Gemeinsam lernen - Auf dem Weg zu einer inklusiven Schule -  - E-Book

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Beschreibung

Bildung ist ein Menschenrecht! Im März 2009 trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft. Damit haben sich die Bundesländer verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen zu schaffen. Jedes Kind soll am Unterricht der Regelschulen teilnehmen können. Anders als in vielen anderen Ländern ist es bei uns derzeit noch üblich, Kinder mit Behinderungen, Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten in Förderschulen zu unterrichten. Aber Deutschland ist auf dem Weg: Der Band "Gemeinsam lernen - Auf dem Weg zu einer inklusiven Schule" greift die aktuelle Diskussion zum Thema auf und skizziert Strategien einzelner Bundesländer. Die mit dem "Jakob Muth-Preis für inklusive Schule" ausgezeichneten Schulen zeigen ebenso wie internationale Beispiele, wie ein gemeinsames Lernen konkret aussehen kann.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 E-Book-Ausgabe (EPUB)
Verantwortlich: Dr. Nicole HollenbachLektorat: Heike HerrbergHerstellung: Christiane RaffelUmschlaggestaltung: Nadine HumannUmschlagabbildung: Veit Mette, BielefeldSatz und Druck: Hans Kock Buch- und Offsetdruck GmbH, Bielefeld
ISBN : 978-3-86793-418-3
'www.bertelsmann-stiftung.de/verlag'
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Einleitung: Herausforderung Inklusion
Inklusion heißt Gemeinsamkeit von Anfang an
Inklusion und Leistung sind kein Widerspruch
Inklusive Bildung bei der UNESCO
Schulische Inklusion in Deutschland: Stand der Dinge
Zum aktuellen Stand inklusiver Bildung in Deutschland
Die Vorteile des Gemeinsamen Unterrichts: empirische Ergebnisse
Inklusive Bildung in Deutschland – bildungsstatistische Analyse
Handlungsbedarf
Fazit
Literatur
»Wir dürfen nicht so tun, als hätten wir in Regelschulen keine Heterogenität«
Was macht für Sie eine inklusive Schule aus?
Welche Bedeutung hat inklusive Schule in bildungspolitischer Hinsicht?
Warum ist eine inklusive Schule überhaupt wünschenswert?
Kann eine Schule tatsächlich der Heterogenität aller Kinder und Jugendlichen ...
Muss zukünftig jede Schule barrierefrei sein und sich auf alle Formen der ...
Welche Rahmenbedingungen und welche Unterstützung benötigen Schulen vom System, ...
Welche Aus- und Fortbildung benötigen Lehrkräfte, um allen Schülern in einer ...
Kann die derzeitige Lehrerausbildung angemessen auf die inklusive Schule vorbereiten?
Welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Schulleitung zu?
Wie lange wird es dauern, bis Deutschlands Schulsysteme tatsächlich inklusiv sind?
Inklusive Perspektiven – zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Was bedeutet Inklusion?
Der Anspruch
Die schulische Wirklichkeit in Deutschland
Heterogene Lerngruppen
Widersprüche und Hindernisse
Perspektiven für inklusiven Unterricht
Fazit
Literatur
Lösungsansätze für gelungene Inklusion
Inklusion im Schulsystem – das Beispiel Südtirol
Rahmenbedingungen und geschichtliche Entwicklung von Inklusion in Italien und ...
Förderbedarfe, ihre Feststellung und der Umgang damit im Unterricht
Von der Integration zur Inklusion
Aus- und Weiterbildung, Angebote unterstützender Dienste für Lehrkräfte
Resümee: Ansatzpunkte für die Umsetzung der UN-Konvention in Deutschland
Literatur
Education for All: A Canadian Story
Hintergründe des inklusiven Unterrichts in Manitoba und Kanada
Zur Geschichte der Sonderpädagogik in Manitoba
Der Einsatz von Lehrassistenten (Teaching Assistants)
Modelle der individuellen Unterstützung
Inklusion konkret: Schulentwicklung in Manitoba
Schlussfolgerungen
Literatur
Inklusion hat viele Gesichter: Schulen auf dem Weg zum Gemeinsamen Unterricht
Inklusion und Leistung sind kein Widerspruch
Qualitätsmanagement mit inklusivem Leitbild: der inklusive Anspruch von Schule
Merkmale einer inklusiven Lehr- und Lernkultur
Mitwirkungsmöglichkeiten an einer inklusiven Schule: Inklusion durch Teilhabe
Inklusive Schule gestalten mit außerschulischen Partnern
Fazit und Ausblick
Literatur
Der Index für Inklusion – ein Unterstützungsprojekt und seine Folgen
Die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft
Der Index für Inklusion
Regionale Bildungsinitiative
Externe Prozessbegleitung
Der Projektablauf
Der Index für Inklusion in der Prozessbegleitung
Zur Wirksamkeit des Prozesses
Das Weiterqualifizierungsangebot der Stiftung
Der kommunale Index für Inklusion
Ausblick
Literatur
(Bildungs-)Politische Entwicklungen hin zu einem inklusiven Schulsystem
Möglichkeiten der Gestaltung inklusiver Schulsysteme in Deutschland
Inklusion von Schülern mit Behinderungen
Ausgewählte Forschungsergebnisse zum Gemeinsamen Unterricht
Vorschläge zur Umsetzung inklusiver Entwicklung
Schlussfolgerung
Literatur
Inklusion in der bildungspolitischen Diskussion
Inklusion in Hamburg
Die Entwicklung in Hamburg seit 1979
Folgen der ratifizierten UN-Konvention
Umsetzung des neuen § 12 des Hamburgischen Schulgesetzes
Aktuelle Situation
Planung für die nähere Zukunft
»Ich habe einen Traum«: inklusive Bildung in Hamburg 2021
Literatur
Glossar
Inklusive Bildung in Schleswig-Holstein
Schleswig-Holsteins Weg zu inklusiven Schulen
Visionen für die Zukunft
Gemeinsamer Unterricht in Thüringen
Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Thüringen seit 1949
Umgestaltung 1: Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik
Die aktuelle Situation in Thüringen
Umgestaltung 2: Ausblick
Fazit
Literatur
Die Autorinnen und Autoren
Einleitung: Herausforderung Inklusion
Was ist Inklusion? Oder anders gefragt: Was ist inklusive Schule? Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Eine inklusive Schule zeichnet sich dadurch aus, dass sie allen Kindern offen steht. Sie ist eine Schule, in der Kinder und Jugendliche gemeinsam lernen, ohne dass sie aufgrund ihrer individuellen Besonderheiten voneinander getrennt werden. Die Antwort ist auch deshalb einfach, weil sie auf erfolgreiche Inklusion in der Praxis verweisen kann: auf Schulsysteme im Ausland, in denen Kinder mit und ohne Förderbedarf seit Jahrzehnten mehrheitlich gemeinsam lernen, und auf Schulen in Deutschland, die seit Jahren erfolgreich inklusiv arbeiten. Diese Schulen stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu heben, war und ist das Ziel des Jakob Muth-Preises für inklusive Schule, der seit 2009 gemeinsam vom Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, von der Bertelsmann Stiftung und der deutschen UNESCO-Kommission getragen wird.
In Deutschland erhielt das Thema Inklusion nicht zuletzt durch die UN-Konvention aus dem Jahr 2009 eine besondere Brisanz, denn mit der Unterzeichnung hat sich Deutschland dazu verpflichtet, sein Schulsystem inklusiv zu gestalten und behinderten Kindern den Besuch einer allgemeinbildenden Schule zu ermöglichen. Und damit wird die Antwort auf die Frage nach Inklusion und ihrer Umsetzung schwieriger. Denn auch wenn es international und national gute Beispiele gibt, so ist Inklusion hierzulande in der Fläche zurzeit noch die Ausnahme. Rund 82 Prozent aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden heute in separaten Schulen unterrichtet. Besonders an weiterführenden Schulen scheint der Umgestaltungsprozess nur langsam voranzukommen. Gleichzeitig verlaufen die Entwicklungen in den Bundesländern sehr unterschiedlich.
Hinter der bisher noch dominierenden Praxis getrennter Beschulung scheint eine Haltung zu stehen, die die eigentliche Schwierigkeit mit der Inklusion verdeutlicht. Es gibt in der Bevölkerung eine weitverbreitete Skepsis gegenüber dem gemeinsamen Lernen. Das zeigte jüngst die bislang größte Online-Bürgerbefragung zur »Zukunft der Bildung«, die im Frühjahr 2011 durchgeführt wurde. Von den 130.000 Teilnehmenden befürwortete nur ein Viertel das Lernen von Kindern ohne sonderpädagogischem Förderbedarf mit geistig behinderten Kindern. Auch das gemeinsame Lernen mit verhaltensauffälligen Kindern fand lediglich bei 44 Prozent positiven Anklang. Nur als es um den gemeinsamen Unterricht mit körperlich behinderten Kindern ging, waren 88 Prozent der Befragten dafür. An der Befragung beteiligten sich vor allem Bildungsinteressierte mit hohen Bildungsabschlüssen. Es muss also gerade in diesem Milieu Überzeugungsarbeit geleistet werden, damit Inklusion im allgemeinen Schulsystem zur Regel wird.
Einfache oder schwierige Antworten – die Frage der Inklusion ist in jedem Fall eine der zentralen Herausforderungen des Bildungssystems in Deutschland. Damit Inklusion vorankommt, werden gründliche Analysen, weiterführende Konzepte und ermutigende Beispiele gebraucht. Diese stehen im Fokus des vorliegenden Bandes, der von den Initiatorena des Jakob Muth-Preises herausgegeben wird. In den ersten drei Beiträgen beschreiben der Bundesbehindertenbeauftragte Hubert Hüppe, Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, und Christoph Wulf, Vizepräsident der Deutschen UNESCO-Kommission, ihren jeweiligen Zugang zur Herausforderung Inklusion.
Den Status quo in Sachen Inklusion nehmen die drei folgenden Beiträge des Bandes in den Blick: Antje Funcke, Nicole Hollenbach und Klaus Klemm tragen die aktuellen Zahlen zur Inklusion im deutschen Bildungswesen zusammen und unterstreichen, dass die Ziele der eingangs erwähnten UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen in Deutschland bislang nicht annähernd erreicht wurden. Ulf Preuss-Lausitz plädiert dafür, dass man vor der Heterogenität in der Regelschule nicht die Augen verschließen darf. Seiner Meinung nach führt die flächendeckende Inklusion nur in sehr wenigen Fällen zu einer Heterogenität, die den Unterricht zusätzlich belaste, solange Lehrkräften gezielte Fortbildungsangebote je nach Bedarf vor Ort ermöglicht würden. Rolf Werning und Jessica Löser leiten über den normativen Anspruch und den aktuellen Stand in Sachen Inklusion in Deutschland konkrete Handlungsfelder und Perspektiven für inklusiven Unterricht ab. Dazu gehört ein Unterstützungssystem für Lehrkräfte ebenso wie didaktisch-methodische Konsequenzen.
Lösungsansätze und Beispiele für gelungene Inklusion finden sich beim Blick über den Tellerrand wie auch in Deutschland. So zeichnet Edith Brugger-Paggi die inklusive Entwicklung in der italienischen Provinz Südtirol seit 1977 nach und beschreibt die aus dieser Entwicklung deutlich gewordenen Rahmenbedingungen für eine flächendeckende »Schule für alle«. Und das bei erwiesenermaßen hoher Leistung: Im internationalen Vergleich (PISA) belegt Südtirol im Lesen und auch in Mathematik und den Naturwissenschaften die vordersten Ränge – und zwar unter Beteiligung aller Schülerinnen und Schüler, auch derjenigen mit Förderbedarf. Tammy Mitchell und Gareth Neufeld beschreiben die Entwicklung inklusiver Schulen in der kanadischen Provinz Manitoba seit den 1950er Jahren – und illustrieren dies ganz plastisch am konkreten Schulentwicklungsprozess einer Schule.
Und auch in Deutschland gibt es sie: Schulen, die für alle Kinder zugänglich sind und jedes Kind – unabhängig von seiner sozialen und ethnischen Herkunft oder möglichen Behinderung – in heterogenen Lerngruppen individuell fördern wollen. Wie vielfältig inklusive Praxis vor Ort sein kann, spiegeln die mehr als 200 Bewerber für den Jakob Muth-Preis der Jahre 2009 und 2010 wider. Christian Ebel, Nicole Hollenbach und Angela Müncher skizzieren die unterschiedlichen Zugänge verschiedenster Bewerberschulen und porträtieren die drei Jakob Muth-Preisträgerschulen des Jahres 2010. Schließlich stellt Barbara Brokamp vor, wie sich einzelne Schulen mit dem »Index für Inklusion« konkret auf den Weg zur Inklusion machen können.
Möglichkeiten der Gestaltung eines inklusiven Schulsystems auf Länderebene nimmt Ulf Preuss-Lausitz in den Blick: Er entwickelt am Beispiel des Bundeslandes Bremen ein mehrdimensionales Konzept, wie eine solche Gestaltung konkret aussehen könnte. Peter Wachtel zeichnet den Verlauf der bildungspolitischen Diskussion in Form eines Rückblicks und Ausblicks aus der Sicht der Kultusministerkonferenz nach. Schließlich geben drei Bundesländer exemplarisch Einblick in ihre Prozesse rund um das Thema Inklusion: Angela Ehlers und Ina Döttinger zeichnen die Meilensteine auf dem Weg zur inklusiven Bildung in Hamburg nach. Eckhard Zirkmann und Christine Pluhar beschreiben die Entwicklung inklusiver Bildung in Schleswig-Holstein, wo die Inklusion bundesweit am weitesten fortgeschritten ist. Susanne Rusche und Tina Brier skizzieren die Entwicklung in Thüringen seit 1997.
Die Herausgeber danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und hoffen, mit dieser Publikation die Diskussion um ein inklusives Bildungssystem in Deutschland voranzubringen. Der Übergang zur Inklusion wird nicht von heute auf morgen erfolgen. Aber unser Bildungssystem befindet sich mitten in einem evolutionären Prozess, der nur dann gelingen kann, wenn alle Beteiligten mitgenommen werden. An der Herausforderung Inklusion führt kein Weg vorbei, wenn wir allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihren individuellen Besonderheiten die Chance zur gesellschaftlichen Teilhabe ermöglichen wollen.
Für die Herausgeber:
Nicole Hollenbach und Ulrich Kober
Inklusion heißt Gemeinsamkeit von Anfang an
Mit Artikel 24 der seit März 2009 in Deutschland geltenden UN-Behindertenrechtskonvention ist klargestellt, dass Deutschland verpflichtet ist, jedem Kind inklusive Bildung zu ermöglichen. Die Konvention hat der Diskussion um die schulische Inklusion einen Schub gegeben, auch wenn dies in der Praxis häufig noch nicht spürbar ist. Immer noch gehen nur rund 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit sogenanntem »sonderpädagogischen Förderbedarf« auf Regelschulen. Die Gründe sind vielfältig, obwohl in Diskussionen oft nur das Kindeswohl genannt wird. Es geht beispielsweise um das Selbstwertgefühl vieler Sonderpädagogen und Schulleiter von Sonderschulen, um ihre berufliche Perspektive. Es geht um die Gebäude von Schulträgern, und in manchen Ministerien scheinen schon unterschiedliche Besoldungsgruppen pädagogischer Fachkräfte eine unüberwindbare Hürde für die inklusive Schule zu sein.
Inklusion ist ein Konzeptbegriff, das heißt, es bedarf zunächst pädagogisch sinnvoller inklusiver Konzepte, die je nach den Voraussetzungen vor Ort umgesetzt werden. Es gilt allgemein gültige Standards zu setzen, die regional umgesetzt werden. Es muss Maßstäbe für die innere Schulentwicklung geben, die von der Schulaufsicht geprüft werden. Die Lehreraus- und -fortbildung muss den inklusiven Ansatz aufnehmen. Insbesondere muss der Umgang mit heterogenen Lerngruppen durch einen differenzierten Unterricht gelehrt werden.
Jedes Kind, vom hochbegabten bis zum Kind mit Lernschwierigkeiten, muss entsprechend seinen individuellen Fähigkeiten, Neigungen und Begabungen unterrichtet werden. An die Stelle aussondernder Feststellungsverfahren muss begleitende Diagnostik treten. Sonst bleibt es einzelnen Lehrkräften und Schulen überlassen, wie Inklusion umgesetzt wird. Es ist eben ein Unterschied, ob an einer Schule etwa Außenklassen mit behinderten Kindern integriert oder ob behinderte und nicht behinderte Kinder von Anfang an gemeinsam und differenziert unterrichtet werden. Im ersten Fall bleiben diese Kinder ausgesondert, auch wenn sie auf einer Regelschule »integriert« sind, im zweiten Fall sind sie von Anfang an in der Klasse eingebunden. Den besten Beweis für das Funktionieren dieser Inklusion liefern die Schülerinnen und Schüler inklusiver Schulen selbst, wenn sie mit Schubladen wie »behindert« und »nicht behindert« gar nichts mehr anfangen können.
Wer im Förderschulsystem verharrt, bleibt außerhalb der Lebenswelt der Kinder. Kinder und Jugendliche haben hier nicht die Möglichkeit, sich mit ihrer Behinderung und den Reaktionen der Umgebung auseinanderzusetzen. Und eine effektive Form des Lernens – das Lernen unter den Schülerinnen und Schülern – bleibt weitestgehend aus. Was in der Regelschule durch gleichaltrige Vorbilder gelernt werden kann, muss in Förderschulen extra unterrichtet werden. Das Förderschulsystem grenzt auch außerhalb des Schulbetriebs aus: Wer den ganzen Tag in einer – oft weit entfernt liegenden – Sonderschule unterrichtet wird, trifft abends keine Kinder in der Nachbarschaft auf der Straße, mit denen er spielen könnte. Der vermeintliche Schutzraum wird zur Isolationsfalle, auch im weiteren Leben.
Fast drei Viertel der Schülerinnen und Schüler verlassen die Förderschule ohne einen Hauptschulabschluss. Für Förderschulabgänger mit sogenannter »geistiger Behinderung« gibt es meist einen fließenden Übergang in die Werkstatt für behinderte Menschen. Dies trifft auch für viele körperlich behinderte Menschen zu. Abgänger von Sonderschulen für sogenannte »lernbehinderte« Menschen werden meist von Maßnahme zu Maßnahme gereicht, bis sie anschließend häufig in der Arbeitslosigkeit landen.
Das Förderschulsystem spiegelt sich auch in den Ansichten vieler nicht behinderter Menschen wider: Vorbehalte, Vorurteile und Unsicherheit prägen das Bild. Arbeitgeber etwa, die mit behinderten Menschen in Kindergarten oder Schule nie etwas zu tun gehabt haben, werden meist auch nicht bereit sein, Menschen mit Behinderungen einzustellen – häufig nicht aus böser Absicht, sondern aus Unwissenheit oder weil sie nicht gelernt haben, mit Menschen mit Behinderungen umzugehen. Arbeitskollegen und Kunden werden Situationen meiden, in denen sie mit behinderten Menschen im Betrieb oder an der Kasse im Supermarkt zusammentreffen.
Die heutige Wirklichkeit heißt deshalb immer noch zu oft: einmal Sonderweg, immer Sonderweg. Da kann es nur verwundern, dass Schulbehörden die »Sonderschule« noch immer als grundsätzlich richtigen Förderort ansehen. Wünschen Eltern dagegen, dass ihr behindertes Kind die Regelschule besucht, müssen sie das besonders begründen. Das ist eine Umkehrung der Vorgaben aus der UN-Behindertenrechtskonvention.
Betrachten wir die Situation aus Sicht der Kinder und ihrer Eltern. Oft beginnen die Probleme mit der Einschulung. Erfahrungen aus wohnortnaher Frühförderung und inklusiver Kindertagesstätte gehören dann zur Vergangenheit. Fortan durchlaufen behinderte Kinder einen Test nach dem anderen, müssen Anträge erst noch einmal geprüft werden, sind Schulen »leider nicht auf behinderte Kinder eingestellt«. Wenn dann ein Antrag auf Regelschulbesuch abgelehnt wird, spüren auch Kinder diese Ablehnung. Wie sollen Eltern ihren Kindern erklären, dass sie nicht mehr zusammen mit ihren Freundinnen und Freunden zur Schule gehen können, weil sie behindert sind?
Teilhabe ist ein Menschenrecht, kein Akt der Fürsorge oder Gnade. Dies ist mit der UN-Behindertenrechtskonvention klargestellt. Die Wirklichkeit in Deutschland zeigt ein anderes Bild: Ein inklusives Schulsystem ist für über 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit sogenanntem sonderpädagogischen Förderbedarf immer noch nicht verwirklicht. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen steigt in manchen Schwerpunkten sogar seit Jahren stetig an. Auch der nationale Bildungsbericht 2010 stellt heraus, dass – abgesehen von positiven Entwicklungen in einigen Regionen – insgesamt keine Trendwende zugunsten einer Förderung behinderter Kinder in allgemeinen Schulen zu beobachten ist.
Die Bundesländer sind verpflichtet, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Kindern ermöglichen, ihr Recht auf Teilhabe zu verwirklichen. Viele Länder zögern hier noch oder handeln halbherzig. Der Entwurf der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) zur inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen hat dies ganz deutlich gemacht. Die Länder haben sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt, anstatt ihre Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Das von der KMK selbst formulierte Ziel, gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen umfassend zu ermöglichen, wird deutlich verfehlt.
Noch gravierender ist der Versuch der KMK, das jetzige Förderschulsystem als »inklusiv« zu verkaufen. Inklusion ist gerade nicht der schlichte »ungehinderte Zugang zu Bildung für alle«, wie von der Kultusministerkonferenz behauptet, sonst bestünde tatsächlich kein Handlungsbedarf. Manchmal gewinnt man den Eindruck, dass absichtlich keine guten Rahmenbedingungen für behinderte Kinder und Jugendliche an Regelschulen geschaffen werden, um zu beweisen, dass Inklusion nicht funktioniert. Es wird deutlich: Wer Inklusion will, sucht Wege – wer sie verhindern will, sucht Begründungen.
Wenn Familien darauf angewiesen sind, dass ihre behinderten Kinder ganztägig betreut oder Therapien während der Schulzeit durchgeführt werden, und die Regelschule dies nicht bietet, dann sind diese Eltern auf die Förderschule angewiesen und ihre Kinder vom Regelschulbesuch ausgeschlossen. Das Recht auf Teilhabe wird so unterlaufen.
Begrüßenswert ist, dass der Mitte Juni verabschiedete Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eindeutig Position zugunsten der inklusiven Gesellschaft bezieht, wenn er klarstellt: »Inklusion heißt Gemeinsamkeit von Anfang an. Sie beendet das aufwendige Wechselspiel von Exklusion (= ausgrenzen) und Integration (= wieder hereinholen).«
Mut machen vor allem die Beispiele von Schulen, die sich auf den inklusiven Weg begeben haben, etwa die Gewinnerschulen des Jakob Muth-Preises. Sie zeigen, wie inklusiver Unterricht funktionieren kann, und sie beweisen: Inklusiver Unterricht ist das Gegenteil von »Einheitsschule«. Vielmehr wird jedes Kind nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Begabungen gefördert. Das bedeutet, dass jedes Kind profitiert – ob mit oder ohne Behinderung.
Der vorliegende Band ist ein wichtiger Beitrag zur derzeitigen Diskussion, wie Deutschland sich zu einem inklusiven Bildungsstandort entwickeln kann.
Hubert Hüppe
Beauftragter der Bundesregierung
für die Belange behinderter Menschen
Inklusion und Leistung sind kein Widerspruch

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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