Gender@Wissen - Christina von Braun - E-Book

Gender@Wissen E-Book

Christina von Braun

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Beschreibung

Gender-Theorien im Überblick Geschlechternormen sind von der Antike bis in die Gegenwart jeder Form des Wissens eingelagert. Sie bilden das unbewusste Fundament unserer Kultur und Gesellschaft. Das Handbuch Gender@Wissen hat sich seit seinem ersten Erscheinen 2005 zu einem Standardwerk entwickelt. In thematisch geordneten Beiträgen wird anhand zentraler Wissensfelder wie z.B. Identität, Körper, Zeugung, Sexualität, Gewalt, Natur, Sprache und Gedächtnis deren geschlechtliche Codierung aufgezeigt. In der 3. Auflage kommen mit den Themen Rassismus, Geld und Mythos neue Stichworte hinzu. Die abschließenden Beiträge zu Postmoderne, Queer Studies, Postcolonial Theory, Media Studies und Cultural Studies situieren das komplexe Verhältnis von Geschlecht und Wissen in übergreifenden theoretischen Kontexten und Debatten. Mit der 3. Auflage von »Gender@Wissen« liegt dieses grundlegende Handbuch für all diejenigen, die im Bereich der Gender- und Wissenschaftsforschung arbeiten, nun in aktualisierter Form wieder vor.

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Seitenzahl: 982

Veröffentlichungsjahr: 2013

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vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

Christina von Braun, Inge Stephan (Hg.)

Gender@Wissen

Ein Handbuch der Gender-Theorien

3. überarbeitete und erweiterte Auflage

BÖHLAU VERLAG

KÖLN WEIMAR WIEN · 2013

Christina von Braun ist Professorin am Institut für Kulturwissenschaft an der HU zu Berlin.

Inge Stephan ist Professorin em. am Institut für deutsche Literatur der HU zu Berlin.

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich

unter www.utb-shop.de.

 

Umschlagabbildung:

Ricarda Roggan, Triptychon (Detail). Zwei Stühle und ein Tisch.Stuhl, Tisch und Kasten. Stuhl, Tisch und Stellwand, 2001.

C-Print, je 100 x 125 cm, © Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin, VG Bildkunst Bonn, 2013.

 

3. Auflage 2013

2. Auflage 2009

1. Auflage 2005

 

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien

Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes

ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

UTB-Band-Nr. 2584 | ISBN 978-3-8252-3926-8 | ISBN 978-3-8463-3926-8 (ePub)

Über dieses eBook

Der Böhlau Verlag steht für Tradition und Innovation – wir setzen uns für die Wahrung wissenschaftlicher Standards in unseren Publikationen ein. So sollen auch unsere elektronischen Produkte wissenschaftlichen Anforderungen genügen.

Deshalb ist dieses eBook zitierfähig, das Ende einer gedruckten Buchseite wurde in Form von Text-Hinweisen kenntlich gemacht. Inhaltlich entspricht dieses eBook der gedruckten Ausgabe, auch das Impressum der gedruckten Ausgabe ist vorhanden.

Ein spezielles Editing-Team wirkt gezielt an der Produktion unserer elektronischen Produkte mit – dort wo eBooks technische Vorteile bieten, versuchen wir diese funktional nutzbar zu machen.

So wurde das Inhaltsverzeichnis zu einer Navigationsplattform. Die Zwischenüberschriften der einzelnen Beiträge wurden eingeblendet, die Viten der Beiträger sind direkt erreichbar. Das elektronische Inhaltsverzeichnis beschränkt sich auf das einfache, schnelle Navigieren.

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Ihr Böhlau Verlag

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Über dieses eBook

Vorwort zur 3. Auflage

Vorwort zur 2. Auflage

1     Einführung

Gender@Wissen (Christina von Braun und Inge Stephan)

Wissensordnung und symbolische Geschlechterordnung

Die Auslagerung von geschlechtlichen Codes aus der Wissenschaft: Kanon und Reinheit

Die Einlagerung von Geschlechtercodes in die Wissenschaft: Sexualisierung und Entsexualisierung

Metaphysik und Wissenschaft

Corpus fictumund organischer Körper

Das heilige Gen

Geschlecht als Wissenskategorie

Bibliographie

2     Themenfelder

Identität (Claudia Breger)

Einleitung

Das ,andere Geschlecht‘ auf dem Weg zur Subjektwerdung: Simone de Beauvoir

Auf der Suche nach (weiblicher) Identität: Die neue Frauenbewegung

(Weibliche) Differenz: Der ,französische‘ Feminismus

Differenzen, oder: Zur Genealogie der Identität. Gender Trouble

Identität, ,postdekonstruktiv‘? Reformulierungen und Perspektiven

Bibliographie

Körper (Irmela Marei Krüger-Fürhoff)

Einleitung

Entwicklungsgeschichte des Begriffs

Einordnung in die Wissenschaftsgeschichte

Anbindung an allgemeine politische und wissenschaftliche Debatten

Querverbindungen zu anderen politischen Feldern

Bibliographie

Zeugung (Bettina Bock von Wülfingen)

Einleitung (vom Zeugen undSchaffen)

Zeugung in der Naturforschung von der Antike bis zur Moderne: Flüsse und Ökonomie

Naturforschung im 19. und 20. Jahrhundert: Das gezeugte Geschlecht

Zeugung des Lebens aus sich selbst heraus als Akt des Widerstands: Urzeugung, Autopoiese und Parthenogenese in der Moderne

Zeugung jenseits der sterblichen Körper: Re- / Produktion und Biokapital

Bibliographie

Reproduktion (Bettina Mathes)

Einleitung

Die Fruchtbarkeit der Medien

Die Reproduktion des Geschlechtskörpers

Bibliographie

Sexualität (Heike Jensen)

Einleitung

Die Erforschung der Sexualität im Abendland

Ausblick

Bibliographie

Geld (Christina von Braun)

Drei Formen der Gelddeckung

Die sakrale Gelddeckung

Der menschliche Körper im Opferritus

Das Geschlecht des Opfers

Geld und Alpha

Christliche Religion und Geld

Die moderne Opfer- und Inkarnationslogik des Geldes

Das Geld und die Psyche

Versuch eines Fazits

Bibliographie

Gewalt / Macht (Christine Künzel)

Einleitung

Anfänge in den Sozialwissenschaften

Gewalt in Ehe und Familie

Sexuelle Gewalt

Perspektiven der (feministischen) Politikwissenschaften

Kriminologie und Rechtswissenschaften

Aspekte der Männerforschung

Ausblick

Bibliographie

Rassismus (Claudia Bruns)

Begriff und Geschichte des Rassismus

Interrelationen zwischen race und gender

Bibliographie

Globalisierung (Heike Jensen)

Begriffsbestimmung und Abgrenzungen

Globalisierung als Gegenstand der Geschlechterforschung

Die Ideologie der Globalisierung und das „glokale“ Denken

Ökonomische Globalisierung im Blick der Geschlechterforschung

Globalisierung und progressive Geschlechterpolitik

Bibliographie

Performanz / Repräsentation (Dagmar von Hoff)

Entwicklungsgeschichte der Begriffe

Einordnung in die Wissenschaftsgeschichte und Anbindung an allgemeine und wissenschaftliche Debatten in den Gender Studies>

Querverbindungen zu künstlerischen Produktionen und ihre Analyse

Querverbindungen zu anderen theoretischen Feldern

Bibliographie

Lebenswissenschaften (Kerstin Palm)

Was sind Lebenswissenschaften?

Geschichte der Lebenswissenschaften

Genderforschung zu einzelnen Bereichen der Lebenswissenschaften

Schluss

Bibliographie

Natur / Kultur (Astrid Deuber-Mankowsky)

Man kommt nicht als Frau zur Welt

Die Benennung der Natur

Die Sexualisierung der Natur

Kultur und Mutter Natur

Differenz und / oder Egalität

Das niemals verschwindende Verlangen nach Artikulation

Bibliographie

Sprache / Semiotik (Lann Hornscheidt)

„Das habe ich doch nur so gesagt …“ oder alles nur Worte?

Sprache als Abbild und als Herstellung von Wirklichkeit

Die strukturalistische Sprachsicht

Konkretisierungen des Zusammenhangs von Sprache und Gender vor dem Hintergrund einer strukturalistischen Sprachsicht

Eine konstruktivistische Sprachsicht

Konkretisierungen des Zusammenhangs von Sprache und Gender auf dem Hintergrund eines konstruktivistischen Sprachverständnisses

Ausblick: Die Begrenzungen einer Fokussierung auf Sprache

Bibliographie

Gedächtnis (Claudia Öhlschläger)

Begriffsgeschichte und Tendenzen der Gedächtnisforschung

Topographie (Raum) und Bild

Gedächtnis und Geschlecht. Körpergedächtnis

Erinnerungsspuren: Freud – Benjamin – Warburg

Geschlecht und Geschichte: Erinnerung und Repräsentation – Geschlechtermythen und Geschichtsschreibung

Bibliographie

Mythos / Mythen (Inge Stephan)

Einleitung

Schlüsselmythen

Ausgewählte mythische Figuren

Ausblick

Bibliographie

3     Abgrenzungen / Überschneidungen

Postmoderne (Dorothea Dornhof)

Postmoderne im Zeichen globaler Differenz

Repräsentationskritik – Interventionen in die symbolische Ordnung der Geschlechter

Differenz – Machtkritik – virtuelle Räume

Bibliographie

Queer Studies (Sabine Hark)

Einleitung

Queer – Das politische Projekt

Queer – Das akademische Projekt

Queer und Feminismus: Die Frage der Sexualität

Butler und die Folgen: Deutschsprachige Queer Studies

Queer time: Der Moment der Artikulation von queer

Heteronormativitä

Normalisierungskritik

Zur Genealogie von queer

Herausforderungen: Queer Studies und die Frauen- und Geschlechterforschung

Bibliographie

Postcolonial Theory (Gabriele Dietze)

Postkolonialität – Terminus und Gegenstandsbereich

Politische Genealogien von Postkolonialität und Gender

Theorien von Postkolonialität

Postkoloniale Theorie und Feminismus

Interventionen I – Third-World- und Transnationaler Feminismus

Interventionen II – Queer of Diaspora Critique

Interventionen III – Dekolonialer Feminismus

Schlussbemerkung

Bibliographie

Media Studies (Kathrin Peters)

Begriffsbestimmunge

Unbestimmbarkeit von Medien

Gender und Medien

Bild – Apparat – Geschlecht

Wissen – Körper – Technologie

Bibliographie

Cultural Studies (Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten)

Cultural Studies und Kulturwissenschaft(en)

Geschichte, Gegenstände und Konzepte der Cultural Studies

Schnittstellen von Gender Studies und Cultural Studies

Bibliographie

Zu den AutorInnen

Claudia Benthien

Bettina Bock von Wülfingen

Christina von Braun

Claudia Breger

Claudia Bruns

Astrid Deuber-Mankowsky

Gabriele Dietze

Dorothea Dornhof

Sabine Hark

Dagmar von Hoff

Lann Hornscheidt

Heike Jensen

Irmela Marei Krüger-Fürhoff

Christine Künzel

Bettina Mathes

Claudia Öhlschläger

Kerstin Palm

Kathrin Peters

Inge Stephan

Hans Rudolf Velten

Rückumschlag

Vorwort zur 3. AuflageGender@Wissen

Wir freuen uns, dass Gender@Wissen in Forschung und Lehre weiterhin auf große Zustimmung stößt und der Verlag mit der Bitte an uns herantrat, eine dritte Auflage vorzubereiten. Für diese neue Auflage sind die meisten Beiträge – wie bereits im Falle der zweiten Auflage – kritisch durchgesehen und z. T. ergänzt worden. Darüber hinaus haben wir uns entschlossen – zusätzlich zu der umfangreichen gemeinsamen Einleitung – zwei eigene Beiträge zu den Themen „Geld“ und „Mythos“ aufzunehmen, die das Profil des Bandes erweitern sollen. Auch der neu eingeworbene Beitrag zum Thema „Rassismus“ von Claudia Bruns stellt eine wichtige Vertiefung des bisherigen Themenspektrums dar. Die nunmehr fünfzehn Themenfelder geben zusammen mit der Einführung und den fünf übergreifenden Interdependenz-Kapiteln einen kompakten Überblick über die gegenwärtigen Genderdebatten, von dem wir uns auch für die Zukunft Impulse für Forschung und Lehreerhoffen.

Die organisatorische und technische Betreuung der dritten Auflage hat auch diesmal Julia Eckhoff übernommen, der wir an dieser Stelle ebenso herzlich danken möchten wie unseren BeiträgerInnen für ihr Engagement in allen bisherigenAuflagen.

Christina von Braun, Inge Stephan

Berlin im April 2013 [<< 7] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Vorwort zur 2. AuflageGender@Wissen

Seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 2005 hat sich Gender@Wissen zu einem Standardwerk entwickelt, das Studierenden einen Überblick über zentrale Themenfelder der Gender-Theorien vermittelt. Zusammen mit der umfangreichen Einführung in das Verhältnis von Wissensordnungen und symbolischer Ordnung und der Bedeutung von Geschlecht als Wissenskategorie sowie fünf Übersichtsbeiträgen, in denen die Interdependenzen der Gender-Studien mit anderen Disziplinen aufgezeigt werden, bietet der Band mit seinen ursprünglich elf Themenfeldern, die von „Identität“ bis zu „Gedächtnis“ reichen, eine kompakte Einführung in einen Wissenschaftsdiskurs, der sich in Forschung und Lehre inzwischen etablierthat.

Für die zweite Auflage konnten wir eine weitere Beiträgerin gewinnen, die den Bereich „Zeugung“, der in den letzten Jahren in unterschiedlichen Disziplinen in neuer Weise prominent geworden ist, unter wissenschaftsgeschichtlichen und gendertheore­tischen Fragestellungen präsentiert und damit das Themenfeld „Reproduktion“ aus der ersten Auflage in spannender Weise aufnimmt und auf neue naturwissenschaftliche Verfahren und Debatten hinöffnet.

Alle Beiträge sind für die zweite Auflage gründlich überarbeitet bzw. kritisch durchgesehen worden. Für die Endkorrektur danken wir sehr herzlich Julia Eckhoff, die mit großer Akribie für die notwendigen Vereinheitlichungen gesorgt hat. Wie für die erste Auflage hat uns Ricarda Roggan auch für die zweite Auflage großzügigerweise ein Foto aus ihrem Zyklus „Zwei Stühle und ein Tisch, Stuhl, Tisch und Kasten, Stuhl, Tisch und Stellwand“ (2001) für das Titelblatt zur Verfügung gestellt. Wir haben Ricarda Roggan im Künstlerhaus Wiepersdorf kennen gelernt, wo wir die erste Auflage von Gender@Wissen vorbereitet und die damalige Einführung für den Band geschriebenhaben.

Christina von Braun, Inge Stephan

Berlin im Juni 2009 [<< 9] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

1     Einführung

Gender@WissenChristina von Braun und Inge Stephan

Wissensordnung und symbolische Geschlechterordnung

Ausgangspunkt des Buches ist die Frage nach dem Verhältnis von Wissen / Wissenschaft und Geschlecht. Die Aufsätze geben, in unterschiedlichen Varianten und bezogen auf ihre jeweiligen Themenfelder, Auskunft darüber, dass die Beziehung zwischen der Wissens- und der Geschlechterordnung unter dem Zeichen der Dichotomie Natur / Kultur oder Geist / Körper stand und steht – einer Dichotomie, die ihrerseits ein hierarchisches Verhältnis zwischen der gestaltenden Kultur und der zu domestizierenden oder gestalteten Natur implizierte. Diese Zweiteilung wurde wiederum ‚naturalisiert‘, indem in der symbolischen Geschlechterordnung den beiden Polen je ein Geschlecht zugewiesen wurde: Männlichkeit repräsentiert Geistigkeit und Kultur, während die Natur und der Körper als ‚weiblich‘ codiert wurden – eine Zuordnung, die sich bis weit in die Moderne hinein fortgesetzt hat und noch heute prägend bleibt für die Art, wie über ‚weibliche Irrationalität‘, Unberechenbarkeit und davon abgeleitet ‚Unwissenschaftlichkeit‘ gesprochen wird. Aber diese Dichotomie bildet nur den Ausgangspunkt unserer Überlegungen und der historischen Beziehung zwischen Wissens- und Geschlechterordnung. Auf diese erste ‚Setzung‘ folgte eine Entwicklung, die in den letzten zweihundert Jahren besonders deutlich zutage tritt und zu radikalen Umwälzungen auf beiden Gebieten führte. Eine der Grundannahmen unseres Buches ist die These, dass sich diese Gleichzeitigkeit der Veränderung nicht dem Zufall verdankt, sondern dass vielmehr eine enge historische und inhaltliche Verbindung zwischen dem Wandel der Wissensordnung und dem Wandel der symbolischen Geschlechterordnungbesteht.

Die ‚traditionelle‘ Dichotomie Kultur versus Natur wurde in der Wissenschaft der Moderne zunehmend durch eine Spaltung in Natur- und Geisteswissenschaft überlagert – eine Spaltung, die ihrerseits auch in der symbolischen Geschlechterordnung ihren Ausdruck fand, gelten doch die Naturwissenschaften einerseits als hard sciences, andererseits aber auch als vornehmlich ‚männliche Fächer‘, während die Geisteswissenschaften gerne als ‚weiblich‘ gehandelt werden und in ihnen die Frauen sowohl unter den Lehrenden als auch unter den Studierenden tatsächlich stärker vertreten [<< 11] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe sind als in den Naturwissenschaften. Dass es sich bei dieser ‚geschlechtlichen‘ Aufteilung der Fächer nicht etwa um geschlechterspezifische Begabungen oder Interessen handelt, sondern um eine symbolische Zuordnung, geht freilich aus der Tatsache hervor, dass sich Frauen, als ihnen Anfang des 20. Jahrhunderts endlich der Zugang zu akademischer Bildung gewährt wurde, mehrheitlich für Medizin oder ein naturwissenschaftliches Fach entschieden, während die Geisteswissenschaften – etwa vertreten durch die Philosophie oder die Geschichte – am längsten zögerten, Frauen Zugang zu ihrem Wissen zu gewähren. Schon wenige Jahrzehnte später ist es genau umgekehrt. In den Naturwissenschaften stellen Akademikerinnen heute eher die Ausnahme dar, aber sie sind gut vertreten in den Geisteswissenschaften. Mit Begabungen lässt sich eine solche Entwicklung nicht erklären, eher mit geschlechtsspezifischen Codierungen der Wissensordnung. Ein ähnlicher Wandel vollzog sich später noch einmal mit der Informatik. Als das Fach in den 1960er-Jahren an einigen Universitäten eingerichtet wurde, gab es zunächst wenige Frauen. Ab Anfang der 1980er-Jahre begann der Anteil rasch zu wachsen, um den für ein Ingenieurstudium ungewöhnlich hohen Frauenanteil von über 20 Prozent zu erreichen, bevor er gegen Ende der 1980er-Jahre wieder sank. Empirische Untersuchungen zu diesem Phänomen haben gezeigt, dass sich solche Schwankungen weder mit einer erworbenen oder angeborenen technizistischen Defizienz von Frauen erklären lassen noch mit unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen der Geschlechter.1 Vielmehr, so scheint es, haben sie mit der Wissensordnung selbst zu tun – und deren wechselhaften geschlechtlichenCodierungen.

Betrachtet aus dem Winkel der ‚ursprünglichen‘ Dichotomie der Wissensordnung impliziert die ‚Vermännlichung‘ der Naturwissenschaften und die ‚Verweiblichung‘ der Geisteswissenschaften, dass sich eine komplette Umkehrung der alten Ordnung, die Männlichkeit mit ‚Geistigkeit‘ und Weiblichkeit mit ‚Naturhaftigkeit‘ gleichsetzt, vollzogen hat, erscheint doch Männlichkeit nun in Zusammenhang mit Natur, während die ‚Kultur‘ als ‚weiblich‘ daherkommt. Man könnte diesen Wandel mit einer generellen Aufhebung symbolischer Zuordnungen von Wissensgebieten an die beiden Geschlechter erklären. Aber dagegen spricht die Tatsache, dass symbolische Zuordnungen weiterhin stattfinden – nur eben unter umgekehrten Vorzeichen. So besteht die Erklärung für den Wandel vielleicht eher darin, dass den Begriffen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ (oder Körper und Geist) eine neue Stellung in der Wissensordnung eingeräumt wurde. Dass sich ein solcher Wandel auch tatsächlich vollzogen hat, ist unübersehbar. Noch [<< 12] bis ins 17. und 18. Jahrhundert galt an den europäischen Universitäten die theologische Fakultät als die wichtigste, wenn nicht gar die ganze Universität aus der Theologie bestand. Von der Theologie gingen die Grundsätze aus, nach denen die Wissenschaft zu funktionieren und ihre Erkenntnisfortschritte zu erzielen hatte. Nach dem Beginn der Neuzeit und vor allem mit der Aufklärung ging diese Aufgabe zunächst auf die Philosophie und die Geschichtswissenschaft über – diese beiden großen Fächer, in denen über den ‚Sinn‘ und die Sinngebung der nationalen Gemeinschaften reflektiert wurde. Fragt man heute, welche Fakultäten und Fächer der Universität als ‚Leitwissenschaften‘ zu betrachten sind, so wird ein naturwissenschaftliches Fach wie die Biologie oder die Medizin genannt. Der Grund dafür ist paradox: Einerseits sind diese Fächer zu Leitwissenschaften geworden, weil es sich um hard science handelt, das heißt, um Disziplinen, die mit quantifizierbaren und (jedenfalls meistens) verifizierbaren bzw. falsifizierbaren Methoden arbeiten. Andererseits sind sie aber auch deshalb zu Leitwissenschaften geworden, weil das alte Projekt der Unsterblichkeit – das einst der Theologie vorbehalten blieb, dann als Phantasie vom ‚Weltgeist‘ auf die Philosophie oder als Topos der ‚unsterblichen Nation‘ auf die Geschichte übergegangen war –, weil also das Projekt der Unsterblichkeit heute mit Vorliebe auf die natur- und medizinwissenschaftlichen Erkenntnisse setzt. Am deutlichsten lässt sich das erkennen an den Genwissenschaften, bei denen nicht nur die Metaphorik, sondern auch die der Wissenschaft selbst zugrunde liegenden Paradigmen eine bemerkenswerte Analogie zu christlichen Denktraditionenaufweisen.

Die ‚Verweiblichung‘ der Geisteswissenschaften ließe sich auch mit der Verdrängung dieser Fächer ins Abseits erklären – und diese Erklärung ist auch immer wieder zu hören. In der Tat ist zu beobachten, dass Frauen zunehmend Aufnahme in den Gebieten finden, die ihre ‚Macht‘ über den öffentlichen Diskurs verloren haben; wie umgekehrt auch aus Gebieten, die von Frauen ‚besetzt‘ werden – etwa die Pädagogik und das Lehramt – ein Exodus von Männlichkeit stattfindet. Befriedigend ist diese Deutung allerdings nicht, liefert sie doch keine Erklärung dafür, warum zeitgleich ein Wandel der ‚Wissenshierarchie‘ überhaupt stattgefunden hat, der von der Theologie über die Geschichte / Philosophie bis zu den Naturwissenschaften führte. Geht man zudem davon aus, dass jede geschlechtliche Zuordnung nicht nur die Folge neuer wissenschaftlicher oder medialer Paradigmen ist (die Medien sind deshalb so wichtig, weil sie über die Speichersysteme und damit auch über die Trennung zwischen Wissen und Nicht-Wissen bestimmen), sondern auch der Naturalisierung der Wissensordnung zu dienen hat, so stellt sich die Frage nach der geschlechtlichen Zuordnung der Wissensfelder auf ganz andere Weise. Denn dann ist danach zu fragen, welcher Art die ‚Ordnung‘ ist, die hier naturalisiert werden soll, und in welcher Weise diesgeschieht. [<< 13]

Die Auslagerung von geschlechtlichen Codes aus der Wissenschaft: Kanon und Reinheit

Verallgemeinernd könnte man sagen, dass die ‚Naturalisierung‘ der Wissensordnung einen doppelten und dabei paradoxen historischen Prozess durchlaufen hat: Ging es zunächst um den Ausschluss von Geschlecht, so ging es in einem zweiten ‚Schritt‘ um den Einschluss – oder genauer: die Einlagerung – von geschlechtlichen Codes. Auf welche Weise sich dieser doppelte Prozess in den verschiedenen Wissensfeldern vollzogen und niedergeschlagen hat, wird aus den einzelnen Beiträgen in diesem Band deutlich. Am Begriff der ‚Reinheit‘, der für die Wissenschaft eine ähnliche Funktion erfüllt wie der des ‚Kanons‘, lässt sich diese paradoxe Bewegung am besten darstellen. Der Begriff ‚Kanon‘, der inzwischen in seinen geschlechtlichen Codierungen gut erforscht ist,2 kommt ursprünglich aus der Baukunst und heißt soviel wie Richtschnur, Maßstab. Er wurde in der griechischen Antike von dem Bildhauer Polyklet übertragen auf den menschlichen Körper, um Idealmaße und Proportionen zu bezeichnen – Idealmaße, die Polyklet ausschließlich am männlichen Körper demonstrierte. Später wurde der Begriff wiederum auf den Städtebau oder die Konstruktion großer sakraler Gebäude übertragen, die dem ‚sozialen Körper‘ das Aussehen und die Idealproportionen des menschlichen Körpers verleihen sollten, um heute fast ausschließlich auf Texte angewandt zu werden, die in den verschiedenen Disziplinen kanonischen Charakter – also eine Maßstabsfunktion – erhalten haben. Das Problem besteht freilich darin, dass sich die idealen Maßstäbe des Kanons nicht positiv benennen lassen, nur in Abgrenzung gegen das ‚Nicht-Maßstabgerechte‘. Das heißt, ihre Definition hängt immer von der Benennung eines ‚Nicht-Kanons‘ ab. Dieser hat – je nach historischer Notwendigkeit und je nach neu entwickelten medialen Speichersystemen, die über die Wissensordnung bestimmen – unterschiedliche Gestalt. Ihre einzige Gemeinsamkeit: die geschlechtlicheCodierung.

Ganz ähnlich wirkt sich auch der Begriff der ‚Reinheit‘ für die Wissenschaft und auf die Etablierung von Wissensfeldern aus. Es gibt wenige Begriffe, die eine solche Macht über das Denken von Individuen und Gemeinschaften ausüben wie die ‚Reinheit‘. Kaum ein Wissensfeld, in dem er nicht eine Schlüsselstellung einnimmt – ob es sich um Religion, Politik, Sexualität, Sprache, Kultur, Psychologie oder eben die Wissenschaften und ihre Rolle für diese verschiedenen Bereiche handelt. Obgleich die [<< 14] ‚Reinheit‘ in jedem Wissensfeld eine andere Bedeutung annimmt, ist allen Bedeutungen gemeinsam, dass sie dazu dienen, Abgrenzungen und Ausschlüsse vorzunehmen. Das besagt schon die Etymologie des Wortes ‚rein‘: Aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen ‚reini‘ bzw. ‚hreni‘ stammend, bedeutet das Wort ursprünglich ‚gesiebt‘ oder ‚gesäubert‘.3 Im Wort ‚rein‘ steckt also die Bedeutung von ‚herein‘ oder ‚hereinnehmen‘, was neben dem Einschluss auch einen Ausschluss beinhaltet. Die Tatsache, dass sich das ,Reine‘ – wie der ‚Kanon‘ – nur durch den Gegensatz zum ‚Unreinen‘ definieren lässt, hat zur Folge, dass in vielen Wissensfeldern der ‚Schmutz‘ oder das ‚Unreine‘ überhaupt erst benannt, sichtbar gemacht oder ‚ritualisiert‘ werden muss. (Zu den ‚Riten‘ würde etwa die der Theologie so ähnliche Kleiderordnung der alten Universität gehören, die nicht durch Zufall dann zu verschwinden begann, als Frauen in den Akademien aufgenommenwurden).

Wie auch die abendländische ‚Wissenschaft‘ von der Theologie ihren Ausgang nahm, hat auch die ‚Reinheit‘ zunächst religiöse Ursprünge. Es gibt, allgemein gesagt, keine Religion, die nicht in der einen oder anderen Weise auf Reinheitsgesetze oder – alternativ – auf die ‚Reinheit‘ des Transzendenten und die ‚Unreinheit‘ des Irdischen Bezug nimmt. Allerdings ist das, was als ‚rein‘ bezeichnet wird, in jeder religiösen Kultur unterschiedlich. Bezieht sich die ‚Reinheit‘ zum Beispiel in der jüdischen Religion auf die Zeremonialgesetze, die eine scharfe Trennung zwischen bestimmten Speisen und über diese zwischen dem Heiligen und dem Profanen fordern,4 so findet in der christlichen Religion eher eine Gegenüberstellung von Bildern statt, die einander ‚ähneln‘ und dennoch als Gegensätze konstruiert werden – etwa die Bilder des Blutes, bei denen das ‚reine‘ Blut des Gekreuzigten oder der Märtyrer dem ‚unreinen‘ Blut, das dem sexuellen Körper und der Sexualität eigen ist, gegenübergestellt wird.5 Auf der Basis einer solchen Gegenüberstellung erhielt zum Beispiel die geschlechtlich übertragene Syphilis den Namen ‚Böses Blut‘. Solche christlichen Bilder von ‚Reinheit‘ fanden sich nach dem Säkularisierungsprozess auf vielen modernen Wissensfeldern wieder. Heute gibt es zum Beispiel einen breiten Konsens darüber, dass Sauberkeit, Hygiene und Gesundheit etwas ‚Gutes‘ darstellen, während alles, was unter den Begriff des Schmutzes fällt, dem Fremden zugerechnet wird. Dass es sich bei dieser Bedeutung von ‚Reinlichkeit‘ um eine symbolische Zuordnung handelt, kann man an sich selbst [<< 15] beobachten: An Orten, die uns fremd sind oder in Ländern, deren Sprache wir nicht sprechen, nehmen wir Schmutz viel deutlicher wahr als in der eigenen Stube. Auch neigen wir dazu, Gefühle von Fremdheit mit Worten und Bildern zu umschreiben, in denen von mangelnder Sauberkeit oder schlechtem Geruch die Rede ist. Solche Wahrnehmungen stehen in einer langen Geistestradition, in der das Fremde (oder Auszuschließende) mit dem Schmutz – oder dem Unreinen – gleichgesetzt wird. In diesem Sinne ist die Reinlichkeit (sozusagen die säkulare Reinheit) auch wiederholt politisch funktionalisiert worden: etwa im rassistischen Antisemitismus, wo von der ‚Reinheit‘ des Volkskörpers und der ‚Unreinheit‘ des ‚jüdischen Blutes‘ die Rede war. In solchen Wissensfeldern und ihren Wissensformen eine hard science zu sehen, würde die moderne Wissenschaft heute – und zu Recht – ablehnen. Dennoch waren es eben diese ‚biologisierten‘ theologischen Diskurse, die im 19. Jahrhundert den Wandel der Wissensordnung vorantrieben und dazu beitrugen, dass die Naturwissenschaften zu Leitwissenschaftenaufstiegen.

In der Ästhetik verweist die ‚reine‘ Form bzw. die ‚reine Kunst‘, wie bei der Mathematik oder der Logik, auf eine Vorstellung von Kunst, die keinen Bezug zu Politik, Religion oder sonstigen ‚Botschaften‘ hat, die also frei ist von Inhalten, die nicht ihr selbst, der Kunst gelten. Dann kann ‚Reinheit‘ in der Kunst aber auch auf eine Ästhetik verweisen, die sich dem ‚reinen Denken‘ oder der ‚reinen Form‘ verschrieben hat – etwa die autonome Literatur oder die abstrakte Kunst und die Musik. Oder der Begriff ‚Reinheit‘ bezeichnet eine Architektur, deren Formen von ‚reiner‘ Zwecküberlegung bestimmt werden. Den Begriff der ‚reinen‘ Kunst nehmen freilich auch ästhetische Formen für sich in Anspruch, die gerade eine politische oder religiöse Botschaft zu transportieren versuchen: das ‚Bühnenweihfestspiel‘ Richard Wagners zum Beispiel bzw. die dem ‚Blut und Boden‘ verhaftete Kunst der NS-Zeit, die die Kunst der Moderne als ‚entartet‘, mithin als ‚unnatürliche‘ und ‚fremde‘ Kunst bezeichnete. In allen diesen Fällen geht es um den Ausschluss eines – wie auch immer definierten – ‚Fremdkörpers‘. Dasselbe gilt auch für die Forderung nach einer ‚Reinheit der Sprache‘, die immer dann auftaucht, wenn es darum geht, eine Nation oder ein Sprachgebiet gegen eine vermeintliche ‚Überfremdung‘ zuschützen.

Da der Begriff der ‚Reinheit‘ in enger Beziehung zur Körperlichkeit und mithin zum Tastsinn steht, dieser aber oft (vor allem in seiner sexuellen Bestimmung) als ‚kontaminierend‘ für den ‚reinen Geist‘ betrachtet wurde, ist es nicht erstaunlich, dass das Sehen, schon seit Aristoteles, als der ‚reinste‘ der Sinne gilt, weil er – Distanz zum Objekt voraussetzend – einen hohen Abstraktionsgrad ermöglicht. Hier liegt einer der Schlüssel zum Verständnis des engen Zusammenhangs, den die Moderne zwischen Sehen und Wissenschaft hergestellt hat: Der Begriff der ‚Erkenntnis‘ ist fast zu [<< 16] einem Synonym für Betrachten geworden, und das gilt nicht nur für die Objekte des Wissens, die sich durch das Mikroskop oder andere technische Sehgeräte betrachten lassen – es gilt auch für die am Rechner erstellten Bilder, die etwas ‚sichtbar‘ machen, das eigentlich gar nicht zu sehen ist, etwa die Tätigkeit des Gehirns oder die Doppelhelix der Genwissenschaft. Ausgerechnet diese synthetischen Bilder, die nicht etwa abbilden, sondern eine symbolische Umsetzung für Vorgänge bieten, die in bildhafter Form ‚vorstellbar‘ werden, sind heute zu einer Art von Logo der ‚reinen Wissenschaft‘ geworden, die sich der sinnlichen Wahrnehmung – auch in ihrer abstraktesten Art: dem Auge – entzieht. Auch diese synthetischen Bilder verweisen, wie die Biologisierung theologischer Diskurse, zugleich auf die Einlagerung von Geschlechtercodes in dieWissenschaft.

Allgemein impliziert der Begriff der ‚Reinheit‘ in der Wissenschaft, dass das Wissen von der sinnlich wahrnehmbaren Welt und den ‚Gefühlen‘ fernzuhalten ist; es geht also auch um den Ausschluss von Emotionen und von allen Bereichen des Mensch­lichen, die mit dem Begriff des Subjektiven, des Irrationalen oder gar der ‚Leidenschaften‘ einhergehen. Deshalb spielt für die ‚Reinheit‘ auch das psychologische Moment eine wichtige Rolle. Das griechische Wort ‚Katharsis‘ bedeutet Reinigung und beinhaltet das Abreagieren von Affekten. Aristoteles sah in der Tragödie ein Mittel, die Katharsis herbeizuführen. Die Pythagoräer vertraten dagegen die Ansicht, dass sich Angstgefühle am besten durch Musik überwinden lassen, da sie von allen Künsten der Mathematik am nächsten stehe. Die moderne Psychologie und Psychoanalyse – mit ihrem ‚­chimney sweeping‘, wie Joseph Breuers Patientin Anna O. die Vorgänge nannte 6 – setzt ebenfalls auf eine Form von Katharsis, die einer ähnlichen Metaphorik folgt: Durch Verbalisierung und Bewusstmachung soll die Seele von Bedrückendem gereinigt werden. Andere Formen von Therapie versuchen, seelische Konflikte durch ‚Abreagieren‘ aufzulösen. In jedem Fall aber geht es darum, dass es ‚reines Wissen‘ – und das heißt berechenbares, verifizierbares Wissen – nur unter dem Ausschluss von Gefühlen geben kann, die ihrerseits als ‚unrein‘ zu gelten haben. Auch auf diesem Gebiet ist freilich ein paradoxer historischer Prozess zu beobachten, bei dem auf den Ausschluss von Geschlechtlichkeit – die ganz allgemein für ‚das Gefühl‘ (im kollektiven Singular) steht – eine neue und positive Bewertung der Gefühle, also deren Einlagerung folgt: deutlich zu beobachten an der Kultivierung der ‚Empfindsamkeit‘ um 1770 oder später, etwa in der Décadence, an einer neuen Begeisterung für Sinnlichkeit und [<< 17] ‚Leidenschaft‘ bzw. Leiden. Dabei lässt sich zeigen, dass die historischen Veränderungen in der Geschlechterordnung nicht nur die Geschichte der Gefühle beeinflusste, die Norbert Elias so intensiv untersucht hat, sondern auch Rückwirkungen auf den Wandel der Wissensordnunghatte.

Eben weil die ‚Leidenschaft‘ und starke Gefühle als ‚unrein‘ gelten, fällt auch der Sexualtrieb in vielen Kulturen in den Bereich des ‚Unreinen‘, das es zu domestizieren und damit unschädlich zu machen gilt. Dafür gibt es strenge, von einer Kultur zur anderen sich unterscheidende Vorschriften, die etwa festlegen, mit wem der Geschlechtsverkehr ‚rein‘ oder ‚unrein‘ ist. Oder aber die ‚Reinheit‘ wird hergestellt, indem die Bereiche des (asexuell) Heiligen und des (sexuell) Profanen streng von­einander getrennt werden. Eine dritte Form des Umgangs mit der Sexualität bestand in ihrer ‚Heiligung‘, also gerade in der Vermischung des Profanen mit dem Transzendenten. In der christlichen Theologie, die für die westliche Wissensordnung bestimmend werden sollte, wurde die Vorstellung, dass durch Sexualität Leben erzeugt wird, zunehmend verdrängt durch die Auffassung, dass der reine Geist als ‚fruchtbarer Same‘ zu wirken habe. Solche Konstruktionen implizierten immer die Gleichsetzung des weiblichen Körpers, da wo er Körperlichkeit und Sexualität symbolisierte, mit einer ‚unreinen‘ Zeugungsfähigkeit. Wenn Frauen also über Jahrhunderte von klerikalen Ämtern, von kultureller Tätigkeit und vor allem von wissenschaftlicher Arbeit ausgeschlossen blieben, so stand dahinter die Vorstellung, dass der weibliche Körper eine gefährliche Kontamination für die ‚Reinheit‘ des ‚Wissens‘ darstelle.

Insgesamt bedeutet ‚Reinheit‘ in der Wissenschaft also, dass die Forschung durch keine Elemente des Psychischen, des Historischen oder des ‚Subjektiven‘ beeinflusst werden darf. Ging die Theologie noch von einer ‚Reinheit‘ des Wissens aus, das vor allem durch die Sexualität (oder die Leiblichkeit) kontaminiert werden konnte, so gehen die modernen Naturwissenschaften von einen Prinzip der ‚Reinheit‘ aus, das auf dem Ausschluss jedes Zufalls beruht und deshalb in seiner ‚reinsten Form‘ nur im Labor durchgeführt werden kann, wo die Einflüsse der äußeren Welt und das Subjekt des Betrachters auf ein Minimum reduziert sind. Allerdings ist der Unterschied zum theologischen Ausschluss der Leiblichkeit nicht so groß, wie er scheint. Er hat sich nur auf ein anderes Feld verlagert. Hielt sich der Kleriker im Kloster und durch Askese von den schädlichen Einflüssen des irdischen Lebens und seiner Leiblichkeit fern, so übernimmt nun das Labor diese Funktion. Es ist zur modernen Form des Klosters geworden. In dieser Form der Abgeschiedenheit wird keine Askese gefordert, sondern der ‚wissenschaftliche Leib‘ selbst ausgeschlossen, stellt dieser doch ein potentielles Einfallstor des ‚Unreinen‘ und des Zufalls dar. Das heißt, idealiter hat sich die moderne Wissenschaft von der Forderung nach einer ‚Reinheit‘ ihres Trägers [<< 18] verabschiedet; als vollkommen ‚reine Wissenschaft‘ empfindet sie sich erst dann, wenn es ihr gelingt, diesen Wissenschaftler völlig zu ersetzen. Da dies nur in den Naturwissenschaften, zumindest als Phantasie, möglich ist, in den Geisteswissenschaften hingegen an der notwendigen ‚Empfindsamkeit‘ des Forschers scheitern muss, ist hier eine der Erklärungen für die neue Wissensordnung zu suchen. Hard science heißt im Idealfall science without the body of the scientist. Interessanterweise ist eben dies der historische Moment, in dem die Frau, Verkörperung der Körperlichkeit, das Reich der Wissenschaft betritt. Da sich die ‚Reinheit‘ der Wissenschaft – im Prinzip – von der Forderung nach einer ‚Reinheit‘ des Forschers unabhängig gemacht hat, gilt auch die Wissenschaftlerin nicht mehr alskontaminierend.

Die Einlagerung von Geschlechtercodes in die Wissenschaft: Sexualisierung und Entsexualisierung

Wenn sich die westliche Wissensordnung durch die Bereinigung des Wissens vom Subjektiven, Irrationalen und Sexuellen konstituieren konnte, so stellt sich die Frage, warum Frauen – und damit auch ihre Funktion, die ‚Sexualität‘ zu repräsentieren – in eben dem historischen Moment in der Wissensordnung zugelassen werden, wo Sexualität und Zufall ausgeschlossen werden. Um auf diese Frage zu antworten, sei noch einmal der Blick auf die Entwicklung der Wissenschaften gerichtet und danach gefragt, wie es ‚die Wissenschaft‘ (im kollektiven Singular) überhaupt so weit bringen konnte, dass ihr Traum von einem Labor-gerechten Forscher, der ebenso ‚rein‘ ist wie die Wissenschaft selbst, also von einem Labor ohne Forscher, in greifbare Nähe rückte. Die Voraussetzungen für die Erfüllung dieser Wissenschaftsutopie schufen die Errungenschaften der Wissenschaft auf dem Gebiet der medizinischen Forschung, als es diesen gelang, den menschlichen Körper – und damit auch den forschenden Körper – zu einem Produkt zu machen, das sich im Reagenzglas fabrizieren ließ. Mit der Entdeckung des Eisprungs um 1830, mit einer genaueren Kenntnis der Zeugungsvorgänge um 1875 (dank verbesserter Mikroskopiertechnik) hatte die westliche Wissenschaft den Zugang zu einem Wissen entdeckt, das von Anfang an die abendlän­dische Wissensphantasie beschäftigte: die Reproduktion des Menschen nach geplanten, den Zufall – vor allem den Zufall der sexuellen Anziehungskraft – ausschließenden Mechanismen. Damit rückte eine alte abendländische Wissenschaftsphantasie ihrer Realisierung um einen entscheidenden Schritt näher. Sie hatte begonnen mit Platon und seiner im ‚Staat‘ entwickelten Vorstellung einer geplanten Fortpflanzung der menschlichen Gemeinschaft, sie hatte sich ‚wissenschaftlich‘ niedergeschlagen in den [<< 19] aristotelischen Theorien über ‚die Zeugung der Geschlechter‘; und sie fand im christlichen Topos vom ‚geistigen Samen‘ ihre theologische Ausformulierung. Zwar wird der moderne Wissenschaftler (bisher) noch nicht in der Retorte gezeugt und ausgetragen, aber das Labor und die Bedingungen der Forschung im Labor tragen doch schon erheblich dazu bei, seine Existenz, zumindest an diesem Ort, den Phantasien, dass er selbst in der Retorte erzeugt werden könne, näher zu bringen. Der Mensch aus der Retorte – ob als Cyborg oder als anderes künstliches Wesen – stellt die Zukunfts- und Wissenschaftsphantasie des 20. Jahrhunderts dar. Doch es ist bemerkenswert, wie selten in den Filmen oder Romanen, die dieser Phantasie Ausdruck verleihen, der Gedanke formuliert wird, dass das eigentliche Ziel moderner Wissenschaftsphantasien die Erzeugung des Wissenschaftlers selbst ist. Jede Elite einer gesellschaftlichen Hierarchie nutzt ihre Macht über die Medien des Wissens dazu, das Gedächtnis und die Geschichte dieser Gesellschaft im eigenen Sinne um- und für die Zukunft festzuschreiben. Warum sollte dann andersherum nicht auch eine vom ‚Leib des Forschers‘ befreite Wissenschaft dafür sorgen, ihre eigenen, das heißt, diese Wissenschaft perpetuierenden Wissenschaftlerhervorzubringen?

Die neue Wissensordnung bedarf, wie die alte, ihrer ‚Biologisierung‘ – und sie bedarf der ‚Naturalisierung‘ in verstärktem Maße und zugleich in anderer Form. Hatte die ‚alte Wissensordnung‘ alles auszuschließen gesucht, das sich ihr auf dem Weg zur ‚reinen Abstraktion‘ widersetzte, darunter vor allem die Geschlechtlichkeit, so hat die ‚neue Wissenschaft‘ die Parameter für die ‚Erzeugung‘ des neuen Forschertypus zu schaffen. Diese Aufgabe verlangt nach einer Biologisierung, die nicht etwa vorhandene Geschlechterbinaritäten ‚benutzt‘, sondern diese ganz neu erstellt. Damit kommen wir zur Frage nach der Einlagerung von Geschlechtercodes in die Wissenschaft. Auf diese Frage gibt es zunächst eine einfache Antwort: Da ‚Weiblichkeit‘ mit der Entstehung der westlichen Wissens- und Geschlechterordnung als Code für Sexualität eingesetzt wurde, liegt es nahe, dass dieser Code auch herangezogen wird, um die neue Wissensordnung mit einer sexuellen Chiffre zu versehen und zu biologisieren. Anzeichen für eine geschlechtliche Aufladung von Wissensstrukturen durchsetzen nicht nur die Metaphorik der modernen Wissensordnung selbst, sie sind auch deutlich wahrzunehmen im Sprachgebrauch und den Bildern der modernen Kommunikations- und Speichersysteme, die diese Wissensordnung ermöglicht haben: Es genügt, an das Bild der ‚jungfräulichen Festplatte‘, an den ‚binären Code‘ und das ihm zugrunde liegende ‚Lochkartensystem‘ wie auch an die synthetischen Frauenstimmen zu denken, die das ‚Hochfahren‘ des Computersankündigen.

Über die Art, wie sich die Einlagerung von Geschlechtercodes in einzelnen Wissensfeldern und theoretischen Diskursen vollzogen hat, geben die einzelnen Beiträge dieses [<< 20] Bandes Auskunft. Sie geben damit auch Auskunft darüber, dass diese Vorgänge durchaus analysier- und entzifferbar geworden sind – eine Tatsache, die sich ihrerseits als der Hauptmotor der Geschlechterstudien und ihres spezifischen ‚Wissensdrangs‘ bezeichnen ließe und mit dem Wandel der Geschlechterordnung, der sich in den letzten hundert bis hundertfünfzig Jahren vollzogen hat, unmittelbar zusammenhängt. Diese fand in neuen Theorien über den Geschlechtstrieb ihren deutlichsten Niederschlag, und – bemerkenswert genug – diese neuen Theorien entwickelten sich zeitlich parallel zum Wandel der Wissensordnung und zur allmählichen Aufnahme von Frauen in denWissensbetrieb.

Der Diskurs über Weiblichkeit als Repräsentation des Sexualtriebs erfährt Mitte des 19. Jahrhunderts eine völlige Umkehrung, auf die schon der Schriftsteller und Sexual­forscher Henry Havelock Ellis (1859 – 1939) um 1900 in seinen Werken zur Sexualpsychologie aufmerksam gemacht hat.7 Ellis weist darauf hin, dass die Theorien zum Sexualtrieb über Jahrhunderte eine Konstante aufwiesen, laut denen der Sexualtrieb der Frau dem des Mannes weit ‚überlegen‘ sei. Er verweist auf den griechischen Mythos vom ‚Seher‘ Teiresias, der von Hera mit Blindheit geschlagen wurde, weil er das ‚Geheimnis der Frauen‘ verriet, laut dem der weibliche Geschlechtstrieb ‚neunmal höher‘ sei als der des Mannes. Ellis zitiert den römischen Dichter Juvenal, der schrieb, dass gewiss keine Frau Interesse daran haben könne, ein Mann zu werden, „denn wie klein ist seine Wollust verglichen mit der ihrigen“; und Ellis führt auch die wissenschaftlichen Theorien von Galen an, der die Ansicht vertrat, dass es für die Frau wegen ihres starken Sexualtriebs sehr viel schwieriger sei, im Zölibat zu leben, als für den Mann.8 Auf solchen Vorstellungen, die sich spielend zwischen Mythos und Wissenschaft bewegten, basierten die Vorkehrungen, die eine Domestizierung oder Neugestaltung des Weib­lichen im westlichen Denken vorsahen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts tauchen jedoch zunehmend ‚wissenschaftliche‘ Vorstellungen auf, die genau das Gegenteil behaupten. In England veröffentlicht Agton eine Schrift, in der er behauptet, dass die Annahme, „dass alle Frauen geschlechtlich empfinden, eine niedere Beschimpfung“ sei. Fehling in Basel erklärt, dass die Sexualität in der Liebe eines jungen Mädchens als „pathologisch“ einzustufen sei,9 während der deutsche Psychiater Näcke versichert: „Die Frauen sind im allgemeinen weniger sinnlich als die Männer.“ 10 Gewiss lassen sich solche Aussagen als das abtun, was sie waren: als ‚unwissenschaftlicher‘ Versuch, eine neue symbolische [<< 21] Geschlechterordnung zu etablieren. Nur ist erstens zu bedenken, dass diese Aussagen als ‚Wissenschaft‘ daherkamen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch verstärkt durch die Theorien hoch angesehener Wissenschaftler wie Richard von Krafft-Ebing, der in seiner ‚Psychopathia Sexualis‘ verkündet, dass „der Mann, welcher das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, abnorme Erscheinungen“ seien;11 und zweitens stellt sich die Frage: Warum entsteht diese neue Geschlechterordnung und worin besteht ihr Gewinn für die Etablierung der neuenWissensordnung?

Die neue Wissensordnung ‚entdeckt‘ nicht nur die Überlegenheit des männlichen Geschlechtstriebs, sie stellt auch – zum ersten Mal seit der Geburt der abendländischen Wissensordnung – ausdrücklich den Zusammenhang zwischen Geschlechtstrieb und geistiger Aktivität her und pocht damit auch auf seine Rolle für die Weiterentwicklung des Wissens. Das mag zunächst wie ein Widerspruch zu der vorher entwickelten These klingen, dass das Ideal der Wissensordnung the scientist without a body, also erst recht der Wissenschaftler ohne Unterleib ist. Doch der Widerspruch löst sich bei genauerer Betrachtung. Die Zusammenführung von Geschlechtstrieb und Wissensordnung geschieht einerseits durch physiologische Theorien wie die von Charles Darwin und andererseits durch psychologische Erklärungsmuster wie die von Sigmund Freud. Beide theoretischen Schulen begründeten die ‚Überlegenheit‘ männlicher Geistigkeit – also Wissensfähigkeit – entweder mit der ‚Überlegenheit‘ des männlichen Sexualtriebs oder aber mit der ‚Männlichkeit‘ des Geschlechtstriebs selbst. Auffallend an der physiologischen Begründung ist die Berufung auf das Tierreich und die Natur. Waren bis hierher Wissenschaft und Wissensfähigkeit mit der Unterscheidung von Kultur und Natur begründet worden, so wird nun die Ähnlichkeit von ‚Männlichkeit‘ mit den Trieben der Tiere und Primaten betont, um ‚geistige Überlegenheit‘ zu erklären. Darwin vertritt die Ansicht, dass sich der Unterschied aus den intellektuellen Kräften der Geschlechter – der sich darin zeige, „dass der Mann in allem, was er beginnt, zu größerer Höhe gelangt, als es die Frau kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Phantasie oder den bloßen Gebrauch der Sinne und Hände erfordern“ –, dass sich dieser Unterschied also aus den Gesetzen der geschlechtlichen Zuchtwahl ableite. Laut diesen Gesetzen hätten unter den Männern der „halbmenschlichen Vorfahren des Menschen und unter wilden Völkern […] viele Generationen hindurch Kämpfe um den Besitz der Frauen stattgefunden“.12 Die psychologische Beweisführung Freuds ist anders, führt aber zu demselben Ergebnis. Auch Freud betrachtet die Libido als [<< 22] Voraussetzung für geistige und kulturelle Aktivität. Er macht zwar den Unterschied zwischen dem „Gelehrten“, der seiner Tätigkeit zuliebe auf Sexualität verzichten muss, und dem Künstler, der mit „abstinentem Lebenswandel“ nicht recht vorstellbar sei und dessen „künstlerische Leistung durch sein sexuelles Erleben mächtig angeregt“ werde. Aber ganz allgemein, so fügt er hinzu, habe er nicht den Eindruck gewonnen, „dass die sexuelle Abstinenz energische, selbständige Männer der Tat oder originelle Denker, kühne Befreier und Reformer heranbilden helfe“.13 Doch in jedem Fall – ob nun die Sexualität sublimiert wird oder nicht – bildet für ihn der Sexualtrieb die Grundlage des Wissensdranges. Diesen Sexualtrieb betrachtet er zwar einerseits als geschlechtsneutral oder geschlechtsübergreifend – er schreibt, dass „die Zusammenstellung weiblicher Libido jede Rechtfertigung vermissen lässt“.14 Andererseits sieht er die Libido symbolisiert im männlichen Genital, womit implizit auch über die geschlechtliche Zuordnung ‚des Sexualtriebs‘ entschieden ist. Wo er geistiger Tätigkeit bei Frauen begegnet, analysiert er diese folgerichtig als Aneignung ‚männlicher‘ Eigenschaften und männlicher Physiologie: „Der Wunsch, den ersehnten Penis endlich doch zu bekommen, kann noch seinen Beitrag zu den Motiven leisten, die das gereifte Weib in die Analyse drängen, und was sie verständigerweise von der Analyse erwarten kann, etwa die Fähigkeit, einen intellektuellen Beruf auszuüben, lässt sich oft als eine sublimierte Abwandlung dieses verdrängten Wunsches erkennen.“ 15

Die wissenstheoretische Verschiebung, die sich hier vollzieht, lässt sich umschreiben als die Einlagerung von Geschlechtlichkeit in die Wissensgeschichte und Wissenstheorie. Es handelt sich um eine sexuelle Aufladung der Wissensordnung, die, weil es sich um eine symbolische Zuordnung handelt, eben deshalb auch nicht dem Ausschluss der Geschlechtlichkeit aus der Wissensordnung widerspricht. Die beiden Vorgänge sind gewissermaßen die Kehrseiten ein und desselben Vorgangs, und dieser findet auf doppelter Ebene statt: Einerseits wird der männliche Trieb als Generator des Wissens und der Wissensfähigkeit beschworen – er schwebt gleichsam als deus ex machina in die Wissensordnung ein. Andererseits wird aber auch die Weiblichkeit in die neue Wissensordnung aufgenommen. Auch hier tut sich auf den ersten Blick ein Widerspruch auf, der sich jedoch löst, sobald man das Paradigma betrachtet, das sich dahinter verbirgt. ‚Der Sexualtrieb‘, von dem in der neuen Geschlechter- und Wissensordnung die Rede ist, ist ein Produkt der Wissenschaftlichkeit selbst, und auch [<< 23] hier – wie beim laborgerechten Forscher – handelt es sich um eine alte Phantasie, die mit den neueren Erkenntnissen der Wissenschaft in den Bereich des Realisierbaren rückt. Denn in dieser Zeit, in der sich diese ganzen Wandlungen, ja Umkehrungen, alter Ordnungen vollziehen, entstehen nicht nur die Reproduktionswissenschaften, sondern auch die Sexualwissenschaften, die einen von der Fortpflanzung unabhängigen Sexualtrieb postulieren, ebenso wie die Reproduktionswissenschaften das Ziel einer von der Sexualität unabhängigen Fortpflanzung verfolgen. Darüber hinaus gehen die Sexualwissenschaften auch davon aus, dass sich der Sexualtrieb rational und wissenschaftlich erfassen lasse, obgleich ausgerechnet dieser in den Denktraditionen der abendländischen Wissenswelt als der mächtigste und der Irrationalität, mithin der Unwissenschaftlichkeit, am nächsten stehende Trieb gilt. Genau dies, der Versuch einer rationalen und wissenschaftlichen Erfassung der Irrationalität, ist in den letzten hundert Jahren zu einem Leitgedanken vieler Wissensfelder geworden, und der Vorgang trug dazu bei, dass die modernen Industriegesellschaften ihre Angst vor den Mächten des Sexualtriebs verloren und fast alle Paragraphen aus ihren Gesetzbüchern gestrichen haben, die den Geschlechtsverkehr regulieren. Eine solche ‚Befreiung‘ der Sexualität von (fast) allen Fesseln ist historisch einmalig und hat es in dieser Form in keiner anderen Kultur gegeben. Indem der Sexualtrieb ‚berechenbar‘ geworden ist – und in dieser Hinsicht ist die Sexualwissenschaft nicht zu trennen von den anderen Erscheinungsformen eines der Macht der Berechenbarkeit unterworfenen Sexualtriebs, egal, ob dieser in Porno, Peepshow oder Prostitution, allesamt dem Zeichensystem des Geldes unterstehenden Systemen, seinen Ausdruck findet –, wurde er der rationalen Logik unterworfen und damit wissenschaftsgerecht. Er gehört nicht nur in die neue Wissensordnung, er dient sogar ihrer Durchsetzung und Legitimierung. Der Forscher ohne Unterleib ist versehen mit einem neuenGeschlechtsapparat.

Wir fassen zusammen: Die abendländische Wissensordnung beruht in doppelter Hinsicht auf einer symbolischen Geschlechterordnung: Einerseits konstituiert sie sich über den Ausschluss von Geschlechtlichkeit, symbolisch dargestellt am Ausschluss des weiblichen Körpers aus der Wissensordnung. Erst als sich in der symbolischen Geschlechterordnung das Paradigma entwickelt, dass der weibliche Körper ‚an sich‘ geschlechtslos sei – die Vorstellung schlägt sich u. a. in wissenschaftlichen Theorien des 19. Jahrhunderts über den ,reduzierten‘ weiblichen Geschlechtstrieb nieder –, gestattet die Wissensordnung die Aufnahme von Frauen. Andererseits konstituiert sich die Wissensordnung aber auch durch die ‚sexuelle Aufladung‘ von Wissensfeldern. Motor dieses Vorgangs ist ein ‚Sexualtrieb‘, der der Berechenbarkeit des ‚wissenschaftlichen Diskurses‘ unterliegt. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass das Geschlecht im 20. Jahrhundert jeden Anschein von Biologie verliert und immer mehr [<< 24] als ‚performativer Akt‘ begriffen wird.16 Allerdings muss diese Entwicklung auch in ihrer Historizität eingebettet werden, also als Erscheinungsform eines geschichtlichen Wandels der symbolischen Geschlechterordnung und eines ‚neuen Sexualtriebs‘, der als Basis der Wissensordnung verstandenwird.

Metaphysik und Wissenschaft

Gehen wir nun zurück zum Ausgang der Überlegungen, dem Wandel der Wissensordnung, der von der Theologie als Leitwissenschaft über die Geschichte / Philosophie zu den naturwissenschaftlichen Fächern als Leitwissenschaften führte. Man könnte diesen Prozess als Ausdruck eines Säkularisierungsprozesses begreifen, der Entkirchlichung oder Verlust transzendenter Glaubensinhalte besagt. Dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass auch die neue Wissensordnung zu ihrer Konstitution einer symbolischen Geschlechterordnung bedarf und in dieser ihre ‚Biologisierung‘ findet. Die Umkehrung ist also nicht so tiefgreifend, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Und zweitens spricht dagegen auch die Tatsache, dass die neuen Leitwissenschaften in mehr als einer Hinsicht die Nachfolge der alten Leitwissenschaften angetreten haben: Ihnen wurde das alte Projekt der Unsterblichkeit überantwortet. Es gibt also eine Linie, die direkt von der Theologie zur Naturwissenschaft führt – und ihre Entwicklung weist viele Parallelen zum Wandel der Geschlechterordnungauf.

In den modernen Naturwissenschaften verbindet sich die Scheu, das Metaphy­sische zu thematisieren, mit einer bemerkenswerten Bereitschaft, religiöse Bilder zur Charakterisierung der eigenen Errungenschaften zu zitieren. So etwa, wenn Stephen Hawking in A Brief History of Time schreibt, dass die Wissenschaftler „the mind of God“ enthüllen;17 und der Physiker George Smoot, der die ‚Big-Bang-Theorie‘ mit der „treibenden Kraft des Universums“ verglichen hat, fragt: „and isn‘t that what God is?“ 18 Leon Ledermann, Nobelpreisträger der Physik, nennt die subatome Einheit, von der er glaubt, dass sie über alles bestimmt, das „God particle“.19 Welcher historische Prozess verbirgt sich hinter dieser Berufung auf das Göttliche, die mit einem Schweigen über die Metaphysik einhergeht? Könnte es sein, dass sich das Schweigen über die [<< 25] ­Metaphysik mit der Tatsache erklärt, dass die der eigenen Forschung zugrunde liegenden Paradigmen, also die historische Dimension des eigenen Werdens, ausgeblendet werden sollen? Jedenfalls verweisen die Zitate darauf, dass die Ansiedlung des alten Projekts der Unsterblichkeit in den Naturwissenschaften nicht nur eine Phantasie von Laien, sondern auch der Wissenschaftler selbst darstellt. In jedem Fall scheint die Wanderung des Unsterblichkeitsprojektes in die Naturwissenschaften dazu beigetragen zu haben, dass sie zu den ‚Leitwissenschaften‘ gewordensind.

Dieser historischen Verlagerung von Glauben zu Wissen liegt eine dem Abendland eigene Bedeutung des Begriffs ‚Säkularisierung‘ zugrunde, die in dem christlich geprägten Kulturkreis etwas anderes impliziert als etwa in der jüdischen Tradition. In der christlichen Welt bedeutet der Begriff ‚Säkularisierung‘, der sich sprachlich von lat. saeculum in der Bedeutung von Geschlecht, Generation oder auch Zeitalter herleitet, zunächst den ‚weltlichen Menschen‘, der dem durch Priesterweihe oder Mönchsgelübde gebundenen ‚religiosus‘ gegenübersteht. Ab dem 16. Jahrhundert wird der Begriff saecularisatio von französischen Kirchenrechtlern und Juristen zur Bezeichnung des Übergangs eines Ordensgeistlichen in den weltlichen Stand benutzt. Später erweitert sich der Begriff zur Bezeichnung des Übergangs kirchlichen Eigentums in weltliche Hände. Erst im 19. Jahrhundert wird der Begriff ‚Säkularisierung‘ zu einer geschichtstheoretischen oder geschichtsphilosophischen Kategorie – nun aber mit einer ambivalenten Bedeutung, die Emanzipation aus der Bevormundung durch die Kirche bzw. Entkirchlichung besagt und zugleich auf eine ‚Verfallsgeschichte‘ verweist, mit der die schwindende Integrationskraft der Religion bzw. Entleerung religiöser Gehalte gemeint sind.20 Andererseits impliziert dieser Säkularisierungsprozess aber auch, dass in der christlich-abendländischen und scheinbar ‚nachreligiösen‘ Gesellschaft ein Prozess stattgefunden hat, der sich als ‚Weltwerdung‘ des Glaubens umschreiben ließe. Diese Entwicklung, die auch die Veränderung der Wissensordnung, d. h. die Verlagerung der Leitwissenschaft von Theologie zu den Naturwissenschaften (mit dem Umweg über Philosophie und Geschichte) erklärt, scheint ein Phänomen christlicher und nachchristlicher Denktraditionen zu sein. Das zeigt z. B. der Vergleich mit der jüdischen Religion, der die Gegenüberstellung von Glauben und Wissen, von Transzendenz und Handlung fremd ist. „Unter den Vorschriften des mosaischen Gesetzes“, so schreibt Moses Mendelssohn um 1800 (also in einer Zeit, in der der christliche Säkularisierungsprozess die in christlichen Ländern lebenden jüdischen Religionsgemeinden zu [<< 26] neuen Selbstdefinitionen zwang), „lautet kein einziges: du sollst glauben oder nicht glauben; sondern alle heißen: Du sollst tun oder nicht tun! Dem Glauben wird nicht befohlen, denn der nimmt keine anderen Befehle an, als die im Weg der Überzeugung zu ihm kommen.“ 21

Das Christentum hingegen, das zwischen Glauben und Vernunft unterschied, entwickelte ein mächtiges Bedürfnis, die weltliche Wirklichkeit den Glaubensgrundsätzen anzupassen. Für das christliche Denken stellte die Veränderung der Welt, der wahrnehmbaren Wirklichkeit eine religiöse Notwendigkeit dar. Nur so ließ sich der Abgrund zwischen Metaphysik und Physik, zwischen Geist und Körper überbrücken. Wissenschaft und Logik wurden vom Glauben an die Leine genommen. Deshalb begleitet die christliche Wissensgeschichte auch eine seltsame Paradoxie. Keine andere Religion der Welt hat die Erkenntnisse der Wissenschaft und der Vernunft so erbittert bekämpft und verfolgt wie die christliche. Zugleich hat aber auch keine andere reli­giöse Kultur so viele Wissenschaftler und wissenschaftliche Neuerungen hervorgebracht wie das Christentum.22 Das lässt sich nicht mit der Tatsache erklären, dass die Neuerer Häretiker gewesen seien. Das waren sie ganz entschieden nicht: Ein Gutteil der Neuerungen kam aus den Klöstern selbst; und auch außerhalb der kirchlichen Strukturen waren die Neuerer – bis tief in die Neuzeit hinein – zumeist gläubige Christen. Descartes zum Beispiel erklärte: „Die Philosophie ist wie ein Baum. Die Wurzeln sind die Metaphysik, der Stamm ist die Physik, und die Zweige sind die anderen Wissenschaften.“ 23 Er entwarf also das Bild einer Wissenschaft, die das Sichtbare (oder die Natur) als das Produkt oder Ergebnis des Unsichtbaren oder des Transzendenten betrachtete. Dennoch vergleicht er den menschlichen Körper mit einem Räderwerk,24 also einer Schöpfung des menschlichen Erfindergeistes. Damit machte er Gott, an den er als Schöpfer glaubte, zu einem idealen Mechaniker – d. h. zum ‚Ebenbild‘ des Menschen. Für Leibniz, auch er zutiefst gläubig, wurden Maschine [<< 27] und Uhrwerk sogar zu einer Art von Gottesbeweis: „So ist jeder organische Körper eines Lebewesens sozusagen eine göttliche Maschine oder ein natürlicher Automat, der alle künstlichen Automaten unendlich übertrifft […]. Aber die Maschinen der Natur, d. h. die lebenden Körper, sind noch in ihren kleinsten Teilen, bis ins Unendliche, Maschinen.“ 25 In diese Logik bezog er auch die Seele ein, von der er schrieb, dass sie „ein geistiger, bewunderungswürdiger Automat“ sei, der „durch göttliche Präformation erzeugt“ werde.26 Hinter einer solchen Vorstellung von ‚Wissenschaft‘, die den göttlichen Plan mit den Erfindungen des menschlichen Geistes und den Glauben mit wissenschaftlicher Neuerung in Eins setzte, steckte ein Neuerungsdrang, der dem Christentum eigen war und als eine Art von Dialektik zu verstehen ist, die dem aufeinanderfolgenden Ausschluss und Einschluss von Geschlechtlichkeit ähnelt: Gottfremdes Wissen wird zunächst ausgelagert und verfolgt, bis es zu einem Teil des christlichen ‚Heilsplanes‘ geworden ist. Diese Dialektik hat die christliche Wissensordnung von Anfang an begleitet und wirkt bis in die moderne Wissenschaft weiter, denn den Kern dieses ‚Heilsplans‘ bildet die Herstellung einer spezifischen, sich dem Prinzip der Berechenbarkeit verdankenden Wissensordnung. Dass ausgerechnet das Christentum, das stärker als irgendeine andere Religion auf dem Prinzip des Glaubens beruht – d. h. auf einem Prinzip, das der von der hard science gestellten Forderung nach ‚Verifizierbarkeit‘ widerspricht –, diese Dialektik vorangetrieben hat, ist nicht notwendigerweise ein Widerspruch, begreift man den ‚Glauben‘ als eine historische Triebfeder und die Wissensordnung als das Ziel dieses Triebs. Während Sexual- und der Todestrieb zu den Charakteristika des Individuums gehören, zeichnet sich die Triebstruktur des sozialen Körpers durch die Berechenbarkeit aus, und der deutlichste Niederschlag einer solchen Triebstruktur ist die Wissensordnung. Das Produkt dieses abendländischen Neuerungsdrangs bestand in einer Vorstellung von „Wissen“, die der Philosoph und Sozialwissenschaftler Cornelius Castoriadis als eine spezifische Idee von „rationalem Wissen“ bezeichnethat:

„Die aufeinander folgenden Umwälzungen, die sich im ‚rationalen Wissen‘ aller bekannten Gesellschaften finden lassen, setzen stets einen grundlegenden Wandel des gesamten imaginären Weltbildes (und der Vorstellungen vom Wesen und Ziel des Wissens selbst) voraus. Die letzte dieser Umwälzungen, die vor einigen Jahrhunderten im Abendland stattfand, [<< 28] hat jene eigentümliche imaginäre Vorstellung geschaffen, der zufolge alles Seiende ‚rational‘ (und insbesondere mathematisierbar) ist, nach der der Raum des möglichen Wissens von Rechts wegen vollständig ausgeschöpft werden kann und wonach das Ziel des Wissens in der Beherrschung und Aneignung der Natur liegt.“ 27

Corpus fictumund organischer Körper

Die Art, wie Theologie, Säkularisierungsprozess und Etablierung der Wissensordnung ineinandergreifen, offenbart sich besonders deutlich an den wechselnden Theorien über den Körper. Diese werden zwar in jeder Epoche neu formuliert und dennoch zu unveränderbarer biologischer Wirklichkeit erklärt. Am deutlichsten wird das, wenn man die Bilder vom kollektiven (oder sozialen) Körper mit denen vom geschlechtlichen Körper vergleicht. Ganz unbestreitbar ist der soziale Körper ein imaginärer Körper: ein corpus fictum oder imaginatum, wie die Theologen die Kirche und die Juristen den Staat nannten.28 Durch die Analogie zum menschlichen Körper sollte dem imaginären sozialen Körper der Anschein von Unteilbarkeit und Leibhaftigkeit verliehen werden. Das heißt, der kollektive Körper hatte sich im individuellen zu spiegeln – und umgekehrt. Da sich aber die Bilder des corpus fictum von einer Epoche zur anderen veränderten, erfuhren auch die dazugehörigen medizinischen, biologischen und juristischen Konzepte des organischen Körpers immer wieder neue Definitionen.29 Das heißt, die Selbst-Konzepte des sozialen Körpers bestimmten über das ‚Wissen‘ von ‚dem Körper‘. Diese Spiegelbildlichkeit bildet eines der wichtigsten Scharniere zwischen der Geschichte der Wissensordnung und der Geschichte der Geschlechterordnung, und sie offenbart zugleich den engen Zusammenhang zwischen Physik undMetaphysik.

Die wandelbaren Bilder des corpus fictum hängen ihrerseits eng mit den medialen Techniken zusammen, über die eine Epoche verfügt und die das Gesicht und die Wissensordnung dieser Epoche prägen. Da die Medien sowohl über die Form der kommunikativen Vernetzung einer Gemeinschaft als auch über das gespeicherte Wissen ihrer Epoche bestimmen, sind sie auch ‚formatierend‘ für die Gestalt des sozialen Körpers [<< 29] und seines Spiegelbildes, des menschlichen Körpers. Deutlich ist die Interdependenz von Medien und Wissensordnung im Bezug zum Körper nachzuvollziehen an den aufeinanderfolgenden Vorstellungen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Als der elektrische Strom aufkam, wurde die Tätigkeit des Gehirns mit dem elektrischen Netz und Stromstößen verglichen; dieses Erklärungsmuster wurde abgelöst vom Bild des Telegrafennetzes, auf dieses folgte das Modell des Rechners, und heute beruft sich die moderne Hirnforschung gerne auf die Analogie zum Internet. Indem die Kommunikationskanäle und Übertragungsmechanismen, die Speicher- und Reproduktionssysteme über das kollektive Gedächtnis die Entscheidung darüber treffen, was als ‚wissenswürdig‘ zu gelten hat, verwalten sie auch die Art, wie eine Gemeinschaft als Körper ‚funktioniert‘. So entsteht eine Wechselwirkung: ‚Die Wissenschaft‘ erfindet Techniken, die ihrerseits über die Gestalt des sozialen Körpers bestimmen. Der soziale Körper wiederum bringt eine bestimmte Wissensordnung hervor, der das Wissen über den menschlichen Körperunterliegt.

Die Vorstellung von der Ähnlichkeit des sozialen und des menschlichen Körpers wirkt sich aus auf die Geschlechterordnung und die geschlechtlich codierte ‚Gestaltung‘ des Sozialkörpers. Ein Beispiel: Paulus beschreibt das Verhältnis von Christus und Glaubensgemeinschaft, indem er sich auf die Analogie von Gemeinschaft und Leib beruft: „Weil es ein einziges Brot gibt“, so sagt er, „sind wir Vielen ein einziger Leib.“ 30 Die einzelnen Gläubigen bezeichnet er als ,Glieder‘, die in Christus einen unteilbaren Körper bilden.31 In dieser Konstruktion ist Christus wiederum das ‚Haupt‘ der Gemeinde und diese sein ‚Leib‘.32 Diese Körpermetaphorik überträgt er auf die Geschlechterordnung und die Rolle von Mann und Frau in der ehelichen Verbindung. Ebenso wie Christus das Haupt der Gemeinde sei, so solle auch in der Ehe der Mann das Haupt der Frau und sie seinen Leib bilden. Paulus: „So sollen auch die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst.“ 33 Deutlicher als in diesem Bild eines Hauptes, das seinen eigenen Leib heiratet, lässt sich das Gesetz von der Unauflösbarkeit der Ehe, das von allen Religionen der Welt nur das Christentum kennt, kaum benennen. Augustinus übertrug diese Vorstellung auf das Verhältnis von Geist und Fleisch, das es zu domestizieren, aber nicht zu verachten gelte. „Hassen wir aber nun wirklich das Fleisch, wenn wir wünschen, dass es [<< 30] uns gehorche? In der Regel weist ein jeder in seinem Hause seine Gattin zurecht und macht sie gefügig, falls sie widerspenstig ist, aber er verfolgt sie nicht als seine Feindin.“ 34

Das Bild des Hauptes, das seinen eigenen Leib heiratet, wurde zu Beginn der Neuzeit von englischen Kronjuristen aufgegriffen, um das Verhältnis von Souverän und Reich zu charakterisieren; es wurde also aus der theologischen Sphäre in jene des Staates übertragen.35 Auch die sexuelle Codierung wurde übernommen: So wie Christus als ‚Bräutigam‘ der Glaubensgemeinschaft galt und der Bischof bei seiner Ordination zum sponsus der Kirche wurde – der Ring, den er über seinen Finger streifte, besiegelte die Ehe 36 –, so wurde im Spätmittelalter auch der König bei seiner Krönung zum ‚Gatten‘ des Reichs ernannt, zum maritus rei publicae.37 Diese Ehemetaphorik wirkte ihrerseits auf die Geschlechterordnung zurück und prägte die Vorstellung von der ‚Natur‘ der Geschlechterordnung.38 An das Haupt-Leib-Modell für Ehe und Gemeinschaft schlossen noch die Pädagogen der Aufklärung wie Theodor Gottfried von Hippel an, der 1774 schrieb: „Der Mann soll über das Weib herrschen wie die Seele über den Leib.“ 39 Solche Ehemetaphern verdankten ihre Überzeugungskraft der Tatsache, dass sie an die alte Dichotomie anschlossen, die Männlichkeit mit Geist und Weiblichkeit mit Leiblichkeit assoziierte. Und sie wirkten zurück auf dieWissensordnung.

Der soziale Körper als corpus fictum erschafft sich also im physiologischen Körper sein Spiegelbild – und umgekehrt. Genwissenschaftlich gesprochen könnte man auch sagen: Sozialer Körper und menschlicher Körper klonen sich gegenseitig – und zwar so, dass zuletzt niemand mehr weiß, welcher das Original und welcher die Reproduktion ist. Geleitet wird dieser Prozess von einer Wissenschaft, die das Produkt medialer Techniken ist, die sich ihrerseits wissenschaftlichen Errungenschaftenverdanken. [<< 31]

Das heilige Gen

Dass in der christlichen und postchristlichen Gesellschaft eine enge Beziehung zwischen Wissenschaft und Metaphysik besteht, lässt sich am deutlichsten an den Wissenszweigen darstellen, die um ‚das Gen‘ entstanden sind. Das Gen ist als die Körper- und Wissenschaftsmetapher der Moderne zu bezeichnen, und nicht durch Zufall firmieren die Disziplinen, die genetische Forschung betreiben, inzwischen unter dem Namen ‚Lebenswissenschaften‘. In den Genwissenschaften verbinden sich ­mediale Techniken wie die Schrift, das Alphabet und der binäre Code 40 mit Wissen und religiösen Paradigmen, und diese spiegeln sich ihrerseits in den beiden Konzepten des Körpers wider, dem biologischen und dem sozialen. In den Genwissenschaften verbinden sich also die verschiedenen zur Etablierung der Wissensordnung notwendigen Faktoren – mediale Techniken, sozialer Körper, physiologischer Körper – und zugleich spiegeln sich in ihrer Geschichte die historischen Transformationsprozesse wider, die die Geschichte der Wissensordnung wie die Geschichte der symbolischen Geschlechterordnung durchlaufenhat.

Die Genforschung wird oft als Selbstermächtigung des Menschen interpretiert, als Versuch, sich göttliche Macht anzueignen, und in dieser Hinsicht als der christlichen Demut konträr beschrieben. Es lässt sich aber auch die gegenteilige These aufstellen: dass nämlich der Diskurs über das Gen in der christlichen Tradition selbst verhaftet ist und diese fortführt. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Genwissenschaft als Religion mit transzendenter Botschaft zu betrachten sei, sondern vielmehr, dass sie sich den Strukturen christlichen Denkens – und einem spezifisch christlichen Säkularisierungskonzept, das die Weltwerdung der Heilsbotschaft einfordert – verdankt. Ist Christus der Fleisch gewordene Logos, so geht es in der Wissenschaft vom Gen um das Biologie gewordene Bit. In beiden Fällen hängen die ‚Heilsbotschaften‘ eng mit den jeweiligen medialen Errungenschaften zusammen: Dem Christentum war die Erfindung des griechischen Alphabets vorausgegangen, der Genwissenschaft die Erfindung des binärenCodes.

Nichts ist schwieriger zu definieren als das Gen, das als eine linguistische Fiktion begann, erfunden vom dänischen Genetiker Wilhelm Johannsen im Jahre 1909, um eine angenommene Zelleneinheit zu beschreiben, die bestimmte Eigenschaften [<< 32] hervorrufen kann. Johannsen übernahm den Begriff wiederum von dem deutschen Physiologen Hugo DeVries, der den Begriff des ‚Pangens‘ von Charles Darwins ‚Pangenesis‘ abgeleitet hatte: Mit Pangenesis (der Verweis auf die Bibel kommt nicht von ungefähr) war die Theorie über den Ursprung der biologischen Variation gemeint. Für die erste Generation der experimentellen Genetiker Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnete das ‚Gen‘ eine physische Eigenschaft – die Flügelform oder Augenfarbe der Fliege Drosophila zum Beispiel, die sich von einem (bis dahin nicht identifizierten) Substrakt von Erbmaterial herzuleiten schien. Heute begreift man DNS (aus der sich das ‚Genom‘ zusammensetzt) nicht als Vorgabe für eine bestimmte körper­liche Eigenschaft, sondern als eine Art von Interaktion der ‚Gene‘ mit sich selbst und dem weiteren Umfeld. Wie bei der Hirnforschung spielen auch bei diesem Wandel die neuen medialen Techniken – Computer und Internet – eine wichtige Rolle. Das moderne Konzept des Gens hat dazu geführt, dass der Körper selbst nicht als eine feste Gegebenheit betrachtet wird, sondern – vergleichbar dem Computer – als ein ‚Satz von Anweisungen‘, als ein ‚Programm‘, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. In ihrem Buch The DNA Mystique schreiben Nelkin undLindee:

„Menschen sind die ‚Computerausdrucke‘ ihrer Gene. Wenn Wissenschaftler den Text entziffern und decodieren können, die Markierungen auf der Karte klassifizieren und Anweisungen lesen können, so die Vorstellung, dann werden sie auch die Essenz der menschlichen Wesen rekonstruieren, menschliche Krankheit und die menschliche Natur selbst entschlüsseln können, um so die letzten Antworten auf das Gebot ‚Kenne dich selbst‘ zu geben. Der Genetiker Walter Gilbert beginnt seine öffentlichen Vorlesungen über Gensequenzierung damit, dass er eine Kompaktdiskette aus der Tasche zieht und dem Publikum verkündet: ‚this is you‘.“ 41

Hic est corpus meum … Die Geste des Genetikers erinnert an die Worte des Priesters während der Messe, kurz nachdem die Glocke den Akt der Verwandlung von Hostie und Wein in Fleisch und Blut verkündet hat. Und tatsächlich lässt sich das undefinierbare Gen auch am besten mit der Hostie vergleichen, dem corpus christi mysticum, mit dem sowohl der Leib Christi, das ‚fleischgewordene Wort‘, als auch die Gemeinde der Gläubigen bezeichnet wird. Beide Funktionen hat das Gen übernommen. Das Gen ist Zeichen und Fleisch zugleich, eine Metapher für den individuellen und den kollektiven Körper, und es bietet das Versprechen einer fleischlichen Unsterblichkeit. [<< 33] Wie Hostie und Heiliges Abendmahl macht es das Göttliche ‚gegenwärtig‘, es birgt die Erlösung von der ‚Erbsünde‘ (erblicher Krankheit oder Behinderung); und wie bei der Transsubstantiation verspricht es magische Verwandlungen und ‚Wunderheilungen‘. Es ist die Leib gewordene Schrift. Mit der Gentechnologie, so schreibt Hans JörgRheinberger,

„wird das Labor, diese privilegierte Schmiede epistemischer Dinge, in den Organismus selbst verlegt und damit potentiell unsterblich, fängt sie doch an, mit der eigenen Schreibmaschine des Seins zu schreiben. Das größte Entzifferungsprojekt dieses Jahrhunderts, das Vorhaben, das menschliche Genom zu sequenzieren, ist auf den Weg gebracht – auf den Weg des Biochip.“ 42