass wir Unterwäsche tragen, hatte Mum zu Dad gesagt, sonst sehen doch alle alles, diese Jungs und unsere Silvie. Sie hatte auch erstritten, dass wir Zahnbürsten mitnehmen durften: Dass man sich darum damals keine Gedanken gemacht hatte, lag schließlich auch daran, dass man gar nicht lange genug lebte, um vorher seine Zähne zu verlieren. Und schließlich auch Tampons, nachdem Dad wieder einmal darauf herumgeritten war, dass Frauen damals auch nicht rumgelaufen waren und alles vollgeblutet hatten, weil es weniger zu essen gab, was sowieso für alle besser war, und weil sie oft in anderen Umständen waren und die Babys stillten, solange es ging, so wie es die Natur vorsah; das sagte er auch jedes Mal, wenn er mich oder Mum dabei erwischte, wie wir Hygieneartikel kauften. Damals kamen die Frauen wunderbar klar, sagte er, ohne Geld für Zeugs auszugeben, das am Ende nur eklig an den Stränden rumliegt. Oder sie starben, sagte ich, unter der Geburt, so viel Rachitis, wie es gab, und ohne Kaiserschnitte. Aber dass ich um der Authentizität willen schwanger werde, wirst du doch nicht wollen, Dad? Er legte die Liste, an der er gerade schrieb, auf die Arbeitsplatte, den Stift parallel daneben und stand demonstrativ auf. Schh, sagte Mum, nicht so frech, aber sie war zu spät, die Ohrfeige war schon unterwegs. Du forderst es heraus, sagte sie, du gehst immer den einen Schritt zu weit, was erwartest du?

Ob der Brei nun aus Roggen oder aus Gerste bestand, er widersetzte sich der Wirkung von Hitze und Wasser immer noch, als die Studenten auftauchten. Die Körner trieben dahin wie tote Maden. Haben wir zu viel Wasser genommen?, fragte ich Mum, sollte es nicht eigentlich eher klebrig sein? Morgen müsst ihr zwei früher auf den Beinen sein, sagte Dad, der Mensch muss essen, so geht das nicht. Ich sah, er wollte, dass wir etwas taten, dafür sorgten, dass das Wasser schneller heiß wurde und die Körner sich ausdehnten. Die Bewegung der Moleküle, dachte ich in Erinnerung an die Mittelschulprüfung in Chemie. Ich nahm die geschnitzte Kelle und rührte um, ließ die Maden alle in dieselbe Richtung schwimmen. Es war unfair von Dad, zu meckern, weil wir verschlafen hatten, nachdem er dafür gesorgt hatte, dass wir unsere Uhren zu Hause ließen, und ständig darüber redete, wie toll ein Leben ohne sei. Damals hörten die Leute auf ihren Bauch und auf die Sonne, statt ständig die Minuten zu zählen, damals hatten die Leute noch Geduld.

Ende der Leseprobe