Geliebtes Brasilien - Klaus D. Günther - E-Book

Geliebtes Brasilien E-Book

Klaus D. Günther

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Beschreibung

Über 50 Jahre war Brasilien das Zuhause des Auswanderers Klaus D. Günther. Begeistert bereiste er das gesamte Land und lernte dabei ein kulturell sehr vielfältiges Volk kennen und lieben. Über die Jahre hinweg passte er sich dem „Brazilian Way of Life“ an und schloss viele Freundschaften. Brasilien wurde die Liebe seines Lebens ... bis dieses Paradies anfing, sich zu ändern. "Geliebtes Brasilien" ist ein persönliches Länderporträt, das neben vielen Schönheiten auch manche Schattenseiten dieses unwiderstehlichen Landes offenbart.

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KLAUS D. GÜNTHER

GELIEBTES BRASILIEN

DAS LAND DER KONTRASTE

EINE KRITISCH-HUMORVOLLE LIEBESERKLÄRUNG

Inhalt

Prolog

Pedro Álvarez Cabral: „Brasilien war meine Entdeckung!“

Davi Kopenawa Yanomami: „Nicht die Weißen haben Brasilien entdeckt!“

Meine Entdeckung Brasiliens

Sie nannten mich Gringo

Teil I – Die Brasilianer

Gemeinsamkeiten der Brasilianer

Brasilianer vor der Kamera

Die Brasilianische Musik

Die Brasilianer und der Sport

Fußball im Maracanã

Woher kommt das brasilianische Talent?

Die Fernsehsucht der Brasilianer

Telenovelas aus der Traumfabrik

Die Philosophen der Landstraße

Teil II – Das Tor zu Brasilien: der Südosten

Rio de Janeiro

Die Begegnung

Cariocanische Essgewohnheiten

Der Karneval in Rio

Die Bürger in ihrer Stadt

Die anderen Cariocas

Das Weihnachtsgeschenk

São Paulo

Die Hauptstadt São Paulo

Ein Sonntag wie jeder andere

Minas Gerais

Die Hauptstadt Belo Horizonte

Schätze aus der Kolonialzeit

Caipira-Humor

Teil III – Europäisch geprägt: der Süden

Paraná

Die Hauptstadt Curitiba

Eisenbahn-Abenteuer

Das gewaltigste Naturschauspiel der Erde

Santa Catarina

Die Hauptstadt Florianópolis

Blumenau

Pomerode

Rio Grande do Sul

Die Hauptstadt Porto Alegre

Die Gaúchos

Teil IV – Tierparadies Zentraler Westen

Der Regierungsbezirk Brasília

Die Landeshauptstadt Brasília

Was ist eigentlich „Cerrado“?

Mato Grosso

Die Hauptstadt Cuiabá

Abenteuer Pantanal

Teil V – Der Nordosten mit Sonnengarantie

Unterwegs mit dem alten Chico

Bahia

Die Hauptstadt Salvador

Die geduldigen Götter

Candomblé in einer Favela

Die Selbstverteidigung der Sklaven

Pernambuco

Die Hauptstadt Recife

Die Nachbarstadt Olinda

Der Markt von Caruaru

Rio Grande do Norte

Die Hauptstadt Natal

Was ist eigentlich Caatinga?

Komm-Komm

Ceará

Die Hauptstadt Fortaleza

Floßfischer und Traumstrände

Jangada-Regatta

Piauí

Die Hauptstadt Teresina

Fome Zero – Null Hunger

Maranhão

Die Hauptstadt São Luis

Die Auferstehung des Ochsen

Die Bettlaken von Maranhão

TEIL VI – Der Norden – Amazonien

Pará

Die Hauptstadt Belém

Die Insel Marajó

Amazonas

Die Dschungelstadt Manaus

Das Rendezvous der Wasser

Der Amazonasstrom

Der Regenwald

Menschen in Amazonien

Teil VII – Brasiliens Ureinwohner

Begegnung mit den Ureinwohnern

Expedition in die Wildnis

Die Karajá

Der Fluss der Toten

Die Xavante

Das Totenfest der Xingu-Völker

Quarup

Vorurteile

Teil VIII – Wiedersehen mit Rio

Mein Enthusiasmus schwindet

Der Riese erwacht

Das umstrittene Projekt im Regenwald

Das Faß läuft über

Nach der WM 2014

Meine Flucht nach Belo Horizonte

Mein Garten

Die Prophezeiung

Epilog

Prolog

Ein halbes Jahrhundert habe ich unter den Bewohnern verschiedener Regionen Brasiliens verbracht und ihren Alltag geteilt, daher möchte ich meinen Lesern ein möglichst authentisches Bild dieser Menschen vermitteln. Die historischen, kulturellen und existenziellen Verschiedenheiten der Nachkommen portugiesischer Invasoren, afrikanischer Sklaven, indigener Einwohner, aus multiplen Mischungen hervorgegangener Mestizen, sowie späterer Einwanderer aus allen Teilen unseres Erdballs, sie alle haben ganz unterschiedliche Lebensgewohnheiten in diesem Land entwickelt und lassen sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner als Volk oder als Nation bringen – obwohl die Lokalpolitiker dies gerne als Schlagwort verwenden.

Fast zwanzig Jahre habe ich in Rio de Janeiro gelebt und in der Tourismus-Branche gearbeitet, nachdem ich als ehemaliger Pressefotograf im ganzen Land herumgekommen bin, deshalb beziehen sich viele meiner Schilderungen auf den brasilianischen Südosten, besonders auf Rio de Janeiro, São Paulo und Belo Horizonte.

Unter den Großstadtbewohnern verbrachte ich die meiste Zeit, und sie sind deshalb auch am häufigsten Opfer meiner Kritik geworden. In meinen Beiträgen über die Ureinwohner, die Indios, wird Ihnen dagegen meine Bewunderung ihrer harmonischen Koexistenz mit der Natur und ihrer genügsamen Lebensweise auffallen. Meine Eindrücke aus dem Alltag der Menschen in verschiedenen Teilen des großen Landes stammen aus den Jahren 1961 bis 2011.

Man sollte vorzugsweise ein Abenteurer sein, wenn man nach Brasilien auswandern möchte. Und das bin ich, mit Leib und Seele. Für mich ist Routine die allerschrecklichste Vorstellung überhaupt, länger als drei Jahre habe ich es in keinem Job je ausgehalten, um nicht irgendwo anders etwas zu verpassen, denn schließlich ist unser Planet viel zu interessant und unser Leben viel zu kurz, um es mit dem Aufbau einer Karriere und dem Streben nach einem dicken Bankkonto zu vergeuden, zumal es dazu einer öden Beharrlichkeit bedarf, die mich ohne Zweifel krank gemacht hätte. Nach Reichtum und gesellschaftlichem Ansehen stand mir nie der Sinn, solche Sackgassen menschlicher Leidenschaften bedeuten mir nichts. Das persönliche Erleben einer ursprünglichen Natur und ihre so vielgestaltigen Lebewesen mit der Kamera festzuhalten und zu beschreiben – nicht aus der romantisierten Perspektive eines Touristen, sondern aus dem realistischen Blickwinkel eines Betroffenen – dafür habe ich mich begeistert engagiert.

Was ich erlebte, hat meinen Erfahrungshorizont erweitert, meine Seele bereichert und mir nicht zuletzt auch ein paar gute Freunde beschert. Nach Meinung meiner in Deutschland verbliebenen Angehörigen hätte ich mein Leben allerdings ganz anders gestalten sollen – „dann wäre etwas aus mir geworden“, wie sie sich ausdrücken. Ich weiß, was sie meinen, aber dazu hätte mich unser Schöpfer eben ganz anders konstruieren müssen.

Innerlich hingezogen fühlte ich mich besonders zu den bescheidenen Menschen des Interiors, vor allem zu den noch weitgehend autark lebenden Indios und zu der phantastischen Natur Brasiliens. Sie haben meine Seele berührt. Und während ich an diesem Buch arbeite, sind sie es, die meine Erinnerung beleben und immer noch meine Träume ausfüllen.

Pedro Álvarez Cabral: „Brasilien war meine Entdeckung!“

Seine Flotte landete im Gebiet des heutigen Bahia, wo später eine erste Siedlung der portugiesischen Invasoren, rund um eine große und landschaftlich sehr reizvolle Meeresbucht, entstand, der sie nach dem Tag ihrer Entdeckung, dem 01. November des Jahres 1500, den Namen Allerheiligenbucht gaben. Die kleine Siedlung an ihrem Ufer, „Salvador da Bahia de Todos os Santos“, entwickelte sich zur ersten Hauptstadt des Landes (1549) und diesen Status behielt sie über 200 Jahre lang bei – bis Rio de Janeiro sie im Jahr 1763 ablöste.

Historische Aufzeichnungen aus jener Epoche erzählen von so fantastischen Begebenheiten, dass man heutzutage versucht ist, sie ins Reich der Fabeln und Legenden zu verweisen. Zum Beispiel die Geschichte des portugiesischen Matrosen Diogo Álvares, der im Jahr 1510, als Schiffbrüchiger eines französischen Seglers, von den Tupinambá-Indios in eben jener Allerheiligenbucht aus dem Wasser gezogen wurde und anstatt in ihre Kochtöpfe zu wandern – die Tupinambá waren als Kannibalen gefürchtet – nahmen sie ihn in ihre Stammesgemeinschaft auf, weil der clevere Diogo sich gleich Respekt verschafft hatte, indem er mit seiner Muskete einen Vogel im Flug vom Himmel holte. Sie nannten ihn Caramuru (Sohn des Donners), und Diogo entwickelte sich zu einem einflussreichen Mitglied ihres Volkes – legte mit seinen indigenen Freunden die ersten Zuckerrohrund Baumwollfelder an und heiratete die Tochter des Häuptlings, die er selbst Catarina Paraguaçu getauft hatte. Diesem couragierten „Sohn des Donners“ kommt der Verdienst zu, maßgebend an der Einsetzung einer offiziellen portugiesischen Regierung im neuen Land mitgewirkt zu haben.

1549 ernannte Dom João III. von Portugal den Politiker Tomé de Sousa zum Generalgouverneur von Brasilien und entschied, ihn am 12. Februar desselben Jahres zu seiner Mission zu entsenden. Seine Flotte, geführt von dem Flaggschiff Conceição, transportierte mehr als eintausend Personen über den Atlantik – unter ihnen Soldaten, Bauern, Fischer, Priester und Prostituierte. Nach sechsundfünfzig Tagen auf See erreichten sie den Hafen Vila Velha, wo sie von Caramuru und seinen Tupinambá festlich empfangen wurden.

Schon im Jahr 1507 war eine weitere portugiesische Flotte weiter südlich in São Vicente gelandet, in der Nähe der heutigen Hafenstadt Santos, und die Besatzung einer dritten ging bei Olinda, unweit des heutigen Recife, an Land. Die Siedler von São Vicente gründeten 1534 im angrenzenden Hochland ihre erste Stadt, die sie dem heiligen Paulus zu Ehren „São Paulo“ tauften. Sie unterschieden sich als ärmere Nordportugiesen von den feudalistischen Herren aus dem Süden Portugals, die in Salvador und Olinda Fuß gefasst hatten. Allen Portugiesen gemeinsam jedoch war die Neigung, von eigener Hände Arbeit weniger zu halten als von spekulativem Profit: Zuerst zwangen sie die primitiven Indios zur Arbeit – und als diese sich an den aus Europa eingeschleppten Krankheiten infizierten und starben, setzten sie für die harte Arbeit auf den Pflanzungen schwarze Sklaven ein, die sie aus ihren afrikanischen Kolonien mit ihren Schiffen herüberholten. Die afrikanischen Sklaven waren, anstelle der unter Zwangsarbeit rasch dahinsterbenden Indios, zäher und ausdauernder, und ihre Frauen und Mädchen willkommene Objekte der Lebensfreude ihrer weißen Herren, mit dem Ergebnis, dass sich die brasilianische Durchschnittsfarbe zunehmend zum Milchkaffeebraun hin einpendelte, und man später sogar ein Gesetz schuf, das die Mischlingskinder von Sklavinnen zu freien Bürgern erklärte – man nannte es „Lei do Ventre livre“ – das Gesetz des freien Schoßes.

Eine harte Konkurrenz zwischen dem reicheren Norden, der mit seinen Ausfuhrhäfen Salvador und Olinda näher an Europa gelegen war, und dem neidischen Süden setzte ein: Die Siedler von São Paulo stellten Expeditionen zusammen, um ihr Hinterland nach Gold zu durchkämmen. Diese so genannten „Bandeirantes“ (von „Bandeira“, der Fahne, die sie mit sich trugen) kamen auf ihren Märschen bis zum heutigen Colônia, im Süden (gegenüber von Buenos Aires), im Westen bis zum Rio Paraguay und im Nordosten bis dicht heran an die Zuckerplantagen ihrer ungeliebten Landsleute.

1698 stießen sie auf Gold im heutigen Bundesland Minas Gerais – kurz danach fanden sie noch mehr im heutigen Mato Grosso und um 1725 auch im Gebiet von Goiás. Als sie schließlich sogar Diamanten entdeckten, nördlich der Goldfelder von Minas Gerais, hatten sie die Feudalherren aus dem Nordosten endgültig überrundet.

Durch eine wachsende Konkurrenz aus der Karibikregion begann das Zuckergeschäft der nordostbrasilianischen Pflanzer auf dem Weltmarkt schließlich zu fallen, und sie investierten zunehmend in den steigenden Gold- und Diamantenboom, der im 18. bis zum 19. Jahrhundert riesige Profite brachte – bis die Minen versiegten.

Als Ausfuhrhafen für Gold- und Edelsteine hatte sich Rio de Janeiro bestens entwickelt und wurde 1763 die neue Hauptstadt des Vizekönigtums Brasilien. In Minas Gerais hatte der Reichtum die Stadt Ouro Preto (Schwarzes Gold) entstehen lassen – heute ein Nationaldenkmal erhabener Architektur und Bildhauerkunst aus jener Zeit.

Das nächste profitable Spektakel wurde der Kaffee. Nach seiner Einführung aus Französisch Guyana, widmete man sich, nach einem plötzlichen Anstieg der Weltmarktpreise, besonders zwischen Rio und São Paulo, seinem Anbau. Zwischen 1720 und 1850 beherrschte der brasilianische Kaffee den Weltmarkt. Und noch heute kommt ein Drittel der Weltproduktion aus dem brasilianischen Staat São Paulo. Es gab eine Reihe weiterer Booms und Rezessionen, die man als brasilientypisch bezeichnen kann: Der bekannte „Gummi-Boom“ vom Amazonas ist nicht vergessen – Konkurrenz aus Asien brachte ihn zu Fall (1912). Verwöhnt von immer neuen Profiten, die das reiche Land seinen Kolonisatoren, ohne großen persönlichen Arbeitseinsatz, in den Schoß legte, vernachlässigten sie seine Kultivierung sowohl in landwirtschaftlicher als auch in industrieller Hinsicht – bis sie sich dessen anhand zahlreicher Rezessionen schmerzlich bewusst wurden.

Heute treibt Brasiliens Wirtschaft vom Acker zur Industrie. Und obwohl 40% der Bevölkerung immer noch in der Landwirtschaft tätig sind, ziehen die Brasilianer den Begriff einer kommenden Industrie-nation vor. In der Tat exportiert Brasilien heute, neben seiner traditionellen Rolle als Rohstofflieferant, auch moderne Technologie in Form von Kraftfahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen und sogar Computeranlagen.

Eingebettet in den zentral-orientalen Teil Südamerikas, mit einer Ausdehnung von 8,5 Millionen Quadratkilometern, ist Brasilien das einzige von Portugal kolonisierte Land des amerikanischen Kontinents – und das fünftgrößte der Welt. Es hat 23.086 km Grenzen – davon sind 15.719 km Festlandgrenzen und 7.367 km werden vom Atlantischen Ozean umspült. Mit Ausnahme von Chile und Ecuador sind alle anderen Nationen Südamerikas seine direkten Nachbarn. Seine Atlantikküste erstreckt sich von der Mündung des Rio Oiapoque, im Norden, bis zum Flüsschen Chuí, im Süden. Das Land hat annähernd die Form eines Dreiecks – Breite und Länge sind praktisch gleich: In Richtung Nord-Süd ergibt sich eine Länge von 4.320 km – vom Monte Caburaí, an der Grenze zu Guyana, bis zum Flüsschen Chuí, an der Grenze zu Uruguay. In Richtung Ost-West ergibt sich eine Breite von 4.328 km – von der Ponta do Seixas, an der Küste von Paraíba, bis zur Serra de Contamana, an der Grenze zu Peru. Das brasilianische Territorium, inklusive seiner ozeanischen Inseln, umfasst vier Zeitzonen, alle westlich des Null-Meridians von Greenwich, das heißt: zwischen 2 bis 5 Stunden zurück hinter der offiziellen Weltuhrzeit.

Brasilien unterscheidet sich ganz wesentlich von seinen südamerikanischen Nachbarn: in seiner Sprache, seiner Kultur, in der Lebensweise seines Volkes, in den Präferenzen seiner Elite, in seiner Wirtschaft, im Relief seines Bodens und in der Konfiguration seiner Küste. Vom Nordkap bis zu den Kanarischen Inseln müsste man reisen, wollte man die Entfernung zurücklegen, die allein der brasilianischen Küste entspricht. Ein Staat, der innerhalb solcher gigantischen Maßstäbe eine ordentlich funktionierende Infrastruktur schaffen will, ist allein durch seine Ausmaße überfordert.

Politisch ist Brasilien heute in 26 Staaten unterteilt – dazu kommt der „Distrito Federal de Brasília“, rund um die Hauptstadt des Landes. Diese Staaten sind wiederum in fünf Regionen zusammengefasst, deren eigenwillige sozialen, kulturellen und geografischen Charakteristika sie wie eigenständige Länder voneinander zu trennen scheinen – und doch sind sie alle ein Teil dieses riesigen Landes kaum vorstellbarer Gegensätze.

Mehr als 200 Millionen Menschen leben heute in diesem Land – davon sind 70% weniger als dreißig Jahre alt – junge Menschen, die dem Besucher freundlich und aufgeschlossen entgegenkommen, um ihm stolz die Schönheiten ihres Landes zu zeigen.

Davi Kopenawa Yanomami: „Nicht die Weißen haben Brasilien entdeckt!“

Es ist lange Zeit her, dass meine Großeltern, die in einem sehr weit abgelegenen Dorf an den Quellen des Rio Tootobi lebten, sich aufmachten, um in der Ebene andere Angehörige ihres Volkes zu besuchen, die entlang des Rio Aracá wohnten. Und dort begegneten sie den ersten Weißen ihres Lebens. Diese Fremden waren damit beschäftigt, Fasern der Piaçaba-Palmen am Ufer des Flusses zu sammeln. Während der folgenden Besuche erhielten meine Großeltern ihre ersten Haumesser aus Metall. Diese Geschichte erzählten sie mir viele Male, als ich ein Kind war. In dieser Zeit bekam man Weiße nur zu sehen, wenn man sich sehr weit von seinem Dorf entfernte – aber man pflegte sie nicht einfach so, ohne Motiv, zu besuchen. Doch ihre Metallwerkzeuge hatten es den Menschenwesen (so bezeichnen sich die Yanomami selbst) angetan, denn sie besaßen lediglich kleine Stücke aus weichem Metall (gemeint ist Gold), die unser Gott Omâma ihnen dagelassen hatte.

Auf diesen langen Reisen gelang es ihnen dann, ihre kleinen Metallstücke gegen die begehrten Metallwerkzeuge (Axt, Hacke, Spaten etc.) einzutauschen – die Weißen zeigten sich überaus interessiert an diesem Tausch, den die Menschenwesen als sehr vorteilhaft für sich selbst einschätzten. Und sie bearbeiteten von nun an ihre Pflanzungen, indem sie die wenigen wertvollen metallenen Werkzeuge untereinander ausliehen. Hatte einer seine Pflanzung angelegt, gab er seinen Spaten weiter an den Nächsten und so fort. Sogar zwischen dem einen und dem anderen befreundeten Dorf wurden diese Geräte ausgeliehen. Wegen Streichhölzern zum Beispiel machte niemand den weiten Weg zu den Weißen, denn dafür hatten sie ihre eigenen Methoden: Mit dem trockenen Holz des Kakaobaums verstanden sie ein Feuer fast so schnell zu entzünden, wie mit Streichhölzern. Aber zum Beispiel die Töpfe aus Aluminium fanden sie wunderschön und begehrenswert, doch selbst für die lohnte sich der weite Weg nicht: Sie hatten ihre Tontöpfe, um die Jagdbeute darin zu garen. Ja, es war tatsächlich nur wegen der Messer und Äxte, der Spaten und Hacken, weshalb man den langen Weg zu den Weißen unter die Füße nahm.

Sehr viel später, als wir in Marakana wohnten, mehr zur Quelle des Rio Tootobi hin, besuchten die Weißen unser Dorf zum ersten Mal. Zu dieser Zeit lebten noch alle unsere Ältesten und wir waren sehr zahlreich, daran kann ich mich deutlich erinnern. Ich selbst war ein Kind, aber gerade in dem Alter, in dem man die Dinge wahrnimmt. Dort wuchs ich auf und entdeckte die Weißen. Niemals vorher hatte ich einen von ihnen gesehen, wusste gar nichts über sie. Hatte nicht einmal daran gedacht, daß sie existierten. Als ich sie dann mit eigenen Augen sah, heulte ich vor Angst. Unsere Erwachsenen hatten sie schon einige Male zu Gesicht bekommen, aber ich – niemals. Dachte es wären Kannibalen-Geister, die uns auffressen würden. Und ich fand sie so fürchterlich hässlich, ausgebleicht und behaart. Sie waren so verschieden von den Menschenwesen, daß sie mich in Schrecken versetzten. Außerdem verstand ich keines ihrer verschlungenen Worte.

Als die Weißen auf unseren Dorfplatz traten, versteckte mich meine Mutter unter einem großen Korb aus Lianen, im dunklen Hintergrund unseres Hauses. Und sagte zu mir: „Hab keine Angst! Aber sag nicht ein einziges Wort!“ Und ich kauerte mich zitternd unter den Korb und sagte nicht ein einziges Wort mehr. Ich muß tatsächlich damals sehr klein gewesen sein, sonst hätte ich wohl nicht unter diesen Korb gepasst. Meine Mutter versteckte mich, denn auch sie fürchtete, daß diese Weißen mich mitnehmen würden, so wie sie damals jene Kinder mitgenommen hatten. Und sie wollte mich damit auch beruhigen, denn ich war außer mir vor Angst und hörte nur auf zu weinen, weil ich mich unter dem Korb wieder sicher fühlte.

Auch die Ausrüstung der Weißen erschreckte mich. Ich hatte Angst vor ihren Motoren, vor ihren elektrischen Lampen, vor ihren Schuhen, vor ihren Brillen und ihren Uhren. Hatte Angst vor dem Rauch ihrer Zigaretten und dem Gestank ihres Benzins. Alles erschreckte und erschütterte mich zutiefst, weil ich nie vorher etwas ähnliches gesehen hatte – ich war eben noch sehr klein. Und als dann ihre Flugzeuge uns überflogen, war ich nicht der einzige, der Angst hatte. Auch unsere Erwachsenen ergriff die Panik – einige brachen tatsächlich in Schluchzen aus, alle rannten, um sich im Regenwald, rund um unser Dorf, zu verstecken. Wir sind Waldbewohner, wir kannten keine Flugzeuge, und sie erschreckten uns über alle Maßen. Wir dachten an übernatürliche, fliegende Wesen, die auf uns herabfallen würden, um uns alle zu verbrennen. Alle hatten wir Todesangst!

Später dann wuchs ich heran und begann richtig zu denken. Aber ich fuhr fort mich zu fragen: „Was wollen diese Weißen hier? Warum schlagen sie Wege in unseren Wald?“ Und unsere Dorfältesten antworteten mir: „Sie kommen bestimmt, um sich unser Land anzusehen und später hier mit uns zu wohnen!“ Sie verstanden jedoch nichts von der Sprache der Weißen, und deshalb ließen sie die Fremden in ihr Land eindringen, so wie Freunde. Wenn sie damals schon ihre Worte verstanden hätten, würden sie sie sicher aus dem Land gejagt haben. Denn diese Weißen hintergingen sie mit ihren Geschenken. Sie gaben ihnen Äxte, Haumesser, kleine Klappmesser und Stoffe. Und sagten ihnen, um ihre Aufmerksamkeit einzuschläfern: „Wir, die Weißen, werden Euch niemals unversorgt lassen, wir werden Euch viele unserer Waren geben, und Ihr werdet unsere Freunde werden!“ Nur wenig später starben unsere Verwandten fast alle durch eine Epidemie – danach folgte die nächste. Später starben noch einmal viele andere Yanomami, als die Straße in ihre Wälder vordrang – und viele, sehr viele andere Yanomami mußten sterben, als die Goldschürfer mit ihrer Malaria in unser Gebiet einfielen. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich bereits erwachsen und hatte gelernt richtig zu denken – und ich hatte verstanden, was die Weißen mit ihrer Invasion unseres Gebietes bezweckten.

Die Weißen sind geschickt und intelligent, sie haben viele Maschinen und Waren, aber sie entbehren der Weisheit. Sie interessieren sich nicht mehr für jene, die ihre Vorfahren waren, als sie geschaffen wurden. In der ersten Zeit ihrer Existenz waren sie wie wir – aber dann haben sie alle ihre antiken Worte vergessen. Später durchquerten sie das große Wasser und zogen in unsere Richtung. Und dann sagten sie, dass sie dieses Land entdeckt hätten. Und das habe ich erst verstanden, als ich gelernt hatte, ihre Sprache zu sprechen. Wir, die Bewohner des Regenwaldes, leben hier seit undenkbaren Zeiten – schon seit unserer Erschaffung durch Omama. Am Anfang aller Dinge gab es hier nur Waldbewohner, die Menschenwesen. Die Weißen nehmen heute für sich in Anspruch: „Wir haben das Land Brasilien entdeckt!“ Das ist eine Lüge! Das Land existiert schon seit eh und je, und Omama hat uns mit ihm geschaffen. Schon unsere Urväter kannten diese Erde. Sie wurde nicht durch die Weißen entdeckt. Viele andere Völker, wie die Makuxi, die Wapixana, die Waiwai, die Waimiri-Atroari, die Xavante, die Kayapó und die Guarani lebten ebenfalls auf ihr. Trotzdem lügen die Weißen sich selbst in die Tasche und lehren ihre Kinder, dass sie dieses Land entdeckt hätten. So als ob es leer gewesen wäre. So als ob wir Menschenwesen es nicht schon seit Anbeginn der Zeit bewohnt hätten. Was die Weißen tatsächlich entdeckt haben ist, dass diese Erde schon vorher von uns entdeckt worden war!

Am Ufer des Gebietes, an dem sie anlegten, lebten schon andere Indios. Die Weißen waren damals noch nicht sehr zahlreich, also begannen sie zu lügen: „Wir, die Weißen, sind gut und großzügig! Wir geben Euch Geschenke und Nahrungsmittel. Lasst uns an Eurer Seite wohnen auf diesem Land. Wir möchten Eure Freunde sein!“ Und mit eben denselben Lügen versuchten sie auch das Volk der Yanomami zu täuschen. Nachdem sie ihre Lügen unter den Indios verstreut hatten, zogen sie sich zurück – um schließlich in so großer Zahl zurückzukommen, wie Mücken in einem Schwarm. Anfangs, noch ohne eigene Häuser auf unserem Land, gaben sie sich freundlich gegenüber den Indiovölkern. Dann entdeckten sie die Schönheiten unserer Wälder und beschlossen, sich hier niederzulassen. Jedoch, seit sie sich bei uns eingenistet haben, seit sie ihre Häuser gebaut und ihre Pflanzungen angelegt haben, seit sie mit ihrer Viehzucht anfingen und den Boden nach Gold durchwühlen, haben sie ihre Freundschaft zu uns vergessen. Sie haben angefangen, die Waldbewohner zu töten, die in ihrer Nachbarschaft wohnten.

„Wir haben dieses Land entdeckt! Wir besitzen die Bücher, und deshalb sind wir die Bedeutenden!“ sagen die Weißen. Aber das sind nur Lügen – die sie sogar aufgeschrieben haben. Sie haben nicht mehr geleistet, als den Waldbewohnern ihren Lebensraum gestohlen, um ihn zu verwüsten. Die gesamte Erde wurde einstmals als ein Ganzes von Omama geschaffen – die Erde der Weißen und unsere – zusammen mit dem Himmel. Und all das existiert schon seit allererster Zeit, als Omama uns schuf. Und deshalb glaube ich auch nicht an die Worte von der Entdeckung Brasiliens durch die Weißen. Dieses Land war nicht leer! Ich habe beobachtet, daß die Weißen nur daran interessiert sind, sich unser Land anzueignen – deshalb wiederholen sie stets diese Worte von der „Entdeckung“.

Aber ich bin der Sohn der antiken Yanomami, ich bewohne den Wald, in dem meine Familie schon seit meiner Geburt gelebt hat, doch ich gehe nicht herum und sage zu den Weißen, dass ich den Wald entdeckt habe. Er war schon immer da, schon lange vor mir. Ich sage nicht: „Ich habe dieses Land entdeckt, weil meine Augen darauf gefallen sind, und deshalb gehört es mir!“ Ich sage auch nicht: „Ich habe den Himmel entdeckt!“ Und ich sage nicht: „Ich habe die Fische entdeckt und die Jagd!“ Alle diese Dinge waren schon immer dort – seit Anbeginn der Zeit. Also kann ich höchstens sagen, dass ich mich ebenfalls an ihnen freue und mich durch sie ernähre – das ist alles.

Wir Yanomami möchten, dass der Regenwald so bleibt, wie er immer war – und für immer. Wir möchten in ihm leben, in guter Gesundheit, und mit uns die Geister Xapiripë, die jagdbaren Tiere und alle Fische. Wir kultivieren nur die Pflanzen, welche uns ernähren – wir brauchen keine Fabriken, keine Löcher in der Erde und keine verschmutzten Flüsse. Wir möchten, dass der Wald ein ruhiger Ort bleibt, dass der Himmel klar über uns steht, dass sich die Dunkelheit der Nacht weiterhin und mit aller Regelmäßigkeit über Mensch und Tier senkt, und dass man die Sterne sehen kann. Die Erde der Weißen ist verdorben, sie ist bedeckt von dem epidemischen Rauch Xawara, der sich bis zum Gewölbe ihres Himmels erhebt. Dieser Rauch fließt auch in unsere Richtung, aber noch hat er uns nicht erreicht, denn der himmlische Geist Hutukarari vertreibt ihn unermüdlich. Über unserem Wald ist der Himmel immer noch klar, weil es noch nicht lange her ist, daß sich die Weißen in unser Gebiet eingeschlichen haben. Aber eines Tages, vielleicht wenn ich schon tot bin, wird auch dieser Rauch sich so weit ausgebreitet haben, dass er die Erde verdunkelt und die Sonne zum Erlöschen bringt. Die Weißen denken nie an diese Dinge, welche die Schamanen schon seit langem befürchten, und deshalb haben sie keine Angst vor den Konsequenzen. Ihre Gedanken sind voll von Vergessenheit, deshalb müssen sie ihre Worte aufzeichnen. Wir dagegen bewahren die Worte unserer Vorfahren seit langer Zeit in unserem Kopf auf, und wir überliefern sie unseren Kindern. Die Weißen fahren fort, ihre Gedanken nur an ihre Waren zu verschwenden – so als ob sie ihre Geliebten seien.

Meine Entdeckung Brasiliens

Geboren bin ich im zerbombten Frankfurt am Main, als erster Sohn verkrachter Eltern, die mir trotz allem noch zwei Brüder bescherten, deren seelisches Gleichgewicht in diesem Elternhaus wesentlich mehr gelitten hat als meins, weil sie unter jenen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Mutter noch ein paar Jahre länger aushalten mussten, während ich bereits weit weg im fernen Brasilien meine ersten Schritte als Einwanderer tat.

Ich hatte das Realgymnasium bis zur Mittleren Reife hinter mich gebracht, anschließend Marketing in Abendkursen studiert und war tagsüber bei einer internationalen Werbeagentur als Azubi tätig gewesen. Meine Mitgliedschaft bei den Christlichen Pfadfindern hat meine große Liebe zur Natur maßgebend gefördert und mir etwas Ablenkung vom familiären Desaster beschert. Als ich mein Marketing-Diplom bekam, hatte ich meine Schiffspassage bereits in der Tasche. Bestimmte Gründe für meine Brasilien-Wahl gab es eigentlich keine, ich wollte nur möglichst weit weg von zu Hause und verband mit diesem Land Träume von Sonne, Wärme, unberührter Natur und, schon seit meiner frühesten Kindheit, auch von wilden Indianern.

Meine persönliche Entdeckung Brasiliens begann im Oktober 1961, als ich nach einer langen Schiffsüberfahrt von einundzwanzig Tagen mit zwei Koffern und einem Sack voll fantastischer Vorstellungen in der Hafenstadt Santos an Land ging. Mein erster Eindruck war dann eher enttäuschend: Einwanderer und Touristen wurden über Stunden, auf ihrem Gepäck sitzend, in einem großen Zollgebäude festgehalten, um dann, wenn sie endlich an der Reihe waren, ihre gesamte Habe in allen Einzelteilen auf den dafür vorgesehenen langen Tischen vor den Zollbeamten ausbreiten zu müssen, während diese wahllos darin herum stocherten und nach abgeschlossener Inspizierung es zivilen Helfern überließen, alles wieder in die Kisten und Koffer der Betroffenen zurück zu stopfen, was bei jenen konvulsivische Schweißausbrüche und auch hie und da lautstarke Proteste auslöste.

Was ich anschließend aus dem Fenster des Busses sah, der mich die achtzig Serpentinenkilometer nach São Paulo hinaufbrachte, versöhnte mich wieder: Urwald in zahllosen Grünnuancen bedeckte die Berghänge, rosa, violett und gelb blühende Bäume dazwischen, Wasserkaskaden, die in grellem Weiß aus dem Grün herausblitzten – meine erste Begegnung mit dem Atlantischen Regenwald und der Natur der Tropen, die meine kühnsten Erwartungen übertraf. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Die Metropole São Paulo empfing mich dagegen erschreckend monströs, laut und versmogt. Einem freundlichen Taxifahrer machte ich mit Händen und Füßen klar, mich zu einer billigen Unterkunft zu kutschieren. Und ich bin diesem netten Mann bis heute dankbar für seinen Einfall, mich vor jener kleinen Pension im Stadtteil Mariana abzusetzen, deren Besitzer sich als ein älteres deutsches Ehepaar entpuppten, die mich mit einer Herzlichkeit aufnahmen, welche einen entscheidenden Einfluss auf die spätere Entwicklung meiner brasilianischen Wurzeln haben sollte.

Auf der Suche nach einem Job gelang es mir, mich wenigstens mit der einen oder anderen Chefsekretärin in Englisch zu verständigen, denn auf der Straße half mir das überhaupt nichts, und in der portugiesischen Landessprache hatte mir eine erste schokoladenbraune Freundin leider nur ein paar wenige, sehr gefühlvolle Worte beigebracht, die ich in diesem Fall jedoch kaum hätte anbringen können. Trotz dieser Sprachschwierigkeiten fand ich innerhalb einer Woche meinen ersten Job bei einer amerikanischen Werbeagentur, bei der ich nicht viel reden, sondern eher gut hinschauen musste. Nach zwei Jahren flog ich wieder raus, weil ich mich weigerte, eine neue Kampagne für eine weltbekannte amerikanische Zigarettenmarke zu entwickeln, deren Mann mit dem Loch im Schuh „meilenweit für seine Zigarette geht”, jedoch langsam zu alt für solche Anstrengungen geworden war. Dass ich als Nichtraucher „den Geschmack“ einer Zigarette nicht marktfördernd nachempfinden konnte, das wollte man in der Chefetage nicht akzeptieren, also nahm ich, nach diesen zwei Jahren schon etwas selbstbewusster in der neuen Umgebung, meinen Hut und ging. Und weil die hektische, versmogte Großstadt São Paulo sowieso nicht meinen Brasilienträumen entsprach, fiel mir der Abschied nicht schwer.

Ich versuchte es mit Rio de Janeiro. Dem Redaktionschef einer bekannten Wochenzeitschrift gefiel, was ich so nebenbei fotografiert hatte, und so bekam ich meinen zweiten Job in einem Metier, das ich bisher nur als Hobby betrieben hatte – kam aber damit meinen Träumen schon ein bisschen näher. Bald wussten alle meine Kollegen, dass mich vor allem die wilde Natur ihres Landes faszinierte. Prompt schob man mich vor, wenn zum Beispiel ein Flugzeugabsturz im Amazonas-Urwald oder die Befriedung eines neu entdeckten Indiodorfes dokumentiert werden sollten, denn diese wilde Natur war meinen Kollegen zu unbequem, die Moskitos zu unangenehm, die Geschehnisse zu unberechenbar und oft sogar gefährlich. Die meisten von ihnen hatten Familie, sie brauchten abends ihr Bierchen und wollten am Wochenende an den Strand oder zum Fußball – also bekam ich diese Aufträge. Und ich liebte sie. Meine Bilder gefielen auch den Lesern, und bald begann man mich zu den abenteuerlichsten Aufträgen heranzuziehen: Mit den „Jangadeiros“ des Nordostens war ich zum Hai-Fang auf hoher See – die „Caranguejeiros“ fotografierte ich beim Krebsfang in den Mangrove-Sümpfen von Paraíba – bei den „Gaúchos“ der südlichen Pampa lernte ich mit Wurfkugeln Rinder einzufangen, zwei Monate verbrachte ich bei Goldschürfern in der Serra dos Carajás und entdeckte den Weg zurück in die Steinzeit bei Indiovölkern des Mato Grosso und im Amazonasgebiet.

Schließlich befuhr ich die berüchtigte „Transamazônica“ mit dem Motorrad, um mir ein persönliches Bild vom Raubbau des Menschen an diesem größten Ökosystem unseres Planeten machen zu können.

Nachdem ich meinen ersten Kontakt mit dem Volk der Xavante fotografiert hatte, entdeckte ich in mir eine unbändige Lust am Abenteuer – fast sieben Jahre lang durchstreifte ich die brasilianische Wildnis als selbständiger Fotograf und lernte mehr als dreißig indigene Völker kennen. Ihr einfaches Leben in Harmonie mit der Natur hat meine eigene Lebensphilosophie ganz wesentlich beeinflusst. Ein späterer Neuanfang in der Zivilisation misslang, weil mich ein geregeltes Büroleben schon nach kurzer Zeit anödete.

Einer blonden Eva aus dem Schwarzwald, die in Brasilien herumreiste, gelang es schließlich, mich wenigstens halbwegs für ein zivilisiertes Leben zurückzugewinnen. Es war ihre Idee, meine Erfahrungen mit dem freien Leben in unberührter Natur in einer Branche umzusetzen, die uns auch finanziell etwas einbringen sollte – dem Tourismus. Wir bauten ein Hausboot und führten damit internationale Brasilienbesucher durch die Wildnis des Pantanal – sie kochte an Bord und ich zeigte den Gästen die artenreiche Tierwelt. Es machte uns großen Spaß, und wie wir hörten und später in Berichten lesen konnten, unseren Gästen ebenfalls.

Nach einem Deutschlandaufenthalt von wenigen Wochen zurück in Cuiabá (Mato Grosso) mussten wir feststellen, dass unser Hausboot inzwischen verschwunden war – gestohlen. Zwar entdeckten wir es später in Trümmern wieder, aber das wertvollste Stück, der Dieselmotor, war weg. Eva wollte enttäuscht zurück in den Schwarzwald, ich wollte trotz allem in Brasilien bleiben. Also ging sie zurück – und ich blieb.

Eine deutsche Touristikagentur in Rio de Janeiro bot mir die Leitung ihrer Incoming-Abteilung an – immerhin ging ich jetzt auf die Vierzig zu, und selbst wenn ich mich wieder in ein neues Abenteuer stürzen würde, bräuchte ich auch dazu Geld – also nahm ich an, denn der Job gefiel mir. So kam ich einmal pro Jahr dazu, anlässlich der Touristikmesse (ITB) in Berlin meine Brüder und deren Familien sowie alte Freunde wiederzusehen – allerdings hatte ich jedesmal nach wenigen Wochen wieder Heimweh nach Brasilien.

Sie nannten mich Gringo

Diese volkstümliche Bezeichnung für Ausländer, die aus einem englischen oder amerikanischen Kulturkreis kommen, ist in Brasilien eigentlich weniger gebräuchlich. Hier werden Ausländer in der Regel als „Estrangeiros“ (Fremde) bezeichnet oder nach ihrem Heimatland benannt – also in meinem Fall als „Alemão“, weil ich aus Alemanha (Deutschland) kam – und so nannten mich auch die meisten Brasilianer, die mich gerade erst kennengelernt hatten und denen mein Vorname noch nicht geläufig war.

Dass der Spitzname „Gringo“ in unserer Redaktion an mir haften blieb, verdanke ich Júlio, dem Chefredakteur. Er war der erste, der mich so nannte. Von Haus aus Mexikaner, hat er mir die Entstehung der Bezeichnung „Gringo“ folgendermaßen erklärt: Im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg (1846-1848) begegneten die Mexikaner den in grüne Uniformen gekleideten Feinden mit der Parole „Greens go home“ – oder der Kurzform „Green go“ – aus der sich später bei ihnen die Bezeichnung „Gringo“ für US-Bürger und alle englisch sprechenden Ausländer entwickelt haben soll. Bewiesen ist das nicht, aber eine interessante Anekdote.

Teil I

Die Brasilianer

Nachdem ich so viele Jahre meines Lebens unter diesen bemerkenswerten Lebenskünstlern verbracht habe, fühle ich mich berechtigt und verpflichtet, meine Erfahrungen mit ihren typischen Charaktereigenschaften, ihren überraschenden bis skurrilen Verhaltensweisen und ihren ungewöhnlichen Sitten und Gebräuchen niederzuschreiben. Es sind jedoch – das sollten Sie als Leser meiner Aufzeichnungen stets bedenken – die Erfahrungen eines Gringos. Genauer gesagt eines Deutschen mit einem typisch deutschen Kultur- und Erziehungsfundament, der sich Brasilien als Wahlheimat ausgesucht hat, nachdem er, wie so viele Erstbesucher Brasiliens, sich in dieses Land und seine so strahlend unbekümmert auftretenden Bewohner regelrecht verliebt hatte.

Diese multikulturelle Nation setzt sich aus Emigranten zusammen, die aus allen Ecken unseres Planeten im Lauf der Jahrhunderte in dieses Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten einströmten und ihre Sitten und Gebräuche, vor allem auch ihre Sprache, mitbrachten. Darunter haben fünf Nationen, stärker als alle anderen, durch ihre großen Einwanderungs-Kontingente die brasilianische Kultur maßgebend beeinflusst:

Die Portugiesen

Verantwortlich für die Invasion der Neuen Welt, waren sie praktisch die ersten Europäer in diesem Land. Gemischt mit den Ureinwohnern, den Indios, später auch mit afrikanischen Sklaven, bilden sie den europäischen Kern dieser Mischkultur, die wir als „brasilianisch“ bezeichnen. Nach der Unabhängigkeit Brasiliens, und im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, wurden die Portugiesen infolge der Schwierigkeiten, denen sie in Portugal gegenüberstanden – der allgemeinen Armut des Landes, das sich in immer neue Kolonialkriege verstrickte und seine Kolonien nacheinander wieder verlor – erneut von Brasilien angelockt. Und die Übereinstimmung der Landessprache war bei der Entscheidung, nach Brasilien auszuwandern, natürlich ein bedeutendes Argument. Ihre Einwanderung fand während des 20. Jahrhunderts in kontinuierlichen Schüben statt. Portugiesische Emigranten wurden auf verschiedenen Gebieten tätig, ihr bevorzugtes Arbeitsfeld war und ist jedoch der Kommerz.

Die Spanier

Die Präsenz der Spanier in Brasilien reicht ebenfalls weit zurück. Die große spanische Einwanderungswelle kam gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie bestand hauptsächlich aus Bauern, die sich auf die Kaffee-Plantagen verteilten, um dort zu arbeiten. In dieser Epoche wanderten die Andalusier ein, wenig später die Katalanen, die Basken und die Valenzianer. Die Spanier waren diejenigen, welche sich am meisten auf den Staat São Paulo als neue Heimat konzentrierten – eine Zählung von 1920 belegt, dass sich 78% der eingewanderten Spanier in São Paulo angesiedelt hatten.

Die Italiener

Die Massenauswanderung der Italiener nahm ihren Anfang nach der Vereinigung Italiens, im Jahre 1871. Die erste große Welle von Einwanderern wurde auf die Kaffee-Plantagen im paulistanischen Hinterland geschickt. Zusammen mit den Spaniern ersetzten sie die befreiten Sklaven auf den Feldern. Sie hatten das Versprechen eines kleinen Grundstücks und einer guten Bezahlung in der Tasche, wurden aber von der Realität, die sie vorfanden, bitter enttäuscht. Deshalb gingen viele von ihnen wieder zurück in die Städte und fingen an, in Fabriken zu arbeiten oder im Warenhandel. Die Prägung dieses Volkes war aber nicht nur auf die Industrie begrenzt. Sie beeinflussten auch die Essgewohnheiten der Regionen, in denen sie sich festsetzten. Die Pasta, die Pizza und ihr Wein wurden rasch in die brasilianischen Menüs integriert.

Die Japaner

Man schrieb das Jahr 1908, als die ersten Japaner nach Brasilien kamen, es war eine von Brasilien subventionierte Einwanderung. Weil inzwischen die italienische Regierung Schwierigkeiten machte, ihre Landsleute auswandern zu lassen, andererseits die brasilianischen Kaffee-Plantagen dringend Arbeitskräfte brauchten, wandte man sich mit einem Subventions-Vorschlag an Japan. Innerhalb kurzer Zeit entwickelten sich die Japaner zu kleinen bis mittleren Grundbesitzern. Anders als die übrigen Einwanderer, welche im Lauf der Jahre das Hinterland gegen eine Wohnung in der Stadt einzutauschen pflegten, blieb der größte Teil der Japaner der Landwirtschaft treu. Sie vervielfältigten die Produktion von Gemüse, Früchten und Federvieh und haben sich heute zu unentbehrlichen Lieferanten der meisten Agrarprodukte im Staat São Paulo entwickelt.

Die Deutschen

Bald nach der Unabhängigkeit Brasiliens (1822) erreichten die ersten deutschen Einwanderer brasilianischen Boden. Und im Lauf der nächsten einhundert Jahre haben insgesamt 250.000 deutsche Emigranten Brasilien gegen ihre Heimat eingetauscht. Verglichen mit der Zahl der Italiener oder Japaner fiel diese erste Einwanderung der Deutschen, besonders im Staat São Paulo, relativ gering aus. Aber es kam eine zweite Welle, ausgelöst durch die Nazi-Verfolgungen in Deutschland in den 1930er Jahren, die mehrheitlich aus deutschen Juden bestand. Die setzten sich in der Hauptstadt São Paulo in sogenannten ethnischen Stadtteilen, wie Bom Retiro und Santo Amaro, fest. Ihre Kolonie konzentrierte sich auf kommerzielle und industrielle Aktivitäten.

Im Grunde kann man deshalb dieses über 200-Millionen-Volk, das im fünftgrößten Land unseres Planeten lebt und aus eingeborenen Indios, portugiesischen Eroberern, eingeschleppten afrikanischen Sklaven und zugewanderten Emigranten aus allen Ecken der Welt hervorgegangen ist, auch heute noch nicht als eine Nation betrachten. Und man müsste sie eigentlich nach den einzelnen geografischen Regionen unterscheiden, in denen sie jeweils leben – also nach Brasilianern aus dem Norden, dem Nordosten, dem Mittelwesten, dem Südosten und dem Süden. Es liegen riesige Entfernungen zwischen den jeweiligen Zentren dieser ganz unterschiedlichen Landesteile, die von jenen 25%, die es sich leisten können, in der Regel per Flugzeug überbrückt werden, dagegen bringen zwei Drittel der Brasilianer höchstens einmal im Jahr die Mittel auf, sich per Bus tagelang auf prekären Landstraßen durchschütteln zu lassen, um ihre Angehörigen im Hinterland wiederzusehen. Für die Entfernung von Porto Alegre nach Manaus – auf dem Landweg rund 4.500 km – brauchen sie circa 64 Stunden, rund um die Uhr im Bus – wenn unterwegs kein Reifen platzt oder sonst irgendein Problem die ermüdende Reise unterbricht.

Geografische, klimatische und wirtschaftliche Bedingungen haben die Bewohner der jeweiligen Regionen zusätzlich geprägt und geformt. Allerdings hat sich, den zahlreichen Kontrasten zwischen den einzelnen Regionen zum Trotz, die portugiesische Sprache im ganzen Land durchgesetzt – und zwar von Nord bis Süd fast dialektfrei. In ihrer Aussprache und Sprachmelodie weicht sie jedoch vom portugiesischen Original stark ab. Die gemeinsame Sprache und das gemeinsame Fernsehnetz halten die Brasilianer zusammen, besser als das die Regierung in Brasília könnte, die für die einen „viel zu wenig präsent“ und für die anderen „Gott sei Dank weit weg“ ist.

Gemeinsamkeiten der Brasilianer

Sie sind freundlich gegenüber Touristen, aufgeschlossen und hilfsbereit, wo immer sie ihnen begegnen. Also zögern Sie nicht, sie um eine Auskunft zu fragen. Allerdings sollten Sie nicht erwarten, dass Sie auf der Straße in Englisch verstanden werden – nicht einmal in Spanisch. Wenn Sie kein Portugiesisch sprechen, wenden Sie sich am besten an eine Hotel-Rezeption.

Sie hören gerne Lob und anerkennende Worte über ihr Land, ihre Stars und Sportler, ihre Familie, ihren Fußballclub u.a. – ganz besonders aus dem Mund eines Besuchers aus dem bewunderten Europa.

Sie sind nicht nur kinderfreundlich – sie sind geradezu kindernärrisch. Kindern gewährt man hier viele Vorrechte und drückt beide Augen zu, ohne sich aufzuregen.

Sie stellen sich an Bus-Haltestellen, vor Supermarkt-Kassen, in Banken, beim Einchecken am Flughafen etc. in eine Warteschlange. Mütter mit Kindern, Schwangere, ältere und behinderte Personen haben Vortritt.

Sie sind Meister der Improvisation, weniger der Organisation. Um nicht anzuecken, brauchen Sie also sehr viel Geduld und Verständnis.

Sie diskutieren gern über Politik, Fußball, Frauen und verwandte Themen. Am besten Sie halten sich aus solchen Diskussionen heraus. Geht das nicht, und werden Sie um Ihre Meinung gefragt, machen Sie eine positive Bemerkung. Ihre tatsächliche Meinung könnte sonst den Nationalstolz treffen – und dann haben Sie auf einmal alle gegen sich.

Sie sind neugierig auf Europa. Vermeiden Sie aber, im Gespräch Vergleiche zwischen Brasilien und Europa anzustellen – es sei denn, Brasilien kommt in diesem Vergleich besser weg. In diesem Fall haben Sie einen Stein im Brett.

Sie haben es gern laut. Der Begriff „Lärmbelästigung“ ist in diesem Land weitgehend unbekannt, sowohl bei denen, die den Lärm verursachen, als auch bei jenen, die davon betroffen sind. Musik dröhnt tagsüber aus beinahe jedem Geschäft, nachts aus den meisten Wohnungen, bis die Verursacher zu Bett gehen. Frei nach dem Motto: Wenn Sie als Nachbar nicht schlafen können, dürfen Sie gerne rüberkommen und mitfeiern.

Sie nehmen sich für alles sehr viel Zeit. Eigentlich ist diese Gelassenheit beneidenswert. Wer sich als ungeduldig offenbart, drängelt und auf seine Rechte pocht, hat hier schlechte Karten, er wird in der Regel ignoriert. Dagegen kann man Unmögliches erreichen, wenn man die Ruhe bewahrt und freundlich bleibt.

Sie betrachten ausländische Besucher grundsätzlich als reiche Leute – wie sonst könnten sie sich eine solche Urlaubsreise leisten? Machen Sie sich also darauf gefasst, dass Taxifahrer, Kellner, Botenjungen und andere Dienstleistende versuchen werden, Ihnen erhöhte Preise abzuverlangen. Sie schützen sich gegen diesen Missbrauch, indem Sie vorher den Preis erfragen, zum Beispiel in einer Strandkneipe ohne Speisenkarte, bei einem Taxifahrer ohne Taxometer oder bevor Sie einen Boten beauftragen. Das gilt hier nicht als peinlich, sondern als clever, und es bringt Ihnen Respekt ein. Peinlich wird es für Sie, wenn Sie hinterher lamentieren.

Brasilianern ist auch unser europäischer Perfektionismus ziemlich fremd. Zum Beispiel wird es Ihnen in dem einen oder anderen Restaurant passieren, dass das von Ihnen ausgesuchte Menü gerade nicht vorrätig ist. Die Speisenkarte ist manchmal nicht als Verzeichnis der allzeit lieferbaren Gerichte zu verstehen, sondern eher als Übersicht des Koch-Repertoires. Am besten Sie fragen vorher, was Sie bestellen können.

Brasilianer, ich sagte es schon, hören gerne Komplimente und teilen sie selbst auch gern und häufig aus. Aber machen Sie als Mann einem andern nicht unbedingt ein Kompliment über seine Frau – das wird er falsch verstehen. Und seiner Frau allein besser auch nicht – sie wird es ihm erzählen. Wenn Sie allerdings als Frau ihm allein ein Kompliment machen wollen – nur zu, er wird es ihr nicht erzählen. Aber hüten Sie sich, wenn sie dabei ist!

Mit einer Ausdehnung von 8,5 Millionen Quadratkilometern, etwa vergleichbar mit der Fläche Europas, ist Brasilien neben seiner geografischen Herausforderung natürlich auch eine wirtschaftliche. Eine Regierung, die in solchen Maßstäben eine ordentlich funktionierende Infrastruktur schaffen und kontrollieren will, ist ständig überfordert. Besonders wenn sie sich aus einer geradezu obszönen Zahl von korrupten Politikern zusammensetzt. Die Brasilianer dürften die einzige Nation der Welt sein, die einen Oscar für ihre politische Toleranz und Duldsamkeit verdient.

Brasilianer vor der Kamera

Ausdrucksstarke Gesichter, dunkle, oft mandelförmige Augen mit einer haselnussbraunen bis kohlschwarzen Iris, selbstbewusst und voll strahlender Freude am Leben, teils provokativ, manchmal auch in verhaltener Melancholie – die Menschen Brasiliens mit der Kamera festzuhalten, hatte ich mir schon vor Jahren vorgenommen.

Brasilianer lassen sich im allgemeinen gerne fotografieren. Sich vor einer Kamera zu präsentieren entspricht ihrer, wahrscheinlich angeborenen, Extrovertiertheit, die man besonders dort beobachten kann, wo mehrere Exemplare dieser Exoten aufeinandertreffen: in einer Bar an meiner Ecke in Botafogo oder vor einem Kiosk in Ipanema, am Strand von Copacabana oder im Grün des Botanischen Gartens, im Omnibus oder in der Metro, auf dem Flaniertrottoir der Avenida Atlantica oder im weiträumigen Flamengo-Park, in einem Shopping-Center oder einem Churrasco-Restaurant, beim bunten Straßenkarneval auf der Avenida Rio Branco oder im brodelnden Maracanã-Stadion beim Fußball.

Das authentische Brasilien beginnt allerdings außerhalb der Großstädte – weit weg von den Fünf-Sterne-Hotels. Die Menschen des Interiors sind die eigentlichen Repräsentanten typisch brasilianischer Lebensart, einer regionalen Kultur und Folklore, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat. Also beginnt bei und mit ihnen auch das eigentliche Brasilienerlebnis – das Brasilien der „Gaúchos“ (Rinderhirten des Südens), der „Caiçaras“ (Fischer des Südostens), der „Pantaneiros“ (Bewohner des Pantanals in Mato Grosso), der „Seringueiros“ (Latexsammler in Amazonien), der „Índios“ (Eingeborene des Hinterlandes), der „Caboclos“ (Hinterwäldler, Mischung aus Indios und Weißen), der „Sertanejos“ (Bauern aus dem nordöstlichen Sertão), der „Jangadeiros“ (Floßfischer der Nordostküste), der „Caranguejeiros“ (Krebsfänger aus dem Nordosten) und noch vielen weiteren Bewohnern des brasilianischen Hinterlandes.

Wir Menschen aus der westlichen Welt sind es gewohnt, alles, was wir in einem fremden Land sehen, auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu wollen, um uns das, wie wir meinen, typische Bild eines Volkes und dessen Lebensstils zu machen. Brasilien liefert uns da ein eigenwilliges Paradox: Der gemeinsame Nenner sind seine Gegensätze. Kontraste, wie man sie hier findet, hätten wahrscheinlich jedes andere Land längst gesprengt.

Vor Jahren (zwischen 1965 und 1970) entstanden die Portraits meiner ersten Begegnungen mit brasilianischen Ureinwohnern, die seit Kolumbus „Indios“ genannt werden und mich mit ihrem harmonisch in die Natur integrierten Lebenszyklus am meisten faszinierten, sodass ich mehrere Jahre ihr einfaches Leben teilte. Sie waren es, die mich den Umgang mit den natürlichen Ressourcen des Regenwaldes lehrten, und sie waren es auch, die in mir eine unstillbare Sehnsucht nach einem naturverbundenen Leben weckten – einem Ideal, dessen Ruf ich, wann immer es mir möglich war, folgte. Und das kann man in Brasilien leichter umsetzen als in Europa.

Ebenfalls schon vor Jahren (zwischen 1975 und 1985) entstanden meine Bilder aus dem trockenen brasilianischen Nordosten, von Menschen, die unter unglaublich bescheidenen Umständen mit dem Leben zurechtzukommen versuchen – oft noch ohne Elektrizität und immer abhängig vom Regen. Bei diesen Portraits kann von Extrovertiertheit kaum die Rede sein, denn die haben sie ihrer kontinuierlichen bangen Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer kargen Existenz geopfert. Mit den sich von Jahr zu Jahr vertiefenden Furchen in ihren enttäuschten Gesichtern ist auch der Glanz ihrer Augen langsam erloschen. Nur ihre Kinder haben das Lachen noch nicht verlernt.

Von damals bis heute hat sich im materiellen Leben der Brasilianer im Hinterland kaum etwas wesentlich verändert, wenn man mal von der äußeren Erscheinung der Indios absieht. Sie haben inzwischen fast alle ihre ehemalige, mit bunten Federn und schwarz-roten Pflanzenfarbstoffen geschmückte natürliche Nacktheit gegen mehr oder weniger abgetragene Kleidungsstücke eingetauscht.

Im brasilianischen Nordosten scheint die Zeit stillzustehen. Trotz der ewigen Versprechungen der Politiker besteht das Leben der Menschen im trockenen „Sertão“ immer noch mehr aus Hoffnung als aus realem Fortschritt. Für den Fotografen die gleichen fotogenen Impressionen wie vor dreißig Jahren: bunte Marktszenen unter freiem Himmel – Warentransport per Esel, Pferd oder Ochsenkarren – Fischfang auf offenem Meer mit vom Wind getriebenen Segelflößen – mühsamer Krebsfang im Schlamm der Mangroven – Kunsthandwerk aus geschickten, runzeligen Händen jener Menschen, die aus ihrer materiellen Not die besten Tugenden hervorgebracht haben: materielle und persönliche Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Ausdauer und Beharrlichkeit, tiefe Religiosität und eine Hoffnungsbereitschaft, die mich immer wieder beschämt. Und ich habe sogar die einen oder anderen inzwischen mal lachen gesehen – mit mehr oder weniger Zähnen im Mund und unter tief eingegrabenen Sorgenfalten. So ein Ereignis nimmt einen richtig mit, kann ich Ihnen sagen. Aber dann erst das Lachen der Kinder – ihre Unbeschwertheit haut einen glatt um.

Die vielen Kontraste sind es auch, die eine Reise durch Brasilien so interessant, erregend und abenteuerlich machen. Während die Zeit in den Großstädten dahineilt und die Stadtlandschaften unglaublich schnell verändert, scheint sie im Interior Brasiliens stillzustehen. Hier kann man den meisten Szenarios von vor vierzig Jahren auch heute noch unverändert begegnen. Solche Gegenden sind für den persönlichen Komfort eines Europäers zwar nicht immer die reine Freude, aber bestimmt für jeden begeisterten Fotografen, in dem, wer wollte das leugnen, ja stets auch ein Abenteurer steckt.

Die Brasilianische Musik

Natürlich wäre es unfair, über Brasilianer zu schreiben, ohne ihre Musik und ihre zweifellos bewundernswerte musikalische Kreativität zu erwähnen.

Ob in der Großstadt oder im Hinterland, Musik ist in Brasilien allgegenwärtig. Sie schallt aus den Plattenläden, dröhnt aus Reklame-Lautsprechern, aus Autofenstern und oft live aus der einen oder anderen Bar – besonders an Wochenenden. Auf dem Sand der Strände oder einem Rasen im Park bilden sich kleine Gruppen um eine Gitarre herum – oft geht das Instrument von Hand zu Hand, und jeder gibt seinen Beitrag, der Rhythmus kann mit einem Stäbchen auf einer Bierdose akzentuiert werden, oder auf einem Plastikbecher. Auf vieles können Brasilianer verzichten, nicht aber auf Musik und Rhythmus. Musik bedeutet Nähe und Geborgenheit – Alleinsein wird tunlichst gemieden.

In Brasilien ist die Musik ein wichtiges Medium der allgemeinen Kommunikation: Eine schöne Melodie versetzt die Seele in Schwingungen und öffnet sie für einen informativen oder gefühlsbetonten Text. Der kommt oft als kleine, dramatische Geschichte daher – als romantische Liebeserklärung oder eine die Tränendrüsen provozierende Tragödie.

Da sehnen sich die weiblichen Angestellten einer Telefonzentrale in Rio nach dem einsamen Kuhtreiber aus der Weite des Mato Grosso, der mit einem sexy Timbre seine vergebliche Suche nach einer Herzallerliebsten besingt. Die Fließbandarbeiter des brasilianischen Volkswagenwerks dagegen werden mit dem Song vom „Schwarzen Käfer“ so richtig angeturnt – da bleibt kein Auge trocken und den Refrain singen alle mit, während sie den Rhythmus mit dem einen oder anderen ihrer Arbeitsinstrumente improvisieren. Und wenn Reginaldo Rossi in leicht angesäuseltem Zustand einem Kellner von seinem Leidensweg mit einer verlorenen Liebe erzählt, dann wiegt sich sogar die ganze Nation in seinem unwiderstehlichen Refrain – und manche Träne wird verstohlen abgewischt.

Musik ist die schnellste Verbindung zwischen Menschen, sagt man – brasilianische Musik ist darüber hinaus noch ansteckend wie ein Virus. Wenn jemand einen Song vor sich hinträllert, summt sofort irgendjemand mit oder klopft den Rhythmus mit den Fingern auf die Tischplatte. Schon ist der Kontakt hergestellt. Es ist gar nicht leicht herauszufinden, wem mehr Bedeutung zukommt, der Melodie oder dem Text. Letzterer wird durchaus ernst genommen, besonders wenn er auf eine wunde Stelle im sozialen Gefüge der Gesellschaft zielt. Aus diesen Reihen profilierten sich die singenden Dichter der neuen Generation – wie Raul Seixas, Cazuza, Cassia Eller, Gabriel O Pensador, Reginaldo Rossi oder auch die Altmeister Chico Buarque de Holanda, Edu Lobo oder Milton Nascimento.

Wo Musik gemacht wird, da ist auch Freude und Bewegung. Es gibt wohl keinen Brasilianer, der Musik hört und dabei still sitzen bleibt. Ebenso gibt es keine Familienfeiern ohne Musik und Tanz – Beerdigungen mal ausgenommen. Wenn einer unmusikalisch ist, eine Seltenheit in diesem Land, dann trägt er wenigstens zum Rhythmus seinen Teil bei.

In den Ländern Amazoniens ist der Einfluss der Karibik unverkennbar. Am populärsten ist in dieser Region der Carimbó, ein Rhythmus, der an den Merengue erinnert und von Trommeln, Blasinstrumenten – gewöhnlich Klarinette – und Saiten, besonders dem Banjo, begleitet wird.

Die Musik des Nordostens ist eine Palette mit einer Klangbreite von afrikanischer Musik bis zu den Melodien des portugiesischen Mittelalters. In kolonialer Zeit verwandelte die Kirche die musikalische Energie dieses Volkes in religiöse Singspiele, Chorgesang und ebensolche Tänze – eine große Anzahl davon sind heute noch erhalten.

In Salvador da Bahia schlägt das Herz Afro-Brasiliens – ein sehr musikalisches Herz, geformt von der Yoruba-Religion, herübergebracht von Sklaven aus Nigeria und Angola. In Bahia ist ihr Kult unter der Bezeichnung „Candomblé“ bekannt: die Orixá-Götter werden durch Gesang und Tanz verehrt und pflegen sich der Körper von Medien in Trance zu bedienen, um mit ihren Bittstellern in Verbindung zu treten.

Und natürlich darf man die Samba-Schulen von Rio de Janeiro in ihrer beispiellosen Musikalität nicht vergessen, deren geballte Performance beim alljährlichen Karneval zum Ausdruck kommt. Weiter nach Norden erreichen wir die Staaten Espirito Santo, Minas Gerais und Goiás. Im kolonialen Ouro Preto, in Minas Gerais, kann man allenthalben noch die antiken Modinhas erleben, gesungen zur siebensaitigen portugiesischen Gitarre, als Serenade vor dem Balkon einer schönen Dame. Espirito Santo ist die Heimat des „Ticumbi“, einer Volksweise, die man zum Rhythmus einer Gitarre und Rumbarasseln tanzt. Der Staat Goiás teilt sich mit Minas Gerais ein reiches Erbe an religiösen Volksliedern und Tänzen, die aus Portugal stammen und als Folias, Modas und Calangos präsentiert werden.

Der Süden und seine Musik: In den Staaten Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul ist die Musik in Rhythmus und Instrumentierung eindeutig von den europäischen Einwanderern geprägt. Gitarre und Akkordeon sind hier die bevorzugten Instrumente, und die Namen der Tänze verraten direkt ihren europäischen Ursprung: Mazurkas, Valsas, Xotes, Polquinhas und Rancheiras.

In den frühen 1950er Jahren brach eine neue Ära an: mit einer musikalischen Invasion aus Bahia und dem Nordosten. Von Bahia kam Dorival Caymmi, der mit seinen Fischerliedern den Samba eine Weile verdrängte, und aus dem Nordosten brachte Luiz Gonzaga es fertig, mit seinem unwiderstehlichen Baião, begleitet vom Akkordeon, dem Zabumba (große Trommel) und dem Triangulo (Triangel), den Samba fast in die Vergessenheit zu treiben – sein „Asa Branca“ wurde ein Klassiker. Fast aus der Asche des Sambas erhob sich dann der Bossa Nova – weiß, mittelständisch und seidenweich. Vinícius de Moraes und Tom Jobim waren seine Helden, 1958 bis 1964 waren seine besten Jahre, Copacabana, Ipanema und Leblon ihr beliebtester Background: „Garota de Ipanema“ – „Desafinado“ – „Samba de uma nota só“ – waren die beliebtesten Songs, und Nara Leão, Baden Powell, Toquinho, João Gilberto, Luís Bonfã und einige andere seine besten Interpreten. Der amerikanische Jazz-Saxophonist Stan Getz, begeisterter Anhänger des Bossa Nova, half mit, diesen neuen Sound aus Brasilien in die ganze Welt hinauszutragen.

Brasilianer lieben eine Festinha (Party) egal wo, egal bei wem. Sämtliche Probleme des Alltags können durch eine Festinha erst einmal ad acta gelegt werden – und sie befreit die Fantasie. Und dann, zu etwas fortgeschrittener Stunde, entsteht sie wieder, die allgemeine Kommunikation durch die Musik: wenn nämlich plötzlich jemand anfängt, einen jener romantischen Texte mitzuträllern, die aus den Lautsprechern schallen – plötzlich trällern alle mit.

Die Brasilianer und der Sport

Die Attraktivität des Körpers durch sportliche Betätigung zu steigern oder – wenn einem das zu anstrengend ist oder zu lange dauert – einfach durch ein paar Schönheitsoperationen auf die Sprünge zu helfen, das steht in Brasilien fast an erster Stelle der persönlichen Interessen einer extravaganten Körperkultelite, die sich entsprechende Kosten und die dafür aufzuwendende Zeit leisten kann.

Natürlich sind es auch hier in erster Linie die Frauen, die ihre zahlreichen Sitzungen (oder besser: Liegungen) unterm Messer des Chirurgen wie einen regelmäßigen Gang zum Friseur oder zum Zahnarzt in ihrer Beauty-Agenda einzuplanen pflegen.

Das größte Kontingent der brasilianischen Körperkultur stellen allerdings diejenigen, welche die schweißgeschwängerte Stickigkeit der überall aus dem Boden schießenden Fitness-Studios viele Stunden am Tag inhalieren, als wäre es Rosenduft. Dort modelliert man seine Muskeln, um später im ärmelfreien T-Shirt an der Copacabana seinen kraftstrotzenden Traumtorso präsentieren zu können. Auf die weiblichen Besucher jener Fitness-Studios scheint der brünstige Schweißgeruch, der über den Foltermaschinen schwebt, eine eher stimulierende Wirkung auszuüben. Hinterher dürfen sie sich dann dem Rausch anerkennender Pfiffe und anzüglicher Bemerkungen der Männerwelt hingeben, wenn sie ihren Wonnekörper über das Wellentrottoir der Copa im „Fio dental“ (Zahnseiden-Bikini) bewegen oder in Ipanema, unter den Seufzern unzähliger Bewunderer, in den weichen Sand des Strandes betten.

Es ist sicher nicht abzustreiten, dass man mit dem Begriff Sport stets auch einen gewissen Körperkult verbindet – der besonders in Brasilien, wo das tropische Klima einen dazu zwingt, ziemlich viel vom eigenen Body unbedeckt zu präsentieren, geradezu religiöse Formen angenommen hat.

Aus einer Verbindung von Sport, Strand und Körperkult entstand zum Beispiel der Beach-Volley in Brasilien, der längst auch in Europa seine Anhänger gefunden hat und inzwischen zu einer olympischen Disziplin aufgerückt ist. Tatsächlich hat der „Vôlei de Praia“, wie ihn die Brasilianer nennen, in diesem Land eine Tradition, die auf die 1930er Jahre zurückgeht, als die ersten Amateur-Turniere an den Stränden von Copacabana und Ipanema ausgetragen wurden. Allerdings sah man jahrzehntelang im Vôlei de Praia nur ein Strandvergnügen, dem an den Wochenenden Millionen Menschen immer noch huldigen, besonders an den Stränden von Rio de Janeiro.

Natürlich steht Fußball in diesem Land – wie könnte es anders sein – ganz oben auf der Beliebtheitsskala sämtlicher Sportarten. Überall tritt beziehungsweise spielt man ihn mit Begeisterung – in den Straßen und Gassen der mittelklassigen Wohnbezirke, zwischen den windschiefen Bretterbuden der Favelas, im weichen Sand der Stadtstrände, auf den Rasenflächen der Stadtparks, auf den Sportplätzen der Militärkasernen wie auf den Gefängnishöfen. Der Fußball ist, so scheint es, Sinnbild einer Einheit im brasilianischen Volk, die man auf anderen Gebieten leider nur selten antrifft.

Fußball im Maracanã

Fünf Weltmeistertitel haben das Selbstbewusstsein des fußballverrücktesten Volkes der Welt gestärkt. Und gerne möchte ich Ihnen mal einen Ausschnitt aus meinen persönlichen Beobachtungen der Brasilianer und ihrem Lieblingssport präsentieren, wobei ich zugeben muss, dass mir der bei einem Fußball-Match explodierende Enthusiasmus dieser Menschen – ich meine da in erster Linie die frenetisch brüllenden und tanzenden Zuschauer – bis heute unverständlich geblieben ist.

Das „Estádio Jornalista Mário Rodrigues Filho“, besser bekannt als „Maracanã-Stadion“, ist eines der größten Sportzentren der Welt. Die gigantische Anlage wurde erst vor der WM 2014 renoviert und ist jetzt über den Tribünen teilweise überdacht und über dem Spielfeld offen – ein Vulkankrater, in dem die glühenden Leidenschaften für den Fußball im Allgemeinen, und für den Lieblingsverein im Besonderen, zum Kochen kommen – und nicht selten auch zum Überlaufen.

Um die allgemeine Nervosität vor Beginn eines Spiels zu unterdrücken, intoniert man gemeinsam die Vereinshymne, unterbrochen von den provokativen Zwischenrufen der gegnerischen Fans. Wallende Fahnen und Wimpel in den Vereinsfarben beleben das Gesamtbild. Nach dem Anpfiff bricht dann die Hölle los: Große Sambatrommeln dröhnen in frenetischem Rhythmus, Feuerwerkskörper und Rauchbomben zischen und zerplatzen über den Köpfen der Menge, Feuerballons werden gestartet. Und wehe, wenn der lokale Verein in Rückstand gerät: Dann fliegen Rollen mit Toilettenpapier und tote Hühnchen ins Publikum, die mit einem Macumba-Fluch gegen den Gegner belegt sind und stets bei einem ungleichen Tor-Verhältnis zum Einsatz kommen, um die Vereinsmannschaft zu retten.

Bis zur größten Niederlage ihrer Geschichte, bei der WM 2014 gegen Deutschland (auf die ich noch zurückkommen werde), durfte man anhand der bis dato von ihnen eingeheimsten Weltmeistertitel annehmen, dass die Brasilianer die Weltbesten in diesem Sport sind, und als „Penta-Campião“ (fünffacher Weltmeister) stehen sie immer noch an der Weltspitze in diesem Sport.

Woher kommt das brasilianische Talent?

Die Fußballbegeisterung saugen die Brasilianer sozusagen mit der Muttermilch ein – ob arm oder reich. Schon wenn sie krabbeln können, tun sie dies stets mit dem Ziel, dem größeren Bruder den Ball wegzunehmen. Und kaum stehen sie auf eigenen Beinchen, veranstalten sie ihre ersten Peladas (Straßenfußball) mit anderen Knirpsen auf dem Hinterhof. Und wenn sie heranwachsen, haben die meisten ihrer Träume mit Fußball zu tun.

Während Kinder in Europa sich mit allem nur erdenklichen technischen und elektronischen Spielzeug vergnügen, das brasilianischen Kindern in den meisten Fällen vorenthalten wird, weil mit dem geringen Einkommen ihrer Eltern unerreichbar, suchen diese sich ein geeignetes Objekt für den Straßenfußball – einen Kürbis, eine Pampelmuse oder eine Blechdose – und vergnügen sich damit. Und wenn endlich ein echter Fußball Einzug in die Familie hält, sind sie überhaupt nicht mehr zu bremsen, und ein wichtiges Match mit einem Straßen-Team aus der Nachbarschaft kann sie sogar zum Schwänzen der Schule verleiten. Und natürlich verfolgen sie schon von Kindesbeinen an die Entwicklung auf nationalem und internationalem Rasen, liegen bei jedem Spiel ihres Vereins kommentierend und Popcorn kauend in den Armen ihrer Väter vor der Flimmerkiste, schreien mit ihnen wie am Spieß, wenn ein Tor fällt – während ihre Schwestern und Mütter für Nachschub auf den Tellern und in den Gläsern sorgen. Inzwischen hat die brasilianische Fußballbegeisterung auch einige weibliche Teams hervorgebracht – auch ein brasilianisches Damen-National-Team, dessen Spielmacherin Martha gerade erst zur weltbesten Ballkickerin gekürt wurde.

Die Fernsehsucht der Brasilianer

Brasilien gehört zweifellos zu den Ländern mit den höchsten TV-Einschaltquoten der Welt. Die Glotze läuft in vielen Haushalten beinahe rund um die Uhr – mindestens von 6 Uhr morgens bis nach Mitternacht – egal, ob jemand hinschaut oder nicht. Die Hausfrau kocht, wäscht ab oder bügelt, während sie aus den Augenwinkeln eine Voroder Nachmittags-Novela verfolgt. Ihre Kinder balgen sich vor der Mattscheibe und ihrer Putzfrau rinnen Tränen des Mitgefühls über die Wangen, weil der Butler, mit dem sie sich heimlich identifiziert, in dem Rührstück als Dieb verdächtigt wird.

Jeden Mittwochabend und jeden Sonntagnachmittag wird das Gerät dann von den Fußball-Fans der Familie umlagert – außer dem Hund kann man eigentlich alle Mitglieder dazuzählen, doch selbst der findet sich ebenfalls vor der Mattscheibe ein, weil von den vielen Leckereien, die man zwischen hektischen Anfeuerungsrufen und Tor-Ekstasen in sich hineinstopft, auch immer mal etwas auf den Boden fällt.

Damit man aber dem Globo-Kanal, als zweitgrößtem TV-Kanal der Welt, nicht nachsagen kann, er bringe keine Bildungsprogramme, hat er diese auf die absurde Sendezeit zwischen 5 und 7 Uhr morgens gelegt, in der sich ein normaler Bürger in der Regel noch im Tiefschlaf befindet oder schon auf dem Weg zum Arbeitsplatz, denn auch in Brasilien stehen viele Menschen wegen ihrer langen Anfahrtswege schon sehr früh auf. Selbst die Gilde der Nachtwächter, die sich normalerweise mittels Fernsehen die Nacht um die Ohren schlägt, ist zu jener, für sie viel zu späten Stunde, nicht mehr aufnahmefähig. Wer schaut sich also um diese absurde Zeit ein Bildungsprogramm an?

Telenovelas aus der Traumfabrik

Eigentlich bin ich mit meiner Fernseh-Skepsis gänzlich ungeeignet, über die beim Volk so beliebten Novelas ein paar passende Worte zu schreiben. Denn es ist mir schon zuviel, wenn ein TV-Film nur eine einzige Fortsetzung hat – ich mag Filme, die in einem Stück, also auch ohne hinterlistige Werbungsintervalle, zur Sache und zum Ende kommen. Doch ich mache schon mal eine Ausnahme, bei einer Novela, die sich vor einer der großartigen Naturkulissen Amazoniens abspielt oder mit „echten Indios“ als Protagonisten besetzt ist.