George Orwell: 1984 - George Orwell - E-Book

George Orwell: 1984 E-Book

George Orwell

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Beschreibung

Im April des Jahres 1984 führt Winston Smith ein ödes und tristes Leben in London, einer düsteren Stadt im totalitären Staate Ozeanien, in der alle permanent vom Großen Bruder beobachtet und jeder Schritt und jedes Wort von der Gedankenpolizei überwacht werden. Winston, ein Mitglied der äußeren Partei, verbringt seine Tage damit, im Ministerium für Wahrheit die Geschichte so umzuschreiben, wie es die Regierung verfügt. Äußerlich angepasst, brodelt in ihm ein tiefer Hass gegen die Partei und das Regime, weil die Kluft zwischen der Propaganda, die er tagtäglich verfassen muss, und Realität, die er erlebt, zu groß ist. Ist er der einzige Mensch in diesem Staat, dessen Gedächtnis noch funktioniert und der bemerkt, dass die Partei alles zu ihren Gunsten manipuliert? Als er in Julia nicht nur seine große Liebe, sondern auch eine Gleichgesinnte findet, fasst er den Mut, mit ihr gemeinsam der geheimen Organisation der Bruderschaft beizutreten, die sich der Zerstörung der Partei verschrieben hat. Aber das stets wachsame System duldet keine Opposition, und auch an vermeintlich sicheren Orten lauert die totale Überwachung. Wird ihm die Gehirnwäsche oder gar die Vaporisierung drohen, die der Große Bruder für Andersdenkende und Regimegegner bereithält? George Orwells Dystopie 1984 hat auch über 70 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nichts von ihrer Brisanz und Aktualität verloren. Seine albtraumhafte Vision des totalitären Überwachungsstaats Ozeanien, in dem die Menschen unter ständiger Überwachung durch eine allwissende Regierung leben, ist heute relevanter denn eh und je.

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© 2021 Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hamburg

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ISBN: 978-3-86820-895-5

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TEIL I

KAPITEL 1

Es war ein strahlend kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith, sein Kinn an die Brust gedrückt, um dem scheußlichen Wind zu entkommen, schlüpfte schnell durch die Glastüren des Victory-Wohnblocks, wenn auch nicht schnell genug, um zu verhindern, dass ein sandiger Staubwirbel mit ihm hereinkam.

Der Flur roch nach gekochtem Kohl und alten Flickenteppichen. An einem Ende war ein farbiges Plakat an die Wand geheftet worden, das für drinnen eigentlich zu groß war. Es zeigte lediglich ein riesiges, mehr als einen Meter breites Gesicht: das Gesicht eines Mannes von etwa fünfundvierzig Jahren, mit einem kräftigen schwarzen Schnurrbart und kernigen, jedoch gut aussehenden Gesichtszügen. Winston ging zur Treppe. Es war zwecklos, es mit dem Aufzug zu versuchen. Selbst zu den besten Zeiten funktionierte er nur selten, und gegenwärtig war der Strom tagsüber abgestellt. Dies war Teil der Sparmaßnahmen in Vorbereitung auf die Hasswoche. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, der neununddreißig Jahre alt war und ein Krampfadergeschwür über dem rechten Knöchel hatte, ging langsam und ruhte sich unterwegs mehrmals aus. Auf jedem Treppenabsatz starrte ihn von der Wand gegenüber dem Liftschacht das Plakat mit dem riesigen Gesicht an. Es war eines dieser Bilder, die so entworfen sind, dass die Augen einem bei jeder Bewegung folgen. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH lautete die Beschriftung darunter.

In der Wohnung verlas eine melodiöse Stimme eine Liste von Zahlen, die irgendetwas mit der Herstellung von Roheisen zu tun hatten. Die Stimme kam aus einer länglichen Metallplatte, die wie ein blinder Spiegel in der rechten Wand eingebaut war. Winston drehte einen Schalter, woraufhin die Stimme etwas leiser wurde, die Worte aber noch deutlich zu verstehen waren. Das Gerät (der sogenannte Teleschirm) konnte zwar heruntergedimmt werden, es gab jedoch keine Möglichkeit, es vollständig abzuschalten. Er trat ans Fenster: eine schmächtige, gebrechliche Gestalt, deren magerer Körper durch den blauen Overall der Parteiuniform noch betont wurde. Sein Haar war sehr hell, sein Gesicht von Natur aus gerötet, seine Haut rau von der groben Seife, den stumpfen Rasierklingen und der Kälte des gerade zu Ende gegangenen Winters.

Draußen sah die Welt selbst durch das geschlossene Fenster kalt aus. Unten auf der Straße wirbelten kleine Windstrudel Staub und Papierfetzen in Spiralen auf, und obwohl die Sonne schien und der Himmel grellblau war, erschien doch alles farblos, bis auf die Plakate, die überall angebracht waren. Das Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart blickte aus jeder bedeutenden Ecke herab. Eines hing an der Hausfront direkt gegenüber. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH, verkündete der Text darunter, während die dunklen Augen tief in Winstons eigene blickten. Unten flatterte auf der Höhe der Straße ein weiteres Plakat, das an einer Ecke zerrissen war, unruhig im Wind und verdeckte und enthüllte abwechselnd das einzelne Wort ENGSOZ. In der Ferne huschte ein Hubschrauber zwischen den Dächern hinunter, schwebte einen Augenblick wie eine Schmeißfliege in der Luft und brauste dann in einem Bogen wieder davon. Es war die Polizeistreife, die an den Fenstern der Menschen schnüffelte. Die Patrouillen waren jedoch nicht weiter tragisch. Nur vor der Gedankenpolizei musste man sich fürchten.

Hinter Winstons Rücken plapperte die Stimme aus dem Teleschirm immer noch über Roheisen und die Übererfüllung des neunten Dreijahresplans. Der Teleschirm war gleichzeitig Sende- und Empfangsgerät. Jedes von Winston verursachte Geräusch, das über ein sehr leises Flüstern hinausging, wurde von ihm registriert; und solange sich Winston innerhalb des von der Metallplatte kontrollierten Sichtfeldes befand, konnte er nicht nur gehört, sondern auch gesehen werden. Man wusste natürlich grundsätzlich nicht, ob man gerade beobachtet wurde. Wie oft oder nach welchem System die Gedankenpolizei sich an eine Privatleitung anschloss, war reine Spekulation. Es war sogar denkbar, dass sie jeden Einzelnen permanent überwachte. Aber auf jeden Fall konnte sie sich jederzeit, wann immer sie wollte, in jede Leitung einschalten. Man musste daher in der Annahme leben – was man aus einer Gewohnheit, die zum Instinkt geworden war, auch tat –, dass jedes Geräusch, das man machte, belauscht wurde und dass, außer in der Dunkelheit, jede Bewegung genau beobachtet wurde.

Winston kehrte dem Teleschirm weiterhin den Rücken zu. Dies war sicherer, obwohl, wie er sehr wohl wusste, selbst ein Rücken verräterisch sein konnte. Einen Kilometer entfernt ragte das Ministerium für Wahrheit, sein Arbeitsplatz, gewaltig und weiß über die düstere Landschaft auf. Dies also, dachte er mit einer Art unbestimmter Abneigung, war London, Hauptstadt von Stützpunkt Eins, der am drittstärksten bevölkerten Provinz Ozeaniens. Er versuchte, sich eine Kindheitserinnerung ins Gedächtnis zu rufen, die ihm die Frage beantworten sollte, ob London schon immer so ausgesehen hatte. Hatte es immer schon diese Aussichten auf verrottende Häuser aus dem 19. Jahrhundert, deren Mauern mit Holzbalken abgestützt, deren Fenster mit Pappe geflickt, deren Dächer mit Wellblech gedeckt waren und deren morsche Gartenmauern nach allen Seiten hin absackten, gegeben? Und diese zerbombten Ruinen, an denen der Gipsstaub in der Luft wirbelte und wo Weidenröschen die Trümmerhaufen überwucherten? Und die Stellen, an denen die Bombeneinschläge größere Lücken gerissen hatten, wo dann schäbige Siedlungen aus Holzbehausungen entstanden waren, die wie Hühnerställe aussahen? Doch es war sinnlos, er konnte sich nicht erinnern: Von seiner Kindheit war ihm nichts geblieben außer einer Reihe greller Bilder ohne jeglichen Hintergrund, die meist unverständlich waren.

Das Ministerium für Wahrheit – Minwahr in Neusprech1 – unterschied sich verblüffend von jedem anderen Objekt in Sichtweite. Es war ein riesiger, pyramidenartiger, weiß schimmernder Bau aus Beton, der sich Terrasse um Terrasse dreihundert Meter hoch in die Luft reckte. Von Winstons Standpunkt aus war es gerade noch möglich, die drei Parteiparolen zu lesen, die in eleganter Schrift auf seiner weißen Front prangten:

KRIEG IST FRIEDENFREIHEIT IST SKLAVEREIUNWISSENHEIT IST STÄRKE

Das Ministerium für Wahrheit enthielt angeblich dreitausend oberirdische Räume und eine entsprechende Anzahl unterirdischer Räumlichkeiten. Über ganz London verstreut gab es nur drei weitere Gebäude von ähnlichem Aussehen und ähnlicher Größe. Sie übertrafen die sie umgebende Architektur so vollständig, dass man vom Dach des Victory-Wohnblocks aus alle vier gleichzeitig sehen konnte. Es handelte sich um die Gebäude der vier Ministerien, unter denen der gesamte Regierungsapparat aufgeteilt war. Das Ministerium für Wahrheit, das sich mit Nachrichten, Unterhaltung, Bildung und den schönen Künsten befasste. Das Ministerium für Frieden, das sich mit dem Krieg befasste. Das Ministerium für Liebe, das für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung zuständig war. Und das Ministerium für Fülle, das für wirtschaftliche Angelegenheiten zuständig war. Ihre Namen in Neusprech: Minwahr, Minfried, Minlieb und Minfüll.

Das Ministerium für Liebe war zweifellos das furchterregendste von allen. Es hatte überhaupt keine Fenster. Winston war noch nie im Ministerium für Liebe gewesen, und er war auch niemals näher als einen halben Kilometer herangegangen. Es war ein Ort, den man nur aus dienstlichen Gründen betreten konnte, und auch dann musste man durch ein Labyrinth aus Stacheldrahtverhauen, Stahltüren und versteckten Maschinengewehrnestern hindurch. Sogar die Straßen, die zu seinen äußeren Absperrungen führten, wurden von gorillagesichtigen Wachen in schwarzen Uniformen, die mit schweren Schlagstöcken bewaffnet waren, gesichert.

Winston drehte sich abrupt um. Er hatte die ruhige, optimistische Miene aufgesetzt, die man vor dem Teleschirm besser zur Schau stellen sollte. Er ging quer durch den Raum in die winzige Küche. Als er das Ministerium zu dieser Tageszeit verlassen hatte, hatte er damit auch sein Mittagessen in der Kantine geopfert, und er war sich bewusst, dass es in der Küche nichts zu essen gab, außer einem Stück dunklem Brot, das für das morgige Frühstück aufgehoben werden musste. Er nahm eine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit aus dem Regal, deren schlichtes weißes Etikett die Aufschrift VICTORY GIN trug. Sie verströmte einen widerlichen, öligen Geruch, wie nach chinesischem Reisschnaps. Winston goss sich fast eine Teetasse davon ein, rüstete sich für den Schock und würgte sie schnell wie eine Dosis Medizin hinunter.

Sofort lief sein Gesicht scharlachrot an, und Tränen schossen ihm in die Augen. Das Zeug war wie Salpetersäure, und man hatte beim Schlucken das Gefühl, mit einem Gummiknüppel auf den Hinterkopf geschlagen zu werden. Im nächsten Moment jedoch ließ das Brennen in seinem Bauch nach, und die Welt sah direkt fröhlicher aus. Er nahm eine Zigarette aus einer zerknitterten Schachtel mit der Aufschrift VICTORY ZIGARETTEN und hielt sie unvorsichtigerweise senkrecht, woraufhin der Tabak auf den Boden krümelte. Mit der nächsten hatte er mehr Erfolg. Er ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich an einen kleinen Tisch, der links neben dem Teleschirm stand. Aus der Tischschublade holte er einen Federhalter, ein Tintenfass und ein dickes, quartformatiges, leeres Buch mit rotem Rücken und marmoriertem Einband heraus.

Aus irgendeinem Grund war der Teleschirm in seinem Wohnzimmer an einer ungewöhnlichen Stelle angebracht worden. Statt wie üblich an der Stirnwand, von wo aus er den ganzen Raum kontrollieren konnte, befand er sich an der Längswand gegenüber dem Fenster. Auf einer Seite des Teleschirms war eine kleine Nische, in der Winston nun saß, die seinerzeit beim Wohnungsbau wahrscheinlich für ein Bücherregal vorgesehen gewesen war. Wenn Winston ganz hinten in der Nische saß, konnte er, zumindest visuell, außerhalb der Reichweite des Teleschirms bleiben. Man konnte ihn natürlich hören, aber solange er in seiner gegenwärtigen Position blieb, konnte man ihn nicht sehen. Es war zum Teil die ungewöhnliche Aufteilung des Zimmers gewesen, die ihn zu der Idee inspiriert hatte, die er nun verwirklichen wollte.

Doch auch das Buch, das er gerade aus der Schublade genommen hatte, hatte diese Idee beflügelt. Es war ein besonders schönes Buch. Sein glattes, cremefarbenes Papier, vom Alter etwas vergilbt, war von einer Qualität, die seit mindestens vierzig Jahren nicht mehr hergestellt wurde. Er nahm jedoch an, dass das Buch noch weitaus älter war. Er hatte es im Fenster eines muffigen kleinen Trödelladens in einem der Elendsviertel der Stadt liegen sehen (in welchem Viertel genau wusste er gar nicht mehr) und war sofort von dem unbändigen Wunsch ergriffen worden, es zu besitzen. Parteimitglieder sollten eigentlich nicht in gewöhnliche Läden gehen (»Handel auf dem freien Markt« wurde das genannt), aber die Regel wurde nicht strikt eingehalten, da es verschiedene Dinge gab, wie Schnürsenkel und Rasierklingen, an die man auf keine andere Weise herankam. Er hatte einmal schnell die Straße in beide Richtungen überprüft, war dann hineingeschlüpft und hatte das Buch für zwei Dollar fünfzig gekauft. Zu diesem Zeitpunkt war ihm nicht bewusst gewesen, dass er es für einen bestimmten Zweck haben wollte. Er hatte es schuldbewusst in seiner Aktentasche nach Hause getragen. Sogar mit seinen unbeschriebenen Seiten war es ein kompromittierender Besitz.

Nun wollte er ein Tagebuch beginnen. Das war nicht illegal (nichts war illegal, da es ja keine Gesetze mehr gab), aber wenn es herauskam, konnte er ziemlich sicher mit der Todesstrafe oder zumindest mit fünfundzwanzig Jahren in einem Zwangsarbeitslager rechnen. Winston steckte eine Spitze in den Federhalter und feuchtete sie mit der Zunge an, um das Schmierfett zu entfernen. Der Federhalter war ein altertümliches Instrument, das selbst für Unterschriften nur noch selten benutzt wurde, und er hatte sich heimlich und mit einigen Schwierigkeiten einen beschafft, einfach aus dem Gefühl heraus, dass das schöne cremefarbene Papier es verdiente, mit einer echten Feder beschrieben anstatt mit einem Tintenstift bekritzelt zu werden. Eigentlich war er es nicht gewohnt, mit der Hand zu schreiben. Abgesehen von sehr kurzen Notizen war es üblich, alles in den Sprechschreiber zu diktieren, was für sein gegenwärtiges Vorhaben natürlich unmöglich war. Er tauchte die Feder in die Tinte und stockte dann für eine Sekunde. Seine Eingeweide hatten sich heftig verkrampft. Der erste Federstrich auf dem Papier war der entscheidende Akt. In kleinen unbeholfenen Buchstaben schrieb er:

4. April 1984.

Er lehnte sich zurück. Ein Gefühl völliger Hilflosigkeit war über ihn hereingebrochen. Zunächst einmal wusste er nicht mit Sicherheit, dass es wirklich das Jahr 1984 war. Das Datum musste aber ungefähr stimmen, denn er war sich ziemlich sicher, dass er neununddreißig Jahre alt war, und er glaubte, 1944 oder 1945 geboren worden zu sein; doch es war heutzutage nie möglich, ein Datum auf ein oder zwei Jahre genau festzulegen.

Für wen, fragte er sich plötzlich, schrieb er dieses Tagebuch? Für die Zukunft, für die Ungeborenen. Seine Gedanken schwebten für einen Moment um das zweifelhafte Datum auf der Seite herum, um dann mit einem Schlag auf das Neusprech-Wort Zwiedenk zu stoßen. Zum ersten Mal wurde ihm das Ausmaß seines Vorhabens bewusst. Wie konnte man mit der Zukunft in Verbindung treten? Das war doch von Natur aus unmöglich. Entweder würde die Zukunft der Gegenwart ähneln, dann würde man ihm nicht zuhören, oder sie wäre ganz anders, dann wäre seine missliche Lage bedeutungslos.

Eine Zeit lang saß er da und starrte apathisch auf das Papier. Der Teleschirm spielte jetzt schmissige Militärmusik. Es war wirklich eigenartig, dass er nicht nur sein Ausdrucksvermögen verloren, sondern sogar vergessen zu haben schien, was er ursprünglich hatte sagen wollen. Schon seit Wochen hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, und es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass etwas anderes als Mut nötig sein würde. Das eigentliche Schreiben würde ihm leichtfallen. Er musste dazu ja nur den endlosen inneren Monolog, der buchstäblich seit Jahren in seinem Kopf stattfand, zu Papier bringen. In diesem Moment jedoch war selbst dieser verstummt. Zudem hatte sein Krampfadergeschwür angefangen, unerträglich zu jucken. Er wagte es nicht, daran zu kratzen, denn wenn er das tat, entzündete es sich immer. Die Sekunden verstrichen. Er war sich nichts anderem mehr bewusst als der Leere der Seite vor ihm, dem Jucken der Haut über seinem Knöchel, dem Dröhnen der Musik und einem leichten Trunkenheitsgefühl, das vom Gin kam.

Plötzlich begann er in schierer Panik zu schreiben, ohne wirklich zu wissen, was er zu Papier brachte. Seine kleine, aber kindliche Handschrift kritzelte die Seite nach und nach voll, wobei er bald schon jegliche Großschreibung und schließlich sogar die Satzzeichen wegließ:

4. April 1984. Gestern Abend im Kino. Lauter Kriegsfilme. Ein sehr guter, über ein Schiff voller Flüchtlinge, das irgendwo im Mittelmeer bombardiert wird. Publikum amüsierte sich sehr über die Aufnahmen eines großen dicken Mannes, der versuchte, vor einem Hubschrauber wegzuschwimmen, zuerst sah man, wie er sich wie ein Tümmler durchs Wasser wälzte, dann sah man ihn durch das Maschinengewehrvisier des Hubschraubers, dann war er ganz durchlöchert und das Meer um ihn herum färbte sich rosa und er sank so plötzlich, als hätten die löcher das wasser in ihn hereingelassen, das publikum brüllte vor lachen, als er unterging. dann sah man ein rettungsboot voller kinder, über dem ein hubschrauber schwebte. da war eine frau mittleren alters, vielleicht eine jüdin, die vorne im bug saß, mit einem kleinen jungen von etwa drei Jahren im arm. kleiner junge schrie vor Angst und verbarg seinen kopf zwischen ihren brüsten, als wolle er sich ganz in ihr verkriechen und die frau legte ihre arme um ihn und tröstete ihn, obwohl sie selbst vor angst zitterte, schützte ihn die ganze zeit so gut wie möglich, als glaubte sie, ihre arme könnten die kugeln von ihm abhalten. dann warf der hubschrauber eine 20-kilo-bombe zwischen sie hat irre geblitzt und das boot zersplitterte zu kleinholz. dann gab es eine wunderbare aufnahme vom arm eines kindes der hoch und immer höher in die luft fliegt, ein hubschrauber mit einer kamera in der kanzel muss ihm nachgeflogen sein und es gab großen applaus von den parteiplätzen aus aber eine frau unten im prollbereich fing plötzlich an einen riesen radau zu machen und zu toben das hätte man nich vor den kinnern zeigen sollen nu wirklich nich direkt vor den kinnern. hätt ma nich machn solln. bis die polizei sie rauschmiss ich glaube nicht dass ihr was passiert ist niemand kümmert sich darum was die prolls sagen typische prollreaktion. die werden niemals –

Winston hörte auf zu schreiben, was auch daran lag, dass er einen Krampf in der Hand hatte. Er wusste nicht, was ihn veranlasst hatte, diesen ganzen Müll von sich zu geben. Das Merkwürdige war jedoch, dass ihm während des Schreibens eine völlig andere Erinnerung in den Kopf gekommen war, die so klar war, dass es ihm fast so vorkam, als habe er sie niedergeschrieben. Er erkannte jetzt, dass er genau wegen dieses anderen Vorfalls plötzlich beschlossen hatte, nach Hause zu gehen und heute mit seinem Tagebuch zu beginnen.

Dieser Vorfall hatte sich heute Morgen im Ministerium ereignet, wenn man von etwas so Nebulösem überhaupt sagen konnte, dass es passiert war.

Es war kurz vor elf Uhr, und in der Dokumentationsabteilung, in der Winston arbeitete, hatten sie als Vorbereitung auf den Zwei-Minuten-Hass die Stühle aus den Gemeinschaftsräumen geschleppt und in der Mitte des Saals gegenüber dem großen Teleschirm gruppiert. Winston nahm gerade seinen Platz in einer der mittleren Reihen ein, als zwei Personen, die er vom Sehen her kannte, mit denen er aber noch nie ein Wort gewechselt hatte, unerwartet in den Raum kamen. Eine von ihnen war ein Mädchen, dem er oft in den Korridoren begegnete. Er kannte ihren Namen nicht, wusste aber, dass sie in der Romanabteilung arbeitete. Vermutlich – da er sie manchmal mit öligen Händen und einem Schraubenschlüssel gesehen hatte – hatte sie eine technische Funktion an einer der Romanschreibmaschinen. Sie war ein keck aussehendes Mädchen, etwa siebenundzwanzig Jahre alt, mit dichtem schwarzem Haar, einem sommersprossigen Gesicht und flinken, athletischen Bewegungen. Sie hatte eine schmale scharlachrote Schärpe, das Emblem der Anti-Sex-Juniorenliga, mehrmals um die Taille ihres Overalls gewickelt, gerade eng genug, um ihre wohlgeformten Hüften zu betonen. Winston hatte sie vom ersten Augenblick an nicht gemocht. Er wusste auch, warum. Es war wegen der Atmosphäre von Hockeyfeldern, kalten Bädern und Gemeinschaftswanderungen und ihrer generellen Sauberfrau-Mentalität, mit der sie sich umgab. Er hatte gegen fast alle Frauen eine Abneigung, vor allem gegen die jungen und hübschen. Es waren immer die Frauen, und vor allem die jungen, die die bigottesten Anhänger der Partei und gedankenlose Parolenschlucker waren, und sie waren Amateurspione und schnüffelten andere zu deren Linientreue aus. Doch speziell dieses Mädchen erweckte in ihm den Eindruck, gefährlicher zu sein als die meisten anderen. Als sie einmal im Korridor aneinander vorbeigegangen waren, hatte sie ihm einen versteckten Seitenblick zugeworfen, der direkt in sein Innerstes zu dringen schien und ihn für einen Moment mit blankem Entsetzen erfüllt hatte. Es war ihm sogar der Gedanke gekommen, dass sie eine Agentin der Gedankenpolizei sein könnte. Das war zwar sehr unwahrscheinlich, dennoch verspürte er weiterhin ein seltsames Unbehagen, in das sich Angst und Feindseligkeit mischten, wann immer sie in seiner Nähe war.

Die andere Person war ein Mann namens O’Brien, ein Mitglied der Inneren Partei und Inhaber eines so wichtigen und abgehobenen Postens, dass Winston nur eine ganz vage Vorstellung davon hatte. Ein kurzes Schweigen senkte sich über die um die Stühle herumstehende Menschengruppe, als sie den schwarzen Overall eines Mitglieds der Inneren Partei auf sich zukommen sahen. O’Brien war ein großer, stämmiger Mann mit einem Stiernacken und einem derben, humorvollen und brutalen Gesicht. Trotz seiner imposanten Erscheinung hatte er einen gewissen Charme. Er hatte eine Art, sich die Brille auf der Nase zurechtzurücken, die seltsam entwaffnend wirkte – auf eine undefinierbare Weise eigentümlich kultiviert. Es war eine Geste, die einen – sofern überhaupt noch jemand in solchen Begriffen denken konnte – an einen Adligen aus dem 18. Jahrhundert erinnern könnte, der seinem Gegenüber die Schnupftabakdose anbot. Winston hatte O’Brien vielleicht ein Dutzend Mal in fast ebenso vielen Jahren gesehen. Er fühlte sich zutiefst zu ihm hingezogen, und das nicht nur, weil ihn der Kontrast zwischen O’Briens höflichen Manieren und dem Körperbau eines Preisboxers faszinierte. Es war vielmehr ein heimlich gehegter Glaube – oder vielleicht nicht einmal ein Glaube, sondern lediglich eine Hoffnung –, dass O’Briens politische Strenggläubigkeit nicht absolut war. Etwas in seinem Gesicht deutete unbestreitbar darauf hin. Und doch stand in diesem Gesicht vielleicht gar keine mangelnde Strenggläubigkeit, sondern einfach Intelligenz geschrieben. Auf jeden Fall aber schien er ein Mensch zu sein, mit dem man reden konnte, wenn man es irgendwie fertigbrachte, den Teleschirm auszutricksen und ihn allein zu erwischen. Winston hatte nie den geringsten Versuch unternommen, seine Vermutung auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen: Es gab praktisch ja auch keine Möglichkeit, dies zu tun. In diesem Moment warf O’Brien einen Blick auf seine Armbanduhr, sah, dass es fast elf Uhr war, und beschloss offensichtlich, in der Dokumentationsabteilung zu bleiben, bis der Zwei-Minuten-Hass vorbei war. Er setzte sich auf einen Stuhl in der gleichen Reihe wie Winston, ein paar Plätze von ihm entfernt. Eine kleine, rotblonde Frau, die im Büro neben Winston arbeitete, saß zwischen ihnen. Das Mädchen mit den schwarzen Haaren saß unmittelbar dahinter.

Im nächsten Moment brach ein grässliches, knirschendes Kreischen wie von einer monströsen, ungeölten Maschine aus dem großen Teleschirm am Ende des Raumes heraus. Es war ein Geräusch, das einem durch Mark und Bein ging und bei dem sich einem die Nackenhaare sträubten. Der Hass hatte begonnen.

Wie üblich war das Gesicht von Emmanuel Goldstein, dem Feind des Volkes, auf dem Teleschirm erschienen. Man hörte vereinzeltes Zischen im Publikum. Die kleine, rotblonde Frau quietschte in einer Mischung aus Angst und Ekel. Goldstein war der Abweichler und Abtrünnige, der einst, vor langer Zeit (wie lange das her war, wusste niemand mehr so genau), eine der führenden Persönlichkeiten der Partei gewesen war, fast auf einer Stufe mit dem Großen Bruder selbst, und der sich dann in konterrevolutionäre Machenschaften verstrickt hatte, zum Tode verurteilt worden war und auf mysteriöse Weise entkommen und untergetaucht war. Das Programm des Zwei-Minuten-Hasses variierte von Tag zu Tag, aber es gab keines, in dem Goldstein nicht die Hauptfigur war. Er war der Urverräter, der erste Beschmutzer der Reinheit der Partei. Alle nachfolgenden gegen die Partei gerichteten Verbrechen, jeglicher Verrat sowie Sabotageakte, Häresien und Abweichen von der Partei entsprangen unmittelbar seiner Lehre. Irgendwo lebte er noch und brütete seine Verschwörungspläne aus: vielleicht irgendwo jenseits des Meeres, unter dem Schutz seiner ausländischen Geldgeber, vielleicht sogar – so wurde gelegentlich gemunkelt – in einem Geheimversteck in Ozeanien selbst.

Winstons Zwerchfell zog sich zusammen. Er konnte Goldsteins Gesicht niemals ohne schmerzlich gemischte Gefühle sehen. Es war ein mageres jüdisches Gesicht, mit einem mächtigen, wirren, weißen Haarkranz und einem Ziegenbärtchen – ein kluges Gesicht und doch irgendwie von Natur aus verabscheuungswürdig, dessen lange dünne Nase, auf deren Spitze eine Brille saß, eine Art seniler Verblödung auszustrahlen schien. Es ähnelte dem Gesicht eines Schafes, und auch die Stimme hatte etwas Schafartiges. Goldstein ließ seinen üblichen giftigen Angriff gegen die Parteidoktrinen vom Stapel – ein so übertriebener und perverser Angriff, dass ein Kind ihn hätte durchschauen können, und doch gerade plausibel genug, um einen mit dem beunruhigenden Gefühl zu erfüllen, dass andere Menschen, die weniger vernünftig waren als man selbst, darauf hereinfallen könnten. Er beschimpfte den Großen Bruder, er prangerte die Diktatur der Partei an, er forderte den sofortigen Friedensschluss mit Eurasien, er trat für Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Gedankenfreiheit ein, er keifte hysterisch, dass die Revolution verraten worden sei – und das alles in einer rasanten, vielsilbigen Sprechweise, die eine Art Parodie des üblichen Stils der Parteiredner war und sogar Neusprech-Begriffe enthielt: tatsächlich mehr Neusprech-Begriffe, als irgendein Parteimitglied normalerweise im wirklichen Leben anwenden würde. Und für den Fall, dass jemand noch Zweifel an der Realität von Goldsteins irreführender Phrasendrescherei hatte, marschierten während der ganzen Zeit auf dem Teleschirm hinter seinem Kopf die endlosen Kolonnen der eurasischen Armee – Reihe um Reihe kräftig aussehender Männer mit ausdruckslosen asiatischen Gesichtern, die an die Oberfläche des Teleschirms trieben und dann verschwanden, um durch andere, absolut identische Soldaten ersetzt zu werden. Das dumpfe rhythmische Trampeln der Soldatenstiefel bildete die Geräuschkulisse hinter Goldsteins blökender Stimme.

Der Hass hatte noch keine dreißig Sekunden gedauert, da brach die Hälfte der Anwesenden im Raum in unkontrollierte Wutausbrüche aus. Das selbstzufriedene Schafsgesicht auf dem Teleschirm und die furchterregende Macht der eurasischen Armee dahinter waren zu viel des Guten. Außerdem erzeugte Goldsteins Anblick, oder auch nur der Gedanke an ihn, automatisch Angst und Wut. Er war ein konstanterer Gegenstand des Hasses als Eurasien oder Ostasien, da Ozeanien, wenn es sich mit einer dieser Mächte im Krieg befand, im Allgemeinen mit der anderen im Frieden war. Merkwürdig war allerdings, dass, obwohl Goldstein von allen gehasst und verachtet wurde, obwohl seine Theorien tagtäglich wohl an die tausend Mal auf Bahnsteigen, auf dem Teleschirm, in Zeitungen, in Büchern widerlegt, zerpflückt, lächerlich gemacht und der Allgemeinheit als der erbärmliche Müll vor Augen gebracht wurden, der sie nun einmal waren – dass trotz alledem sein Einfluss nie geringer zu werden schien. Immer wieder fanden sich neue Opfer, die darauf warteten, von ihm verführt zu werden. Es verging kein Tag, an dem die Gedankenpolizei keine Spione und Saboteure entlarvte, die nach seinen Anweisungen handelten. Er war der Befehlshaber einer riesigen Schattenarmee, eines Untergrundnetzwerks von Verschwörern, das sich dem Sturz der Regierung verschrieben hatte. Die Bruderschaft, so sollte ihr Name lauten. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte man sich auch Geschichten über ein schreckliches Buch zu, ein Kompendium aller Irrlehren, dessen Verfasser Goldstein war und das hier und da heimlich zirkulierte. Es war ein Buch ohne Titel. Die Leute bezeichneten es, wenn sie überhaupt darüber sprachen, einfach als DAS BUCH. Aber über solche Dinge kursierten nur sehr vage Gerüchte. Sowohl die Bruderschaft als auch DAS BUCH waren Themen, die ein gewöhnliches Parteimitglied tunlichst vermied.

In der zweiten Minute steigerte sich der Hass zu einer Raserei. Die Menschen sprangen von ihren Plätzen auf und schrien lauthals, um die wahnsinnig machende, blökende Stimme, die vom Teleschirm kam, zu übertönen. Die kleine, rotblonde Frau war knallrot angelaufen, und ihr Mund öffnete und schloss sich wie der eines gestrandeten Fisches. Sogar O’Briens großes Gesicht war gerötet. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl, sein mächtiger Brustkorb schwoll und erzitterte, als trotze er dem Anprall einer Welle. Das schwarzhaarige Mädchen hinter Winston hatte angefangen zu schreien: »Schwein! Schwein! Schwein!«, und plötzlich nahm sie ein schweres Neusprech-Wörterbuch und schleuderte es gegen den Teleschirm. Es traf Goldsteins Nase und prallte dann ab; während seine Stimme unerbittlich weiterplapperte. In einem lichten Moment ertappte sich Winston dabei, dass er mit den anderen schrie und mit dem Absatz heftig gegen sein Stuhlbein trat. Das Schreckliche an dem Zwei-Minuten-Hass war nicht, dass man gezwungen war mitzumachen, sondern im Gegenteil, dass man gar nicht anders konnte als einzustimmen. Nach dreißig Sekunden brauchte man sich nicht mehr zu verstellen. Eine grässliche Ekstase der Angst und Rachsucht, der Wunsch zu töten, zu foltern, Gesichter mit einem Vorschlaghammer einzuschlagen, schien wie ein elektrischer Strom durch die ganze Menschengruppe zu fließen und einen sogar gegen den eigenen Willen in einen grimassierenden, schreienden Wahnsinnigen zu verwandeln. Und doch war die Wut, die man empfand, ein abstraktes, ungerichtetes Gefühl, das wie die Flamme einer Lötlampe von einem Gegenstand zum anderen gerichtet werden konnte. So wandte sich Winstons Hass für einen Augenblick gar nicht gegen Goldstein, sondern im Gegenteil gegen den Großen Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei, und in solchen Momenten flog sein Herz dem einsamen, verachteten Abtrünnigen auf dem Schirm zu, dem alleinigen Hüter der Wahrheit und der Vernunft in einer Welt der Lügen. Und doch war er schon im nächsten Augenblick wieder eins mit den Menschen um ihn herum, und alle Behauptungen über Goldstein erschienen ihm wahr. In diesen Momenten verwandelte sich seine heimliche Abscheu gegen den Großen Bruder in Anbetung, und der Große Bruder schien sich zu erheben, ein unbesiegbarer, furchtloser Beschützer, der sich wie ein Fels gegen die Horden Asiens stemmte, und Goldstein schien trotz seiner Isolation, seiner Hilflosigkeit und der Zweifel, die seine bloße Existenz umgaben, wie ein unheilvoller Zauberer zu wirken, der allein durch die Kraft seiner Stimme in der Lage war, die Fundamente der Zivilisation zu zerstören.

In manchen Momenten war es sogar möglich, seinen Hass vorsätzlich in diese oder jene Richtung zu lenken. Plötzlich gelang es Winston mit einer gewaltigen Anstrengung, so wie man in einem Albtraum den Kopf vom Kissen losreißt, seinen Hass vom Gesicht auf dem Teleschirm auf das schwarzhaarige Mädchen hinter ihm zu übertragen. Lebhafte, herrliche Halluzinationen schossen ihm durch den Kopf. Er würde sie mit einem Gummiknüppel zu Tode prügeln. Er würde sie nackt an einen Pfahl binden und sie wie den Heiligen Sebastian mit Pfeilen durchlöchern. Er würde sie vergewaltigen und ihr im Augenblick des Höhepunktes die Kehle durchschneiden. Besser als zuvor erkannte er jetzt, WARUM er sie hasste. Er hasste sie, weil sie jung und hübsch und geschlechtslos war, weil er mit ihr ins Bett gehen wollte und es nie tun würde, weil um ihre süße, schmiegsame Taille, die einen zur Umarmung aufzufordern schien, nur die abscheuliche scharlachrote Schärpe lag, als aggressives Symbol der Keuschheit.

Der Hass erreichte seinen Höhepunkt. Goldsteins Stimme war jetzt zu einem wirklichen Schafsblöken geworden, und für einen Augenblick verwandelte sich sein Gesicht in das eines Schafs. Dann verschmolz das Schafsgesicht mit der Gestalt eines eurasischen Soldaten, der riesig und furchterregend mit knatternder Maschinenpistole heranzumarschieren und aus der Oberfläche des Teleschirms zu springen schien, sodass einige der Leute in der ersten Reihe auf ihren Sitzen tatsächlich nach hinten zuckten. Doch im selben Augenblick verschwamm unter erleichtertem Aufatmen des Publikums die feindselige Gestalt und wurde zum Gesicht des Großen Bruders mit seinen schwarzen Haaren, schwarzem Schnurrbart, das Macht und geheimnisvolle Ruhe ausstrahlte und mit seiner gewaltigen Größe fast den ganzen Bildschirm füllte. Niemand hörte, was der Große Bruder sagte. Es waren nur ein paar Worte der Ermutigung, die Art von Worten, wie sie im Kampfgetöse einer Schlacht geäußert werden, nicht einzeln verständlich, sondern durch das bloße Aussprechen Zuversicht spendend. Dann verblasste das Gesicht des Großen Bruders wieder, und stattdessen prangten die drei Parolen der Partei in fett gedruckten Großbuchstaben auf dem Schirm:

KRIEG IST FRIEDENFREIHEIT IST SKLAVEREIUNWISSENHEIT IST STÄRKE

Doch das Gesicht des Großen Bruders schien für einige Sekunden auf dem Teleschirm zu verharren, als sei der Eindruck, den es auf der Netzhaut der Zuschauer hinterlassen hatte, zu lebendig, um sofort wieder zu verblassen. Die kleine rotblonde Frau hatte sich über die Lehne des vor ihr stehenden Stuhls geworfen. Mit einem bebenden Flüstern, das wie »Mein Retter!« klang, streckte sie ihre Arme dem Teleschirm entgegen. Dann vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Ganz offensichtlich betete sie.

In diesem Moment stimmten alle Versammelten einen volltönenden, langsamen und rhythmischen Sprechchor an: »G-B! G-B! G-B!« – immer und immer wieder, sehr langsam, mit einer langen Pause zwischen dem »G« und dem »B« – ein schweres, murmelndes Geräusch, irgendwie seltsam primitiv, in dessen Hintergrund man das Stampfen nackter Füße und das dumpfe Trommeln von Tomtoms zu hören schien. Damit fuhren sie vielleicht dreißig Sekunden lang fort. Es war ein Refrain, den man oft in Momenten überwältigender Erregung hörte. Zum Teil war es eine Art Hymne an die Weisheit und Majestät des Großen Bruders, aber mehr noch war es ein Akt der Selbsthypnose, ein absichtliches Ersticken des Bewusstseins durch rhythmischen Lärm. Winston fühlte eine Kälte in seinen Eingeweiden. Im Zwei-Minuten-Hass konnte er nicht anders, als sich vom allgemeinen Delirium mitreißen zu lassen, doch dieser unmenschliche Singsang von »G-B! ... G-B!« erfüllte ihn immer mit Entsetzen. Aber natürlich stimmte er in den Gesang ein, denn etwas anderes wäre undenkbar gewesen. Seine Gefühle zu verbergen, seine Miene zu kontrollieren, das zu tun, was alle anderen taten, war eine instinktive Reaktion. Und doch gab es eine Zeitspanne von ein paar Sekunden, in denen der Ausdruck seiner Augen ihn möglicherweise hätte verraten können. Und genau in diesem Moment geschah das Bedeutsame – falls es tatsächlich passierte.

Er fing ganz flüchtig O’Briens Blick auf. O’Brien war aufgestanden. Er hatte seine Brille abgenommen und war gerade dabei, sie mit seiner charakteristischen Geste wieder auf seine Nase zu setzen. Doch für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke, und genau in diesem Augenblick wusste Winston – ja, er WUSSTE es! –, dass O’Brien dasselbe dachte wie er. Sie hatten eine unmissverständliche Botschaft miteinander ausgetauscht. Es war, als hätten beide ihren Geist geöffnet und als würden die Gedanken durch ihre Augen von dem einen zum anderen fließen. »Ich verstehe Sie«, schien O’Brien ihm zu sagen. »Ich weiß genau, was Sie empfinden. Ich kenne Ihre Verachtung, Ihren Hass, Ihren Ekel. Aber keine Angst, ich bin auf Ihrer Seite!« Und dann war das kurze Aufflackern des Einverständnisses verschwunden, und O’Briens Gesicht war so unergründlich wie das aller anderen.

Das war alles, und er war sich schon nicht mehr sicher, ob es wirklich passiert war. Derartige Zwischenfälle blieben stets folgenlos. Sie hielten lediglich den Glauben, oder die Hoffnung, in ihm lebendig, dass es außer ihm noch andere Feinde der Partei gab. Vielleicht stimmten die Gerüchte über gewaltige Untergrundverschwörungen ja doch – vielleicht existierte die Bruderschaft wirklich! Man konnte trotz der endlosen Verhaftungen, Geständnisse und Hinrichtungen unmöglich sicher sein, dass die Bruderschaft nicht bloß ein Mythos war. An manchen Tagen glaubte er an sie, an anderen nicht. Es gab keine Beweise, nur flüchtige Andeutungen, die alles oder nichts bedeuten konnten: aufgeschnappte Gesprächsfetzen, verwischte Kritzeleien an Toilettenwänden – einmal sogar, als sich zwei Fremde begegneten, eine kleine Handbewegung, die so ausgesehen hatte, als sei sie ein Erkennungszeichen. Doch das waren alles nur Vermutungen: Sehr wahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet. Er war in seine Arbeitskabine zurückgegangen, ohne O’Brien noch einmal anzusehen. Der Gedanke, ihren flüchtigen Kontakt weiter zu verfolgen, kam ihm kaum in den Sinn. Es wäre unvorstellbar gefährlich gewesen, selbst wenn er gewusst hätte, wie er es hätte anstellen können. Für eine Sekunde, zwei Sekunden hatten sie einen zweideutigen Blick ausgetauscht, und das war es auch schon. Aber selbst das war ein denkwürdiges Ereignis in der abgeschirmten Einsamkeit, in der man leben musste.

Winston rappelte sich auf und setzte sich gerade hin. Er stieß einen Rülpser aus. Der Gin rumorte in seinem Magen.

Sein Augenmerk richtete sich wieder auf die Seite vor ihm. Er entdeckte, dass er, während er in hilflosem Grübeln dagesessen hatte, etwas geschrieben hatte, ganz mechanisch. Und das war nicht mehr die verkrampfte, unbeholfene Handschrift wie zuvor. Seine Feder war überschwänglich über das glatte Papier geglitten und hatte in großen, sauberen Buchstaben geschrieben:

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDERNIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDERNIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDERNIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDERNIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

Immer und immer wieder, eine halbe Seite füllend.

Unwillkürlich erfasste ihn ein Anflug von Panik. Das war im Grunde genommen absurd, denn das Schreiben gerade dieser Worte war nicht gefährlicher als sein erster Schritt, überhaupt ein Tagebuch anzulegen, aber für einen Moment war er versucht, die verunstalteten Seiten herauszureißen und die ganze Sache aufzugeben.

Er tat es jedoch nicht, weil er wusste, dass es zwecklos war. Ob er nun NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER schrieb oder nicht, machte keinen Unterschied. Ob er mit dem Tagebuch fortfuhr oder ob er es nicht weiterführte, war ebenfalls egal. Die Gedankenpolizei würde ihn sowieso erwischen. Er hatte – selbst, wenn er nie etwas zu Papier gebracht hätte – das Kapitalverbrechen begangen, das alle anderen in sich vereinte. Gedankenverbrechen nannten sie es, in Neusprech Denkbrech. Gedankenverbrechen konnte man auf Dauer nicht geheim halten. Man konnte ihnen für eine Weile, vielleicht sogar einige Jahre lang, erfolgreich entkommen, aber früher oder später erwischten sie einen doch.

Es geschah immer nachts – die Verhaftungen fanden stets nachts statt. Das plötzliche Aufschrecken aus dem Schlaf, die grobe Hand, die einen an der Schulter packte, die grellen Taschenlampen, die in den Augen blendeten, der Kreis von harten Gesichtern um das Bett. In den allermeisten Fällen gab es keinen Prozess, noch nicht einmal einen Bericht über die Verhaftung. Die Menschen verschwanden einfach, immer in der Nacht. Ihr Name wurde aus den Registern gestrichen, jegliche Aufzeichnungen über alles, was sie jemals getan hatten, wurden gelöscht, ihre gesamte Existenz wurde geleugnet und dann vergessen. Man wurde abgeschafft, vernichtet: Vaporisiert lautete das gebräuchliche Wort dafür.

Einen kurzen Moment lang erlitt er eine Art von hysterischem Anfall. Er begann in einem hastigen, krakeligen Gekritzel zu schreiben:

sie werden mich abknallen mir doch egal sie werden mich mit einem genickschuss erledigen mir völlig wurscht nieder mit dem großen bruder sie knallen einen immer mit einem genickschuss ab is mir echt egal nieder mit dem großen bruder –

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ein wenig beschämt über sich selbst, und legte den Federhalter nieder. Im nächsten Augenblick zuckte er heftig zusammen. Es klopfte an der Tür.

Jetzt schon! Er saß mucksmäuschenstill da, in der vergeblichen Hoffnung, dass der draußen Stehende nach einem einzigen Versuch weggehen würde. Aber nein, es klopfte erneut. Das Schlimmste wäre es nun zu zögern. Sein Herz hämmerte wie eine Trommel, aber sein Gesicht war, aus langer Gewohnheit, wahrscheinlich ausdruckslos. Er stand auf und ging schleppend zur Tür.

1 Neusprech war die offizielle Sprache Ozeaniens. Eine Darstellung seiner Struktur und Etymologie findet sich im Anhang.

KAPITEL 2

Als er seine Hand an den Türknauf legte, sah Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch liegen gelassen hatte. NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER stand über die ganze Seite verteilt, in so großen Buchstaben, dass man es auch von der anderen Seite des Zimmers aus lesen konnte. Was für eine unvorstellbare Dummheit. Doch noch nicht einmal in seiner Panik hatte er das cremefarbene Papier verschmieren wollen, indem er das Buch schloss, während die Tinte noch feucht war, wie ihm nun klar wurde.

Er holte tief Luft und öffnete die Tür. Sofort durchströmte ihn eine warme Welle der Erleichterung. Draußen stand eine blasse, zerknittert aussehende Frau mit strähnigem Haar und einem faltigen Gesicht.

»Ach, Genosse«, begann sie mit eintöniger Jammerstimme, »mir war so, als hätt ich Sie reinkommen hören. Könnten Sie vielleicht rüberkommen und sich mal den Abfluss unserer Küchenspüle ansehn? Der is verstopft und –«

Es war Mrs. Parsons, die Frau eines Etagennachbarn. (Die Anrede »Mrs.« wurde von der Partei missbilligt – man sollte jeden mit »Genosse« oder »Genossin« ansprechen –, aber bei einigen Frauen benutzte man die Anrede instinktiv.) Sie war eine Frau um die dreißig, sah aber wesentlich älter aus. Man hatte den Eindruck, dass sich in den Falten ihres Gesichts Staub angesammelt hatte. Winston folgte ihr den Gang hinunter. Diese unprofessionellen Reparaturarbeiten waren eine fast alltägliche Last. Die Wohnungen des Victory-Wohnblocks waren alt, etwa um das Jahr 1930 erbaut, und fielen langsam in sich zusammen. Der Putz blätterte ständig von den Decken und Wänden, die Leitungsrohre platzten bei jedem harten Frost, das Dach leckte bei Schnee, das Heizsystem lief grundsätzlich nur mit halber Leistung, wenn es aus wirtschaftlichen Gründen nicht ganz abgestellt wurde. Reparaturen, außer denen, die man selbst erledigen konnte, mussten von irgendwelchen entfernten Ausschüssen genehmigt werden, die es sogar schafften, das Wiedereinsetzen einer Fensterscheibe zwei Jahre lang hinauszuzögern.

»Is ja auch nur, weil Tom nich daheim ist«, murmelte Mrs. Parsons undeutlich.

Die Wohnung der Parsons war größer als die von Winston und auf eine andere Art und Weise schäbig. Alles sah irgendwie ramponiert und zertrampelt aus, als sei der Ort gerade von einem gewaltigen Ungetüm heimgesucht worden. Sportutensilien – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein geplatzter Fußball, eine verschwitzte, auf links gedrehte Sporthose – lagen überall auf dem Boden verstreut, und auf dem Tisch stapelte sich schmutziges Geschirr neben Schulheften mit Eselsohren. An den Wänden hingen die scharlachroten Banner der Jugendliga und der Spione sowie ein Plakat des Großen Bruders in voller Lebensgröße. Auch hier vernahm man den im ganzen Haus üblichen Geruch von gekochtem Kohl, doch hier war er von einem schärferen Schweißgeruch durchdrungen, der – das wusste man beim ersten Schnuppern, obwohl es sich kaum begründen ließ – der Schweiß eines im Augenblick abwesenden Menschen war. Im Nebenraum versuchte jemand, die Militärmusik, die immer noch aus dem Teleschirm kam, auf einem mit Klopapier bespannten Kamm mitzuspielen.

»Das sind die Kinder«, sagte Frau Parsons und warf einen etwas besorgten Blick auf die Tür. »Die warn heute noch nich draußen. Und natürlich –«

Sie hatte die Angewohnheit, ihre Sätze mittendrin abzubrechen. Das Spülbecken war fast bis zum Rand mit schmutzigem grünlichem Wasser gefüllt, das schlimmer als alles andere nach Kohl stank. Winston kniete sich davor und untersuchte die Winkelverbindung des Abflussrohrs. Er hasste es, mit seinen Händen zu arbeiten, und er hasste es, sich zu bücken, weil das bei ihm fast immer einen Hustenanfall auslöste. Mrs. Parsons sah ihm hilflos zu.

»Wenn Tom daheim wär’, hätte der dat im Nullkommanix repariert«, meinte sie. »So was macht dem Spaß. Er ist ja so geschickt mit seinen Händen, der Tom.«

Parsons war Winstons Arbeitskollege im Ministerium für Wahrheit. Er war ein fetter, aber aktiver Mann von lähmender Dummheit, ein Klotz voller schwachsinniger Begeisterung – eines dieser völlig bedingungslos ergebenen Arbeitstiere, von denen die Stabilität der Partei mehr noch als von der Gedankenpolizei abhing. Mit seinen fünfunddreißig Jahren war er gerade gegen seinen Willen aus der Jugendliga ausgeschlossen worden, und bevor er in die Jugendliga aufgestiegen war, hatte er es geschafft, ein Jahr lang über die festgesetzte Altersgrenze hinaus bei den Spionen zu bleiben. Im Ministerium war er auf einem untergeordneten Posten angestellt, für den keine Intelligenz erforderlich war, andererseits aber hatte er eine leitende Position im Sportausschuss und allen anderen Ausschüssen inne, die sich mit der Organisation von Gemeinschaftswanderungen, spontanen Demonstrationen, Sparkampagnen und freiwilligen Aktivitäten jeder Art befassten. Er erzählte einem gerne mit leisem Stolz zwischen zwei Pfeifenzügen, dass er in den vergangenen vier Jahren jeden Abend im Gemeinschaftszentrum gewesen sei. Ein überwältigender Schweißgeruch, eine Art unbewusstes Zeugnis für sein tatkräftiges Leben, umgab ihn auf Schritt und Tritt und blieb sogar von ihm zurück, wenn er längst gegangen war.

»Haben Sie einen Schraubenschlüssel?«, fragte Winston, während er an der Schraubenmutter der Winkelverbindung fummelte.

»Einen Schraubenschlüssel«, sagte Frau Parsons und wurde sofort unsicher. »Ich weiß nich, keine Ahnung. Vielleicht haben die Kinder –«

Mit lautem Stiefelgetrampel und einem weiteren Tröten auf dem Kamm stürmten die Kinder ins Wohnzimmer. Mrs. Parsons brachte den Schraubenschlüssel. Winston ließ das Wasser ablaufen und entfernte angewidert den Haarpfropfen, der das Rohr verstopft hatte. Er säuberte seine Hände so gut es ging unter dem kalten Leitungswasser und ging in das andere Zimmer zurück.

»Hände hoch!«, schrie eine wilde Stimme.

Ein hübscher, derb aussehender neunjähriger Junge war hinter dem Tisch hervorgesprungen und bedrohte ihn mit einer Spielzeug-Automatikpistole, während seine kleine, etwa zwei Jahre jüngere Schwester dieselbe Geste mit einem Stück Holz machte. Beide trugen blaue Shorts, graue Hemden und rote Halstücher, die Uniform der Spione. Winston hob die Hände über den Kopf, hatte dabei aber ein unbehagliches Gefühl, denn der Junge gebärdete sich derart bösartig, dass es längst kein Spiel mehr war.

»Du bist ’n Verräter!«, brüllte der Junge. »Du bist ’n Gedankenverbrecher! Du bist ’n eurasischer Spion! Ich knall dich ab, ich vaporisier’ dich, ich schick’ dich ins Salzbergwerk!«

Plötzlich sprangen beide um ihn herum und riefen »Verräter!« und »Gedankenverbrecher!«, wobei das kleine Mädchen jede Bewegung ihres Bruders nachahmte. Es hatte etwas Beängstigendes, wie das Herumtollen von Tigerbabys, die bald ausgewachsene Menschenfresser sein würden. In den Augen des Jungen lag eine berechnende Bösartigkeit, ein ganz offensichtliches Verlangen, Winston zu schlagen oder zu treten, und auch das Bewusstsein, fast groß genug dafür zu sein. Bloß gut, dass er keine echte Pistole hat, dachte Winston.

Mrs. Parsons Augen huschten nervös zwischen Winston und den Kindern hin und her. Im besseren Licht des Wohnzimmers bemerkte er erstaunt, dass sich tatsächlich Staub in ihren Gesichtsfalten angesammelt hatte.

»Die machen wieder einen Radau«, sagte sie. »Sind enttäuscht, weil sie das Hängen nich sehn können. So isses. Ich hab zu viel zu tun, um mit ihnen hinzugehn, und Tom kommt nich früh genug von der Arbeit heim.«

»Wieso könn’n wir nich beim Hängen zugucken?«, blaffte der Junge mit seiner kräftigen Stimme.

»Hängen guckn, Hängen guckn«, sang das kleine Mädchen, das immer noch herumhüpfte.

Winston fiel ein, dass an diesem Abend einige eurasische Gefangene, denen Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden, im Park gehängt werden sollten. Dergleichen geschah ungefähr einmal im Monat und war ein beliebtes Schauspiel. Kinder wollten immer unbedingt dort hingehen, um es sich anzusehen. Er verabschiedete sich von Mrs. Parsons und ging zur Tür. Aber er war noch keine sechs Schritte den Gang hinuntergegangen, als ihn etwas qualvoll schmerzhaft im Nacken traf. Es war, als hätte man ihm einen rot glühenden Draht ins Genick gestoßen. Er wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Mrs. Parsons ihren Sohn zurück in die Wohnung zerrte, während der Junge eine Schleuder in die Tasche einsteckte.

»Goldstein!«, brüllte der Junge, als sich die Tür schloss. Was Winston jedoch am meisten betroffen machte, war der Ausdruck hilfloser Angst auf dem gräulichen Gesicht der Frau.

Zurück in der Wohnung ging er schnell am Teleschirm vorbei und setzte sich wieder an den Tisch, wobei er sich immer noch den Nacken rieb. Die Musik vom Teleschirm war verstummt. Stattdessen las eine abgehackte Militärstimme mit einem gewissen brutalen Vergnügen eine Beschreibung der Waffenbestückung der neuen Schwimmenden Festung vor, die gerade zwischen Island und den Färöer-Inseln verankert worden war.

Mit diesen Kindern, dachte er, musste die arme Frau ein schreckliches Leben haben. Noch ein Jahr, zwei Jahre, und sie würden sie Tag und Nacht nach Anzeichen von Parteiuntreue bespitzeln. Fast alle Kinder waren heutzutage schrecklich. Es war jedoch am schlimmsten, dass sie durch solche Organisationen wie die Spione systematisch zu unkontrollierbaren kleinen Wilden erzogen wurden, was in ihnen jedoch keinerlei Neigung erzeugte, gegen die Parteidisziplin zu rebellieren. Im Gegenteil, sie verehrten die Partei und alles, was mit ihr zusammenhing. Die Lieder, die Umzüge, die Banner, die Wanderungen, der Drill mit Übungsgewehren, das Brüllen der Parolen, die Verehrung des Großen Bruders – all das war für sie ein herrliches Spiel. Ihre gesamte Wildheit wurde nach außen gerichtet, gegen die Staatsfeinde, gegen Ausländer, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Es war fast normal, dass Menschen über dreißig Angst vor ihren eigenen Kindern hatten. Und das mit gutem Grund, verging doch kaum eine Woche, in der die Times keinen Bericht darüber enthielt, wie irgend so ein lauschender kleiner Petzer – Kinderheld war der allgemein verwendete Ausdruck dafür – eine kompromittierende Bemerkung aufgeschnappt und seine Eltern bei der Gedankenpolizei denunziert hatte.

Der von der Schleuder verursachte Schmerz war abgeklungen. Winston griff halbherzig seinen Federhalter und fragte sich, ob ihm wohl noch etwas für sein Tagebuch einfallen würde. Plötzlich musste er wieder an O’Brien denken.

Vor Jahren – wie lange war es her? Sieben Jahre mussten es sein – hatte er geträumt, dass er durch einen stockdunklen Raum ging. Und jemand, der seitlich von ihm saß, hatte, als er vorbeiging, gesagt: »Wir werden uns an dem Ort treffen, wo keine Dunkelheit herrscht.« Dies wurde sehr leise, fast beiläufig gesagt – eine Feststellung, kein Befehl. Er war weitergegangen, ohne stehen zu bleiben. Merkwürdig war, dass die Worte damals im Traum keinen großen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Erst später und nur allmählich schienen sie an Bedeutung gewonnen zu haben. Er konnte sich jetzt nicht mehr erinnern, ob er O’Brien vor oder nach dem Traum zum ersten Mal gesehen hatte, und er konnte sich auch nicht mehr erinnern, wann er die Stimme zum ersten Mal als die von O’Brien identifiziert hatte. Aber auf jeden Fall war diese Identifikation erfolgt. Es war O’Brien, der aus der Dunkelheit zu ihm gesprochen hatte.

Winston hatte nie sicher sein können – auch nach dem flüchtigen Blickkontakt von heute Morgen konnte er dessen nicht sicher sein –, ob O’Brien ein Freund oder ein Feind war. Das schien nicht einmal allzu wichtig zu sein. Zwischen ihnen herrschte ein Einverständnis, das wichtiger war als Zuneigung oder Parteizugehörigkeit. »Wir werden uns an dem Ort treffen, wo keine Dunkelheit herrscht«, hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was das bedeutete, nur, dass es auf die eine oder andere Weise wahr werden würde.

Die Stimme aus dem Teleschirm brach ab. Ein Trompetensignal schmetterte klar und schön in die stille Luft. Die Stimme fuhr krächzend fort:

Achtung! Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit! Soeben hat uns eine Sondermeldung von der Malabar-Front erreicht. Unsere Streitkräfte in Südindien haben einen glorreichen Sieg errungen. Ich bin befugt zu berichten, dass durch diese militärische Operation das Kriegsende sehr wahrscheinlich in greifbare Nähe rückt. Es folgt die Sondermeldung –

Da muss noch irgendwas Schlechtes nachkommen, dachte Winston. Und in der Tat folgte auf eine blutrünstige Schilderung der vollständigen Vernichtung einer eurasischen Armee, bei der riesige Zahlen von Toten und Gefangenen genannt wurden, die Ankündigung, dass ab nächster Woche die Schokoladenration von dreißig auf zwanzig Gramm reduziert werden würde.

Winston rülpste erneut. Der Gin verlor an Wirkung und hinterließ ein hohles Gefühl. Der Teleschirm spielte nun lauthals »Ozeanien, du allein« – vielleicht um den Sieg zu feiern, vielleicht um die Erinnerung an die Schokoladenkürzung zu übertünchen. Es wurde von einem erwartet, dass man dabei die Habachtstellung einnahm. Aber an seinem derzeitigen Platz war Winston unsichtbar.

»Ozeanien, du allein« wich einer leichteren Musik. Winston ging zum Fenster hinüber, mit dem Rücken zum Teleschirm. Der Tag war immer noch kalt und klar. Irgendwo in der Ferne detonierte eine Raketenbombe mit einem dumpfen, widerhallenden Dröhnen. Zurzeit fielen etwa zwanzig oder dreißig von ihnen wöchentlich auf London.

Unten auf der Straße flatterte das zerrissene Plakat im Wind hin und her, und das Wort ENGSOZ wurde abwechselnd verdeckt und enthüllt. Engsoz. Die heiligen Prinzipien des Engsoz. Neusprech, Zwiedenk, die Veränderlichkeit der Vergangenheit. Er fühlte sich, als irre er in den Wäldern auf dem Meeresgrund umher, verloren in einer monströsen Welt, in der er selbst das Monster war. Er war allein. Die Vergangenheit war tot, die Zukunft war unvorstellbar. Welche Gewissheit hatte er, dass auch nur ein einziger lebender Mensch auf seiner Seite war? Und woher sollte er wissen, ob die Herrschaft der Partei nicht auf EWIG Bestand haben würde? Wie zur Antwort fielen ihm die drei Parolen auf der weißen Front des Ministeriums für Wahrheit ein:

KRIEG IST FRIEDENFREIHEIT IST SKLAVEREIUNWISSENHEIT IST STÄRKE

Er nahm ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück aus seiner Tasche. Auch dort waren in winziger, klarer Schrift dieselben Parolen eingraviert, und auf der anderen Seite der Münze prangte der Kopf des Großen Bruders. Selbst von der Münze aus verfolgten einen die Augen. Von Münzen, Briefmarken, Bucheinbänden, Bannern, Plakaten und Zigarettenschachteln – von überall verfolgten sie einen. Überall waren diese Augen, die einen beobachteten, und die Stimme, die einen umgab. Ob im Schlafen oder Wachen, beim Arbeiten oder Essen, drinnen oder draußen, im Bad oder im Bett – es gab kein Entkommen. Nichts gehörte einem außer den wenigen Kubikzentimetern im eigenen Schädel.

Die Sonne war weitergerückt, und die unzähligen Fenster des Ministeriums für Wahrheit, auf die das Licht nun nicht mehr schien, sahen so düster aus wie die Schießscharten einer Festung. Sein Mut verzagte angesichts dieses gewaltigen pyramidenartigen Baus. Er war zu mächtig, er konnte nicht gestürmt werden. Tausend Raketenbomben würden ihn nicht zertrümmern können. Er fragte sich wieder, für wen er das Tagebuch überhaupt schrieb. Für die Zukunft, für die Vergangenheit – für ein vielleicht nur imaginäres Zeitalter. Und vor ihm lag nicht der Tod, sondern die Auslöschung. Das Tagebuch würde zu Asche und er selbst zu bloßem Rauch zerfallen. Nur die Gedankenpolizei würde lesen, was er geschrieben hatte, bevor sie es aus der Welt und aus der Erinnerung tilgte. Wie konnte man an die Zukunft appellieren, wenn keine Spur von einem, nicht einmal ein anonymes, auf ein Blatt Papier gekritzeltes Wort, physisch fortbestehen konnte?

Der Teleschirm schlug vierzehn. In zehn Minuten musste er aufbrechen. Er musste um vierzehn Uhr dreißig wieder bei der Arbeit sein.

Seltsamerweise schien das Läuten der Stunde ihn mit neuem Mut erfüllt zu haben. Er war eine einsame Spukgestalt, die eine Wahrheit verkündete, die niemand jemals hören würde. Aber solange er sie ausdrückte, war auf eine unergründliche Weise die Kontinuität nicht unterbrochen. Nicht indem man sich Gehör verschaffte, sondern indem man bei Verstand blieb, führte man das Erbe der Menschheit fort. Er ging zurück zum Tisch, tauchte seine Feder ein und schrieb:

An die Zukunft oder die Vergangenheit, an eine Zeit, in der die Gedanken frei sind, in der sich die Menschen voneinander unterscheiden und nicht allein leben – eine Zeit, in der die Wahrheit existiert und das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann: Grüße aus dem Zeitalter der Uniformität, aus dem Zeitalter der Einsamkeit, aus dem Zeitalter des Großen Bruders, aus dem Zeitalter des Zwiedenkens!

Er war bereits tot, überlegte er. Es schien ihm, dass er erst jetzt, wo er damit begonnen hatte, seine Gedanken zu formulieren, den entscheidenden Schritt getan hatte. Die Folgen jeder Handlung sind bereits in der Handlung selbst enthalten. Er schrieb:

Gedankenverbrechen hat nicht den Tod zur Folge: Gedankenverbrechen IST der Tod.

Jetzt, da er sich als Toten erkannt hatte, wurde es wichtig, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Zwei Finger seiner rechten Hand waren mit Tinte beschmiert. Durch genau solche Kleinigkeiten konnte man sich verraten. Irgendein herumschnüffelnder Fanatiker im Ministerium (wahrscheinlich eine Frau: jemand wie die kleine, rotblonde Frau oder das schwarzhaarige Mädchen aus der Romanabteilung) könnte sich fragen, warum er während der Mittagspause geschrieben hatte, warum er einen altmodischen Federhalter benutzt hatte, WAS er geschrieben hatte – um dann an zuständiger Stelle einen Wink zu geben. Er ging ins Bad und schrubbte die Tinte sorgfältig mit der grobkörnigen dunkelbraunen Seife ab, die einem die Hand wie Schmirgelpapier aufscheuerte und daher für diesen Zweck bestens geeignet war.

Er legte das Tagebuch in die Schublade. Der Gedanke, es zu verstecken, war vollkommen sinnlos, aber er konnte zumindest sicherstellen zu bemerken, ob seine Existenz entdeckt worden war oder nicht. Ein quer über die Seitenenden gelegtes Haar war zu offensichtlich. Mit der Fingerspitze tupfte er ein kaum erkennbares weißliches Staubkörnchen auf und legte es auf die Ecke des Einbandes, wo es herunterfallen musste, wenn jemand das Buch berührte.

KAPITEL 3

Winston träumte von seiner Mutter.

Er musste, so dachte er, zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter verschwunden war. Sie war eine große, stattliche, recht stille Frau mit langsamen Bewegungen und glänzendem blondem Haar gewesen. An seinen Vater erinnerte er sich nur noch undeutlich als dunkelhaarig und dünn, stets in adrette dunkle Anzüge gekleidet (Winston entsann sich besonders der hauchdünnen Schuhsohlen seines Vaters) und bebrillt. Die beiden mussten offenbar einer der ersten großen Säuberungsaktionen der Fünfzigerjahre zum Opfer gefallen sein.

In diesem Moment saß seine Mutter an irgendeinem Ort tief unter ihm, seine kleine Schwester im Arm. Er erinnerte sich an seine Schwester nur noch als ein winziges, schwaches Baby, immer still, mit großen, wachsamen Augen. Beide blickten zu ihm auf. Sie befanden sich an einem unterirdischen Ort – auf dem Grund eines Brunnens vielleicht oder in einem sehr tiefen Grab –, es war jedoch ein Ort, der, obwohl er ohnehin weit unter ihm war, immer weiter nach unten sank. Sie befanden sich im Saal eines sinkenden Schiffes und sahen durch das immer dunkler werdende Wasser zu ihm auf. Noch war Luft in dem Raum, noch konnten sie ihn sehen, so wie er sie, doch sie sanken immer tiefer hinab, hinab in das grüne Wasser, das sie im nächsten Moment für immer dem Blick entziehen musste. Er war draußen im Licht und in der Luft, während sie in den Tod hinuntergezogen wurden, und sie waren dort unten, weil er hier oben war. Er wusste es, und sie wussten es, und er konnte dieses Wissen in ihren Gesichtern lesen. Doch weder in ihren Gesichtern noch in ihren Herzen lag ein Vorwurf, nur das Wissen, dass sie sterben mussten, damit er am Leben bleiben konnte, und dass dies ein Teil der unvermeidlichen Ordnung der Dinge war.

Er konnte sich nicht erinnern, was geschehen war, doch in seinem Traum wusste er, dass in irgendeiner Weise das Leben seiner Mutter und das seiner Schwester für das seine geopfert worden waren. Es war einer jener Träume, die, unter Beibehaltung der typischen Traumszenerie, eine Fortsetzung des Gedankenlebens darstellen und in denen man sich der Tatsachen und Vorstellungen gewahr wird, die einem auch nach dem Erwachen noch neu und wertvoll erscheinen. Winston erkannte auf einmal, dass der Tod seiner Mutter vor fast dreißig Jahren auf eine heute nicht mehr mögliche Weise tragisch und schmerzlich gewesen war. Tragik, so erkannte er, gehörte in die alte Zeit, in eine Zeit, in der es noch Privatsphäre, Liebe und Freundschaft gab und in der die Mitglieder einer Familie einander beistanden, ohne nach dem Grund zu fragen. Die Erinnerung an seine Mutter zerriss ihm das Herz, weil sie aus Liebe zu ihm gestorben war, weil er zu jung und egoistisch gewesen war, um ihre Liebe zu erwidern, und weil sie sich irgendwie – wie genau, wusste er nicht mehr – einer persönlichen und unerschütterlichen Vorstellung von Loyalität geopfert hatte. So etwas konnte heute nicht mehr vorkommen, wie er erkannte. Heute gab es Angst, Hass und Schmerz, aber keine wertvollen Gefühle, kein tiefes oder schweres Leid. All dies schien er in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester zu lesen, die ihn durch das grüne Wasser anblickten, bereits viele Hundert Faden tief unten und noch immer tiefer sinkend.

Plötzlich stand er auf einem kurzen, federnden Rasen, an einem Sommerabend, an dem die schräg einfallenden Sonnenstrahlen die Erde vergoldeten. Die Landschaft, auf die er blickte, tauchte in seinen Träumen so häufig auf, dass er nie ganz sicher war, ob er sie in der realen Welt gesehen hatte oder nicht. In seinen wachen Gedanken nannte er sie das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchenbauten durchzogene Weide, mit einem Fußpfad, der hindurchführte, und hier und da einem Maulwurfshügel. In der verwilderten Hecke auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes wiegten sich die Zweige der Ulmen sehr sanft in der milden Brise, und ihre Blätter wogten in dichten Wellen wie Frauenhaar. Irgendwo in der Nähe, wenn auch außer Sichtweite, plätscherte ein klarer, träge fließender Bach, in dessen Tiefen sich Weißfische unter den Weidenbäumen tummelten.

Das Mädchen mit dem schwarzen Haar kam über das Feld auf ihn zu. Mit scheinbar einer einzigen Bewegung riss sie sich die Kleider vom Leib und warf sie verächtlich beiseite. Ihr Körper war weiß und glatt, aber er weckte kein Verlangen in ihm, ja, er warf kaum einen Blick darauf. Denn was ihn in diesem Augenblick fesselte, war die Bewunderung für die Geste, mit der sie ihre Kleider weggeschleudert hatte. Mit ihrer Anmut und Unbekümmertheit schien sie eine ganze Kultur, ein ganzes Denksystem wegzuwischen, als ob der Große Bruder und die Partei und die Gedankenpolizei mit einer einzigen prächtigen Armbewegung ins Nichts gefegt werden könnten. Auch das war eine Geste aus der alten Zeit. Winston wachte mit dem Wort »Shakespeare« auf den Lippen auf.

Aus dem Teleschirm ertönte ein ohrenbetäubendes Pfeifen, das dreißig Sekunden lang in gleicher Höhe anhielt. Es war genau sieben Uhr fünfzehn, Aufstehzeit für Büroangestellte. Winston wälzte seinen Körper aus dem Bett – nackt, denn ein Mitglied der Äußeren Partei erhielt nur dreitausend Kleidermarken pro Jahr, und ein Schlafanzug kostete sechshundert – und schnappte sich ein schmuddeliges Unterhemd und ein Paar Shorts, die auf einem Stuhl lagen. In drei Minuten begann die Morgengymnastik. Im nächsten Augenblick krümmte er sich unter einem heftigen Hustenanfall, der ihn fast immer kurz nach dem Erwachen befiel. Dadurch wurden seine Lungen so vollständig leer gepumpt, dass er erst wieder richtig atmen konnte, wenn er sich auf den Rücken legte und eine Reihe tiefer Atemzüge nahm. Seine Adern waren von der anstrengenden Husterei geschwollen, und das Krampfadergeschwür hatte zu jucken begonnen.

»Gruppe dreißig bis vierzig!«, kläffte eine durchdringende Frauenstimme. »Gruppe dreißig bis vierzig! Nehmen Sie bitte Ihre Plätze ein. Die Dreißig- bis Vierzigjährigen!«

Winston nahm stramme Haltung vor dem Teleschirm an, auf dem bereits das Bild einer recht jungen, dürren, aber muskulösen Frau in Kasack und Turnschuhen erschienen war.

»Arme beugen und strecken«, kommandierte sie. »Im Takt mit mir. Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! Los, Genossen, etwas schwungvoller! Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! ...«

Der Schmerz des Hustenanfalls hatte Winstons Traumeindrücke noch nicht ganz aus seinem Gedächtnis verdrängt, und die rhythmischen Gymnastikbewegungen ließen sie nun wieder zurückkehren. Während er mechanisch seine Arme beugte und streckte und auf seinem Gesicht den Ausdruck grimmigen Vergnügens trug, der während der Morgengymnastik als angemessen erachtet wurde, versuchte er angestrengt, sich die verschwommene Zeit seiner frühen Kindheit ins Gedächtnis zu rufen. Das war außerordentlich schwierig. Alles, was jenseits der späten Fünfzigerjahre lag, war verblasst. Wenn es keine äußerlichen Bezugspunkte gab, an die man sich halten konnte, verlor sogar der Verlauf des eigenen Lebens seine Schärfe.