Genfer Novellen - Rodolphe Töpffer - E-Book

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Rodolphe Töpffer

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Beschreibung

In diesem Band sind folgende Novellen vertreten: Die Erbschaft, Der Pass von Anterre, Der See von Gers, Das Tal von Trient, Die Überfahrt, Der Grosse Sankt Bernhard, Die Furcht.

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Veröffentlichungsjahr: 2013

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Rodolphe Töpffer

Genfer Novellen

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Die Erbschaft (1. Teil)

Langeweile heißt mein Leiden, lieber Leser. Ich langweile mich überall; im Hause und außer dem Hause, bei Tisch, wenn ich keinen Hunger mehr habe, auf einem Ball, sobald ich in den Saal getreten bin. Es gibt keinen Gegenstand, der meinen Geist, mein Herz, meine Neigungen gefangen nimmt, und nichts scheint mir so ewig zu dauern wie meine Tage.

Trotzdem gehöre ich zu denen, die man die Glücklichen dieser Welt nennt. Mit vierundzwanzig Jahren habe ich noch keinen andern Verlust zu beklagen gehabt, als den meiner Eltern; und die Trauer, die ich darüber empfinde, ist sogar das einzige Gefühl, das ich mit einer Art schmerzlichen Behagens in mir nähre. Im übrigen bin ich reich, verhätschelt, gern gesehen, beliebt, unbekümmert um Gegenwart und Zukunft: alles wird mir leicht, alles steht mir offen. Und zum Überfluß hab' ich noch einen Paten (er ist mein Onkel), der mich liebt und mir einst sein sehr bedeutendes Vermögen zuwenden will.

Und inmitten all dieser Güter gähne ich, daß mir die Kinnbacken zerreißen könnten. Ich finde selbst, daß ich zu viel gähne. Ich habe darüber mit meinem Arzt gesprochen; er meint, es sei nervös, und läßt mich abends und morgens Baldriantropfen nehmen.

Ehrlich gesagt hätte ich nicht geglaubt, daß es so schlimm um mich stände; und da ich eine schreckliche Furcht vor dem Tode habe, so beschäftigen sich meine Gedanken nur noch mit einem innerlichen Leiden, das mich untergräbt und das man mir verheimlicht. Ich bin nicht müde geworden, die äußeren Anzeichen desselben zu studieren, meinen Puls zu fühlen, meine innere und äußere Empfindlichkeit zu prüfen, mich in die eigenartige Natur meiner Kopfschmerzen und in ihr Zusammentreffen mit einer merklichen Beschleunigung meines Gähnens zu vertiefen, und so bin ich endlich dahin gekommen, mir eine Gewißheit zu verschaffen ... eine Gewißheit, die ich für mich behalte, in der Befürchtung, daß, wenn ich sie meinem Arzt anvertraue, er sie vielleicht nicht teilen könnte ... und dann würde die Todesangst mich sicherlich töten.

Diese Gewißheit besteht darin, daß ich im Herzen einen Polypen habe. Einen Polypen ... ich gestehe, daß ich nicht recht weiß, wie er entstanden ist, will es indessen auch gar nicht wissen, aus Furcht, dabei schreckliche Entdeckungen zu machen; aber ich habe einen Herzpolypen; daran zweifle ich nicht mehr. Dieser Polyp erklärt auch schlagend alles, was in meinem Körper vorgeht: er ist die Ursache meines Gähnens, der Ursprung meiner Langenweile. Ich habe deshalb meine Lebensweise eingeschränkt, meine Mahlzeiten umgewandelt. Keinen Wein mehr, nur noch weißes Fleisch. Der Kaffee ist verbannt, er ruft Herzzuckungen hervor. Morgens Malventee, das ist vorzüglich gegen Herzpolypen. Keine Säuren, nichts Starkes oder Schweres, das wirkt alles auf die Verdauung ein und diese wieder auf das Nervensystem; dann ist der Blutumlauf sofort behindert und – siehe da, mein Polyp schwillt an, breitet sich aus, wächst ... Im Grunde nämlich stelle ich ihn mir wie einen dicken Champignon vor.

So verbringe ich stundenlang damit, an meinen Champignon zu denken. Wenn man mich anredet, ist er es, der mich hindert, zuzuhören. Habe ich einen Galopp getanzt, so mache ich mir Vorwürfe über diesen Leichtsinn, der nachteilig für meinen Champignon sein muß. Ich kehre früh zurück, wechsle die Wäsche, lasse mir eine Tasse Bouillon ohne Salz geben – alles wegen meines Champignons. Ich lebe nur im Hinblick auf meinen Champignon. So beschäftigt mich mein Leiden viel, aber ich finde nicht, daß es mich von dem andern Übel heilt, der Langenweile.

Ich gähne also weiter. Manchmal schlage ich ein Buch auf. Aber die Bücher sind so wenig anmutend. Die guten? die sind so ernsthaft, so tief, man muß sich Mühe geben, sie zu verstehen, Mühe, sie zu genießen. Mühe, sie zu bewundern. Die neuen Erscheinungen? Davon hab' ich so viel gelesen, daß mir nichts mehr neu erscheint. Schon bevor ich sie aufschneide, kenne ich sie. Der Titel läßt mich die ganze Handlung durchschauen; am Titelbilde erkenne ich den Ausgang; und dann ... mein Champignon verträgt keine lebhaften Erschütterungen ...

Ernsthafte Studien? Hab' ich auch versucht! Der Anfang ist leicht, aber das Beharren! ... Und ich frage mich sehr bald, wozu? Mein Lebenslauf besteht darin, von meinen Renten zu leben, spazieren zu reiten, mich zu verheiraten und zu erben. Ohne mir die Mühe zu machen, irgend etwas zu lernen, werde ich das alles besitzen und noch andres dazu. Ich bin Oberst in der Nationalgarde. Man hat mich zum Stadtrat gemacht; ich habe abgelehnt, Bürgermeister zu werden: die öffentlichen Ehren regnen nur so auf mein Haupt; aber ... mein Champignon würde sich mit einer großen geistigen Anstrengung nicht befreunden.

»Was gibt's?«

Die Zeitung.

»Gib her. Schon gut! – Etwas, mich wenigstens für einige Augenblicke zu beleben.«

Ich suche nach Neuigkeiten, natürlich nach solchen aus der Stadt, denn die aus Spanien berühren mich wenig, die aus Belgien bringen mich um. Nanu, kein Selbstmord ..., kein schrecklicher Unglücksfall? Nichts von Mord und Brandstiftung! Törichtes Blatt! Das heißt doch den Abonnenten das Geld aus der Tasche stehlen!

Wie bedaure ich, daß die schönen Tage der Cholera vorüber sind! In der Zeit, ja, da unterhielt mich meine Zeitung: sie hielt meinen Schrecken in Atem, und an dem kleinsten Ereignis, das mit dem Schreckgespenst im Zusammenhang stand, nahm ich beim Lesen Anteil. Ich sah das Ungeheuer, mit weit aufgesperrtem Rachen sich vorwärts bewegen, wieder zurückweichen, bis vor meine Tür dringen ... Nicht alles war heiter an diesen Vorstellungen, aber wenigstens gab es neben der Hoffnung, daß es nicht kommen würde und der schrecklichen Angst, daß es doch kommen könnte, keinen Platz für die Langeweile; dazu kam das Flanellhemd, das mir die Haut kitzelte, so daß ich fortwährend an irgendeiner Stelle zu kratzen hatte.

Ich kenne keine Langeweile, keine körperliche oder seelische Mattigkeit, die nicht einem Jucken weichen würde. Ich bin sicher, daß ...

»Was gibt's wieder?«

»Herr Retor.«

»Sag ihm, daß ich nicht zu Hause bin.«

»Ja, hm – da ist er schon.«

»Herr Retor, ich bin zu sehr beschäftigt, um Sie empfangen zu können.«

»Zwei Minuten nur ...«

»Ich habe nicht eine zu verlieren.«

»Nur, um Ihnen diese Zeitrechnungstafel der allgemeinen Völkergeschichte vorzulegen ...«

(Der Teufel hole ihn und seine allgemeine Völkertafel.) »Nun, und ...?«

»Ich mache Sie darauf aufmerksam, mein Herr, daß noch keine derartige Tafel auch nur annähernd die Vollendung dieser hier erreicht hat. Sie erblicken darauf vier verschiedene Zeitrechnungen mit der Zurückführung auf Jahre der christlichen Zeitrechnung und auf Jahre seit Erschaffung der Welt. Sie haben hier ferner die vollständige Reihe der ägyptischen Könige und derer von Babylon ...«

(Ich wollte, man bände ihn dir auf den Rücken, deinen Schweif von babylonischen Königen und deine fünf Zeitrechnungen, Schurke! Eine ist schon zuviel, und er will mich vier kaufen lassen und noch eine mehr!!!) »Herr Retor, das ist alles sehr schön, aber ich beschäftige mich nicht mehr mit Weltgeschichte.«

»Sie haben hier außerdem den Kaiser Kan-tien-si-long ...«

»Überflüssig, Herr Retor; ich bin sicher, daß Ihre Tafel vollkommen ist.«

»Dann gestattet der gnädige Herr wohl, daß ich ihm zwei Exemplare hier lasse?«

»Ich wüßte nichts damit anzufangen. Ich besitze die Tafel von Hocquart.«

»Die von Hocquart! Voller Irrtümer! Ich bitte den gnädigsten Herrn nur um eine halbe Stunde Aufmerksamkeit, um zu vergleichen ...«

(Der Schurke, mir, gerade mir, derartige Vorschläge zu machen!) »Nichts davon, Herr Retor. Ihre Tafeln langweilen mich, ich will keine.«

Nach diesen Worten folgt eine lange Pause, in der Herr Retor langsam seine Tafel zusammenrollt, während ich ihm zusehe und ungeduldig darauf warte, ihn herzlichst zu verabschieden.

»Der gnädige Herr hätte keine Veranlassung ...«

»Nein.«

»Ein Sammelwerk zu kaufen ...«

»Nein.«

»Dreißig Bände in Folio ...«

»Auch nicht.«

»Mit Bildertafeln ...«

»Nichts.«

»Und Inhaltsverzeichnis ...«

»Nein.«

»Von Mouchard ...«

»Nein doch, nein.«

»Dann, gnädiger Herr, habe ich die Ehre. .. Der gnädige Herr würde mich aber doch sehr verpflichten, wenigstens eine dieser Tafeln zu behalten.«

»Wie, Sie sind noch nicht fertig?«

»Ich bin Familienvater.«

»Unleidlich.«

»Habe sieben Kinder ...«

»Dafür kann ich nichts.«

»Und ich lasse sie Ihnen für fünf Franken statt für zehn.«

(Sieben Kinder! Sie werden vielleicht fünfzehn bekommen! und für jedes soll ich dann eine Zeitrechnungstafel der allgemeinen Völkergeschichte kaufen!) »Da sind fünf Franken und nun lassen Sie mich zufrieden!«

Ich mache heftig die Tür hinter ihm zu und setze mich wieder hin. Die Galle steigt in mir auf, eine scheußliche Stimmung vergrößert noch meine Langeweile. Dieser Polyp will mich umbringen, er wird mich auch umbringen. Mit dem kläglichsten Ausdruck überfliege ich meine Zeitrechnungstafel der allgemeinen Völkergeschichte, die der andere auf meinem Tisch ausgebreitet hat liegen lassen. Da ist bis zu Kan-tien-si-long und Nectanebus auch nicht ein Name, der mir nicht als mein persönlicher Feind erschiene, als ein lästiger Frechling, ein Schurke mit sieben Kindern, der sich mit den Familienvätern gegen meine Börse und meine Gesundheit verschworen hat. Der Zorn packt mich, steigt in mir auf, übermannt mich ... Ins Feuer mit der Tafel! –

Es ist doch eigen, wie bisweilen die Wut vernünftig, der Jähzorn vorausblickend sein kann. Ich ziehe die Tafel, noch ehe ich sie hineingeworfen habe, vom Feuer zurück und denke dabei, ich weiß nicht wieso, daran, daß ich die fünf Franken verbrenne, die mich die Tafel gekostet, und dann steigt der Gedanke in mir auf, sie könne eines Tages meinen Kindern nützlich sein. Gerade darin zeigt sich mein vorausschauender Blick; denn ich bin unverheiratet und es ist sogar anzunehmen, daß ich nie heiraten werde.

Dennoch glaube ich manchmal, daß ich als Verheirateter mich weniger langweilen würde. Wenigstens würden wir dann zu zweien sein, um uns zu langweilen; das müßte doch eigentlich lustiger sein. Kann man übrigens die Bemerkung machen, daß auch Familienväter der Langenweile unterworfen sind? Durchaus nicht; Familienväter sind tätig, froh, immer im Gange; stets ist Geräusch, Bewegung um sie, mit ihnen; eine Frau, die sie anbetet ...

Ja, eine Frau, die mich ein, zwei Jahre anbeten würde, das mag hingehen. Aber wenn sie mich dreißig Jahre, vierzig Jahre anbeten wollte! Der Gedanke macht mich starr vor Schrecken! Vierzig Jahre Anbetung! Wie lang, wie unendlich muß das sein! Und dazu Kinder, die schreien, weinen, sich zanken, sich die Nase schnauben, sich schlecht abwischen ... und als einziger Ersatz, ihnen Geist und Herz mit meiner Zeitrechnungstafel der allgemeinen Völkergeschichte bilden! Ach, man muß viel überlegen, bevor man heiratet ... und nicht zu vergessen – mein Herzpolyp ...!

Trotzdem habe ich Absichten auf eine junge Dame, die sich in jeder Beziehung für mich eignen würde. Angenehmes Äußere, hübsches Vermögen: unsere Charaktere passen zueinander Aber sie hat fünf Tanten, Vater, Mutter, zwei Onkel: im Ganzen elf oder zwölf nahe Verwandte. Sobald man nur von dieser Heirat spricht, sind sie alle die Zuvorkommenheit selbst, lächeln mir zu, schmeicheln mir, wollen mich mit heiraten; es ist zum umkommen vor Langerweile. Ich gähne ihnen ins Angesicht; sie verdoppeln nur ihre Liebenswürdigkeiten. Dann fühle ich deutlich, wie meine Liebe ins Wanken gerät, und daß ich doch lieber Junggeselle bleibe.

Indessen, da nun einmal empfindsame Herzen ein gebieterisches Bedürfnis nach zärtlichen Neigungen haben, so hat das meine eine andere Richtung eingeschlagen. Ich fühle ganz bestimmt, daß ich ein anderes junges Mädchen anbete, das ich zuerst nicht beachtet hatte, um nicht zwei Flammen auf einmal zu nähren. Sie hat ein so schönes Profil, so schöne Augen und einen so liebenswürdigen und natürlichen Geist, daß es unmöglich ist, sie nicht zu lieben; auch hat sie keine nahen Verwandten. Darum werde ich auch von Tag zu Tag verliebter in ihre Reize und in ihr verfügbares Vermögen.

Nur eins stimmt mich bedenklich, daß außer mir kein anderer junger Mann ihr den Hof macht. Ich muß daher ganz allein zu ihren Füßen schmachten. So lieblich nun aber auch eine Blume erscheinen mag, die man pflücken möchte, warum sollte ich es tun, wenn niemand sie begehrt, gerade ich, der ich mir etwas auf meinen zarten und ausgezeichneten Geschmack einbilde?

Vor einiger Zeit kam ich auf einen Ball, als sie gerade mit einem schönen Offizier tanzte. Lieblich, lächelnd, belebt, schien sie gar nicht zu bemerken, daß ich eintrat. Gerade daran entzündete sich die Flamme meiner Liebe aufs neue; ich war nur noch einen Schritt von der Entscheidung entfernt.

Ich eile auf sie zu, um sie für die erste Masurka zu engagieren.

»Mit Vergnügen, mein Herr!«

»Den zweiten Kontertanz?«

»Mit Vergnügen.«

»Den dritten Walzer?«

»Mit Vergnügen.«

»Den fünften Galopp?«

»Mit Vergnügen.«

Immer »mit Vergnügen«. Kein einziger, den sie mir streitig macht. Meine Liebesglut erlosch darüber so sehr, daß ich den ganzen Abend damit zubrachte, kleine Kuchen zu verzehren.

Seit diesem Tage habe ich meine Huldigungen auf ein anderes Fräulein übertragen, für das ich zuerst wenig Neigung empfand, und zwar darum, weil alle Welt mir zuredete; allen voran mein Pate. Es war dies Fräulein S..., die Cousine von Frau von Luze. Das bedeutet, daß sie zu einer der ersten Familien gehört, und daß sie zu den vornehmsten Salons der Stadt Zutritt hat. Sie ist groß, von schöner Haltung, wird von den Herren umschwärmt, ebenso sehr ihres Geistes wegen, wie um ihrer Schönheit willen, und viel, sehr viel reicher als die beiden zuerst genannten Damen. Auch bin ich gewiß, daß ich mit ihr schon verheiratet sein würde, wenn mein Pate nicht wäre.

Vergangenen Montag komme ich erst spät auf einen Ball. Um sie herum herrscht dichtes Gedränge. Ich mußte mich mit dem sechsten Kontertanz begnügen und der Gunst einer Runde in der Masurka, die ich noch dazu mit drei anderen Herren zu teilen hatte. Diese Hindernisse stachelten meine Leidenschaft an; die lebhafteste Neigung, das reinste Feuer begannen mich zu erfüllen; ich dachte bereits an ernste Schritte für den kommenden Morgen, und der sichtlich beifällige Blick meines Paten vermochte nicht einmal meine Glut abzukühlen.

Obgleich sie nur von dem Balle sprach und sich damit begnügte, über meine witzigen Einfälle ein klein wenig zu lächeln, fand ich sie immer entzückender. Ich habe viel Geist, wenn ich will. Wahrscheinlich, dachte ich, hat sie ebensoviel wie ich. Und das ist von unberechenbarem Wert. So werden unsere Gespräche gewürzt sein; ob sie spricht oder schweigt werde ich den unendlichen Zauber, der von ihr ausgeht, durchdenken, erraten, auskosten dürfen. Indem ich so grübelte, riß ich sie mit mir in den Wirbelwind der Masurka in einer Trunkenheit, die ich bisher noch nicht empfunden hatte. Es schien mir, als hielte ich in meinen Armen eine himmlische Vereinigung von Schönheit, Geist und Empfindung; und aus ihrem Atlasleibchen, das meine Finger sanft umschlossen, strömte es wie wollüstiger Wohlgeruch, der mit meiner holden Verzauberung zusammenfloß.

Ich war entschlossen, ganz und gar entschlossen, und im übrigen müde, stets wieder unentschlossen zu sein, als ich beim Fortgehen meinen Paten traf, der mich erwartete.

»Nun, bist du endlich gekommen? Recht so, denn sie betet dich an!«

»Wirklich?«

»Ein Wort und du hast sie. Die Familie findet dich reizend, alle wollen dich.«

»Sind Sie dessen sicher?« sagte ich enttäuscht.

Er näherte sich meinem Ohr. »Es ist schon die Rede von einer Wohnung, die dem jungen Fräulein gefallen würde. Nun? Ich sage es ja, du bist ein Glückspilz. Laß mich nur machen ...«

In dem Maße, wie mein Pate sprach, entwich meine Trunkenheit, die himmlische Vereinigung auch und das Atlasleibchen gleichfalls. Ich will, sagte ich kühl, darüber nachdenken. Und ich dachte gar nicht mehr daran.

So befinde ich mich wieder in der gleichen Ungewißheit wie früher. –

»Was gibt's noch?«

»Wird der gnädige Herr zu Mittag essen?«

»Natürlich werde ich essen.«

»Aber hier zu Hause?«

»Wart' einmal – ja, ich werde zu Hause essen.«

»So werde ich anrichten.«

»Halt, nein! Richte nicht an. Ich hab's mir überlegt, ich werde auswärts essen.«

Die Erbschaft (2. Teil)

Wenn du dich noch daran erinnerst, lieber Leser, so langweilten wir uns tüchtig zusammen, als wir uns zuletzt sahen. Ich verließ dich gähnend, du verließest mich, als ich fort ging, um auswärts zu essen.

Es war bei einem meiner Freunde. Er ist verheiratet, Familienvater und ebenso glücklich und heiter wie ich es nicht bin. Er und seine junge Gattin überhäuften sich mit Liebesbeweisen; die Blicke, die sie einander zuwarfen, strahlten von wahrer Zärtlichkeit, und an vielen kleinen Aufmerksamkeiten, an tausend scheinbar unbedeutenden Dingen konnte ich die enge Gemeinschaft ihrer Seelen erkennen. Der eine machte dasselbe Gesicht wie der andere; der eine trank nur wenn der andere auch trank; das Brotkrümel, das der eine absichtlich liegen ließ, begehrte, ergriff und verzehrte heimlich der andere, und so, ganz eingenommen von ihrer Liebe, sprachen sie mich nur der Form wegen an, und ich kam mir wie ein lästiger Dritter vor, der höchstens dazu da war, um eine reizvolle Abwechslung in ihre ständigen zarten Liebesbezeigungen zu bringen.

Ich langweilte mich ordentlich, und um so mehr, als ich mich trotz meiner selbst langweilte, gegen meine bessere Absicht, ungeachtet der Ratschläge, die ich mir innerlich selbst erteilte. Suche doch, sagte ich zu mir, suche doch diesem holden Schauspiel Geschmack abzugewinnen, ziehe eine Lehre daraus für dich selbst, lerne es, dieses ebenso glückliche wie liebenswürdige Paar zu beneiden, ja, beneide sie um ihr Glück, das du, wenn du nur willst, dir selbst bald verschaffen kannst. – Bitte, antwortete ich dieser wackeren Stimme, lerne zu schweigen. Du ähnelst meinem Paten. Mein Pate ist es, der dich so reden heißt. Laß mich dieses einfache Kotelett in Frieden essen; das ist für den Augenblick mein einziger Genuß, mein alleiniges Begehren.

Soviel ist sicher, einer der Umstände, die dem guten Einfluß unserer innerlichen Selbstvorwürfe am meisten schaden, ist der Klang der Stimme, ist die Gestalt, die wir ihnen im Geiste geben. Während sehr langer Zeit habe ich die innere Stimme meines Gewissens nicht von der Stimme meines Hauslehrers unterscheiden können. So glaubte ich, wenn mein Gewissen zu mir sprach, es in schwarzem Gewande, mit schulmeisterlicher Miene, eine Brille auf der Nase, vor mir zu sehen. Die Folge davon war, daß, sobald mein Gewissen mich abzukanzeln begann, ich mich ihm in einem zwar sehr achtungsvollen, zugleich aber denkbar unverschämten Ton widersetzte und nur aufs eifrigste bedacht war, mich seinem Einfluß zu entziehen und anders zu handeln, als es mir anriet. Ich habe daraus eine Lehre gezogen, die ich hoffentlich noch einmal praktisch verwerten kann: nämlich, meinen Kindern einen Hauslehrer zu geben, der so liebenswürdig, so nachsichtig, so voller natürlicher Herzensgüte, so frei von Pedanterie und allem gekünstelten Wesen ist, daß, wenn ihr Gewissen später die Gestalt dieses würdigen Mannes annimmt, es nur um so mehr Rechte für sich beanspruchen kann, sie zu leiten und sich ihnen vernehmlich zu machen. Ach, wie bedauerlich ist es doch, daß ich bei so weisen Plänen für die Erziehung meiner Kinder eine so unbeständige Neigung zur Heirat besitze!

Ich aß also mein Kotelett. Als ich damit fertig war und keinen Hunger mehr hatte, wartete ich ungeduldig auf das Ende der Mahlzeit, das meine glücklichen Wirte immer wieder hinauszögerten, und nicht etwa nur durch Gespräche.

Welcher Gleichklang in ihrem Appetit! dachte ich; aber vor allem, was für ein Appetit! Ist es denn möglich, daß man so viel essen kann, wenn man sich liebt? Das ist also das Ziel, zu dem einen die eheliche Liebe hinführt? O, wie verschieden ist sie von der leidenschaftlichen Liebe, deren Zauber in der Unruhe besteht, die von ihren Gedanken allein lebt und sich aus dem eigenen Feuer Nahrung holt! Und du solltest je daran denken, Eduard (das ist mein Rufname), du solltest je daran denken...

»Sie sind so nachdenklich,« sagte da plötzlich die junge Gattin meines Freundes verbindlich zu mir. »Was fehlt Ihnen?«

»Er ist traurig,« antwortete mein Freund statt meiner, »wie es alte Junggesellen sind. Übrigens, wie steht es mit deinen Liebschaften, Eduard?«

»Sie haben weit geringere Fortschritte gemacht, als die eurige,« sagte ich.

»Teufel auch! Das will ich hoffen!«

»Ich auch.«

Ich weiß nicht wie mir dies unartige Wort entschlüpfte. Mein Freund schwieg; seine Frau sprach von etwas anderem; und ich, ich schämte mich, war zornig auf mich selbst, machte stillschweigend Brotkügelchen und bedauerte bitterlich, nicht bei mir gegessen zu haben, wo ich niemanden vor den Kopf gestoßen haben würde. Sobald ich es ohne zu große Unhöflichkeit tun konnte, verabschiedete ich mich und eilte nach Hause.

Dort fand ich ein gutes Feuer. Ich zog meinen Zahnstocher hervor; mir ersetzt er die Zigarre. Indem ich mich so erholte, dachte ich an meinen Freund und Familienvater; im Geiste vergegenwärtigte ich mir wieder sein Aussehen, seinen Ton, seine Art zu sprechen, und beglückwünschte mich nun beinahe wegen der schroffen Erwiderung, die mir entwischt war. Im Grunde besteht ein geheimer Groll zwischen jungen Ehemännern und alten Junggesellen; wenigstens kann es zwischen ihnen keine vollständige und innige Seelengemeinschaft geben. Die jungen Ehemänner beklagen den alten Junggesellen; aber ihr Mitleid ähnelt zum Verwechseln dem Spott. Der alte Junggeselle bewundert den jungen Ehemann; aber seine Bewunderung ist nur um Haaresbreite vom Hohn entfernt. Ich sagte mir daher, daß ich wohl getan, ihren schlechten Scherzen die Spitze abzubrechen und daß, wenn ich bei meinem Ausfall etwas derb geworden, auch dies mein Recht war, das Recht des Schwächeren, da ich doch einer gegen zwei gewesen.

»Gnädiger Herr!«

»Was gibt's?«

»Ach, gnädiger Herr!«

»Nun?«

»Es läutet ›Feuer‹!« »Es wird nichts sein.«

»Vier Häuser, gnädiger Herr!«

»Wo denn?«

»In der Vorstadt.«

»Bring mir warmes Wasser zum rasieren.«

»Der gnädige Herr wollen...«

»Ich will mich rasieren.«

»Hören der gnädige Herr das Geschrei?«

»Ja.«

»Soll ich dem gnädigen Herrn trotzdem warmes Wasser bringen?«

»Ja doch, Dummkopf! Verlangst du etwa, daß ich mich des Feuerlärms wegen nicht rasiere...?«

Es ist doch wirklich ein schönes Ding um die Versicherungsgesellschaften, dachte ich und entfernte meine Halsbinde. Da können die Leute ruhig mit verschränkten Armen zusehen, wie ihre Häuser abbrennen. Für ihre verfallenen Baracken tauschen die Spitzbuben neue Häuser ein. Ein wenig Unannehmlichkeit mag ja damit verbunden sein, das ist wahr; aber was ist das im Vergleich zu früher? Übrigens trifft es sich heut noch glücklich für die Gesellschaften, daß der Wind nicht stärker weht... »Nun, bringst du mir warmes Wasser?«

»Hier ist es!«

»Ich glaube gar, du zitterst.«

»Ach, gnädiger Herr!... sechs Häuser!... alle in Flammen ... Man fürchtet schon für das neue Viertel ... und meine Mutter wohnt ziemlich nahe bei dem Feuer!«

»Weißt du denn nicht, daß, abgesehen von den freiwilligen Gaben, die stets reichlich fließen, diese Häuser sämtlich versichert sind?«

»Ja, gnädiger Herr, aber meine Mutter besitzt nur ihr Mobiliar. Wenn der gnädige Herr...«

»Du willst hingehen? Aber ich werde dich hier brauchen. Na, meinetwegen. Lauf, komm bald wieder, um mir zu berichten, wie es steht, und auf dem Rückwege kaufe mir Eau de Cologne.«

Nun begann ich, mich zu rasieren und zwar mit besonderem Interesse, weil ich eine neue, vervollkommnete Seife versuchte. Der Schaum erschien mir ebenso reichlich und kräftig, wie der Geruch zart und lieblich; nur kam ich nicht recht vorwärts, da das Wasser nicht warm genug war, und verfluchte die Feuersbrunst, die schuld daran hatte. Währenddessen läuteten alle Glocken der Stadt zusammen. Unheimliche Rufe ertönten aus den benachbarten Straßen, Trupps von Männern kamen und bemächtigten sich der städtischen Feuereimer, die mir gegenüber in einem Schuppen aufbewahrt werden. Bei diesem Geräusch ging ich ans Fenster, erfüllt von einer köstlichen geheimen Erregung, die uns tumultuarische Auftritte so oft verursachen. Es war dunkel draußen, so daß ich die Männer nicht sah; aber am Himmel bemerkte ich einen rötlichen Schein, gegen den sich die Dächer und Schornsteine der Häuser in undurchdringlichem Schwarz abzeichneten. Einige Reflexe reichten bis zu dem dicken Turm der Kathedrale, von deren Spitze die Glocken ihre Klangwellen entsandten, bald mit mächtigem Brausen, bald mit entferntem Murmeln, je nachdem der Schlegel von einer oder von der entgegengesetzten Seite das Erz traf. Wie herrlich! sagte ich zu mir selbst und trat wieder vor den Spiegel, um mich fertig zu rasieren.

Es war das ein sehr langsames und sehr peinliches Geschäft, da eine kleine, erst halb vernarbte Schnittwunde am Rande des Kinns die größte Behutsamkeit erforderte. Zudem eilte ich immer wieder ans Fenster, um die Größe des roten Lichtscheins zu beobachten, der ständig zunahm. Schon hoben sich Garben glühender Asche hoch in die Lüfte, um darauf anmutig mit all dem Glanz eines Riesenfeuerwerks zur Erde zu sinken. In der Tat, dachte ich, das muß ein schöner Anblick sein. Ich habe nicht übel Lust, dort vorbeizugehen, bevor ich mich ins Kasino begebe. Ich beendete deshalb eilig meinen Anzug, hing meinen Mantel um, zog weiße Handschuhe an und lenkte meine Schritte nach der Vorstadt. In den Straßen zeigte sich niemand, die Läden waren geschlossen; ich begegnete nur zwei oder drei Fuhrwerken, die einige meiner Bekannten in das Kasino brachten.

Ich kam bald in der Vorstadt an. Das Unglück war schrecklich, der Eindruck erhaben. Vier oder fünf Dachstühle, die Feuer gefangen hatten, schleuderten wahre Wirbelwinde von Flammen und Rauch zum Himmel empor, und inmitten dieses unheimlichen Anblicks beleuchtete eine festliche Helle die Uferdämme, die Brücken und die Tausende von Menschen, die in dem Gewühl und Geschrei ihre Tätigkeit entwickelten. Die Einwohner der bedrohten Häuser warfen ihre Möbel aus den Fenstern heraus oder trugen ihre kostbarsten Habseligkeiten durch die Menge in ein nahe gelegenes Gotteshaus, das man zu diesem Zweck geöffnet hatte. Lange Reihen von Männern, Frauen und Kindern stellten die Verbindung mit dem Fluß her und ließen so die gefüllten Eimer zu den Spritzen gelangen, deren gleichmäßiges Geräusch die Rufe der Menge übertönte. Mitten auf der Brandstätte schlugen Männer mit ihren Beilen brennende Balken zusammen. während andere von der Höhe benachbarter Häuser den zischenden Strahl der Spritzen in die Mitte der unermeßlichen Glut richteten.

»Weiß man,« fragte ich einen sehr geschäftigen Biedermann, »weiß man, wie das Feuer entstanden ist?«

»Gehen Sie an die Kette,« sagte er mir.

»Sehr schön, aber antworten Sie mir, weiß man...«

»Ihr Diener von ganzem Herzen.«

Der Mann erschien mir von einer eigenartigen Grobheit, und ich begann den schlechten Ton der unteren Klassen zu beklagen, der heute so gewöhnlich ist, daß ein wohlerzogener Mensch es kaum wagen kann, selbst in der höflichsten Weise einen Vorübergehenden anzureden. Aber schon unterbrach eine andere Stimme meine Überlegungen.

»He! der Liebhaber mit den weißen Handschuhen, hier brauchen wir etwas Hilfe; man wird Ihnen Platz machen.«

Lebhaft verletzt über diese unverschämt vertrauliche Anrede, ging ich auf die andere Seite der Straße.

»Hierher, hierher! Posten, bringen Sie uns doch mal den hübschen Burschen her.«

Entrüstet schwenkte ich nach links herüber.

»Hallo, hierher der Marquis!«

Aufgebracht wandte ich mich nach rechts.

»Lump, wenn du nicht gleich kommst, um hier zu arbeiten, so werd' ich dir was zu saufen geben.«

Aufs tiefste in meinen ehrbarsten Gefühlen verletzt, beschloß ich, diese abscheuliche Gesellschaft zu verlassen und stehenden Fußes ins Kasino zu gehen. »Hier ist kein Durchgang,« sagte da eine Schildwache und verlegte mir den Weg mit ihrem Gewehr.

»Gestatten Sie, mein Herr, Sie müssen doch an meinem Anzug sehen, daß Ihre Weisung sich nicht auf mich beziehen kann. Ich will ins Kasino.«

»Ins Kasino! Himmeldonnerwetter, sehen Sie denn nicht, daß es hier an Armen fehlt? Marsch an die Kette!«

»Wissen Sie auch, mein Freund, daß Sie Ihre ungeschliffene Grobheit zu bereuen haben könnten? Ich will davon absehen, nach Ihrem Namen zu fragen, aber geben Sie mir jetzt augenblicklich den Weg frei.«

»Ich heiße Louis Marchand und fürchte Sie nicht. Ich bin Jäger im fünften Bataillon, Hauptmann Ledru. An die Kette, Canaille, glauben Sie denn, daß die braven Leute dort im Wasser zu ihrem Vergnügen arbeiten? Sie Kasino, Sie! Tanzen gehn wollen, nicht wahr? Während die Frauen hier vor Kälte schauern.«

Während dieser Erörterung stürzten die vom Feuer erfaßten Dachstühle mit schrecklichem Krachen zusammen, dem ein Augenblick allgemeinen Stillschweigens folgte. Die ganze Menge hatte die Arbeit eingestellt und blickte gespannten Auges auf dieses Schauspiel. Man vernahm deutlich das Knistern der Flammen, mit dem sich das dumpfe Rollen einer Spritze vermengte, die soeben aus einer entfernten Gemeinde herankam. Ein Mann zu Pferde sprengte herbei und rief: »Mut! Mut, meine Freunde, man wird des Feuers bald Herr sein.« Mehrere Leute umringten ihn sofort und ich hörte, wie er zu ihnen sagte: »Das Feuer breitet sich auch im ›Neuen Viertel‹ aus; eben ist der große Heuspeicher ergriffen worden. Es fehlt an Arbeitskräften. Drei Leute sind umgekommen...« Dann galoppierte er weiter und verschwand. »An die Arbeit!« rief man von allen Seiten, »an die Arbeit! Das Feuer ist im ›Neuen Viertel‹«. Ich wurde von der Menge mitgerissen und bildete bald ein Glied der unabsehbaren Kette.

Zuerst hatte ich gar keine Zeit, zur Besinnung zu kommen. Die Eimer folgten einander mit ununterbrochener Schnelligkeit, und aus Mangel an Gewöhnung oder Geschick gab ich jedem einen Stoß, der das Wasser gegen mich spritzen ließ, zum Schaden meines Anzugs.

Ich war darüber sehr ärgerlich, denn ich hatte noch keineswegs dem Plan entsagt, ins Kasino zu gehen. Ich wollte meine Handschuhe ausziehen, aber sie klebten so fest an meinen Händen, daß ich auf diese Verrichtung, zu der ich mehr Zeit gebraucht hätte, als man mir dazu ließ, verzichten mußte. Mein Platz war auf dem Uferweg ganz nahe an der Stelle, wo die Kette bei dem Fluß endete, an einer Treppe, die zum Wasser hinabreichte. Dort standen Männer in Blusen trotz der heftigen Kälte bis zu den Knien im Wasser und füllten beim Scheine einer Fackel ohne Unterlaß die Eimer. Und wenn die Kette auf dem steilen Abhang vom Ufer bis zu ihnen sich staute, so ergoß sich ein Teil des Wassers, das sie den über ihnen Stehenden reichten, auf ihre Schultern zurück. Um mich herum befanden sich zumeist Frauen jeden Alters, aber nicht jeden Berufs; Handlanger, Arbeiter, einige Herren vervollständigten den Rest der Kettenglieder. Obgleich wir ziemlich weit von der Brandstätte entfernt waren, trug der Wind, der nach unserer Seite stand, einen Funkenregen herbei, der den Eindruck der traurigen Szenerie noch erhöhte.

Einige Augenblicke lang fühlte ich mich noch verletzt und beschimpft und dachte nur daran, in den Sälen des Kasinos die meiner Würde zugefügten Beleidigungen zu vergessen. Aber nachdem ich einmal, fast gewaltsam in den Mittelpunkt dieses für mich neuen Schauspiels versetzt war, nahmen meine Gedanken ganz allmählich eine andere Richtung; und trotz Kälte, Wasser und Widerwillen unterwarf ich mich schließlich dem Gebot der lebhaften Empfindungen, die mich mit sich fortrissen, und deren kräftiger Zauber mir bisher unbekannt gewesen war. Ein Gefühl brüderlicher Zusammengehörigkeit, der muntere Eifer der Arbeit, das Bewußtsein, nützlich zu sein, bewirkten, daß um mich eine von Herzen kommende Fröhlichkeit herrschte, die sich in harmlosen Scherzen und kleinen Zügen selbstloser Aufopferung äußerte.

»Na, gute Frau, geben Sie mir Ihren Platz, gehen Sie zu den leeren Eimern.«

»Lassen Sie nur, Freund, ich bin Wäscherin: die Arme im Wasser, das ist mein Gewerbe ...«

»Na, die weißen Handschuhe da! So sieht der Ball nicht aus, zu dem Sie gehen wollten. Möchten Sie Ihren Platz nicht wechseln?«

»Sehr freundlich, lieber Mann! Ich fange eben erst an.«

»Mut, meine Freunde! Das macht die Arme geschmeidig. Potz Blitz, ihr Wäscherinnen, unsere Hemden werden ohne euch gewaschen: mein Hemd ist aufgeweicht. Ist aber gleichgültig. Vorwärts! eins, zwei, drei, links!«

Ein Mann tritt auf mich zu. »Willst du trinken, du?« sagt er zu mir.

»Ich will schon, mein Freund, aber erst nach denen hier, nach dieser guten Frau, die sehr viel länger arbeitet als ich.«

»Nein, nein, trinkt nur, trinkt, ohne Umstände.«

Und ich trinke das beste Glas Wein, das ich in meinem Leben getrunken habe.