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Elisabetha verliebte sich unsterblich, bis sie durch Behauptungen anderer verunsichert wird. Hält sie an ihm fest oder nimmt sie Rache? Manchmal ist es auf dem Weg der Rache besser, wenn man über ein Hindernis stolpert. Heraklion ist ein Prahlhans. Insbesondere prahlt er damit, einen Riesen zur Strecke gebracht zu haben. Obwohl er allen Ernstes behauptet, der Riese hätte ihm den Kopf abgebissen, zahlt ein Gast in einer Kneipe ihm viele Portionen Bratwurst, damit er seine unglaubliche Geschichte erzählt. Und so, wie er es erzählt, kann es unmöglich ein Märchen sein. Erzählt wird auch, wie ein hartgesottener Geldeintreiber durch den zufälligen Anblick einer leeren Bank einen unerwarteten Blick in den Abgrund seiner Schuld wirft und wie er auf einen weisen Richter trifft, der ihn nicht freispricht. Ob nun Blut fließt oder jemand die Liebe entdeckt oder staunend vor einem Mysterium steht: Immer nehmen die Geschichten in diesem Buch unerwartete Wendungen, bis sie an einem Ruhepunkt ankommen.
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Manchmal gibt ein Traum, machmal eine Auffälligkeit am Rande des Gesichtsfeldes, manchmal ein scheinbar belangloses Wort, das jemand zufällig hört, den Anlass dafür, dass etwas unaufhaltsam ins Rollen kommt, bis man es am Rande eines Abgrundes vorfindet, vor dem es gerade noch zum Stehen kommt oder auch nicht.
Ob nun Blut fließt oder jemand die Liebe entdeckt oder staunend vor einem Mysterium steht: Immer nehmen die Geschichten in diesem Buch unerwartete Wendungen, bis sie an einem Ruhepunkt ankommen.
Flankiert werden die Geschichten von 38 Abbildungen von - teils digital bearbeiteten - Öl- bzw. Acrylbildern von E. Kayser.
Egon Kayser ist Maler (Ausstellungen seit 2006), Autor von Romanen („Labile Anordnung“, „Berbelin und der Drache Dracoaureus“), Kurzgeschichten („Der Mann mit dem Mehlgesicht“), Sachbüchern (Kreativität in der Malerei, Psychologie) und akkreditierter Supervisor für tiefenpsychologische Psychotherapie.
Nach Abitur Studium der Psychologie, Abschluss Dipl.-Psych. und Dr. Phil. Nach Arbeit in Forschung und Privatschule (Ergotherapie- und Logopädielehranstalt) einige Jahre Leitender Pschologe einer Psychosomat. Klinik, dann viele Jahre als Psychoanalytiker in Praxis niedergelassen bis Ende 2017.
15 Kurzgeschichten
mit Bildern von E. Kayser1
1 Allen Abbildungen außer denen im Kapitel „Hochsitz“ liegen von mir gemalte Öl- und Acrylbilder zugrunde, die ich teils nicht, teil mäßig, teils stark digital bearbeitet habe. Grundlagen der Abbildungen der Geschichte „Hochsitz“ sind zwei von mir angefertigte Fotos. Zu meinen Bildern und Romanen siehe https://egon-kayser.wixsite.com/meinewebsite.E.K.
für Anja
Bootsfahrt
HeraklionTonda und der Kampf mit dem Riesen
Folgen einer Vernissage
Schwebung
Nachstellungen
Trümmer
Museumsspiele
Der Trichter
Der Hochsitz
Brüche
Kunst
Dornen im Dickicht
Die lange Tafel oder
:
Das Mysterium der Dehnung des Augenblicks
Nacht
Der Fisch
Die Handlungsabläufe und Personen in den Kurzgeschichten sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Personen wären reiner Zufall.
Zugunsten einer flüssigen Schilderung wird manchmalg das vom biologischen oder psychologischen Geschlecht abstrahierende generische Maskulinum benutzt; inbegriffen und gemeint sind in diesen Fällen immer alle Geschlechter.
Ob sie rudern konnte? Sie war zwar das, was man gewöhnlich als Landratte bezeichnete, aber sie konnte doch ein Boot von der Stelle bringen, es vorwärtsbewegen. - Andererseits: Wer konnte das nicht! Rudern, staken, paddeln, wie auch immer. Sie hatte das kleine Boot ins Wasser geschoben und gewendet, war hineingeklettert, hatte sich mit dem Rücken zum Bug auf die harte Holzbank gesetzt, hatte jetzt das Ufer im Blick, wusste hinter sich in der Ferne den Horizont, paddelte erst nur ein wenig, kam aber auch damit voran, das Boot tat, was sie wollte, saß dann für einen Augenblick ruhig da und versuchte, sich - ohne selbst etwas zu tun - dem Schaukeln zu überlassen und es zu genießen.
Du musst den Fluss nicht anschieben, er fließt von selbst, dachte sie, hatte aber dann bald den Eindruck, es fühle sich besser an, wenn sie selbst dem Boot ihren Willen aufzwang. Wenn kein Wind weht, musst du rudern, dachte sie und lachte bei dem Eindruck, ihr Hirn habe inzwischen wohl für jede innerliche Lage ein Sprichwort bereit.
Dann drückte sie die Holme nach unten, die Ruderblätter hoben sich aus dem Wasser, sie beugte sich weit vor, streckte die Arme, ließ die Ruderblätter ins Wasser gleiten, zog sie durchs Wasser, indem sie sich zurücklehnte, entfernte sich vom Ufer, ohne es aus den Augen zu verlieren - noch war das so. Fühlte sich sicher, war beschwingt, keine Gedanken außerhalb des Rahmens, in dem sie sehen, hören, Salzwasser schmecken, die Bewegungen ihres Körpers spüren konnte. ‚Rudern muss man nicht lernen. Es folgt der Logik. Mechanik. Hebelgesetze.‘ So dachte es in ihr. ‚Ich bin die Ursache, das ist die Wirkung.‘ Eine einfache, befriedigende Erfahrung. Sie kontrollierte die Situation, die Situation folgte ihrer Körperbewegung, es herrschte hier eine beruhigende Klarheit. Und so fuhr sie hinaus, während der Strand schmaler und undeutlicher wurde. Das ging so eine Weile, es tat gut, es stellten sich der jungen Frau keine Fragen, eine Zeit lang nicht.
Dann jedoch lösten sich diese klaren Zusammenhänge auf. Es war erst nur ein ganz vager Zweifel an der eigenen Wirksamkeit. Machte das Boot plötzlich, was es wollte? Was die Strömungen wollten, der Wind? Aber wenn sie mehr Kraft aufwendete, konnte sie dem Boot doch einen kleinen Stoß nach vorn vermitteln, das beruhigte, aber nur für sehr kurze Zeit, dann war der Eindruck unabweisbar: Die Fahrt entwickelte zunehmend eine Art Eigenwilligkeit. Sie gewann den Eindruck, etwas zöge sie von selbst hinaus, vom Ufer fort. Für einen Moment schien es, sie hätte die Wahl, was sie darüber denken könnte: Mal dachte sie, das sei ja von Vorteil, sie müsse gar nichts mehr tun, aber dieser Gedanke unterbrach sich sofort selbst, ein Erschrecken unterbrach ihn, ein anderer Gedanke, nämlich die Frage, was sie denn bitte in der Mitte des Meeres tun solle, was sie dort verloren hätte, und jetzt spürte sie es deutlich: den ängstlichen Impuls, zu wenden und gegenzusteuern. Aber sie musste feststellen, dass der Sog bereits so groß, die Strömung von Land weg so stark geworden war, dass es ihr nicht einmal gelang, das Boot zu wenden. Völlig verschwunden war jedoch der andere Gedanke nicht: Von Zeit zu Zeit wollte ihr eine innere Stimme vorschlagen, sie könne es doch einfach genießen, die Strömung würde schon doch auch einmal nachlassen - dann folgte aber sogleich wieder Angst, und sie musste heftig mit sich ringen, dass sich die Angst nicht in eine Panik verwandelte. Sie hatte nun einige Zeit schon versucht, sich gegen das Geschehen zu stemmen, indem sie die Ruderblätter im Wasser kräftig nach vorn stieß, aber das schien gar nichts zu nützen. Die Einsicht stand wie eine schwarze Sonne über der See: Sie hatte die Kontrolle verloren.
Als das Ufer gänzlich hinter den Wellen versank, begann sie zu weinen. Das Boot wurde nach Westen getrieben, dorthin wanderte auch die Sonne, die in Wahrheit nicht schwarz war sondern sich vom grellen Weißgelb über ein freundliches Orange auf ein sattes Rot zubewegte, um schließlich im Meer zu versinken so pflegte man das jedenfalls trotz besseren Wissens zu nennen. Schien einem so. Bevor die Sonne das konnte, fuhr ihr die Frau aber noch ein Stück weit entgegen. Ach könnte ich doch, dachte sie, schneller rudern als sich die Sonne bewegt, es bliebe immer Tag, und dann könnte ich vielleicht irgendwann eine Insel sehen oder das andere Ufer. Anderes Ufer!
Sie wusste, dass es das hier nicht gab. Sie zog die Ruder ein. Was sie damit noch tun konnte, war sinnlos.
Sie irrte durch Raum und Zeit, nichts als Wasser um sie herum, es wurde dunkel, schließlich sah sie in der aufgrund der Wolken mondlosen Nacht so gut wie nichts mehr. Es kam ihr dann so vor, als würden sich Strömung und Wind beruhigen, aber was sollte sie nun mit der Ruhe? Sie hätte nicht gewusst, wohin rudern. Allenfalls dahin, wo es jetzt am dunkelsten aussah, da musste es wohl sein, ihr Ufer, ihr Land.
Phantasien von Meerungeheuern tauchten in ihr auf, sie lachte sie angestrengt weg. Sie war erschöpft, aber zugleich ängstlich, und so viel Adrenalin kreiste in ihren Adern, dass sie lange, sehr lange, nicht einschlief. Schließlich aber fielen ihr doch die Augen zu. Sie ruckte wieder hoch, dachte aber, dass Schlafen helfen würde, und sie versuchte, im Boot einen Platz zu finden, an dem sie liegen konnte. Doch die hölzernen Rippen des Bootsbodens standen heraus, an ein bequemes Liegen war nicht zu denken. Wenn sie einmal meinte, für ihren Körper eine gute Stellung gefunden zu haben, schmerzte nach wenigen Minuten irgendetwas, sie suchte eine neue Lage, und so ging das dahin. Sie lag dann quer im Boot rücklings auf dem Sitzbrett und stützte die Füße rechts und links auf dem Boden ab. Als der Schlaf sie übermannte, streckte sie die Füße aus, ihre Waden lagerten auf der Reling, die Füße ragten eine Weile in der Luft über dem Wasser an einer Bootsseite, dann rutschte sie unbeabsichtigt ein Stück nach vorn, und ihre Unterschenkel sackten ab, die Füße platschten ins kalte Wasser, sie schreckte mit einem spitzen Schrei wieder hoch. Zu schlafen gelang ihr allenfalls immer minutenweise, sie fühlte sich schrecklich, mal weinte sie, mal riss sie sich zusammen und setzte sich aufrecht hin. So vergingen die Stunden, in denen nichts weiter sonst geschah. Die See war ruhig.
Dann schrak sie hoch - irgendetwas war gegen das Boot gerumpelt. Sie blickte sich um, sah aber nichts, was das Geräusch hätte erklären können. Es hatte geklungen, als sei ein anderes Boot an ihres gestoßen.
Es blieb dann eine Weile wieder ruhig. Wolken hatten die letzten Sterne vertrieben, die Nacht war nun absolut schwarz. Dann hörte sie etwas:
Plopp, plopp, plopp.
Zweifellos waren das die Geräusche von Ruderblättern, die ins Wasser eintauchten.
„Ist da jemand?“, rief sie.
Dann hörten diese Geräusche auf, und es kam ihr so vor, als halte jemand den Bug fest; jedenfalls änderte sich das Schlingern des Bootes ein wenig, es ließ nach, so als sei das Bott nun befestigt worden. Der Bug war von ihren Augen nur zwei Meter entfernt, aber sie konnte nichts erkennen. Dann hörte sie es wieder aus etlichen Metern Entferung:
Plopp, plopp, plopp.
Ganz ohne Zweifel stammten die Geräusche vom Eintauchen von Ruderblättern eines anderen Bootes ins Wasser. Sie spürte einen Ruck des Bootes, scheinbar wurde es beschleunigt. Sie konnte spüren, dass es ruckweise gezogen wurde. All dies, die Geräusche, die Veränderungen der Druckempfindungen ihres Körpers da, wo er das Boot berührte, die Reaktionen ihres Gleichgewichtsempfindens, all dies, so empfand sie es nun, all dies zusammen war eine neue Sprache, es war eine Abfolge von Zeichen, die sie interpretierte, und sie las: Das Boot, in dem ich sitze, wird abgeschleppt. „Hallo, wer sind Sie?“, rief sie, und sie hörte ihre eigene traurige und ängstliche, erschöpfte Stimme, aber keine andere, keine Antwort. Sie rutschte von ihrer Sitzbank herunter auf ihre Knie. Der Boden war nass. Sie suchte Halt mit den Händen, bis sie den nassen Boden ertasteten. Sie kroch auf allen Vieren nach vorn. Sie gelangte zum Bug. Sie tastete mit den Händen herum und fand in der Mitte das Ende eines vierkantigen Holzbalkens, den Vordersteven - ein Wort, das sie nicht kannte -, und bei genauerem Tasten bemerkte sie, dass ein Tau mehrmals darum herumgewickelt war. Es lag so fest an, dass es gelang ihr nicht gelang, es zu lockern. Sie tastete weiter mit ihren Händen und fand heraus, dass das Tau nach vorn vom Boot wegging, und als sie die Hand darauflegte, fühlte sie die Stöße, die sie vorhin schon beim Sitzen wahrgenommen hatte, und die sie in ihrem Eindruck bestärken: Das Boot wurde von einem anderen Ruderboot abgeschleppt! Das geschah fast unhörbar, aber doch wahrnehmbar mit den verschiedenen anderen Sinnen. Hörbar war ein Plopp-plopp und manchmal ein wenig Schäumen von Wasser. Sie rief weiter und fragte, wer das da vorn sei, was er wolle, was das solle, wieso der Mensch nicht mit ihr rede… Es ängstigte sie so sehr, dass sie sich für einen Augenblick überlegte, ob sie nicht aus dem Boot springen sollte. Vielleicht war es besser, zu ertrinken als zu erfahren, was hier geschah.
Sie überlegte, ob im Boot irgendwo ein Messer sein könnte, aber da war keines. Sie erinnerte sich an ihre Wasserflasche. Sie begann, auf allen Vieren herumzukriechen und nach ihr zu suchen. Als sie sie ergriffen hatte, setzte sie sich hin und konzentrierte sich auf die Geräusche der Ruderblätter im Wasser. Sie hoffte, sie könne genauer orten, wo das rechte und wo das linke Blatt ins Wasser tauchte, aber das war unmöglich, und sie musste einsehen, dass sie die Glasflasche nur in die Richtung werfen konnte, aus der die Geräusche kamen. Aber sie hatte keine Ahnung, wie kräftig sie werfen musste. Sie hielt den Atem an, führte den Arm hoch und holte aus, dann schleuderte sie die Flasche nach vorn. Es gab keinen Aufschlag auf Holz, Metall, Plastik, es gab nur ein weiteres
Plopp,
und ob es wirklich von der Flasche verursacht wurde, konnte man allenfalls ahnen. Sie hatte eigentlich bereits vorher gewusst, dass das eine hilflose Aktion werden würde. Dann änderte sich an ihrer Lage stundenlang - jedenfalls fühlte es sich für sie so an, als seien es Stunden - nichts mehr. Hörbar blieben die Plopps, und im gleichen Rhythmus spürbar die leichten Züge nach vorn, kleine Beschleunigungen, denen kurze Verlangsamungen folgten, denen erneute Beschleunigungen folgten, eben dies ruckweise Abgeschlepptwerden. Sie hatte so etwas noch nie erlebt, aber sie hatte das Gefühl, als ließe sich alles, was sie hörte und empfand, genau lesen und entziffern, so als würde da eine Sprache gesprochen. Natürlich waren es keine digitalen sondern analoge Zeichen, die man als Fortbewegtwerden deuten konnte, ohne dass daraus ablesbar wurde, von wem die Bewegung ausging oder zu welchem Zweck sie erfolgte. Aber ihr war klar, dass es kein guter Zweck sein konnte, warum sonst hätte man nicht mit ihr gesprochen, warum sonst hätte man es unterlassen, sich zu erkennen zu geben. Also wollte man sie ausrauben, wahrscheinlich vergewaltigen, vielleicht töten oder all das zusammen. So wurde sie also denn doch lesbar, diese gespenstische Sprache ohne Sprachlaute, und gerade da, wo die Bedeutungen dieser Zeichen unklar waren, blieb einem nichts anderes übrig, als sie mit den eigenen Ängsten auszustaffieren, in die Lücken und Leerstellen drängten sich die bedrohlichen Gestalten, die in den Abgründen des eigenen Inneren lauerten. Lesbar wurden dunkelste Absichten. Aber darüber hinaus war nichts klärbar: Wie hatte man sie hier in der finsteren Nacht finden können? Wie hatte jemand das Boot dieser einsamen Nachtfahrerin sehen können? Woher war er oder sie gekommen? War es überhaupt nur eine Person oder handelte es sich um mehrere, die aber beharrlich schwiegen? Nein, das glaubte sie nicht. Sie glaubte, dass es ein einziger war, und zwar ein kräftiger Mann mit übelsten Absichten. Schleppte er ihr Boot wieder zurück ans Ufer? Gab es eine Insel hier, auf die er es zog? Lag irgendwo ein größeres Schiff im Wasser, von dem aus er gestartet war und zu dem er nun zurückruderte?
Das musste es sein, dachte sie. Und auf diesem Schiff hatte es ein Radargerät oder etwas Vergleichbares gegeben, mit dem er sie geortet hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, umso sicherer wurde sie, dass es so gewesen sein musste. Er wird sie auf das Schiff zerren und dort quälen, bevor er ihren Torso in Wasser werfen wird. Aber es kam ihr auch der Gedanke, dass er vielleicht nur bei Licht nachWertgegenständen suchen wollte, sie aber dann in ihrem Boot der See überlassen würde. Das wäre eine Erleichterung gegenüber dem, was jetzt geschah, dachte sie, aber das als Fortschritt zu werten, wäre auch absurd, denn dadurch würde sie auch kein Land gewinnen. Aber warum war er hergerudert, um ihr Boot „festzunehmen“, hatte aber keine Lampe mitgebracht? Und wieso war nun die Fahrt so weit? Er hätte ja mit einem Schiff näher heranfahren können. Je mehr sie hierüber nachgrübelte, umso unwahrscheinlicher kam es ihr dennoch vor, dass dieser Mann wirklich ein Schiff hier im Wasser liegen hatte. Das Nachdenken ermüdete sie noch mehr. Sie war restlos erschöpft und sank nun in sich zusammen.
Plopp-plopp-plopp….
Ein tiefer dunkler Schlaf bemächtigte sich ihrer. Sie sackte nach links auf die Ruderbank. Halb saß sie noch, halb lag sie da, in einer höchst unbequemen Haltung. So fand sie jedoch tatsächlich etwas Ruhe: in unmöglicher Lage, im Schlepptau ihres Peinigers, wie sie erwartete, inmitten der denkbar schwärzesten Nacht, ausgeliefert, hilflos. So schlief sie traumlos, begleitet von
plopp, plopp, plopp.
Als sie erwachte, schmerzte ihr ganzer Körper. Mühsam richtete sie sich auf und streckte sich. Als der Schmerz nachließ, fand sie ihre Situation völlig unverändert.
„Hallo? Hören Sie mich? Wollen Sie nicht verhandeln?“
Sie erkannte das als ihre eigene Stimme und musste über sich selbst lachen, und sie war sich sicher, dass er da vorn in seinem Boot grinsen musste. Sie hatte die Fantasie, dass dies nun ihr neues Leben sei. Die Fahrt würde niemals enden. Es würde niemals mehr hell werden. Es würde immer so weitergehen, sie würde verdursten und verhungern oder vorher vor Erschöpfung und Angst sterben. Ihr kam die Idee, ein wenig Verwirrung zu stiften.
„Wir brauchen etwas zu trinken, wir können nicht mehr!“, rief sie, aber natürlich vergebens. Genauso gut hätte sie um ein wenig Musik bitten können.
„Rolands Vater ist Polizist. Er wird alle Hebel in Bewegung setzen, uns zu finden“, log sie und kam sich zugleich lächerlich vor, peinlich. Dann wieder das monotone Eintauchen der Ruderblätter ins Wasser. Ihre Erschöpfung. Ihr Wegkippen zur Seite hin auf die Ruderbank. Minuten des Schlafs.
Sie erwachte, weil sich etwas geändert hatte. Die Wolken am Himmel hatten sich verzogen, der Sternenhimmel wurde erkennbar und vor allem: Der Mond war über ihr erschienen. Es war ein heller Vollmond, dessen Schein sie aus dem Schlaf gerufen hatte.
Sie richtete sich auf. Sie war so aufgeregt, dass sie diesmal die Schmerzen gar nicht bemerkte, die das Aufrichten verursachte. Sie spähte nach vorn. Erst sah sie das ausgespannte Tau im matten Mondlicht glänzen, ihr Blick folgte ihm, bis es sich in der Nacht verlor. Aber in derselben Richtung konnte sie nun etwas anders erkennen - oder besser gesagt: erahnen: ein schwankendes Etwas, von dem dieselben Geräusche ausgingen wie zuvor. Als sich ihre Augen an die neue Situation gewöhnt hatten, glaubte sie, vor sich ein Boot und darin zwei Gestalten zu erkennen. Beide wurden größer und kleiner, und das war der Fall, weil beide ruderten, denn die Veränderung der Silhouetten vollzog sich im Rhythmus der Wassergeräusche und im Rhythmus des Zuges am Boot der jungen Frau. Zwei Männer! Das konnten nur zwei Männer sein! Aber wieso sprachen sie kein Wort miteinander? Waren sie über ihre üblen Absichten so einig, dass es nichts weiter zu besprechen gab?
„Seid ihr taub?“ rief sie.
Nichts. Alles ging unverändert weiter. Sie hielt Ausschau. Hier und da glänzte die Wasseroberfläche im Mondlicht. Aber sonst war nichts zu sehen: Kein Land, kein Schiff. Das Licht hatte sie nicht weitergebracht. Wolken zogen am Mond vorbei. Es wurden bald mehr und mehr Wolken, und so verfinsterte sich der Himmel wieder so wie er zuvor gewesen war. Die kohlrabenschwarze Nacht hatte sie wieder. Schlaf, hochrucken, aufrichten, sich strecken, niedersinken, schlafen, davon träumen, dass sie selbstbewusst und im hellen Mittagslicht ihr Boot steuerte. Ach, wenn sich nur im Traum nicht ein dunkler Mond heimtückisch von hinten herangeschoben hätte, bis er es war, der sie vor sich hertrieb! So ging es weiter. Das musste es sein, ihr neues Leben. Aber ohne Wasser und Essen würde es nicht lange sein… Es folgte dann endlich eine längere Schlafphase, die sie bitter nötig hatte.
Sie träumte von festem Boden unter den Füßen. Von granitfarbenen Felsen, die sie umgaben. Ihr Traum wusste nichts mehr von einer in finsterer Nach dahinschwankenden Nusschale, die eine ratlose Schläferin in sich barg.
Sie erwachte erst, als ihr Körper irgendeine Veränderung registriert hatte. Sie schreckte hoch und richtete sich auf. Die Nacht war noch stockfinster, aber sie hörte absolut nichts, und sie spürte auch keinerlei Bewegung des Bootes.
Die See war still, kein Lüftchen regte sich. Sie lauschte lange in die Dunkelheit hinein: Nichts. Nach einiger Zeit beschloss sie, nach vorn zu kriechen, obwohl sie sich sehr kraftlos fühlte. Sie bekam dann den Vordersteven zu fassen, um den bei ihren vorigen Besuch hier vorn am Bug noch das Tau gewickelt war. Aber sie fand kein Tau.
Sie setzte sich am Bug auf die Planken und wartete. Sie tastete erneut nach dem Tau: Nichts. Sie begriff nicht. Sie saß da und schlief trotz ihres Durstes erneut ein und fiel in denselben Traum hinein, in dem sie ununterscheidbar mit der Bergwelt verschmolz. Für die Jahrhunderte war sie sicher in ihrem magischen Mantel, der sie mit seinen roten Flammen erwärmte und jedwede Gefahr von ihr fernhielt.
Sie wurde durch die ersten Sonnenstrahlen geweckt. Nein, nicht nur die Sonnenstrahlen hatten sie aufgeweckt, es war auch heftiger Ruck, der durch das Boot ging. Sie traute kaum ihren Augen: Sie war gestrandet. Der Bug hatte sich in feinen weißen Sand eingegraben. Der Strand, den sie vor sich sah, war ihr bekannt. Ihr Boot musste wohl, dachte sie, von einer Strömung von See zum Ufer hin erfasst und sie zurückgetrieben worden sein. Vor sich im Boot sah sie die Ruder liegen. Es kam ihr vor als lägen sie trocken und aufgeräumt da. Als wären sie nie benutzt worden, und für einen Augenblick dachte sie, die Ruder wollten sie in die Irre führen, verwirren, ihr vormachen, sie sei im Boot eingeschlafen und hätte sich niemals fortbewegt. Aber sie wollte sich nicht täuschen lassen. Sie blickte im Boot umher, aber sonst war nichts im Boot. Es konnte ja auch, dachte sie, keine Wasserflasche da sein, denn sie hatte sie ins Dunkel geschleudert, daran erinnerte sie sich, und zugleich kam ihr diese Erinnerung unwirklich vor. Sie kletterte heraus und taumelte dem nächstbesten Haus entgegen.
Niemand, auch er selbst nicht, wusste, was sein Name bedeutete oder woher er gekommen war. In seinem Ausweis stand ein völlig anderer und sozusagen völlig normaler Name, Antonio Tonda, wobei aber weder er noch sonst jemand diesen Vornamen benutzte. Es hieß, er habe erst den Namen Herkules annehmen wollen, da hätten aber ein paar Mädchen gelacht, und bei Herakles sei es auch nicht besser gewesen. Ob er sich aber den Namen Heraklion selbst ausgedacht oder ihn in einem Reiseprospekt gelesen hatte, war unbekannt, und Heraklion Tonda bewahrte Stillschweigen, indem er behauptete, er habe es vergessen, oder indem er, was eher anzunehmen ist, es wirklich vergessen hatte. Jedenfalls hätten die Mädchen darüber nicht mehr gelacht.
„Was war denn das für ein Riese?“, fragte ein kleiner Herr, der neben Heraklion an der Bartheke saß.
„Ein Riese, wie aus einem Märchenbuch entsprungen“, antwortete Heraklion. „Vier Meter hoch und gebaut wie ein Ölfass. Pranken wie Schraubstöcke in der Stahlfabrik, also solche, die nur verstellbar sind, wenn zwei starke Männer sich abmühen. Am Kopf rechts und links zwei Staken oder Hörner, oder waren das spitze Dolche, die Bestandteile eines Helms oder Huts waren? Ich weiß es nicht, was er, sein Leib, war und was Kleidung, was Kopf war und was Helm, das war alles nicht unterscheidbar, alles war ineinander verwachsen - vermutlich verwächst ja ein Helm mit einem Schädel, wenn man ihn jahrelang nicht absetzt. Jedenfalls ein Monstrum. Er führte eine Art Lanze mit sich, die er aber immer wieder in den Boden rammte, wenn er die Hände frei haben wollte, dann wieder herauszog wie Artus das Schwert Excalibur aus dem Felsblock. Jeder, der ihn von Weitem kommen sah, sprang sofort in das nächste Gebüsch und rührte sich einen ganzen Tag lang nicht mehr.“
„Lassen Sie mich raten“, sagte der kleine Mann an der Bartheke, der sich jetzt als Hennes Werner vorstellte. „Nur Ihnen war es nicht gelungen, ihm auszuweichen, und so kam es zum Kampf.“
„Falsch!“, meinte Heraklion. „Ich wollte es wissen.“
„Sie wollten es wissen!“, wiederholte der rundliche Herr Werner bedenklich und leerte ein weiteres Schnapsglas.
Da Heraklion nun schwieg, musste Werner nachhaken. „Sie forderten ihn zum Kampf heraus.“
„Das war nicht nötig. Sobald man in seiner Nähe war, kam es unweigerlich zum Kampf.“
„Oha!“
„Ja.“
Heraklion Tonda wollte es offenbar spannend machen, denn er schwieg erneut. Den Mann ärgerte das, denn er kam in die Rolle eines Bittstellers, zugleich war es anstrengend, dauernd nachzufragen, und es brachte einen um den Genuss, eine zusammenhängende Geschichte zu hören. Zudem wusste er nicht, worum es Heraklion dabei ging. Wollte er eingeladen werden, sozusagen für jeden Satz einen Schnaps, oder wollte er, dass der Andere sich erniedrigen und ihn immerzu bitten musste?
Eine junge Frau betrat die Bar. Obwohl sie offensichtlich recht hübsch war, war sie stark geschminkt und wirkte dadurch etwas ‚billig‘. Sie erblickte Heraklion und rief aus: „Ah, da bist du ja endlich!“
Heraklion erhob sich vom Barhocker, sagte, indem er sich bereits wegdrehte, zu dem Mann: „Entschuldigung, das ist wichtig!“, und ging auf die Frau zu. Frustriert bestellte Werner sich einen doppelten Schnaps.
‚Was soll ich mit einer halben Geschichte?‘ fragte er sich verärgert.
Was hätte der Geist der Erzählung ihm antworten können? Nun, ganz klar! ‚Erzähle dir die andere Hälfte selbst!‘
‚Aber ich weiß doch die Wirklichkeit nicht, die Wahrheit‘, klagte Hennes Werner in sich hinein, kam aber dann auf die Idee, dass das einen enormen Vorteil hätte: Er wäre kein Bittsteller mehr bei einem anderen Mann, allenfalls bei seiner eigenen Fantasie!
Er schaute zu Heraklion und der Frau hinüber. ‚Womöglich‘, dachte Werner, ‚erzählt er ihr die Geschichte, und ich bin darum betrogen!‘ Als er versuchte, sich so genau wie möglich vorzustellen, was Heraklion dieser Frau erzählen würde, bemerkte er sehr schnell, dass ihm das nicht gelang. Es wurde keine Geschichte daraus. Er fragte den Wirt, was der über die Begegnung zwischen Heraklion und dem Riesen wüsste, aber der meinte: „Es gibt gäbe keine Riesen. Nur in Märchen gibt’s die.“ Der Mann entschloss sich dann, zu dem Tisch der beiden zu gehen und, bevor er das Lokal verlassen würde, Klarheit für sich zu schaffen.
„Was wollen Sie?“ fragte Heraklion, als Werner am Tisch stand.
„Wann kann ich Sie hier wieder antreffen, damit Sie mir die ganze Geschichte erzählen?“
„Was für eine Geschichte?“ fragte neugierig die Frau.
„Ach nichts. Blödsinn!“, wimmelte Heraklion sie ab.
„Die Geschichte, wie Heraklion den Riesen besiegte“, sagte Werner vorlaut. Die Frau starrte ihn an und begann zu lachen.
„Ich sag‘ ja: Blödsinn!“ sagte Heraklion, dem das Ganze peinlich war.
„Also wann?“ insistierte der Mann.
„Wahrscheinlich bin ich übermorgen um acht wieder hier. Und jetzt lassen Sie uns in Ruhe!“
„Dann also bis übermorgen“, sagte der Mann, entschuldigte sich für die Störung und ging. Ob es nun wahr war oder Blödsinn, wie Heraklion der Frau gegenüber behautet hatte, hätte der Mann zwar furchtbar gern gewusst, musste nun aber warten. Und in den zwei Tagen, die er wartete, ging ihm immer wieder die Frage durch den Kopf, ob er ihm, Heraklion, wirklich würde glauben können. ‚Vielleicht werde ich ja im Moment seines Berichts völlig überzeugt sein. Was aber, wenn dieses Überzeugt-Sein zerbricht, sobald wir uns nicht mehr gegenübersitzen?‘ Ja, man kann mit Fug und Recht sagen, dass sich Hennes Werner mit solchen sinnlosen Überlegungen geradezu selbst folterte. Jeder wird sofort zustimmen, wenn man davon ausgeht, dass es sich schon weisen wird, wenn es so weit ist, nicht vorher, und nicht in der Theorie.
Zum angedeuteten Zeitpunkt betrat Werner das Gasthaus. Heraklion Tonda war - zumindest noch - nicht da. Der Mann hoffte nichts sehnlicher, als dass nicht wieder diese Frau auftauchen würde, und wartete.
Es verging fast eine halbe Stunde, bis sich die Tür wieder öffnete. Tatsächlich erschien Heraklion, und zwar allein. Er setzte sich gleich zu Werner, und dieser eröffnete das Gespräch, indem er fragte: „Wieso haben Sie bei der Frau gesagt, das sei alles Blödsinn?“
„Was soll ich mir die Mühe machen, sie davon zu überzeugen, dass es wahr ist? Man bräuchte viel zu viele Worte. Besser ist es in unserem Fall. Sie wissen bereits, dass es wahr ist.“
‚Ach ja?‘ dachte der Mann. ‚Weiß ich das schon?‘
„Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, ich nehme an, ich bin eingeladen?“
„Äh, ach ja, natürlich.“
Heraklion bestellte sich eine doppelte Portion Bratwurst mit Bratkartoffeln und ein großes Bier.
„Wir waren bis dahin gelangt, dass es sozusagen automatisch zum Kampf kam zwischen Ihnen beiden.“
„Also, das war so: Der Riese packte mich hinten am Kragen und hob mich drei bis vier Meter hoch in die Luft. Mein Hemd und meine Jacke knirschten, aber sie hielten mein Gewicht aus.“
„Guter Stoff“, bestätigte Werner.
„Der Riese drehte mich herum, indem er seine Hand etwas drehte, und ich schaute ihm direkt in die blutunterlaufenen Augen. Was hätte ich machen sollen? Wenn ich gestrampelt und ihn getreten hätte, hätte er mich womöglich dreieinhalb oder vier Meter tief fallen lassen. Wer weiß, was dann aus mir geworden wäre!“
Heraklion schmatzte mit seiner Bratwurst, ein wenig Fett lief ihm aus dem Mund heraus.
„Und was wollte er von Ihnen?“ fragte Werner.
„Das war mir nicht erkennbar. Nur, dass er und die ganze Situation mir Angst einflößten. Ich dachte, vielleicht ist er ein Sadist und ergötzt er sich daran.“
Werner schwieg und wartete ab. Er hatte sich vorgenommen, nicht ständig nachzufragen, denn er wollte nicht gleich wieder in diese Bittstellerrolle kommen. Heraklion fuhr fort:
„‚ Ich werde dir den Kopf abbeißen!‘ rief der Riese. Vielleicht hatte er auch gerufen ‚abreißen‘, ich weiß es nicht mehr genau, und vor allem wusste ich nicht, wieso er das wollte. Also jammerte ich: ‚Aber wieso? Ich habe dir doch gar nichts getan!‘ Das war natürlich albern, denn natürlich wusste er das selbst.“
„Ja, schon, aber Jeder würde das sagen!“
„Tatsächlich biss er mir den Kopf ab.“
Heraklion sagte das ganz nüchtern und trocken, sozusagen sachlich. Dem Mann stockte der Atem. Zuerst hatte er es für bare Münze gehalten, aber nur für einen ganz kurzen Moment.
Dann wusste er: Das war er jetzt, der Augenblick, der ihm seine Zweifel bestätigte.
„Klar, er biss den Kopf ab. Was sonst.“
„Sie glauben es nicht?“
„Mittelguter Witz!“
„Ist es nicht! Kein Jux!“
„Dann erklären Sie’s mir!“
Heraklion holte tief Luft, so wie jemand, der weit ausholen muss vor dem entscheidenden Schlag.
„Er zog mich an sich heran, bis mein Kopf in seinem Mund war, dann schien es mir, dass er zubiss, aber blitzschnell hatte er meinen Kopf wieder herausgezogen, und er biss erst zu, als ich heraus war mit dem Kopf. Mir schwanden die Sinne.“
‚Der weiß mit einem zu spielen‘, urteilte Werner ein wenig verärgert über sein Gegenüber. „Also biss er nicht wirklich!“, sagte er überflüssigerweise.
„Natürlich nicht!“, rief Heraklion laut und lachend aus. „Sonst säße ich doch nicht hier!“
‚Ist ja gut!‘, dachte Werner und schaute sich ängstlich um, wer vielleicht zuhörte, denn er wollte sich schließlich nicht blamieren.
„Aber die Sache ging nicht ganz glimpflich ab. Er erwischte mit seinen wirklich messerscharfen Schneidezähnen mein rechtes Ohr.“
Erst jetzt sah der Mann, dass seinem Gegenüber tatsächlich ein Ohr fehlte. ‚Ist ja wie bei Vincent van Gogh!‘, dachte er, ‚beide gleich verrückt!‘
„Oha!“ rief er aus.
„Ich blutete wie ein Schwein, was mich kurz wirklich glauben ließ, er hätte meinen Kopf abgebissen. Man weiß ja nicht, wie so was wirklich wäre. Blut, Schmerz, seine blutigen Zähne! Man denkt ja so schnell nicht logisch nach etwa der Art: ‚Wie hätte ich denn noch Augen, diese Zähne von außen zu sehen, wenn er meinen Kopf abgebissen hätte?‘ Soweit denkt man ja nicht in diesem Schrecken.“
„Klar.“
„Dann ging mir durch den Kopf, meine Augen sähen die blutigen Zähne vielleicht von innen her.“
„Wie das?“
„Na, im Mund des Riesen. Mein abgebissener Kopf würde noch rasch was sehen, bevor er verschluckt wird oder zerkaut. So was geht einem dann durch den Kopf. Jetzt weiß ich’s, vorher wusste ich das nicht.“
„Erfahrung macht klug.“
Heraklion kniff ein Auge zu und fixierte Werner mit dem anderen. Er hatte den Verdacht, sein Gegenüber nähme ihn hoch. Aber dann meinte er: „Dann sortierte mich der stechende Schmerz an der rechten Kopfseite. Das war real. Und ich sah meine Ohrmuschel auf der Zunge tief innen im Mund des Riesen. Können Sie sich vorstellen, wie schrecklich das war? Er versuchte dann, die Zunge mit dem Ohr darauf zwischen den Zähnen hindurch zu drücken, wahrscheinlich, um es auszuspucken. ‚He!‘, rief ich empört. ‚Das gehört mir!!‘ Er nahm die Ohrmuschel im Spitzgriff der freien Hand und hielt sie in die Luft. ‚Schau an, ein Ohr!‘ rief er und lachte. Blut - mein Blut! - spritzte dabei aus seinem Mund. Die Szene war vollkommen bizarr. Und wissen Sie, was er dann tat?“
Woher sollte Hennes Werner das jetzt schon wissen? Er sagte:
„Noch nicht!“
„Er versuchte, mir mein Ohr wieder anzupappen.“
„Furchtbar!“, sagte Werner. „Aber im Grunde auch fürsorglich.“
„Ich sagte: Er versuchte es. Es ging aber nicht.“
„Klar.“
„Es fiel runter auf die Erde. Mein Eigentum! Crox kam herbeigelaufen.“
„Crox?“
„Sein Hund. Ein Ungetüm. Riesiger Körper, langer dünner Hals, an dem sein Kopf hing als sei er nicht fest. Der Kopf wackelte zur Erde hin und ‚schlürfte‘ mein Ohr weg. Crox trottete davon. Ich sah ihn nie wieder.“
Der Mann starrte Heraklion ungläubig an. „Herr Tonda! Sein Hund fraß Ihr Ohr?“
„Ja, und verhinderte auf diese Weise, dass man es vielleicht noch angenäht hätte.“
„Sie müssen ja vor Wut gekocht haben“, sagte Werner einfühlsam und bekam das mit einem geknirschten „Das können Sie glauben!“ bestätigt. „Aber was nützte die Wut? Was hätte ich damit machen sollen? Ich hatte keine Waffe. Kein Messer, nichts. Er hielt mich noch immer vier Meter hoch in der Luft. Ich versuchte es mal auf die konventionelle Tour: ‚Könnten Sie wohl so nett sein und mich auf dem Boden absetzen, nachdem Sie mir schon das Ohr abgebissen haben? Ich muss was unternehmen, sonst verblute ich.‘ Der Riese aber sagte nur: ‚Ach was, das haben wir gleich.‘ Er wühlte mit der freien Hand in der Hosentasche und zog ein furchtbar schmutziges Taschentuch hervor. Es war sicher Jahre alt, hatte noch nie sauberes Wasser gesehen, und ich wollte gar nicht genauer wissen, was er damit schon alles aufgewischt hatte, vom Inhalt seiner seltsamen schnabelähnlichen Nase abgesehen. Das drückte er mir fest und schmerzhaft an die Seite meines Kopfes, eben dahin, wo mein geliebtes Ohr einstmals gesessen oder gehangen oder herausgestanden oder was auch immer hatte. Ich war sicher, im nächsten Augenblick an einer Blutvergiftung zu sterben.“
„Aber so kam es offensichtlich nicht.“
„Ich versuchte es nochmal: ‚Würden Sie mich trotz dieser heilsamen Druckbehandlung bitte absetzen?‘
‚Damit du mir wegrennst?‘ fragte der Riese lachend.
Ich vergegenwärtigte mir, dass er wohl kaum erst die Blutung an meinem Kopf stillen und mich dann umbringen würde, das passte nicht zusammen, also schöpfte ich immerhin ein wenig Mut.“
Heraklion hatte alles aufgegessen und getrunken und schaute auf die Uhr. „Für diesmal soll das reichen“, sagte er. „Ich muss weg. Wir sehen uns hier wieder. Dann geht’s weiter.“
Und schon im Gehen grinste er: „Mit neuen Bratwürsten!“
So war das also. Werner dachte: ‚Häppchenweise verkauft er seine Geschichte, die doch unmöglich wahr sein kann. - Obwohl: Das Ohr fehlt ja nun wirklich.‘ Irgendwie glaubte er ihm und zugleich nicht. Aber konnte man eine solche Geschichte überhaupt glauben? Konnte man Heraklion einen vier Meter hohen Riesen abnehmen? Als er anderntags wieder in die Wirtschaft kam, sah Werner die Dame allein am Tisch sitzen, die er früher mit Heraklion hatte sprechen sehen. Werner sprach sie so an: „Hallo! Eine Bekannte von Herrn Tonda!
Ich bin Hennes Werner. Darf ich mich wohl kurz zu Ihnen setzen?“
Die Frau machte eine zustimmende Kopfbewegung, auch wenn sie dabei nicht gerade erfreut wirkte.
„Ja“, sagte er, „wir haben einen gemeinsamen Bekannten. Kennen Sie seine Geschichte vom Riesen?“
Die Frau antwortete sehr sachlich: „Riesen gibt es nicht. Sie können ja mal googeln. Manchmal ist das sinnvoller als Heraklion zu fragen oder zu glauben, was die Leute über ihn erzählen.“
„Sie scheinen nicht viel von ihm zu halten.“
„Als Orakel durchaus. Sie aber scheinen sich an ihn als einen Zeugen halten zu wollen. Das wird schwierig.“
„Als Zeuge der eigenen Tat taugt er nicht?“
„Nicht für Jeden. Für Sie vielleicht, aber das wird wie gesagt schwierig. Sie kommen nicht darum herum, das zu deuten, was er sagt. Ohne das wird’s nicht gehen. Wenn man es so nimmt wie er es sagt, als Rohdaten sozusagen, gerät man eher in Strudel.“
„Und was glauben Sie denn, für was der Riese steht?“, fragte Werner.
„Das kann Ihnen niemand sonst sagen. Vielleicht ist es wie bei einer Tarotkarte. Allerdings gibt es keine schlauen Bücher über Heraklion Tonda und Riesen, so wie es sie über die Große oder Kleine Arkana des Tarot im Überfluss gibt.“
„Man landet aber dann doch ganz im Subjektiven. Vielleicht sollte man das Deuten dann lieber gleich ganz lassen?“
„Dann müsste man es auch lassen, Märchen zu lesen.“ „Sie besprechen mit ihm wohl ganz andere Sachen?“
„Sie sind ziemlich neugierig, Herr Werner.“
„Entschuldigen Sie. Aber wissen Sie, ich bin von weit her angereist, weil ich jemanden erwähnen hörte, dass hier ein Mann sei mit einem griechischen Namen, der einem Riesen begegnet sei und ihn besiegt habe, und wenn man es richtig anstellte, könne man mit ihm, also mit Heraklion, sogar darüber reden.“
„Wissen Sie, was mich irritiert?“, fragte sie und gab gleich die Antwort: „Es wurde unweit von hier ein leerstehendes Haus entdeckt. Im Kühlschrank schimmelte alles Mögliche, also war der Bewohner lange nicht anwesend.“
„Das finden Sie so irritierend?“
„Das eigentlich irritierende war, dass die Zimmer fünf Meter hoch waren und dass Regale bis zur Decke reichten. Aber es gab keine Leiter. Verstehen Sie?“
„Womit der Riese aus dem Märchen in die Realität gehüpft wäre“, meinte der Mann.
„So kann man das sehen“, sagte sie.
„Bleibt nur die Frage, ob es der Einzige seiner Art war.“
„Keine Ahnung. Und überhaupt: Mehr weiß ich darüber auch nicht. Ich hatte mit Heraklion Anderes zu bereden.“
„Verstanden“, sagte der Mann, der sich damit ausgeladen fühlte, und entfernte sich. Es war ihm ohnedies mehr daran gelegen, Informationen aus erster Hand zu erhalten.
Er musste mindestens ein Dutzend Mal in die Wirtschaft kommen, bevor Heraklion auch einmal hereinkam. Er setzte sich ohne Umschweife zu Werner an den Tisch und sagte unverblümt: „Ich bin eingeladen?“ Natürlich war das nicht wirklich eine Frage.
„Bitte.“
Er bestellte sich dasselbe wie letztes Mal. „Also, fragen Sie!“ sagte er.
„War das der einzige Riese auf der Welt, was meinen Sie?“
„Nein, einmal versprach er sich und sagte ‚wir‘. Ich hakte natürlich sofort ein und fragte nach. ‚Ach nichts‘, sagte er. ‚Ich hab‘ mich bloß versprochen‘.“
Werner sagte: „Er hielt Sie also noch oben in der Luft und drückte ein Taschentuch gegen die Wunde an Ihrem Kopf, da, wo vorher das Ohr gewesen war. Und was geschah dann?“
Heraklion: „Der Riese sagte: ‚Das mit dem Ohr, das war nur ein bisschen Spaß. Normalerweise bin ich nicht so.‘ - ‚Nicht so …? Nicht so brutal?‘ fragte ich. - ‚Nicht so zaghaft‘, sagte der Riese. ‚Ich weiß auch nicht, was mich bei dir bremst. Normalerweise wärst du schon längst weg, verschwunden, ich brauche keine Zeugen.‘ - ‚Zeugen, für was?‘ - ‚Na dafür, dass es mich gibt. Wir bleiben lieber im Hintergrund.‘“
„Da war es, das ‚wir‘!“ rief der Mann.
„Ja, das war diese Stelle im Gespräch. Also, das hatten wir ja schon besprochen. Weil er das mit dem Wir also gleich wieder zurückgenommen hatte, ersparte ich mir eine Frage, die mir auf der Zunge lag.“
Heraklion schmatzte inzwischen wieder beim Essen und bestellte sich ein weiteres Bier. Von sich aus fuhr er dann fort: „Ich hätte ihn nämlich sonst gefragt, ob er eigentlich eine Frau hatte. Aber egal. Ich hatte immer noch gehörige Angst.“ Nun hatte er den Mund zu voll, um weiterzusprechen. Werner betrachtete ihn schamlos und wartete ab, was aus dem fetttriefenden Mund weiter zu erfahren sein würde.
„Dann geschah etwas Überraschendes. Der Riese setzte mich auf dem Boden ab. Er ahnte aber währenddessen - und es dauert ja eine Weile, bis man jemanden aus vier Meter Höhe zum Boden bringt -, dass ich das Weite suchen würde, und deshalb sagte er während meiner Reise abwärts: ‚Wenn du versprichst, nicht wegzulaufen und, sobald wir uns trennen, zur noch zu vereinbarenden Zeit wieder zu kommen, setze ich dich ab.‘
‚Ich verspreche es‘, versicherte ich, Ohr hin, Ohr her, aber ich hätte in diesem Augenblick wohl alles versprochen. Auf meinen Füßen angekommen, begann ich heftig zu schwitzen, denn ich konnte den Konflikt nicht lösen, weg zu wollen, aber mich an mein Wort, nicht wegzulaufen und sogar erneut herzukommen, gebunden zu fühlen. Ich sah schnell ein, dass ich mich entscheiden musste, also blieb ich. Mir war zwar überhaupt nicht klar, was er eigentlich von mir wollte, aber ich spürte immerhin, dass sich meine Lage verbessert und die Situation sich ein klein wenig entspannt hatte.
‚Wegen des Ohrs fühle ich mich in deiner Schuld’ sagte der Riese überraschenderweise. ‚Tut sicher noch weh?‘ - ‚Ja, sehr‘, bestätigte ich wahrheitsgemäß und war äußerst erstaunt über diesen Anflug von Mitgefühl. Aber der Eindruck war doch vorrangig, dass ich ihm und diesem freundlichen Geraune absolut nicht trauen konnte. Es fehlte nur, dass er fragte, was für eine Entschädigung ich für das abgerissene Ohr haben wollte.
‚Was weißt du von mir?‘ fragte der Riese.
‚Dass du mordest, lügst, Angst machst, erpresst, dass du aller Verbrechen schuldig und fähig bist, die wir Menschen für schwere Vergehen und Sünden halten.‘
Er war nicht besonders beindruckt, also auch nicht verärgert; an einem guten Leumund schien ihm nichts zu liegen.
‚Weißt du was‘, meinte er, ‚nächstes Mal gehst du einfach mal mit mir. Du begleitest mich auf einem kleinen Spaziergang.‘ Und das tat ich. Aber davon soll ein andermal die Rede sein, wenn du mich wieder zu Bratwurst und Bier einlädst.“
Heraklion sprach’s und entschwand. Werner aber blieb zurück und betrank sich. Der Wirt meinte, er habe Heraklion ja noch nie so gesprächig gesehen. „Hoffentlich ist er nicht nur ein Dampfplauderer.“ Werner focht das nicht an. Die Entscheidung, was dem Heraklion zu glauben war und was nicht, würde er schon irgendwann selbst treffen.