Genetischer Zwilling - Jana Kleinkes - E-Book

Genetischer Zwilling E-Book

Jana Kleinkes

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Beschreibung

Ein Sprichwort sagt: Kein Mensch war ohne Grund in deinem Leben. Der eine ist ein Geschenk, der andere eine Lektion. Doch kann ein Mensch, den wir nie getroffen haben, den wir vielleicht niemals treffen werden, beides für uns sein. Eine Bereicherung und eine Lektion. Für Lilian beginnt diese Geschichte, ihre Geschichte, mit einem Traum, indem ihr ein Engel erscheint und sie überzeugt, dass sie die einzige Person ist, die das Leben eines anderen Menschen retten kann. In diesem Buch geht es um das Thema Organspende. In diesem speziellen Fall, die Spende von Knochenmark.

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Seitenzahl: 181

Veröffentlichungsjahr: 2022

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GENETISCHER ZWILLING

Jana Kleinkes

Impressum

Texte:

© Copyright by Jana Kleinkes

Umschlag:

© Copyright Jana Kleinkes

Verlag:

Jana Kleinkes

Postfach 10 02 35

46252 Dorsten

Druck:

epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Vorwort

Obwohl von wahren Geschehnissen inspiriert, handelt es sich bei dieser Geschichte um eine Fiktion mit fiktiven Persönlichkeiten. Ähnlichkeiten sind weder beabsichtigt noch gewollt.

Danksagung

Ich danke allen, die mich bei meiner persönlichen Knochenmarkspende unterstützt haben.

Insbesondere danke ich dem Ärzteteam und Pflegepersonal, der DKMS für die gute und sehr kompetente Betreuung, sowie meiner Familie und meinen Arbeitskollegen für ihre Unterstützung während des gesamten Prozesses.

Kapitel 1

Vielleicht waren ihre Gedanken egoistisch in Anbetracht der Tatsache, dass ein anderer Mensch so sehr litt.

Dennoch konnte, nein wollte sie nicht davonlassen.

In einer viel zu schnelllebigen Welt, einer Gesellschaft, in der jeder jederzeit erschreckend leicht ersetzt werden kann, schienen ihr diese Gedanken durchaus gerechtfertigt.

Immerhin denkt doch jeder auf die ein oder andere Weise nur an sich selbst.

Würde sie heute sterben, wer würde es schon bemerken?

Wer würde um sie trauern?

Bemerken? Vielleicht ihr Arbeitgeber, weil eine Arbeitskraft fehlte.

Trauern? Nein, wirklich trauern würde wohl niemand. Der ein oder andere Mensch aus ihrem Umfeld wäre wahrscheinlich bedrückt, doch für wie lange schon?

Oh, nein, sie war nicht depressiv. Keineswegs.

Sie war realistisch.

Sie kannte ihren Wert und achtete ihn nicht als gering.

Sie wusste sich geliebt. Vom Himmel und dessen Schöpfer selbst.

Kein Mensch würde so viel opfern, nur um ihre Nähe zu suchen. Vielleicht würde sie es wagen?

Wobei, nein, wenn sie wirklich ehrlich war, auch sie selbst würde keines ihrer Kinder (hätte sie denn welche) für einen anderen Menschen opfern. Unter gegebenen Umständen sich selbst, aber kein Kind.

Ihre Persönlichkeit war introvertiert. In sich selbst gekehrt, wie man so schön sagte.

Kreativ, belesen. Die Seele einer Künstlerin.

Menschen hatten sie schon oft verletzt.

Natürlich, wie sollte es auch anders sein.

Fehler machen und andere verletzen, manchmal mit, manchmal ohne Absicht, ist menschlich.

Nur manchmal konnte sie es nicht mehr ertragen.

Sie wollte nicht mehr belogen, ausgenutzt und hintergangen werden.

Es tat weh und ihre Seele trug schon, die ein oder andere Narbe. Nein, eigentlich schon viele Narben, es musste reichen, sonst würde sie daran zugrunde gehen.

Einmal tief durchatmen, sagte sie sich, als sie die Augen schloss, den Blick auf die haselnussbraunen Seelenspiegel vor der Welt verbarg, in denen und hinter denen so viel mehr lag, als die Welt annehmen würde.

Es könnte jemand sehen, würde derjenige sich die Zeit dafür nehmen, aber wer nahm sich schon Zeit?

Tausend Ideen, Erinnerungen, Bilder und Gedanken rasten durch ihren Geist und hinterließen ein merkwürdiges Gemisch aus Gefühlen, die nicht zusammenpassen wollten und es dennoch taten.

Trauer, die schon Übelkeit erregte und einen benommenen Schleier über ihren Geist legte, wurde von einer schwindelerregenden Freude umarmt. Wut, von Hilflosigkeit genährt, wirbelte mit hoffnungsvollen euphorischen Funken über eine imaginäre Tanzfläche und zwischen all dem tauchten Bilder aus ihrer Kindheit, Ausbildung und Träumen der Gegenwart und Zukunft auf. Doch keines der Bilder konnte sie genau benennen, dafür waren sie viel zu unklar und nicht zu greifen, weil sie zu schnell vorbeigezogen waren.

Nein, wollte sie wieder etwas klarer sehen, ihr Herz und ihren Geist beruhigen, würde sie am Anfang beginnen müssen.

Die Geschichte von vorne aufrollen.

Vor acht Monaten hatte es begonnen.

Träume von leidenden Menschen hatten sie verfolgt.

Anfangs dachte sie, dass der Alltag sie nun auch in ihren Schlaf hinein begleitete.

Sie sah solche Menschen jeden Tag. Acht, neun, zehn Stunden lang, manchmal mehr.

Hatte diesen Weg und die damit verbundenen Bilder selbst gewählt vor nunmehr sieben Jahren.

In ein Hospiz kamen die Menschen, um zu sterben.

Langes Leiden war in der Regel der zuvor gegangene Weg.

Die ersten Schritte in diese Welt des Elends waren der blanke Horror gewesen und doch, sie fühlte sich berufen an der Seite der Sterbenden zu stehen. Ihnen in den letzten Tagen ihres Lebens zu helfen, körperlich, aber mehr noch seelisch.

Es war nicht immer einfach.

Erst letzte Woche hatte ihr ein älterer Mann ins Gesicht gespuckt in grenzenlosem Zorn darüber, dass sie ein goldenes Kreuz um den Hals trug.

Es war unter ihrem Kittel hervor geschlüpft, als sie sich leicht über ihn beugte, um den Blutdruck des Mannes zu messen, der nicht einmal mehr sein Bett verlassen konnte.

"Was ist das für ein Gott, der es zulässt, dass ich so leiden muss!?!", hatte er nur Momente vor der Attacke, bei der er sie bespuckte, gewettert.

"Der gleiche, der seinen Sohn für Sie gab, der uns, seine Kinder liebt und auch nicht möchte, dass es ihnen schlecht geht. Er möchte Ihr Freund und Vater sein, auch wenn Sie es vielleicht nicht mehr sehen können."

Als sie sich kaum zwei Minuten später das Gesicht waschen musste, glomm der Ärger nur einen Moment unterschwellig auf.

Dieser arme Mann litt. Die Wut wurde von der Verzweiflung genährt und ließ ihn Dinge sagen und tun, die er sonst wohl nie getan hätte.

Der Krebs fraß sich durch ihn hindurch und hatte ihn schon fast besiegt.

Er grollte den Menschen und Gott und wahrscheinlich auch sich selbst, in Anbetracht der Tatsache, dass er zu Handlungsunfähigkeit verdammt war und nur noch ab-warten konnte, ehe der schwarze Schatten, der die Lebens-lichter löscht, auch an ihm vorüberziehen würde.

Krebs.

Ein furchtbarer Fluch, so in ihren Augen.

Bekannt schon vor tausenden von Jahren, da schon der Psalmist und König David ihn kannte. Sie legte seine Worte so aus: Wie ein Gewand angezogen (Haut), ins Innere gedrungen wie Wasser (Organe) und Öl in die Gebeine (Knochen). (*Psalm 109, Vers 18) Ob es der Wahrheit entsprach, wusste sie nicht, aber sie glaubte, genau das aus seinen Worten gelesen zu haben.

Nun würde sie sich diesem Fluch stellen.

Sie hatte die Menschen sterben sehen, im eigenen Leben, meist im Beruf, aber nunmehr auch im Traum.

Am Morgen versuchte sie, die Erinnerungen der Nacht abzuschütteln, was sich als schwierig erwies, wenn sie nur ein paar Stunden später mit ähnlichen Bildern auf der Arbeit konfrontiert wurde. Und dann kam diese eine Nacht, die alles für immer verändern sollte.

Schon mit einem mulmigen Gefühl war sie zu Bett gegangen, hoffte in dieser Nacht, verschont zu bleiben, ehe sie die Augen schloss und davon driftete, in eine Welt, wo nichts unmöglich schien.

Der Gang, den sie entlang schritt, wirkte unnatürlich lang und obwohl sie sich bewegte, kam sie nicht vom Fleck. Nicht wirklich jedenfalls.

Die Türen zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken blieben ihr verschlossen. Sie gaben nicht preis, was sich hinter ihnen befand und auch die Geräuschkulisse ließ nicht da-rauf schließen, was sich dort zutrug.

Die Wände waren in Weiß gestrichen und nicht einmal Bilder unterbrachen diesen sterilen, kalten Eindruck. Normalerweise gab es in den Fluren von Kliniken immer Bilder von Landschaften oder manchmal auch moderne Kunst, je nachdem. Allein, um das Gemüt der Patienten nicht noch weiter herabzusetzen und bei ihr im Hospiz war es sowieso viel wärmer – farbig gestrichene Wände und eine heimelige Atmosphäre – oder der Versuch eine zu schaffen, waren in diesen Einrichtungen üblich.

Irgendwann ging sie an einem langen Spiegel vorbei, der einzige Farbklecks, selbst wenn er aus Silber war, so war er zumindest eine Unterbrechung dieses unendlichen unnatürlichen Weißes. Lillian erblickte sich selbst und musste feststellen, dass sie wohl innerhalb des letzten Jahres ein paar Kilo zugelegt hatte, die ihr allerdings sehr gut standen. Nun wirkte sie nicht mehr so ausgemergelt und kränklich. Nur die Blässe, die, die Frauen vergangener Tage wohl beneidet hätten, als diese noch modern war, störte sie.

Aber selbst die künstliche Sonne der Solarien half da nicht viel. Das Einzige, was sie zumindest für ein paar Wochen gesund aussehen ließ, war die Bräune, die sie sich an den Stränden des Mittelmeeres zulegte.

„Die Luft ist da anders“, sagte ihre Oma immer.

Ihr wurde bewusst, dass sie stehen geblieben war, als sie die Gegenwart einer anderen Person wahrnahm. Sie wendete sich dem Mann zu und erkannte … spürte, dass er kein Mensch war.

Seine ganze Ausstrahlung, seine Haltung, irgendwie alles passte nicht zu einem Menschen, oder zu keinem Menschen, dem sie je begegnet war.

Seine Aura war freundlich und warm und trotz des herzigen Lächelns auf seinen Lippen, wusste sie, dass er eine Ernsthaftigkeit innehatte, die sie so noch nicht kannte. Dabei hatte sie schon so einige Menschen getroffen, denen man eben jene nachsagte. Manchmal von jeher gegeben, manchmal erst durch die Erlebnisse des Lebens geprägt.

Ihr Gegenüber war groß und braungebrannt. Schwarze Haare und Augen, die so dunkle waren wie Kohlen, obgleich sie auf der anderen Seite funkelten, wie Sterne in einer mondlosen Nacht.

"Komm."

Gänsehaut!

So eine Stimme....

Man sagte ihr nach, dass ihre Stimme weich und angenehm sei. Beruhigend.

Oft ein Vorteil in ihrem Job, aber die Stimme dieses Mannes war tief und wie Samt.

Schmeichelnd. Regelrecht ästhetisch.

Er wendete sich dem Gehen zu und sie folgte ihm schweigend.

Ganz ohne Angst.

Sie wusste, sie hatte nichts zu befürchten, er würde ihr nichts tun.

Sie wusste es. Spürte es in ihrem Innern. Dazu kam ein Drang, dem nachzugeben, was er von ihr gefordert hatte. „Komm“. Nur ein Wort. Doch es schien mehr zu sagen, regelrecht zu verlangen.

Ein Geräusch, dem sie zuvor keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, weckte ihre Aufmerksamkeit.

Das Tapsen von nackten Füßen auf dem kalten Stein.

Ihr Blick wandte sich nach unten.

Tatsächlich. Nackte Füße, die zum Rest der Erscheinung des Mannes nicht passen wollten. Nein, seine Kleidung erinnerte sie eher an einen Universitätsprofessor.

Mit einem weißen Hemd und Weste darüber, Stoffhosen und alles in allem, nicht wirklich mehr so glatt, als sei es eben erst gebügelt worden. Vielleicht, dachte sie, aber auch nur zu sehr in alten Klischees.

Doch lange konnte sie nicht darüber nachgrübeln, da er erneut das Wort an sie richtete.

"Lillian. Wieso bist du hier?"

"Das weiß ich nicht."

"Bist du dir sicher?"

"Äh, ja? Sollte ich denn wissen, wieso ich an diesem merkwürdigen Ort bin?"

"Merkwürdig … das empfindest du, wenn du durch diese Gänge gehst. Sind sie dir so befremdlich?"

"Nicht einmal in einer Klinik ist es so … weiß."

Ein leises, weiches Lachen drang an ihre Ohren.

"Ist das so? Glaubst du denn, dass die Menschen, die zu euch kommen, noch einen Blick für die Kunstdrucke an den Wänden haben. Sag mir Mädchen, wieso bist du Krankenschwester geworden und in ein Hospiz gegangen. Menschen in deinem Alter, bist du doch selbst erst gerade 25 geworden, sollten sich nicht dermaßen mit dem Tod auseinandersetzen müssen."

Ärgerlich blähte sie die Backen auf.

"Ich tue, was ich tun muss." Sie wandte den Blick ab, wollte ihn nicht ansehen, ihm nicht in die Augen sehen.

"Ich wollte schon immer den Menschen helfen und wurde Krankenschwester.... Doch die gewöhnliche Arbeit auf einer Station, in irgendeinem Krankenhaus war nichts für mich. Ich bin gerne dort, wo ich heute bin, auch wenn es viele nicht verstehen können, dass ich tatsächlich gerne in einem Hospiz arbeite. Ich fühle mich dazu berufen und schätze mein Leben, das Leben an sich wohl mehr als es die meisten Menschen tun würden."

"Ja, so ist es wohl. Allerdings solltest du nicht vergessen, dass alles seine Zeit hat. Das Weinen, das Lachen, das Geborenwerden und das Sterben, das Pflanzen und das Ausreißen des Gepflanzten, das Streiten und der Frieden, das Schweigen und das Reden und auch deine Zeit in diesem Hospiz.

Es wird eine Zeit der Veränderung anbrechen. Du solltest dich nicht davor verschließen und auf lange Sicht gesehen, könnte dich deine Arbeit dort kaputt machen. Du bist zu weich. Dir fehlt die nötige Distanz."

"Es ist ja nicht so, dass ich Sterbebegleiterin wäre. Ich bin Krankenschwester!"

"Und trotzdem. Es ist wie es ist … Aber deswegen bist du nicht hier."

"Dann sag mir doch, wieso!"

"Wir sind da."

Lillians Blick wandte sich nach vorn. Sie hatte kaum mehr auf ihren Weg geachtet und stand nun vor einer großen dunkelbraunen Tür.

Größer als es Türen normalerweise waren, mit kunstvollen Schnitzereien und der Türknauf sah aus, als wäre er aus Gold.

"Du hattest in den letzten Wochen Träume, nicht wahr?", richtete er erneut das Wort an seine Begleiterin.

"Ja schon. Das ist doch auch normal", entgegnete sie verwirrt.

"Ich meine deine Träume, in denen Menschen leiden.

Krebspatienten, nicht wahr?"

Sie nickte stumm, presste die Lippen zusammen.

Irgendwie fühlte sie sich schlecht. Merkwürdig dumpf.

"Ich dachte, ich habe was von der Arbeit mit nach Hause genommen, auch wenn ich davon ausgegangen bin, dass mir das nicht mehr passiert. Und mein Unterbewusstsein hat es über eine ganz Zeit hinweg aufgearbeitet."

"Glaubst du das?", er hielt kurz inne, "Nein, du hättest genauer hinsehen und in dich hineinhören sollen. Da du es nicht erkannt hast, wird es dir nun vor Augen geführt."

Er öffnete die Tür am Ende des Ganges.

Das schwere Holz wich problemlos und fast lautlos, erlaubte somit den Blick auf den Raum dahinter.

Zu ihrer Rechten, eine große Fensterfront. Schritt man näher heran, erkannte man, dass sie sich an einem sehr hohen Ort befinden mussten. Zu hoch für ein gewöhnliches Gebäude, zu hoch für einen Wolkenkratzer. Dieses Gebäude durch-brach die Wolken, sodass man auf die Wolkendecke hin-absehen konnte und darüber eine freundlich warme Sonne an einem endlos blauen Himmel schien.

Erhabenheit und das Gefühl von Freiheit fluteten Lillians Geist. Es war so wundervoll.

Das kalte Fensterglas unter ihren Fingern und ein kühler Luftzug, der ihr hauchzart über die Haut strich, ließen sie frösteln.

"Lillian, dreh dich um und sieh."

Als sie den Blick umwandte, hinüber zu der gegenüberliegenden Wand, erkannte sie drei große Spiegel.

Bestimmt so groß wie Garderobenspiegel, wobei nein, nicht wirklich. Sie waren nicht ganz so lang, dafür etwas breiter in ganz filigranen, silbernen Rahmen. Handarbeit, aufwendig gearbeitet. Sehr edel. Fast schon zu perfekt und doch genau passend. Nichts anderes oder vergleichbares würde zu diesem reflektierenden, schimmernden Glas passen.

Doch die Spiegeloberfläche sah merkwürdig aus.

Als Lillian nähertrat, erkannte sie Wirbel darin, wie aus Wolken oder Rauch.

Ja, so konnte sie es beschreiben. Als sie vor gut einem Jahr mit einem Flugzeug durch eine Wolkendecke geflogen ist, erblickte sie ein ähnliches Spiel.

Doch mit jedem Schritt wurden die Bilder, die sich hinter der anfangs undurchsichtigen Schicht befanden, klarer. Sie gewannen mehr Umrisse, Farbe und wurden lebendig.

Drei Spiegel.

Drei Leben.

Spiegel Nummer eins offenbarte ein Leben, reich an Erfahrung.

Ein Herr, schon im vorangeschrittenen Alter.

Er tüftelte.

Er werkelte.

Er jubelte.

"So nah! So nah vor dem Ziel!", rief er euphorisch und sein Herz quoll über vor Freude.

Mit seinem Wissen würde er die Welt verändern.

Er würde sie besser machen.

Doch dann, so erschöpft, musste er sich setzen.

Er wirkte krank, blass und leicht aufgequollen.

Griff nach einem Glas Wasser und einer Schachtel mit Tabletten.

Würgte einige hinunter und schüttelte sich.

Ekelhaft!

Spiegel Nummer zwei eröffnete ein Leben voller Liebe.

Liebe, wie sie vielleicht nur eine Mutter ihren Kindern gegenüber kennt.

Eine junge Mutter, mit weichem, warmem, schützendem Blick.

Ihre Kinder, drei an der Anzahl, spielten und tobten.

Lachten und hüpften. Kicherten und prusteten.

"Mein Leben! Mein Leben ist diese Kinder!", sprach sie voller Zuneigung und ihr Herz war weit offen.

Mit ihrer Liebe würde sie die Welt verändern.

Sie würde sie besser machen.

Doch dann … so erschöpft, musste sie sich ausruhen.

Und das dumme Nasenbluten, das einfach nicht aufhören wollte.

Generell hatte sie damit in letzter Zeit so einige Probleme.

Wunden, die lange bluteten, blaue Flecken und so.

Vielleicht sollte sie doch einmal zu ihrem Arzt gehen?

Spiegel Nummer drei enthüllte ein Leben voller Möglichkeiten.

Ein noch so junges Leben.

Was für ein herziges Kind! Mit so großen blauen Augen und so süßen dunklen Locken! Wie alt mochte die Kleine sein? Vier oder vielleicht schon fünf?

Ein entzückendes Kleidchen und ein Teddy auf dem Arm.

Fast schon zu niedlich.

"Ich kann alles werden! Ich kann alles werden, was ich will, wenn ich einmal groß bin!", brabbelte sie fröhlich.

Mit ihrer Energie und ihrer Fröhlichkeit würde sie die Welt verändern.

Sie würde sie besser machen.

Doch dann … so erschöpft, musste sie auf Mamas Arm.

Da war es sicher, geborgen, so gemütlich.

Der sorgenvolle Blick blieb ihr verborgen. Die nagende Angst, die ihre Eltern bereits zu quälen begann, war ihr noch völlig fremd.

Lillian trat von den Spiegeln zurück.

"Wieso zeigst du mir das?", fragte sie leicht verunsichert.

"Weil du eine Entscheidung treffen musst", antwortet der Gefragte beschwichtigend und seine dunklen Augen schienen sie zu durchleuchten. Er wirkte in dieser Szene so surreal, obwohl er doch die greifbarste Präsenz war, am ehesten natürlich erschien, trotz dessen, dass er barfuß war. Er räusperte sich kurz, ehe er erneut zum Sprechen an-setzte.

"Alle diese Menschen teilen das gleiche Schicksal. Die gleiche Krankheit. Wenn ihnen niemand hilft, werden sie sterben. Wie dieses Sterben aussieht, muss ich dir, glaube ich, nicht erklären. Du kennst die Tücken und auch die Schrecken dieses Leidens. Blutkrebs. Was ich nun von dir möchte, nein vielmehr verlange, ist zu entscheiden, wer von diesen Dreien weiterleben soll."

"Bitte was?! Das meinst du nicht ernst! Ich kann so etwas nicht entscheiden. Wie sollte ich …", sie gestikulierte wild mit den Händen "Es ist ja nicht so, als wiege eines der Leben schwerer, als die beiden anderen. ICH WERDE DAS NICHT ENTSCHEIDEN!"

"Du musst, wenn du dich weigerst, werden alle drei noch vor Ablauf dieses Jahres nicht mehr am Leben sein."

"Ich kann das nicht entscheiden und will das auch nicht. Kannst du das nicht verstehen? Jeder von ihnen, wenn ich es richtig verstanden habe, kann jeder von ihnen die Welt zum Besseren verändern.

Wie soll ich da in die Waagschale werfen, wessen Taten, Gedanken, Worte wichtiger sind, als die der anderen?

Kinder brauchen ihre Mutter. Ein ganzes Leben noch unbekannt vor den Augen eines Kindes, das noch keine Schuld kennt. Eine Technologie oder was auch immer, dass uns das Leben erleichtert, vielleicht rettet.

Wie soll ich da wählen?"

Verzweiflung begann ihr die Kehle zuzuschnüren. Hilflosigkeit trieb ihr die Tränen in die Augen.

Wieso verlangte man etwas Derartiges von ihr?

Sie konnte es nicht entscheiden und jeder, der es von ihr verlangte, war herzlos.

Doch der Blick, der ihr entgegengebracht wurde, blieb hart.

Dann keimte Hoffnung auf. Nur ein kleiner Funken Hoffnung.

Vielleicht ließ er mit sich handeln, wenn einer dieser drei mehr Zeit haben würde als die anderen und man mit der Person begann, der die Zeit davonrannte?

"Das kannst du vergessen. Du brauchst nicht zu überlegen, wie du mich umstimmen kannst. Was geschieht, liegt nicht in meiner Hand. Ich habe keinen Einfluss darauf und ein Handel kommt nicht infrage. Es ist, wie es ist, entscheide."

"Ich … ich kann das nicht.", und die ersten Tränen begannen zu fließen.

"Das hast du doch längst", kam die schwermütige Antwort. "Bedenke, dass du immer nur von Leukämiekranken geträumt hast, nicht von anderen Krebsarten, obwohl sie mindestens so grausam sein können wie diese Art. Du bist mit dem drängenden Bedürfnis, etwas zu tun, aufgewacht, doch hast alles von dir weggeschoben und nun …", er ließ den Satz offen ausklingen.

"Nun was? Werden alle drei meinetwegen sterben müssen!"

"Nein, keiner von ihnen wird es, doch es gibt da noch jemanden und nur du allein kannst seinen Tod verhindern. Du weißt, was du tun musst.

Und nun, wach auf."

Kapitel 2

Mit klopfendem Herzen und einem klammen Gefühl auf der Haut war Lillian aus ihrem Schlaf geschreckt.

Es war nur ein Traum gewesen.

Aber es war ihr auf skurrile Art und Weise so real erschienen.

Wie spät mochte es wohl sein?

Draußen war noch alles dunkel.

Vorsichtig tastete sie nach der Lampe auf ihrem Nachttisch.

Das Licht blendete sie und erst nachdem sie einige Male geblinzelt hatte, konnte sie den Blick auf den Wecker fokussieren, um zu erkennen, dass es erst vier Uhr in der Früh war.

Viel zu zeitig, um aufzustehen, doch schlafen würde sie nicht mehr können. Sie war zu aufgewühlt, um jetzt noch die nötige Ruhe zu finden.

Die Decke wurde zur Seite geschlagen, die Beine über die Bettkante geschwungen. Einmal strecken.

Doch die Arme fielen wieder schlaff an ihre Seiten.

Schwerfällig erhob sie sich und schlurfte ins Bad.

„Uh, du siehst scheußlich aus!“, schoss es ihr durch den Kopf als sie ihr Spiegelbild erblickte.

In einem Anflug von kindischem Unfug streckte sie ihrem reflektiertem Abbild gegenüber die Zunge raus, wendete sich in dem winzigen Raum – Schuhkarton mit Fenster wäre vielleicht eine passendere Bezeichnung – um, und stellte die Dusche an.

Das warme Wasser, welches auf sie niederprasselte, war wie ein angenehmer Sommerregen, und spülte das flaue Gefühl der Nacht und des Traumes davon, doch die Erinnerung blieb und mit ihr das Bedürfnis, endlich etwas zu tun. Dieses Mal würde sie das Gefühl nicht ignorieren.

Für sie war es eine mehr als ungewöhnliche Uhrzeit, als sie den Startknopf ihres PCs drückte und das System hochfahren ließ.

Ihr Haar hatte sie noch nicht geföhnt und so perlten einzelne Tropfen auf den Schreibtisch und die Tastatur, die sie fahrig mit dem Ärmel ihres Bademantels wegwischte.

Schnell war sie online, checkte gewohnheitsmäßig zuerst ihre E-Mails, nichts Weltbewegendes dabei, ehe sie mithilfe einer Suchmaschine die Seite der Knochenmarkspenderdatei gefunden hatte.

Ein Klick und sie fand die Informationen, die sie als potenzieller Spender suchte. Ein weiterer Klick und sie konnte sich sogar online anmelden.

Sie überblickte kurz alle nötigen Bedingungen und erkannte, sie durfte generell spenden. Noch ein Klick und ein paar persönliche Daten eingeben.

Es war leichter gewesen, als sie gedacht hatte und was noch besser war, sie würde nicht mal zur Blutabnahme gehen müssen. Man schickte ihr so ein paar Wattestäbchen, um eine Typisierung durchführen zu können. Die Möglichkeiten waren wirklich cool. Die moderne Medizin erschien immer öfter wie ein Wunder.

Jetzt konnte sie sich kurz zurücklehnen, ehe sie wieder in ihren Alltag zurückkehren würde.