Geldgerinnung - Johann Graf Lambsdorff - E-Book

Geldgerinnung E-Book

Johann Graf Lambsdorff

0,0

Beschreibung

Mord an der Wirtschaftsuniversität Als Lester Sternberg eines Morgens in die Arbeit kommt, ist nichts mehr so, wie es einmal war. Denn er steht unter dringendem Tatverdacht seinen Chef, Professor van Slyke, ermordet zu haben. Um seine Unschuld zu beweisen sucht er auf eigene Faust nach dem wahren Täter. Hilfe erhält er von der Studentin Milena und die kann er sehr gut gebrauchen, denn der Mörder seines Doktorvaters ist nun hinter ihm her. Ist der Grund seine wissenschaftliche Arbeit über die Kritik am Bankensystem? Aber wer würde deshalb töten? Eine rasante Verfolgungsjagd durch Europa beginnt, bei der einige Banken und ein internationales Forschungsinstitut verwickelt sind. Licht ins Dunkle könnten dabei bekannte Ökonomen bringen. Die sind längst verstorben, aber ihre Ideen sind wichtiger als je zuvor! "Von Keynes zu Hayek dieser neuartige Wirtschaftskrimi spannt einen großen Bogen durch die Dogmengeschichte und zeigt, wie aktuell, relevant und mörderisch unterhaltsam Volkswirtschaftslehre sein kann." Prof. Peter Bofinger, Universität Würzburg & Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung "Keynes wurde seit der Finanzkrise wiederentdeckt nicht zur Freude aller. In diesem Buch wird daraus ein spannender Krimi. Lesens- und empfehlenswert!" Prof. Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW Berlin "Eine ganz andere Art sich der VWL zu nähern - mit Ironie, und eingebettet in einen Krimi." Prof. Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 245

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Johann Graf Lambsdorff, Jahrgang 1965, ist Professor für Volkswirtschaftstheorie an der Universität Passau. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Institutionenökonomik, Verhaltensökonomik und Makroökonomik. Insbesondere als Korruptionsforscher ist er über Fachkreise hinaus bekannt. 1995 entwickelte er den Korruptionswahrnehmungsindex für Transparency International, über den die Wirtschaftspresse regelmäßig berichtet.

Björn Frank, Jahrgang 1964, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Kassel. Außerdem ist er Creative Writing-Trainer und leitet gelegentlich Schreibworkshops für Nachwuchswissenschaftler. Zahlreiche wissenschaftliche und einige populärwissenschaftliche Publikationen, ferner unter dem Pseudonym Lillebjörn zwei Kinderbücher im Esslinger Verlag und verstreute Kurzprosa, beispielsweise in den Lesebühnenzeitschriften Exot und Salbader.

Nach gemeinsamen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist Geldgerinnung der erste Wissenschaftskrimi der beiden Autoren.

Inhalt

Vorwort

Teil, in dem sich Professor van Slyke letzte Gedanken macht und ein Arzt den Kreislauf erforscht

Teil, in dem Keynes eine Idee hat, die Lester in Schwierigkeiten bringen wird

Teil, in dem Milenas Mini Cooper sehr beansprucht wird und eine Maschine die Wirtschaft erklärt

Teil, in dem Hayek den Rausch des Augenblicks verpasst und ein Ökonom in viele Teile zerfällt

Teil, in dem die Sonnenseite des Lebens und des Todes besungen werden und ein Buch letzte Hilfe bringt

Epilog, in dem Lesters Strapazen wieder etwas akademischer werden

Anhang

Vorwort

Die Welt war 2008 von der schwersten Finanzkrise der Nachkriegszeit erschüttert worden. Eine Blase hatte sich gebildet, bestehend aus überbewerteten Immobilien, überschuldeten Haushalten und aufgeblähten Banken. Keiner hatte auf die Risiken geachtet, die über Märkte von einem an den anderen weitergereicht, sich der Aufmerksamkeit entzogen hatten. Wie beim Kinderspiel „die Reise nach Jerusalem“, blieb es für die Wirtschaft unerheblich, dass ein paar Stühle fehlten. So lange die Musik spielte, blieb alles in Bewegung und jeder durfte auf einen zukünftigen Sitzplatz hoffen. Aber dann, 2008, hörte die Musik auf zu spielen. Und als alle schnell zu den Stühlen eilten geschah das Unvermeidliche. Es gab nicht mehr für jeden einen Platz.

Wie sollte die Wirtschaftspolitik reagieren auf diese Welt, in der die Musik aufgehört hatte? Antworten waren gefragt auf Probleme, die in vertrauten Modellwelten gar nicht existieren durften. Statt durchdachter Modelle wurden oftmals Metaphern verwendet: Geld ist das „Lebensblut der Ökonomie“. Es „schwappt wie Wellen“ durch die Märkte; angetrieben von „Heuschrecken“ wirkt es wie ein „Tsunami“. Doch plötzlich „stockt es wie Blut in den Adern“ und versinkt in „schwarzen Löchern“. Nach einer „Kernschmelze der Finanzmärkte“ bleibt eine wirtschaftliche Erholung „blutleer“, außer wenn eine „bittere Medizin“ verabreicht wird. Mit Hilfe dieser Metaphern rückte die Ökonomie näher an die Poesie heran. Gleichzeitig waren sie widersprüchlich und Ausdruck der Hilfslosigkeit.

Auf der Suche nach Antworten wandten manche Ökonomen den Blick zurück auf die Werke alter Klassiker, diejenigen, die sich oftmals mit ihrer mächtigen Sprache noch sicherer der passenden Metaphern bedienten. Hatten Ökonomen wie John Maynard Keynes oder Friedrich August von Hayek Lösungen parat, die in Vergessenheit geraten waren und jetzt auf ihre Wiederentdeckung warteten? Tatsächlich waren viele solcher Rückblicke fruchtbar. Allerdings offenbarte der Blick auf die Beiträge der Klassiker, dass diese nicht eine Antwort bereithielten, sondern viele. Und je nach Modell würde die Politik Gewinner oder Verlierer erzeugen. Nicht alle würden vom Staat gerettet werden können. Die Wahl des Modells würde über das Schicksal entscheiden, es würde den bestimmen, für den kein Stuhl mehr übrig bleibt.

Sofern alte ökonomische Modelle und anschauliche Metaphern den Verlierer bestimmen, erschien es uns plausibel, dass dies längst von Interessengruppen erkannt und zum Ziel von Einflussnahme wurde. Aber wie weit würden solche Gruppen für die Verteidigung ihrer Interesse gehen? Lobbyismus oder Bestechung? Vielleicht sogar ein Mord? Motiviert von einer Kombination aus ökonomischem Interesse, dem Übermaß an anschaulichen Metaphern und unserer blühenden Phantasie, wollten wir etwas Neues wagen: Eine ökonomische Mordgeschichte.

Wir hoffen, mit diesem Buch unsere Leser mit einer Mischung aus Krimi, ökonomischer Theorie, Finanzkrise und Campus-Roman unterhalten zu können. Gleichzeitig möchten wir einen Anstoß geben, der Lösung ökonomischer Probleme wieder mit einem Sinn für wichtige Klassiker, mit Phantasie und einem Augenzwinkern zu begegnen.

Bei diesem neuartigen Projekt haben uns viele geholfen. Wir sind froh, mit UVK einen Verlag gefunden zu haben, der diesen Spagat zwischen Sachbuch und Belletristik mit uns geht. Ob Sie ein spannendes Buch lesen wollten oder eher an Wirtschaftskrisen interessiert sind: Dieses Buch setzt kein ökonomisches Wissen voraus. Es will unterhalten und dabei zu ökonomischen Theorien einen einfachen Zugang ebnen, quasi durch die Hintertür. Ökonomische Zusammenhänge, die nicht sofort verständlich sind, dürfen so übersprungen werden wie Details zur Teilchenphysik oder der Chemie von Verwesungsprozessen in anderen Wissenschaftskrimis.

Wir danken Shan Huang für die Zeichnung im Anhang und unseren vielen Testlesern, insbesondere Andrea Teupke, Andreas König, Andreas Ortmann, Barbara Gräfin Lambsdorff, Brigitte Preissl, Christian Engelen, Claudia und Dietmar Elsner, Eddie Heidner, Eduard Braun, Ingrid Scheungraber, Katharina Werner, Manuel Schubert, Marco Pleßner, Marcus Giamattei, Matthias Graf Lambsdorff, Parvis Massoudi, Agnes und Heinrich Frank, Birgit Ladwig, Paulina Frank und Susanna Grundmann.

Juli 2017

JL und BF

1. Teil, in dem sich Professor van Slyke letzte Gedanken macht und ein Arzt den Kreislauf erforscht

15. Juli 2016

Zu den vielen vergeudeten Stunden im Leben Lester Sternbergs hatten jene drei gehört, in denen er eine Gardine für sein Schlafzimmer gesucht hatte. Im Baumarkt war er ziellos zwischen den Angeboten entlanggeschlendert, hatte Bambusrollos betastet, Laufrollen für Gardinenschienen mit Innenlauf in den Händen gewogen, Teleskopstangen aus ihren Fächern gezogen, hatte alles betrachtet und die Entscheidung reifen lassen, sich weiterhin von der Sonne wecken zu lassen.

In seinem Studium hatte er gelernt, die Entscheidungen anderer zu verstehen – Macher, Mächte und Märkte zu untersuchen. Er selbst hatte sich nicht einmal zwischen Raffrollos, Plissees und Gardinen an ein- und mehrläufigen Stangen entscheiden können, und das bedauerte er jeden Morgen, wenn die ersten Sonnenstrahlen viel zu früh durch die Schlieren und Streifen seines ungeputzten Schlafzimmerfensters drangen.

Lester zog sich die Bettdecke über den Kopf, drückte sich das Kissen auf die Augen und versuchte, in der stickiger werdenden Luft weiter zu schlafen, aber so war er nicht entspannter als ein Kaninchen, das ein Loch gefunden hat, in dem es sich vor dem Fuchs versteckt. Dazu fiel ihm sein Vater ein, der ihn früher immer geweckt hatte, indem er ihn an der Fußsohle kitzelte und eine Geschichte vom Kille Kille Kaninchen erzählte, selbst später noch, als Lester längst aus dem Alter heraus war. Sein Vater hatte dann die Gardinen aufgezogen und den Tag begrüßt. So lange er das noch konnte. Nach diesem morgendlichen Ritual war der Schweißwerkmeister um 7:45 Uhr aus dem Haus gegangen, das er, Lester, vor zwei Jahren verlassen hatte.

Lester stand auf und torkelte zum Badezimmer, noch etwas benebelt und ohne Verbindung zwischen seinem Gleichgewichtssinn und seinen Füßen, die im 3/4-Takt schlurften. Seine Gangart war immer etwas bedächtiger als das Tempo seiner Umwelt. Er konnte auch schneller rennen und hatte sich sogar in die Sprintstaffel seiner Schule nötigen lassen. Aber er sah es nicht ein, sich zu hetzen. Langsam kam er auch immer ans Ziel. Außerdem vertrat er die Ansicht, dass die meisten gutmütigen Menschen etwas langsamer sein müssten. Die Augen noch halb geschlossen, schaute er in den Spiegel und entschied, vom Fünf-Tage-Bart drei Tage wegzunehmen. Das müsste genügen. Es war nicht das Aussehen, das ihm wichtig war, sondern der Kompromiss zwischen Ordnung und Schmuddeligkeit. Seine Haare wusch er täglich, aber dafür ließ er sie länger wachsen. Er trug ohnehin immer eine Baseballmütze darüber. Den Gang zum Friseur vertagte er genauso wie den Kauf der Gardinenstangen.

Zurück im Schlafzimmer öffnete er seinen Laptop. Wer zu früh aufsteht, kann auch gleich etwas Sinnvolles tun, dachte er. Das Fehlen der Gardinen mag vielleicht auch Vorteile mit sich bringen. Die frühen Sonnenstrahlen hatten ihn gezwungen, seinem Leben etwas mehr Ordnung zu geben, mehr Zeit für sein Studium aufzubringen, ein paar ordentliche Noten zu bekommen und sogar eine Stelle als Doktorand. Die Lüftung seines Laptops setzte sich surrend in Bewegung. Das Verzeichnis mit seiner Masterarbeit prangte ganz allein in der Mitte des Bildschirms. Seit er die geschrieben hatte, kannte er die intellektuelle Unruhe, die wissenschaftliche Neugier, den Wunsch, etwas herauszufinden und die Sache auch wirklich zu Ende zu bringen – was hieß, morgens aufzustehen und zu schreiben. Da könnte in der Welt etwas ziemlich schief laufen und er, Lester, könnte das entdeckt haben.

Er ahnte nicht, dass genau deswegen Menschen sogar morden.

Kein Zweifel, das Messer war stumpf. Petersen zog es aus dem Fleisch und fuhr ärgerlich mit dem Daumen über die Klinge.

„Ist egal“, sagte van Slyke, „das Schwein spürt nichts mehr.“

„Weißt du’s?“ Petersen kraulte sich den kurzgeschnittenen Kinnbart, als ob er so seine Gedanken besser ordnen könnte, und umfasste das Messer nun mit der ganzen Faust. „Auch post mortem soll man doch noch einiges mitbekommen. Ich stech lieber nochmal rein.“

Van Slyke spitzte den Mund, wie er es gerne tat, wenn ihn ein Anflug von Zynismus überfiel. „Da hatte diese Kreatur schon ein unglückliches Leben, und du widmest dich noch der Leichenschändung.“ Er schaute sich in alle Richtungen um und stellte fest, dass sie nicht beobachtet wurden.

„Was die interessante Frage aufwirft, ob Leichenschändung den Tatbestand der Beteiligung an Mord erfüllt.“ Es knirschte, als Petersen das Messer ruckartig hin- und herbewegte. „Einerseits liegt der Todeszeitpunkt vor meiner Tat, andererseits wurde dieses Schwein nur zu meinem Vergnügen getötet, da spielt der Todeszeitpunkt für die Schuldfrage keine Rolle.“

„Öäh“, van Slyke stöhnte und schaute auf die freigelegte Rippe und das abgetrennte Stück Fleisch. „In einem anständigen Handwerksberuf wärst du wirklich gescheitert.“ Missbilligend sah er Petersen über seine randlose Brille an. Die runden Gläser waren aus der Mode gekommen, so wie van Slyke es haben wollte. Ein Fels in der Brandung wollte er sein und den anrollenden Wellen widerstehen, bei der Mode wie in der Wissenschaft. Er sah sich gerne als abstrakten Denker mit unerschütterlichen Prinzipien. Andere sahen ihn als Langeweiler, und seine Spitzfindigkeit hatte van Slyke den Ruf eingebracht, ein Spielverderber zu sein.

„Na klar, da spricht jetzt der moralisch überlegene Vegetarier,“ sagte Petersen. „Aber bedenke, dass du Mitwisser bist und die Tat nicht verhindert hast. Mitgefangen, mitgehangen.“

Der beständige Lärm der Unterhaltungen, versehen mit einigen Akzenten von klapperndem Geschirr und kratzendem Besteck, füllte die Mensa der Concordia-Universität. Die Sichtbetonwände waren mit Bildern einer Ausstellung behängt. Sonnenlicht drang von einer Seite herein, zu wenig, so dass künstliche Beleuchtung die hinteren Tischreihen erhellen musste. Handzettel zu studentischen Veranstaltungen lagen achtlos durch Saucenreste geschoben auf den Tischen herum. Eine Schlange von fertigen Essern stand vor einem Laufband, um Plastiktablette, Teller und Gläser abzugeben und die Servietten in Papiermülltonnen zu werfen. Hungrige verließen die Essenausgabe, suchten nach freien Plätzen und passenden Sitznachbarn. Drei Studenten standen am Ende des langen Tisches, an dem van Slyke und Petersen saßen; vier Stühle waren frei, aber sie suchten lieber einen anderen Platz.

Doch nicht alle kannten Professor Petersen und Professor van Slyke. „Hey, darf ich mal das Salz von euch ... Ihnen ...“ Die Köpfe der beiden Streiter wandten sich einer Studentin zu. Petersen machte eine ungeduldige, abwehrende Handbewegung, mit der er auch eine Fliege hätte verscheuchen können, während van Slyke der Störerin mit übertrieben freundlichem Blick den Salzstreuer reichte. Mit dem Salz und mit hochgezogenen Augenbrauen und schielendem Blick zog sich die Studentin zurück.

„Vor Studenten und Schlachtvieh hast du ungefähr gleich viel Respekt“, stellte van Slyke fest. Auf seine Einstellung zu Studenten war er immer stolz gewesen. Sie könnten die Welt eines Tages zum Besseren wandeln. Gegenüber der außeruniversitären Arbeitswelt hatte er hingegen eine Abneigung entwickelt. Vor ein paar Jahren war ihm eine wichtige Tätigkeit in einem Ministerium angeboten worden. Aber van Slyke genoss die langsamere akademische Gangart, bei der man jeden Gedanken bis zu Ende denken konnte. Und in einem Ministerium hätte er zu viele Leute siezen und seinen Schreibtisch aufräumen müssen. Außerdem hätte dann eine achtsame Ehefrau sein zerschlissenes Tweedjacket und die fast bis zum Bauchnabel reichenden Cordhosen in die Altkleidersammlung geben müssen. Was nicht gut möglich war, denn van Slyke hatte nie geheiratet.

„Nun komm schon, Willem“, versuchte Petersen den Missklang zu vertreiben, „obwohl du in alter 68er-Manier dich schnell mit allen verbrüderst, sollen sie deine fachliche Autorität umso stärker respektieren. Du lässt doch jeden deine Erfahrung aus 25 Dienstjahren spüren. Ein Suppenhuhn findet mehr Gnade vor deinen Augen als ein schlechter Student.“

Van Slyke wandte sich wieder seiner mit Fleischersatz gefüllten Kohlroulade zu. Seine rechte Hand führte das Messer wie ein Geiger den Bogen. Weich legten sich seine langen Finger um den Griff. Jeder Schnitt wie eine geschwungene Welle, die Anteile an Kohl und Soja ordentlich gemäß der Gesamtmenge austariert. Seine Mahlzeiten behandelte er mit der Hingabe, die sonst seinen Büchern galt. Mit dem Rhythmus, mit dem er sonst einen Fachartikel las und auswertete, kaute er die aromatisierte Pilz- und Selleriemischung und schluckte sie hinunter.

Petersen trennte mit hohem Kraftaufwand ein Stück von dem zu hart gebratenen Kotelett ab. „Wobei mir zu Huhn einfällt, dass das Hühnerfrikassee gestern ordentlich war. Nicht in den Mensapfannen gebraten. Von glücklichen Hühnern. Glücklich gelebt, glücklich gestorben, gut geschmeckt.“

„Glücklich gestorben? Was verstehst du unter glücklich sterben?“, fragte van Slyke.

„Ich persönlich? Vielleicht in einem Weinfass ertrinken ... Oder noch plötzlicher. Ohne Ankündigung zack und weg.“

„Du hast ja auch einen abgeleckten Schreibtisch“, warf van Slyke ein. „Wenn ich wüsste, wann ich sterbe, dann hätte ich schon noch was zu erledigen.“

„Hundert Klausuren Konjunktur- und Wachstumstheorie korrigieren?“

„Nee, mal im Ernst. Wir werden als Professoren mit so viel Respekt behandelt. Dabei machen wir doch wie alle manchmal einen ganz schönen Mist. Das gehört zum Geschäft. Aber wenn mir jemand sagte, dass ich morgen sterbe, würde ich schon noch so manches in Ordnung bringen.“

Die beiden Professoren nickten und schwiegen dann. Jeder ging seine Liste aufgeschobener Dinge im Geiste durch. Die Unterhaltung drohte zu versanden. Petersen versuchte, das Gespräch mit einem matten Scherz wiederzubeleben. „Können die Mitglieder unserer wunderbaren Fakultät denn damit rechnen, in deinem Testament bedacht zu werden?“, fragte er van Slyke.

„Die ‚Collected Writings‘ von Keynes würde ich dir vermachen, wenn ich noch hoffte, du würdest sie lesen. Ach was, ich würde meine Bibliothek verkaufen und von dem Erlös Schulden begleichen. Der Nachwelt hinterlasse ich meine eigenen Schriften.“

„Schulden“, fragte Petersen, „sag bloß, du hast dich verspekuliert.“

„Keine Geldschulden“, sagte van Slyke. „Aber du weißt doch, wie Frau Kube aus der Drittmittelverwaltung mir mal den Arsch gerettet hat. Für die wäre sicher was drin. Oder für Lester, was weiß ich. Collega, ich muss weiter. Mein Schreibtisch quillt immer noch über.“

Petersen sagte später aus, dass man in der Mensa halt über alles Mögliche redet, warum nicht auch über Tod und Testament, merkwürdig sei allenfalls gewesen – aber das sei ihm erst später aufgefallen – dass van Slyke von seinen fünf Doktoranden nur Lester Sternberg erwähnt hatte, als hätte er eine Spur legen wollen.

Jason Sharp stellte den Lautsprecher seines Telefons an, lehnte sich in seinem Ledersessel weit nach hinten und ließ den Blick aus dem verglasten Eckbüro über das Meer von Hochhäusern schweifen. „Schauen Sie, wir finden es zunächst gut, dass Sie sich damit direkt an uns gewandt haben.“

Eine wohlklingende Stimme am anderen Ende der Leitung hatte gerade begonnen zu erzählen. „… Dass meine Bank plötzlich so reagiert, konnte ich ja nicht ahnen. Eine sichere Anlage, zumindest wenn man langfristig denkt. Meine Altersvorsorge. Aber bei dem wirtschaftlichen Einbruch hat die Bank kalte Füße bekommen. Das ist so enttäuschend. Ich war schon so kurz vor dem Ziel und dann das. Die Bank sagt, bei der derzeitigen Schieflage würde sie bei vielen Kunden so reagieren müssen.“

„Wir würden da jetzt ein paar Details benötigen.“ Sharp nippte an seinem Kaffee.

„Also, es geht um drei Appartements im 45. Stock. Die habe ich vor drei Jahren gekauft und die Bank hatte sich bereit erklärt, alles zu 100 Prozent zu finanzieren. Gesamtvolumen 8,6 Millionen.“

„Zu 100 Prozent finanziert. Und dabei haben Sie sich Wertsteigerungen erhofft. Ich verstehe.“ Sharp lächelte. Bei Akademikern hatte er das schon häufiger erlebt. Mit den Theorien in ihrem Kopf glauben sie, gute Prognosen abgeben zu können. Dabei gehen sie viel zu hohe Risiken ein und verstehen doch von Immobilien nichts.

„Und meine Bank will plötzlich 10 Prozent Eigenkapital. Das heißt, ich muss auf die Schnelle an 860.000 herankommen. Die haben den Kredit also plötzlich von 100 Prozent auf 90 Prozent gesenkt. Einfach so. Das geht halt gar nicht. So viel Geld habe ich doch nicht auf meinem Bankkonto nutzlos herumliegen. Gerade dafür sind die Banken doch da. Und was soll ich als Kunde machen? Wenn ich jetzt die Appartements verkaufe, so auf die Schnelle, mache ich einen irren Verlust.“

„Ich werde meinen Referenten darauf ansetzen.“ Sharp machte sich handschriftliche Notizen. „Der wird dann ein paar Unterlagen von Ihnen anfordern. Korrespondenz mit der Bank, Kreditverträge, Grundbucheintragungen. Wir suchen dann nach einer Lösung.“

„Wenn der Staat nicht bald eingreift, wird es noch ganz schlimm für uns alle. Und was mich auf die Palme bringen kann, ist diese Veröffentlichung. Jetzt öffentlich zu fordern, die Banken pleitegehen zu lassen. Hat der eigentlich irgendeine Ahnung, was das in der Praxis bedeutet? Für mich zum Beispiel …“

„Ja, die Geschichte ist uns ja nicht unbekannt und wir müssen das jetzt nicht weiter vertiefen.“

„Also dann vielen Dank für die Hilfe,“ flötete die Stimme besonders wohltönend.

„Aber gerne helfe ich. Jemand, der sich uns gegenüber immer so loyal verhält, den werden wir doch nicht fallen lassen.“ Sharp legte auf. Geldgier war seine liebste menschliche Schwäche und Spekulation die schönste Versuchung, der Menschen erliegen können. Eine Gegenleistung für seine Gefälligkeit würde er beizeiten einfordern. Dringender war jetzt eine passende Strategie, um die Bank von seinem Anliegen zu überzeugen. Eines benötigte diese Bank besonders: das gute Wort eines renommierten Instituts. Ein Gutachten, mit dem die Integrität der Bank bestätigt wird. Due-Diligence-Prüfung nennt sich das, aber eigentlich geht es um großes Theater. Und davon verstand Sharp etwas. Denn das Ergebnis der Prüfung war schon jetzt bekannt. Es würde herauskommen, dass die Bank ihre Risiken vernünftig einschätzt, keine Interessenkonflikte vorhanden seien, die Bücher korrekt geführt werden und alle Gesetze und staatlichen Auflagen ordnungsgemäß beachtet werden. Aber was noch wichtiger ist, das Gutachten könnte feststellen, dass die Bank systemrelevant ist. Dieses Wort ist Gold wert. Sharp würde ein paar Telefongespräche führen müssen. Am Ende wäre die Geschichte mit den drei Appartements nur noch ein Nebenschauplatz, eine kleine Gefälligkeit.

16. Juli 2016

Rothbarts Vortrag füllte tatsächlich den ganzen Festsaal der Akademie, fast 300 Leute. Lester sah sich um. Er unterdrückte ein Gähnen, um nicht mehr aufzufallen, als er das mit seiner Baseballmütze ohnehin schon tat. Dass alle um ihn herum begeistert waren, während ihn das Dargebotene kalt ließ – das war ihm zuletzt in Spanien so gegangen, beim Stierkampf.

„Systemrelevant“, sagte Rothbart, „ist keine einfache Vokabel. Sie wird von Wissenden verstanden, aber von den anderen wird sie auf die leichte Schulter genommen, verspottet gar, nun gut, das ist nicht der Ort, den Mangel an ökonomischer Bildung zu beklagen.“

Und hier, ausgerechnet an dieser Stelle, sah Rothbart Lester in die Augen. Rothbart konnte das, wie alle guten Redner. Lester beneidete ihn um diese Fähigkeit. Jedem einzelnen würde er mindestens einmal in die Augen schauen, jedem Banker ebenso wie all den adretten Gattinnen, jedem Mitglied der Gottfried von Haberler-Gesellschaft, die zu dieser illustren Veranstaltung eingeladen hatte.

„Es geht um das Herz der Wirtschaft“, fuhr Rothbart fort. „Banken sind systemrelevant, so wie das Herz, denn sie pumpen das Blut der Wirtschaft, das Geld, durch den Kreislauf. Da meinen doch manche ökonomisch Ungebildete – leider muss ich anmerken, dass auch in unserer Ökonomenzunft einige davon zu finden sind –, wenn das Herz Probleme hat, dann raus damit. Amputieren, das Blut wird seinen Weg schon finden.“

Ein Mann neben Lester, der schon mehrere Seiten seines kleinen Notizbuches vollgeschrieben hatte, fügte an dieser Stelle mit hastigen, aber kräftigen Bewegungen ein Ausrufezeichen ein. Ein anderer drückte seine Zustimmung durch so heftiges Kopfnicken aus, dass es fast wie eine Serie von Verbeugungen vor dem Redner aussah. Eine Frau fächelte sich mit einer Broschüre der Haberler-Gesellschaft Luft zu.

„Unsere Gegner haben sich positioniert, in der kurzsichtigen Politik ohnehin. Unsere von Wahlerfolg zu Wahlerfolg hechelnden Politiker haben jahrelang die Banken drangsaliert, schöne neue Wahlgeschenke auf Pump zu finanzieren. Oder sie haben eigene Banken gegründet, um unverfroren an die Ersparnisse der Bürger zu kommen. Sie nötigen zu erhöhten Ausgaben, solange alles gut läuft. Aber in der Not wollen sie uns nicht beistehen.“

Jetzt kam Rothbart in Fahrt. Schimpfen auf die Politik konnte er gut, kannte er doch den Politikbetrieb seit vielen Jahren aus seiner Tätigkeit beim Interministeriellen Wirtschaftswissenschaftlichen Beirat.

„Ja, aber schlimmer als die Politiker sind noch die Verführer, die ihnen unter dem Deckmantel der Wissenschaft in die Karten spielen.“ Jetzt war Lester gespannt: Würde Rothbart vielleicht sogar den Namen Willem van Slyke nennen? Eigentlich war der zu Rothbarts Vortrag eingeladen gewesen, mit Begleitung. Er habe da eine Einladung zu einem Rothbart-Vortrag, hatte van Slyke gesagt. Lester könne gern die Begleitung sein, aber natürlich ohne ihn, van Slyke. Trotzdem sei das als Live-Erlebnis vielleicht ganz nett für einen Doktoranden – van Slyke redete über Rothbart wie über eine Coverband.

„Da wird doch die Ansicht vertreten“, fuhr Rothbart fort, ohne Namen zu nennen, „dass wir das Fundament guten Wirtschaftens gar nicht brauchen. Dass jedes Luftschloss so gut sei wie die Wirklichkeit. Oh, nein. Eine Wirtschaft braucht ein solides Fundament, und das sind die Ersparnisse der Bürger, ihre Vorsorge und Klugheit. Damit sie dies tun können, müssen wir die Institutionen schützen, die die Vorsorge erst ermöglichen. Da haben wir die Banken …“

Rothbart wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es wurde wirklich warm, Lester hätte sich gern sein Jackett ausgezogen, aber das kam in diesem Rahmen nicht in Frage. Ohne dass es auffallen würde, konnte er jetzt die anderen Zuhörer beobachten, denn alle Blicke waren auf Rothbart gerichtet. Lester unterdrückte ein weiteres Gähnen und sah auf die Uhr. Er hätte nicht kommen sollen. Immerhin, van Slyke würde sich freuen, das zu hören.

Nichts in dieser E-Mail war gelogen, und nichts darin stimmte. So auch der Name, mit dem Lester unterschrieb: Eigentlich hieß er Leven Sternberg, aber mit dreizehn hatte er entdeckt, dass der ungeliebte Vorname und der Nachname sich zu „Lester“ zusammenziehen ließen. Nach und nach hatte jeder in seiner Umgebung das akzeptiert; schon die Hälfte seines Lebens war er Lester. Keiner kannte mehr den Namen, der auf seinem Personalausweis stand. Die Unterschrift war nicht der Grund, dass Lester eine halbe Stunde gebraucht hatte, um die 35 Wörter so hinzukriegen:

Liebe Mutti,

mir geht es gut. Willem (ja, van Slyke bietet seinen Doktoranden das Du an) lässt uns viele Freiheiten. Manchmal ist er auch ein bisschen eigenwillig, aber welcher Chef ist das nicht?

Liebe Grüße

Lester

Lester schob den Mauszeiger auf den „Send“-Button, zögerte und starrte aus dem Fenster, als gäbe es dort etwas zu sehen. Bevor er die magere Nachricht abschickte, kopierte er den Text und ergänzte ihn zu einer E-Mail an seinen Bruder:

Lieber Jo,

mir geht es gut, jedenfalls im Vergleich zu den Flüchtlingen oder chinesischen Dissidenten. Willem (ja, van Slyke bietet seinen Doktoranden das Du an, was man dann schlecht ablehnen kann, auch wenn man gern würde, und zu ihm passt es auch nicht, aber sein eigener Doktorvater war ja ein 68er, an jenem legendären Institut war das halt üblich, van Slyke pflegt akademische Traditionen, so oder so) – Willem also lässt uns viele Freiheiten, was bleibt ihm übrig, wenn er kaum da ist. Beim Thema meiner Diss hat er sich ja noch reingehängt (er wollte auf keinen Fall, dass ich die Keynes-Geschichte aus meiner Masterarbeit weiterverfolge, schade eigentlich, ich fand die Idee gut). Meine Kollegin meinte neulich: „Manchmal ist er auch ein bisschen eigenwillig, aber welcher Chef ist das nicht?“ Ich habe nichts dazu gesagt, keine Lust zu revoltieren, wo es doch nur um mein Bauchgefühl geht. Drück mir die Daumen, dass ich spinne.

Cheerio

Lester

Eine dritte E-Mail würde er nicht schreiben müssen. An wen auch? Sein Vater war vor drei Jahren gestorben. Jeden Tag war er um 7:45 Uhr zur Arbeit gegangen, zur HAC Diesel und Turbo, einem Zulieferer der Automobilindustrie. Nach seiner Schweißerprüfung hatte er sich dort hochgearbeitet zum Vorarbeiter. War sogar dafür zuständig gewesen, neue Mitarbeiter anzulernen. Überstunden leistete er bereitwillig. Pflicht ist Pflicht. Nur an den Wochenenden ging die Familie vor mit Skatspielen, Fußball und Wanderungen. Mit allen Aktivitäten war dann schlagartig Schluss. Die Hausbank kündigte der HAC Diesel und Turbo die Kredite. An Zurückzahlen war so schnell nicht zu denken und keine andere Bank sprang ein. Die Automobilkonzerne kündigten die Verträge aus Sorge, das Unternehmen sei nicht mehr verlässlich. Keiner wollte helfen. Der Staat rettet keine mittelständische Firma. Über ein paar warme Worte von Lokalpolitikern ging die Unterstützung nicht hinaus. Obwohl die Firma kerngesund war. Von heute auf morgen insolvent und die Mitarbeiter entlassen. Lesters Vater hätte dann eigentlich viel Zeit gehabt. Aber er saß nur noch zu Hause. Kein Skat mehr, kein Fußball. „Verdammte Banken“, war einer der wenigen Sätze, die er von sich gab. Selbst zu derberen Flüchen hatte er keine Kraft mehr. Er klagte über Bauchschmerzen. Danach kam die Diagnose: Darmkrebs.

Lester stand vom Schreibtisch auf, ging in seine kleine Küche und schenkte sich Kaffee nach. Er war nicht zufrieden mit seinen E-Mails; sein Bruder würde sich Sorgen machen, vielleicht grundlos, seine Mutter würde denken, dass alles gut läuft, wohl auch grundlos. Und wenn man einmal anfing, solche E-Mails zu schreiben, dann konnte man schlecht aufhören. Jede Woche, dachte er, würde er seiner Mutter nur Harmlosigkeiten berichten.

Hier irrte er. Seine Mutter würde, von Andeutungen in der Zeitung abgesehen, vier Wochen lang nichts mehr von ihm hören.

17. Juli 2016

„Die Wirtschaft ist leckgeschlagen, die Welt droht zu kentern“, ja, gleich in die Vollen gehen! Die Leser müssen gleich mitbekommen, dass dies nicht wieder so ein sophistischer Beitrag ist. Nach seinem gestrigen Vortrag bei der Gottfried von Haberler-Gesellschaft war Rob Rothbart in Fahrt gekommen. Er streichelte die hölzernen Einlegearbeiten seines antiken Schreibtischs, dann wanderte sein Blick zu der Vitrine mit seiner Sammlung maritimer Antiquitäten: ein arabisches Astrolabium, ein Sonnenkompass aus dem Nachlass Alfred Wegeners, eine silberne Bootsmannspfeife, ein maritimes Teleskop, ein britischer Taschensextant, in dessen Lederetui jemand einen Dreimaster mit der winzig kleinen Aufschrift homesick geritzt hatte. Das war wichtig, denn damit war fast sicher, dass es aus dem Besitz eines Matrosen stammte – der so ein Gerät gar nicht an Bord haben durfte. Nautische Instrumente zu verwenden war britischen Matrosen lange verboten, um Meutereien zu erschweren. Wissen ist Macht! Was für ein Fortschritt, dass heute jeder sein eigenes Navi hat. Aber ohne kluge politische Lenkung gäbe es keine Satelliten, die unsere Standorte bestimmen.

Und jetzt geht es um Milliarden, ach was, weltweit Billionen Euro, und die einzigen, die jetzt noch Orientierung geben können, sind wir Wissenschaftler. Aber vor lauter Pathos jetzt mal nicht die Wissenschaftlichkeit über Bord werfen. Rothbart läutete eine blanke Schiffsglocke, das Zeichen für das Au-Pair-Mädchen, dass er jetzt einen Tee gebrauchen könnte. In die Glocke war „Pamir“ eingraviert. Ausnahmsweise gab er sich damit zufrieden, kein Original zu besitzen, wie sollte er auch. Das hatte der Viermaster Pamir mit auf den Grund des Atlantiks genommen. Er hatte sich oft gefragt, wer auf die Idee gekommen war, den unglückseligen Frachtsegler ausgerechnet nach einem Gebirge zu benennen. Aber er mochte den Widerspruch, der darin lag. Das Pamir-Gebirge war schon immer da gewesen und würde immer da sein, wie die Naturgesetze – oder die Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie. Die Pamir dagegen … kleine Ursachen, große Wirkung. Streik der Hafenarbeiter in Buenos Aires, Gerste unsachgemäß verladen. Und dann kamen die Hurrikanwarnungen nicht an, oder sie wurden ignoriert. Oft lernen wir nur durch Katastrophen wie den Untergang der Pamir dazu. Die Welt ist kein Jungmädchenpensionat – da muss man halt etwas aushalten, und wer das nicht tut, der hört auf, weiter dazuzulernen.

Rothbart stand auf und drehte eine Runde in seinem Arbeitszimmer, das er sich in seiner zünftigen Villa eingerichtet hatte. Er streifte mit den Fingern über das Holz der Bücherregale und ertastete die über die Jahrzehnte tiefer und glatter gewordenen Maserungen. Sinnierend blieb er stehen, tat so, als würde er ein Buch herausnehmen, wie er es immer gerne für Fernsehinterviews machte. Vielleicht würde ihm dies ein wenig Inspiration zum weiteren Denken und Schreiben geben. Ja, ein Beitrag für eine Zeitung musste halt anders geschrieben werden als die üblichen wissenschaftlichen Artikel.

Erst vorgestern, am Freitag, war Rob Rothbart im Finanzministerium gewesen. Als Vorsitzender des Interministeriellen Beirats, von den Medien zum „Star-Ökonomen“ ernannt, stand er plötzlich im Mittelpunkt. Die Ministerialbeamten redeten unkoordiniert durcheinander, getrieben von immer neuen Schreckensmeldungen. Am Montag dieser Woche hatte ein Bankvorstand angerufen, dessen Institut die Pleite drohte, weil es von anderen Banken keinen Kredit mehr bekam. Am Dienstag hatte die Börse ein Tagesminus von acht Prozent hingelegt, der schwärzeste Tag in der Nachkriegsgeschichte. Am Mittwoch zeigte der Seehandels-Indikator, dass weltweit der Handel einbrach. Am Donnerstag Meldung über die drohende Insolvenz der Vandermeulen & Zwingli, einer mittelständischen Bank. Forderungen an die Regierung, die Bank zu verstaatlichen, wurden intensiv diskutiert. Am Freitag, vorgestern, meldete die Industriekammer, dass die Investitionstätigkeit dieses Jahr um bis zu vierzig Prozent einbrechen könnte. Der Zah