Kreativität - Egon Kayser - E-Book

Kreativität E-Book

Egon Kayser

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Beschreibung

Entwicklung einer Theorie der Kreativität in der Malerei: Persönlichkeits- und Situations-Bedingungen der Kreativität, innere Prozesse (kognitive und tiefenpsychologische Aspekte) beim kreativen Handeln. Anwendung der Theorie auf introspektive Vorgänge und über die Malerei im engeren Sinne hinaus.

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Seitenzahl: 557

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung und Ausblick

Malerfaktoren, Betrachterfaktoren, Kontextfaktoren

1.1. Determiniertheit und Autonomie im Kunstwerk

1.2. Der aktuelle situative Kontext von Bild und Maler bzw. von Bild und Betrachter

1.2.1. Der situative Kontext des Betrachters

1.2.2. Der situative Kontext beim Malen

1.2.2.1. Stile

1.2.2.2. Kulturelle Normen und Werte der Jeweiligen Zeit

1.2.2.3. Auftragssituation und soziale Position Des Malers

1.2.2.4. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit

1.3. Person-Merkmale von Maler und Betrachter

1.3.1. Kreativität als Persönlichkeitsdimension

1.3.2. Narzissmus

1.3.3. Die Bereitschaft und Fähigkeit, „loszulassen“, innere Kontrolle aufzugeben / „Exkretionslust“ und anderes Triebhafte

1.3.3.1. Überblick

1.3.3.2. „Trieb“ und Kunst

1.3.3.3. Abwehrmechanismen und Kunst

1.3.3.4. Primärprozess und Sekundärprozess

1.3.3.5. Charakterstrukturen

1.3.4. „Besetzung“ von Themen / Stilen

1.4. Hintergrundfaktor Weltwissen

1.5. Hintergrundfaktor Wissen von Maler und Betrachter über die Geschichte der Malerei, über Bilder und andere Artefakte (

Kunstwissen

)

1.5.1. Entwicklung der Kunst hin zur ‚realistischen’ dreidimensionalen Abbildung

1.5.1.1. Was heißt das eigentlich: „Abbildung“?

1.5.1.2. Abweichungen vom Anspruch naturgetreuer Abbildung im Verlauf der Geschichte der Malerei

1.5.1.3. Schematische Malerei versus Naturdar-Stellung

1.5.1.4. Kreativität bei der Darstellung Heiliger bzw. Heiliger Geschichten

1.5.1.5. Der allmähliche Aufbau von Dreidimensionalität im Bild

1.5.1.6. Realismus und Naturalismus in der bildnerischen Kunst

1.5.2. Abkehr von der „Abbildung“ in der Moderne

1.5.2.1. Ausgangspunkt für die Erörterung: die Fotografie

1.5.2.2. Fotografie „versus“ Impressionismus

1.5.2.3. Dreidimensionalität versus Zweidimensionalität und Dekorativität / Ornamentik

1.5.2.4. Herstellung emotionaler Intimität zwischen Modell, Maler und Betrachter durch das Bild

1.5.2.5. Fotografie „versus“ Expressionismus

1.5.2.6. Fotografie „versus“ Symbolisierung

1.5.2.7. Abstrakte Malerei bis hin zur vollständigen Abkopplung der Kunst von der Darstellung

1.6. Hintergrundfaktoren Wahrnehmungsprozess und das Wissen darüber

1.6.1. Gestaltgesetze

1.6.2. Psychologie der geistigen Entwicklung

1.6.3. Tiefenpsychologische Einflüsse auf die Wahrnehmung

1.6.4. Der Wahrnehmungsprozess als aktiver Gestaltungs- / Konstruktionsvorgang

1.7. Wechselwirkung zwischen sensorischem Input und den drei genannten Wissensaspekten bei Betrachter und Maler

Prozesse im Betrachter

2.1. Drei Betrachterperspektiven

2.2. Geschichtlich: Die Entdeckung des Betrachters

2.3. Geistige Konstruktion versus autonome Kraft des Bildes

2.4. Wechselwirkung zwischen Situation und Person

2.5. Eindeutigkeit

2.6. Mehrdeutigkeit

2.7. Der Prozess der Bildwahrnehmung

Prozesse im Maler

3.1. Dynamik von Externalisierung, Internalisierung und Innerer Distanzierung vom Objekt

3.1.1. Externalisierung

3.1.2. Internalisierung

3.1.3. Innere Distanzierung vom Objekt (dem Bild / der Situation)

3.2. Dynamik der Konstruktion und Dekonstruktion

3.2.1. Konstruktion

3.2.2. Dekonstruktion

3.3. Wahrnehmungs- und Abgleichsprozess

3.3.1. Hypothesengenerierung und –prüfung bei spontaner Malerei

3.3.2. Abgleich mit Intentionen bei geplanten Bildern

3.4. Katharsis, Rausch, Ekstase, Spiel

Das Bild als Medium analoger Kommunikation

4.1. Kommunikation zwischen Maler und Betrachter via Bild: Sender und Empfänger

4.2. Analoge Kommunikation via Bild

4.3. Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit als Kommunikationsereignisse, Encodierung und Decodierung

Kreativität in der Malerei

5.1. Abgrenzung vom Nichtkreativen

5.2. Risikobereitschaft als erstes Kriterium kreativen Handelns

5.3. Bereitschaft zur Dekonstruktion als Kreativitätskriterium

5.4. Eingebundenheit der Prozesse in ein Kommunikationsgeschehen

5.5. Risikobereitschaft versus kommunikatives Bemühen

Thesenartige Zusammenfassung: Was passiert bei der Malerei und wann ist sie kreativ?

Zwei Fallbeispiele

7.1. Fallbeispiel: Meer und Himmel

7.2. Fallbeispiel: Säulenheiliger

Überlegungen über Kunst, die das Bild verlässt

8.1. Phänomene jenseits des Bildes: Kunst, die den Rahmen des Bildes verlassen hat

8.2. Anwendung der Theorie auf Kunst, die den Rahmen des Bildes verlassen hat

Schlussbemerkung

Abbildungsverzeichnis

Literaturangaben

Einleitung und Ausblick

Wir leben in Zeiten, in denen immer undurchsichtiger wird, was eigentlich Kunst ist und was Kunst eigentlich ist. Preise für einzelne Bilder steigen ins Unermessliche, ohne dass noch klar wäre, in welchem Verhältnis das zu einem eventuellen künstlerischen Wert stünde. Von Vorteil für diesen Entwicklung ist u.a., dass „künstlerischer Wert“ nicht quantifizierbar (geschweige denn in „Geldwert“ umrechenbar) ist. Das mit Bedacht und kunsthandwerklicher Kompetenz gemalte Bild scheint irgendwie hinten runter zu fallen. Es scheint darüber hinaus immer weniger Menschen zu geben, die den Spannungsbogen für eine kontemplative Bildbetrachtung in aller Ruhe noch bewältigen können, vielleicht weil das zu anstrengend oder zu wenig aufregend – zum Beispiel gegenüber dem, was die digitale Welt an schnellen Abwechslungen bietet - ist. Es ist unübersehbar, dass gemalte Bilder nur noch einen Teil der Kunstobjekte in den großen Ausstellungen wie Biennalen, documenta, darstellen.

Werkstoffe. Vielmehr findet man hierin Objekte aller möglicher Art aus allen möglichen Stoffen. Die Grenze zwischen Bild und Plastik verschwimmt ebenso wie zwischen dem durch Künstlerhand geformtem Objekt und Gebrauchsgegenständen einerseits und Foto und Film andererseits. Diese Entwicklung begann schon vor Jahrzehnten, damals besonders prominent bei Robert Rauschenberg und Jasper Johns. Teils waren und sind es Gebrauchsgegenstände, die ihrer Funktion im Alltag entfremdet und zum Kunstwerk erklärt wurden wie das einst auch Marcel Duchamp mit einem auf die Rückseite gelegten Urinal machte (Fountain)1 oder mit einer Fahrradgabel, die er auf einen Hocker schraubte (sog. ready mades oder Objektkunst). Teils sind es Pappkartons - bei Andy Warhol trugen sie die Aufschrift Campbells Tomato Soup, die es im amerikanischen Alltag als Verpackung für in Massen produzierte Waren gab. Arman füllte den Inhalt von Abfalleimern in Glasbehälter. Beuys verwendete Fett und Filz, Hasenblut, Heftpflaster2, Piero Manzoni eigene (Merda d’Artista) und Santiago Sierra fremde (Anthropometric Modules Made from Human Faeces) menschliche Fäkalien, Dieter Roth solche von Kaninchen (Karnickelköttelkarnickel); Hazoumé verwendet leere Plastikkanister, Lara Favaretto Schrott, Hirschhorn sehr ausgiebig Klebebänder (die man in der Malerei auch schon seit Mondrian kennt), Pistoletto Stofflumpen. Auf der Biennale in Venedig 2017 konnte man einen riesigen Berg aus Wolle besichtigen. Insgesamt ist Müll ein beliebter Werkstoff geworden und soll wohl oft auch kritisch an das besondere Charakteristikum unserer Gesellschaft und Produktionsweise erinnern, eine „Wegwerfgesellschaft“ zu sein, aber auch - weil es oft benutzte und ausrangierte Gegenstände sind - an gelebte menschliche Geschichte bzw. Zivilisationsgeschichte. Ich kann verstehen, wer da sagt: Indem etwas daran erinnert, dass wir auf der Erde Ressourcen verschwenden und Wegwerfgesellschaft sind, wieso ist deshalb Kunst? Wenn es deshalb allein noch nicht Kunst ist, ist es vielleicht Kunst wegen der besonderen Anordnung der Materialien? Oder weil der3 Hersteller behauptet, es sei Kunst? Oder weil es sich auf einer Kunstausstellung befindet und also von Fachleuten als Kunstobjekt befunden wurde? Ich lasse die Frage unbeantwortet, weil dies kein Text ist, in welchem definiert werden soll, was Kunst heute / gestern ist / war. Das Spektrum von Materialien in der bildnerischen Kunst hat sich jedenfalls, von der Leinwand und den Farben, vom Linoleum, Holz, Kupfer, von Stein, Gips und Bronze aus erheblich erweitert, schwerpunktmäßig vor allem auf den Bereich Stoff, Müll, Plastik.4

Settings. Und abgesehen von diesen Veränderungen in den Materialien: Die Grenzen zwischen Bild, beweglichen Bildern, Plastikskulpturen, Environments5, Rauminstallationen, Happenings6, Performances7, Events, Erlebnisindustrie, Werbung und Unterhaltung werden immer fließender. Wenn man heute größere Kunstausstellungen besucht, hat man den Eindruck, dass Malerei und Plastik im früher gewohnten Sinne zugunsten anderer (bildender?) Ausdrucksformen immer mehr zurückgedrängt werden. Die Malerei findet ihre Fortsetzung in Videos und anderen digital auf Wände gebrachten Filmen und Bildern. Die Plastik / Skulptur findet man abgewandelt in Rauminstallationen teils geradezu Hallen-füllender und Landschafts-umfassender8 Art. Die bildende Kunst hat sich insgesamt über das Bild und die Plastik (und die Architektur) hinaus weit ausgedehnt, und die seit jeher etwas fließenden Übergänge zu Theater (Bühnenbilder, Masken) wurden vonseiten der bildenden Kunst her ausdifferenziert – Video-Installationen fehlen heute auf fast keiner großen Kunstschau, ebenso wie die bereits erwähnte Performance.

Und was Settings anlangt, gab es auch das Gegenstück zu dem altmodischen Füllen einer Leinwand mit Farbe: 1953 radierte Robert Rauschenberg ein Bild von Willem de Koenig weg und nannte die leere Fläche Erased de Kooning drawing. Der Komponist Stockhausen handelte sich großen Ärger mitsamt Veranstaltungsabsagen ein, als er die Terrorangriffe von Sept. 2001 mit „Kunst“ in Zusammenhang brachte und Josef Beuys erklärte die Gestaltung der Zukunft des sozialen Ganzen zum höchsten Kunstbegriff.

Rahmen für Kreativität. Man könnte auch so sagen: Es gibt fast nichts, was es im Kunstgeschehen nicht schon gab oder immer noch gibt. Unterstellt man einmal, dass es da immer kreativ zuginge, ist der „Rahmen“ für kreatives Handeln unendlich – es gibt ihn also nicht mehr. Irgendwie drängt sich einem der Eindruck auf, alles im Bereich der bildenden Kunst habe sich aufgeweicht, sei unbestimmbar geworden oder zerflossen. Ist die Entfaltung von künstlerischer Kreativität wirklich nur noch auf diese grelle, ausufernde hektische Art möglich? Kriegt man sie jemals wieder in den Rahmen des Bildes zurück, sodass sie aus dem Verdacht herauskommt, politische Agitation, Freizeit-Event für die ganze Familie oder Werbung für Sponsoren oder Stadtverwaltungen zu sein?

Was künstlerisches Schaffen angeht: Dass Kreativität aus der Malerei woandershin flüchtet, ist unübersehbar. Wieso ist ihr diese Behausung zu eng? Was ist sie überhaupt? Kann man sie irgendwo „stellen“, bevor sie sich im Diversen, Beliebigen und Diffusen verflüchtigt?

Vor dem Hintergrund dieses kurzen Blicks auf das aktuelle Kunstgeschehen mag das, was ich im hier vorliegenden Text tue, zunächst vollkommen anachronistisch erscheinen: Ich konzentriere mich nämlich auf das Bild, sei es gemalt oder gezeichnet oder eingraviert, gestochen oder (aus Holz- oder Linoleum) geschnitten, und ich greife fast immer, pars pro toto, das gemalte Bild heraus. Indem ich das tue, begebe ich mich, misst man es an den Großausstellungen und Biennalen, auf ein sehr altmodisches Terrain.

Aber es gibt auch zwei weitere Wahrheiten: (1) Wahr ist auch: Die großen Ausstellungen zeigen nur einen sehr begrenzten Bereich der Wirklichkeit, und wer sie für repräsentativ für das bildnerische Kunstgeschehen in einer Gesellschaft hält, irrt: Sehr viel mehr Menschen malen Bilder, sei es professionell oder als Amateure, sei es ausgebildet oder als „Autodidakten“ oder „Dilettanten“ – sehr viel mehr als die großen Ausstellungen vermuten lassen.9 (2) Und es erscheint mir sinnvoll und notwendig, für die Untersuchung eines Themas wie Kreativität zunächst einen Rahmen festzulegen, innerhalb dessen man sich bewegen will, also den Bereich genau zu bestimmen, über den man (was Kreativität anlangt), Aussagen machen möchte. Und nachdem man so den Fokus bestimmt hat, kann man dann vielleicht weiter denken: Letztlich gehe ich davon aus, dass das, was ich ausführe, auf viel mehr als nur die Malerei übertragbar sein wird. Natürlich müsste man modifizieren und zusätzlich erläutern, wenn man das Gesagte auf die Betrachtung oder Begehung einer Rauminstallation anwenden wollte, aber im Prinzip ist das möglich. Auch diese anderen Materialien und Settings werfen ähnliche Fragen auf, was im Künstler und was im Betrachter vorgeht und inwiefern das, was da produziert wird, kreativ ist, Fragen, die mit ähnlichen theoretischen Mitteln beantwortbar wären. Im Kapitel 8 über Überlegungen zur Kunst, die das Bild verlässt wird hierzu ein Ansatz gemacht, aber natürlich nicht an allen möglichen Werken, die keine Bilder sind, durchdekliniert. Zunächst aber muss ich fokussieren, damit man nicht im Text hoffnungslos verirrt herumläuft wie das manch einer auf einer Großausstellung tut und vor lauter Vielfalt der Einfälle und Materialien, wenn er ehrlich zu sich ist, kaum etwas versteht. Das soll uns hier nicht so gehen, darum konzentrieren wir uns auf das gemalte Bild. Schon hier ist es schwierig genug, herauszuarbeiten, was das ist: Kreativität in der Malerei.

Ein Grund dafür, dass das nie wirklich geklärt wurde, liegt womöglich im Bereich dessen, was wir Narzissmus nennen. Jedermann, vor allem wenn er sich aktiv mit Kunst befasst, meint schon zu wissen, was das ist. Insofern geht es der Kreativität wie der Liebe. Jede(r) ist Fachfrau, Fachmann, und das erspart einem die Mühe, ernsthaft zu untersuchen, um was es sich eigentlich handelt. Bei der Liebe mag das nicht so wichtig sein, weil sie ohnehin fortbesteht. Bei der Kreativität im Bereich der bildenden Kunst bin ich nicht so sicher, ob sie nicht außer Atem geraten kann.

Ein anderer Grund ist natürlich die Vielfalt. Einem kreativen Maler fällt vielleicht beim Kochen gar nichts ein. Ein kreativer Koch sitzt vielleicht vor einer leeren Leinwand und verlässt sie so wie sie war.

Und es gibt schließlich noch einen weiteren und eigentlich destruktiven Grund dafür, dass das Thema, was Kreativität eigentlich ist, nicht zu Ende gedacht wird: Liest man die Bücher von Saehrendt & Kittl über den heutigen Kunstmarkt, so kommt es einem so vor, als machte man etwas sehr Altmodisches und als träte man mit einer Tonne Gewicht auf die Bremse, wenn man sich heutzutage mit der Frage befasst, was in einem Bildbetrachter vorgeht, wenn er ein bemaltes Viereck wirklich auf sich wirken lässt oder was in einem Maler vorgeht, wenn er einen Maluntergrund mit Malmitteln verändert. Auf dem Kunstmarkt geht es um ganz anderes: Um Geschäfte von Galeristen, Planung von gigantischen Ausstellungen und das Image von Kuratoren, um Auseinandersetzungen zwischen Städten und Sammlern, um Auktionsergebnisse, die in der Presse als Sensation verkauft werden können. Das ist eine völlig andere Ebene von Geschäftigkeit und „Wert“, sodass man geradezu eine Hemmung überwinden muss, sich mit diesen individuellen oder allenfalls triadischen (Maler-Bild-Betrachter) Mikroprozessen zu befassen. Sei’s drum!

Wie soll man also mit einem so facettenreichen Thema umgehen? Ich habe mich also entschieden, mich auf die Kreativität in der Malerei zu beschränken, das ist knifflig genug. Vielleicht ist mein Hintergedanke, die Malerei zu retten, indem ich den begrenzten Rahmen der künstlerischen Betätigung mit Pinsel und Leinwand (um sie einmal als pars pro toto für die vielen Möglichkeiten, ein Bild herzustellen, zu benennen) aufwerte als den bedeutsamen Ort, an dem Kreativität wirklich entfaltet werden kann, ohne immer mehr Raum, immer mehr Arten von Material und immer mehr technische Mittel zu benötigen. Und ich möchte helfen, den Blick der Betrachterin und des Betrachters wieder mehr für dieses Terrain zu öffnen, für die Vertiefung in ein gemaltes Bild und die Kreativität des Herstellers bzw. seines Handelns.

Die Beziehung zwischen Kunst und Kreativität. Ein Schauspieler, der seine Rolle spielt, indem er einerseits dem Skript, andererseits den Anweisungen des Regisseurs und den Aktionen der Mitspieler folgt, ähnelt insofern dem Musiker, der beim Spielen eines Musikstücks einerseits dem Notenblatt, andererseits dem Dirigenten und dem von den Mitspielern Gehörten folgt.

Beide würden vermutlich für sich beanspruchen, Künstler zu sein. Wahrscheinlich würden aber beide sagen, dass bei dem, was sie da tun, für Kreativität nur ein sehr begrenzter Spielraum ist. Wahrscheinlich würden sie übereinstimmen, dass der Schauspieler da mehr Spielraum hat, weil er sich bei seinem Tun auf mehreren Ausdrucksebenen bewegt (Sprachproduktion mit Intonation, Artikulation, dann weiters Mimik, Gestik; während die Wörter und deren Abfolge vorgegeben sind, bestehen auf den anderen Ebenen im Rahmen der Vorgaben des Regisseurs Freiheiten für die Akteure, sich künstlerisch-kreativ zu entfalten).

Der eigenschöpferische Spielraum für den Instrumentalisten besteht selbstverständlich, ist aber eingeschränkter und ist vor allem in relevanten Bereichen nur vom speziell ausgebildeten Experten erkennbar. Unbestritten ist wohl aber, dass es sich bei der Interpretation etwa der Goldberg-Variationen durch den Pianisten Glenn Gould um eine originelle, schöpferische Leistung handelte, obwohl er natürlich letztlich die Bach-Komposition umsetzte, d.h. schriftlich Vorgegebenes in hörbare Gestalt brachte und dabei auf seine Weise interpretierte.

Bei der Oper hat man es, was das Singen anlangt, mit beidem (Musik, Schauspiel; „Musiktheater“) zu tun, und das Ausdrucksspektrum ist einerseits im Sinne eines Potenzials größer als beim Schauspiel, andererseits wird dabei gemeinhin viel mehr auf den Gesang als auf die Schauspielkunst geachtet, insgesamt liegt man näher beim Musiker als beim Schauspieler. Dem Ballett mit seiner Betonung von Körperausdruck und Körperbewegung würde man vielleicht auf den ersten Blick einen hohen kreativen Spielraum zuordnen, anderseits ist alles, was die Körper dabei tun, fast immer eng angelehnt an und eingebunden in das, was die anderen tun, und diese Koordinierung folgt der Regie, Choreografie usw., sodass die persönlichen kreativen Beiträge der Tänzer in Grenzen bleiben müssen.

Natürlich tut man den Akteuren Unrecht, wann man das, was sie tun, als ein bloßes Reproduzieren bezeichnen würde. Der Freiheitsspielraum für den Einzelnen ist besser mit dem Terminus Interpretieren (des ansonsten Vorgegebenen) umrissen.

Augenfällig „kreativer“ kann sich der Regisseur entfalten, sofern es um Schauspiel oder Musiktheater geht. Auch der Dirigent kann dem Tun des Orchesters einen eigenen Stempel aufdrücken.

Und im Sinne des üblichen Sprachgebrauchs am kreativsten kann der Komponist oder Schauspiel-Autor sein, indem sie aus dem Nichts10 etwas Neues schaffen.

Und auch hier lässt sich eine Rangreihe, was Kreativität betrifft, andeuten: Man würde wohl kaum widersprechen, wenn behauptet würde, es sei weniger kreativ, ein weiteres Kriminalstück für die Bühne zu schreiben, verglichen mit der Leistung Beckets, als er Warten auf Godot konzipierte. Oder wenn behauptet würde, es sei weniger kreativ, einen Regionalkrimi zu schreiben verglichen mit Kafkas Schöpfung „Das Schloss“.

Übrigens wird hier bereits wieder unklar, was Kunst sei. Ist der Krimiautor ein Künstler, ist der genannte Regionalkrimi ein Kunstwerk? Dagegen täte man sich vermutlich leicht, Kafka oder Becket als Künstler zu verorten und die genannten Stücke als Kunstwerke. Bei diesem zuletzt genannten Ordnungsversuch überlappen sich anscheinend die semantischen Räume der Begriffe Kunst und Kreativität fast vollständig. Man ist besonders leicht geneigt, dem (Autor / Komponisten / Maler), der etwas besonders Originelles, scheinbar noch nicht Dagewesenes im Sinne einer Schöpfung erschafft, die Prädikate Künstler und Kreativer zu verleihen. Ich tendiere zu der Auffassung, dass dabei eigentlich nicht „Kunst“ sondern „Kreativität“ gemeint ist. So wie wir dazu neigen, auch einem Koch, der etwas Originelles und zugleich Wohlschmeckendes „erfindet“, einerseits Kreativität in seinem Tun zu bescheinigen, ihn aber dann auch als einen „richtigen Künstler“ zu titulieren. Aus meiner Sicht ist das tragende Element dabei der Begriff der Kreativität. Bei anderen Handlungsbereichen sind die Begriffe in der Alltagssprache besser getrennt (werden trennschärfer verwendet). Wenn ein Dachdecker oder ein Zimmermann für ein kniffliges Problem, sagen wir mit einer Ecke, an der zwei unterschiedlich geformte Dachteile zusammenstoßen, eine Lösung findet, für die es kein bereitliegendes Schema gab, würden wir ihm eher zugestehen, er habe eine „kreative“ Lösung gefunden als zu sagen, er sei ein „Künstler“. Wenn Sie mir darin zustimmen, werden Sie auch zustimmen, dass der Begriff „kreativ“ breiter verwendet wird, also für alle möglichen menschlichen Tätigkeitsbereiche als mögliche Benennung bzw.

Charakterisierung in Betracht kommt. Auch Klempner, Lehrer, Pfarrer finden kreative Lösungen für Probleme, ohne dass man sie deswegen als Künstler bezeichnen würde. Warum also der Koch? Warum gibt es in der Alltagssprache die „Kochkunst“? Ich glaube, der Unterschied liegt darin, dass im Unterschied etwa zum Klempner die Tätigkeit des Kochs, indem er Materialien aussucht und kombiniert, in Mengenverhältnisse bringt, passend kocht, brät, backt, dünstet etc., und ästhetisch auf Tellern etc. anrichtet („Das Auge isst mit!“), der des Malers, Komponisten, Dichters „ähnlicher“ ist und als ähnlich wahrgenommen wird.11 So wie beim Maler zunächst die Leinwand leer ist, ist es beim Koch der Teller, und dann werden beide, scheinbar „aus dem Nichts heraus“ schöpferisch tätig. Dagegen ist bei den anderen eben genannten Berufen viel stärker - auch von den Funktionen und Zielen her - festgelegt, was zu leisten ist. Beim Klempner muss die Wasserleitung dicht sein und Anforderungen an die Gesundheit, Hygiene und Durchlaufmenge genügen. Was aber bei einer Speise „gut schmecken“, „schön aussehen“ bedeuten, ist wesentlich unbestimmter, weil es um ästhetische Urteile geht. Allenfalls könnte man aber auch dem Klempner im Einzelfall, wie erwähnt, also bei einem kniffligen Problem, eine „originelle“ oder „kreative“ Lösung bescheinigen, aber dass das dann „künstlerisch“ sein müsste, wäre eigentlich nicht gefragt. Man kann das Ganze auch nicht am Kriterium „ästhetisch“ festmachen, man erwartet vom Klempner – jenseits aller Kreativität - durchaus ein ästhetisch annehmbares Arbeitsergebnis, aber nicht, dass es künstlerisch sei.

Ich will damit nicht behaupten, dass es in der Alltagssprache trennscharf zugeht in dem Sinne, dass da die semantischen (Bedeutungs-)Räume immer sauber getrennt oder differenziert würden. Es ist letztlich kein überzeugender Konsens dafür zu erwarten, was Kunst sei und was nicht12, und der vorliegende Text maßt sich auch nicht an, diese Frage überhaupt - geschweige denn endgültig - zu klären. Es ist schwierig genug, genauer zu bestimmen, was Kreativität beim Malen sei. Wenn man aber noch einmal einen Blick auf das oben angesprochene Thema der „Kochkunst“ (und was dazu gehört) gegenüber der Tätigkeit des Klempners (und was hierzu gehört) wirft, erhält man anhand des bisher Gesagten zumindest ja einen Hinweis. Was das Kochen zur Kunst machen könnte, hat demnach damit zu tun, dass hier scheinbar aus dem Nichts heraus etwas Neues geschaffen wird. Es ist keine Kunst (hierbei übereinstimmend mit „nicht kreativ“), wenn der Koch eine Pizza Funghi anfertigt, und zwar so, wie sein Gast das erwarten kann, weil er das hier öfter isst. Das ist durchaus vergleichbar damit, dass ein Hausherr erwartet, dass der Klempner die Dachrinne so anbringt, wie das vorher der Fall war oder üblicherweise oder beim Nachbarn etc. der Fall ist. Es wird hier ein Zweck erfüllt, der relativ genau bestimmbar ist. Das ist beim Kochen, wenn es „Kochkunst“ sein soll, nicht der Fall. Es geht gerade nicht primär darum, etwas Gewohntes bzw. mehr oder weniger Standardisiertes herzustellen, sondern darum, etwas Neues zu kreieren (Kreativität im Sinne von 'Schöpfung'), das gut schmecken und aussehen soll. Natürlich soll es auch sättigen und gesund sein (insofern klaren Zwecken dienen / eine klare Funktion haben so wie beim Klempner die Dachrinne), dies aber nur unter anderem, es ist quasi die materielle Basis, die Triebgrundlage, während die „Kochkunst“ der kulturelle Überbau ist (siehe Kap. 1.3.3.). Die Lösung des Klempners ist nicht, nur weil sie kreativ ist, gleich „Kunst“, dazu ist offensichtlich der Zweck zu eng bestimmt. „Gut schmecken und gut aussehen und originell im Sinne von ‚nicht gewöhnlich’“ (beim Kochen) ist eine Merkmalskombination, die natürlich für die Beurteilung der Klempnerarbeit abwegig ist. Und auch diese Merkmale oder dieses Anforderungsprofil beim Kochen ist reichlich unbestimmt, weil eben die Geschmäcker verschieden sind. Dennoch ist es viel klarer und definitiver als man es für die Malerei fordern könnte. Da kann man nicht einmal sagen, es handele sich deshalb um Kunst, weil es „schön“ sei, oder umgekehrt, weil es nicht schön sei, sei es keine Kunst. Geht so natürlich nicht. Verglichen damit ist der „Zweck“ beim Kochen noch erheblich klarer. Ich erlaube mir hier einmal zu behaupten, Kochkunst sei gerade noch so Kunst, weil der Zweck teilweise unklarer und mehrdimensional ist verglichen mit Handwerken, deren Funktion und Zweck eindeutiger ist. Das Kochen liegt hier in einem Zwischenbereich zwischen diesen anderen Betätigungen und dem, was man üblicherweise als Kunst zu bezeichnen gewohnt ist.

Vielleicht findet der eine oder andere Leser es abwegig oder – gegenüber der „wirklichen“ Kunst despektierlich -, hier über Kochkunst zu sprechen, zumal hier ja überhaupt nicht beabsichtigt ist, zu definieren, was Kunst sei. Aber gerade das Kochen liegt im besagten Zwischenbereich und kann auch mithelfen bei einer Differenzierung zwischen Kreativität und Kunst.

Wie kann es nun aber sein, dass Kreativität offensichtlich ein Begriff mit viel breiterer Bedeutung ist als Kunst13, aber zugleich doch der Eindruck entsteht, dass Kreativität wichtig ist, wenn etwas als Kunst bezeichnet werden soll? Das führt unweigerlich zu der Frage, ob es Kunst ohne Kreativität gibt. Im vorliegenden Text werden Beispiele dafür benannt, was bei der Malerei nicht als kreativ anzusehen ist. Ich nenne hier einmal als Extrem eine Tätigkeit, deren Endergebnis evtl. von einer Reihe von Betrachtern als Kunstwerke bezeichnet werden, vermutlich aber von den meisten Leuten, die sich mit Kunst beschäftigen, nicht:

Herr X. malt ein bestimmtes Motiv (Haus im Schnee, ein gelb erleuchtetes Fenster, ein paar Bäume). Er malt, damit es im Kaufhaus als „Original-Ölgemälde“ verkauft werden kann. Vor sich hat er zwanzig bespannte Keilrahmen, und vielleicht malt er erst zwanzigmal alles, was braun wird, dann zwanzigmal alles, was grün wird usw. Es ist eine Art Serienproduktion einer Billigware, die aber vielleicht vom Käufer, der nicht über irgendeinen diesbezüglichen Sachverstand verfügt und wahrscheinlich auch Illusionen über die Bildentstehung hat, als „Kunst“ verstanden wird.14

Ich muss hier nicht definieren, ob es Kunst ist oder nicht. Ich persönlich halte das nicht für Kunst, und ich glaube, dass bei meinem Urteil der (nicht vorhandene) Kreativitätsaspekt eine zentrale Rolle spielt. Nach allem, was in diesem Text über Kreativität geschrieben wird, ist das, was Herr X. beim Herstellen des Serienprodukts tut, nicht kreativ. Mir scheint, dass es deshalb, weil jede Kreativität fehlt, auch nicht als Kunstwerk bezeichnet werden kann. Ich muss aber zugeben, dass mein Kunstbegriff sozusagen vom Kreativitätsbegriff „verseucht“ - oder sagen wir mal: gesättigt - ist, und dass das seine Ursache darin hat, dass ich sehr beeindruckt bin von der Wende in der Kunst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bzw. ab Cezanne (1839-1906). Ich befürchte nämlich, dass man mit einer solchen Kreativitätslastigkeit seines Kunstbegriffs nicht sehr weit kommt, wenn man an ältere Kunst denkt. Im Extrem: Vermutlich war Kreativität bei der Ausmalung einer ägyptischen Pharaonengrabkammer nicht gefragt. Das Gemalte musste bestimmten Schemata gehorchen und diesbezüglich „richtig“ sein (vgl. Kap. 1.5.1.), aber da es eigentlich nicht besonders kreativ ist, wäre es nach diesem meinem eben geschilderten Kunstbegriff kein Kunstwerk, das aber dürfte denn doch ein Fehlurteil sein. Offenbar ist das Maß der Kreativitätslastigkeit des Kunstbegriffs eine Zeit(alter)-Frage.

Ganz anders bei anderer Kunst, die zunächst und oberflächlich betrachtet eher schematisch erscheint, z.B. weil sie biblische Figuren verarbeitet, wo aber bei genauerem Hinsehen viel Kreatives eben innerhalb dieses Rahmens (heilige Figuren, biblische Rahmenszene) geradezu Umstürzlerisches vom Maler geleistet wird. (In Kap. 1.5.1.3. werden zwei solcher Beispiele – Tizian und Bellini - aus der Renaissance besprochen.) Aber nicht immer ist die kreative Komponente erkennbar und wie gesagt auch in manchen Zeitaltern gar nicht gefragt gewesen.

Ich befinde mich also mit diesem vor allem der Kunst des 20. Jh. entsprechenden Kunstbegriff in einem mal kleineren, mal größeren Widerspruch, was die Frage betrifft, was Kunst über diese Neuzeit hinaus sei und was nicht. Ich glaube, dass die Tatsache, dass ich in diesem Widerspruch gut leben kann, auf drei Faktoren zurückzuführen ist:

Erstens bin ich ohne bewusste Reflexion, sozusagen blind, dem allgemeinen Konsens gefolgt, dies (z.B. ägyptische Grabmalereien) als Kunst oder gar große Kunst zu bezeichnen.

Zweitens bin ich ebenso unbewusst oder blind einer oft praktizierten Gleichsetzung von großem kunsthandwerklichem Anspruch mit Kunst gefolgt.

Drittens habe ich mich wahrscheinlich unbewusst des folgenden „Tricks“ bedient: Ich habe einen Vergleich zwischen dieser alten Kunst und der heutigen vorgenommen und muss feststellen, dass diese ägyptischen Fresken etc.

gegenüber dem Heutigen

originell sind, ungewöhnlich, kreativ. Ich habe diese Objekte also unbewusst und fälschlicherweise in die Gegenwart transportiert, sozusagen in den Geltungsbereich meines Kunstbegriffs.

Ich komme nun zu folgendem vorläufigen Resultat: (Nicht nur) mein Kunstbegriff ist mit der Kreativitätskomponente überlastet. Bei mir selbst liegt das u.a. daran, dass ich mich als erstes in meinem Lebenslauf für die Kunst ab Jahrhundertwende (1900) interessiert habe, womöglich auch in gezielter Abgrenzung von den Kunstinteressen vor allem meines Vaters15. Dabei (Kunst ab ca. 1900) spielte die Individualität des Malers, seine Originalität, Risikobereitschaft, Kreativität eine zentrale Rolle. In der Geschichte der Malerei hat Kreativität eine wechselnde Bedeutung gehabt, auf jeden Fall nie das heutige Gewicht. Der Kunstbegriff ändert sich mit den Zeiten, der heutige ist Individualitäts- und Kreativitäts-belastet – ersteres vielleicht seit Giotto (vgl. Hetzer, 1981). Wenn man also daran ginge (was hier nicht beabsichtigt ist), zu bestimmen, was Kunst ist, müsste man dies berücksichtigen und natürlich die Veränderung des Kunstbegriffs über die Zeit hinweg besonders thematisieren.16 Auch wenn in anderen Zeiten die Aufladung des Begriffs mit dem Anspruch auf Kreativität nicht so hoch war, ist näher zu definieren, was denn Kreativität sei. Wir werden feststellen, dass sich auch die Art, wie Kreativität sich äußert, mit der Zeit verändert hat, dass aber im Kern gleichbleibt, was Kreativität ist. Es mag ja im Übrigen sein, dass man Vergleichbares über „die Kunst“ sagen kann. Indem man nun aber besser bestimmen kann, was Kreativität in diesem Bereich (Malerei) eigentlich ist, findet man etwas Wesentliches heraus über Kunst, wobei aber eben wie gesagt im Verlauf der Geschichte die Bedeutung dieser Komponente (Kreativität) für die Kunst bzw. das Maß der Aufladung des Kunstbegriffs mit Kreativität sehr stark variierte.

Überblicküber den folgenden Text. In diesem Text wird eine konstruktivistische Position eingenommen. Das Individuum steht in Interaktion mit einzelnen Personen und Gruppen und begegnet dabei nicht nur ganz persönlichen Ansichten Einzelner, sondern auch sozialen Konstruktionen17. Das Individuum baut in Interaktionen mit Personen und Gruppen interne Konstruktionen bzw. Modelle auf, die dann je nach Situation / Wahrnehmungsinput in ihm abgerufen werden, um zu einem Verständnis der Situation / des Wahrnehmungsinputs zu gelangen. Dieses Verständnis entsteht selten ohne Umschweife und sofort. Es handelt sich vielmehr um einen Wahrnehmungs- und Verstehensprozess, der weiter unten in seinen Bestandteilen beschrieben wird. Und die Konstruktionen sind nicht zeitstabil, sondern in ständiger Veränderung begriffen.

Ferner wird in diesem Text von einer ständigen Wechselwirkung zwischen Situation (wahrgenommene Umwelt) und Person ausgegangen; und bei letzterer ihren bisher vorgenommenen Konstruktionen einschließlich ihres Weltwissens, ihres Wissens über Kunst, ihrer Vorstellung von sich selbst, ihres Metawissens über Wahrnehmungsprozesse beim Menschen – diese vier Person-Faktoren werden uns hier besonders beschäftigen. Beides, Situation und Person, wird nicht als etwas Stabiles, einmal fest Gegebenes betrachtet, sondern in einem Wechselwirkungsprozess befindlich gesehen, bei dem sich Situation und Person ändern. Die Person ‚ändert’ sich insofern, als sie z.B. ihr Bild der Situation modifiziert, aber auch evtl. Wissensbestände (z.B. Kunstwissen) modifiziert. Die Situation ändert sich als physikalisch-chemisches Konglomerat von realen „Dingen“ im Zuge der Wechselwirkung nur, wenn man handelnd eingreift (z.B., wenn der Maler Farbe auf die Leinwand bringt). Aber selbst, wenn dies nicht erfolgt, ändert sich die subjektiv rezipierte / perzipierte Situation, z.B. die Bedeutung des Bildes für den Bildbetrachter im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Bild bzw. mit der evtl. beiliegenden ‚Gebrauchsanweisung’ (Erklärung z.B. durch den Künstler, den Kurator etc.).

Wenn wir einmal vereinfachend und wie umgangssprachlich üblich so tun, als gäbe es Situationen ‚an sich’, so sind zumindest folgende Situationselemente für die Anliegen dieses Textes und was die Bildbetrachtung anlangt, paradigmatisch zu unterscheiden: (a) der gegenständliche Betrachterkontext, d.h. die unbelebten Teile der Bildbetrachtungssituation, z.B. in einem Museum (also der museale Ort als Umgebung)18, (b) evtl. eine Person, in deren Gesellschaft sich der Betrachter befindet, (c) das Bild / das sonstige künstlerische Artefakt. Dieses Bild ist normalerweise Zentrum der Situation wird bzw. die Situation wesentlich ausmacht, wenn der Betrachter es fokussiert, sodass hier davon in der Regel so gesprochen wird, dass das Bild die Situation sei. Aber man darf nicht vergessen, dass die Bildbetrachtung immer auch in einem sonstigen Kontext stattfindet.

In dieser Auflistung a bis c fehlt natürlich noch der Betrachter selbst. Auf Seiten der Person ist für unsere Zwecke paradigmatisch zu unterscheiden, ob der Betrachter der Maler / Produzent des Bildes bzw. Artefakts ist, das er gerade betrachtet oder nicht. Auch als Maler könnte er sein fertiges Bild evtl. in einer Ausstellung betrachten. Wenn er gerade beim Anfertigen des Bildes wäre, wäre der situativen Kontext vielleicht sein Atelier; darüber hinaus wäre an seiner Situation allerdings noch viel mehr relevant, z.B. seine Auftragssituation. Auf derartige Gegebenheiten, die für die Kreativitätsthematik ebenfalls relevant sind, komme ich weiter unten noch ausführlich zu sprechen.

Die eine Frage, mit der sich der vorliegende Text befasst, ist die nach den Einflussfaktoren: Welche Faktoren bestimmen –

oder zumindest: beeinflussen - die Planung und Erstellung des Bildes durch den Maler und die Entfaltung seiner Kreativität dabei? Und welche Faktoren sind es, die die Eindrucksbildung des Bildbetrachters – und auch der Maler ist ein solcher - bestimmen oder zumindest beeinflussen?

Sehr allgemein betrachtet, ist zunächst ein Faktor offenkundig wirksam: Malen wie Betrachten finden immer in einer

⇒ bestimmten Situation statt,

und diesem vielleicht zunächst trivial erscheinenden Aspekt widmet sich Kap. 1.2., und zwar nicht, indem behauptet wird, die Situation an sich wirke so und so, sondern indem untersucht wird, wie Maler und Betrachter die Situation, in der Malen / Betrachten stattfindet, innerlich auffassen und wie sich diese innere Verarbeitung der Situation auf Malen oder Betrachten auswirkt.

Das zweite Faktorenbündel, das bei Herstellung und Betrachtung von Bildern wirksam ist, ist so umreißbar: Die Herstellung wie die Betrachtung von Kunstwerken beanspruchen einen gewissen Sektor der jeweils beteiligten Person, Maler bzw. Betrachter, wenn nicht gar die Person als Ganze. Die in diesem Geschehen in diesem Sektor angesprochenen personalen Anteile werden hier herausgehoben und beschrieben, und zwar insoweit, als die Protagonisten (Maler, Betrachter) diese Personanteile mit- und einbringen und insoweit, als diese Personanteile in dieser Begegnung zwischen diesem Alltagssektor und dieser Person arbeiten und sich auf die Begegnung auswirken. Unzweifelhaft spielen natürlich des Malers wie des Betrachters jeweilige

⇒ soziokulturelle Herkunft und ihre

⇒ persönliche Biografie / Charakteristika der Person

eine Rolle, und diesen Aspekten widmet sich Kap. 1.3. Besonders was den Maler anlangt, gehört zu seinen Charakteristika auch seine Sicht seiner selbst; ob er sich als ‚abstrakten Maler’ konzipiert / konstruiert oder als ‚Naturalisten’, ob er sich als ‚Maler des Königs’ (z.B. Goya, Velàzquez) definiert oder als ‚Hobbymaler’ etc. wird bei der Produktion irgendeine Rolle spielen.

Von zentraler Bedeutung für beide, Maler wie Betrachter, ist, was sie bisher beim Bestreiten ihres Alltags erfahren und kennengelernt haben, i.e. ihre Erfahrung mit Objekten, Landschaften, Menschen, also

⇒ Weltwissen (Kap. 1.4.); dessen Inhalte sind Gedächtnisinhalte; sie gelangten ins Gedächtnis im Zuge der Weltwahrnehmung (ich nehme dies als abstrakte Zusammenfassung; de facto geht es natürlich jedes Mal um die Wahrnehmung einer Situation durch eine Person und eventuelle Verallgemeinerungen bzw. Folgerungen, die sie daraus zieht),

ferner ihr Wissen über Malerei, Bilder, Stilrichtungen, also

⇒ Kunstwissen (Kap. 1.5); das Kunstwissen bzw. seine Inhalte sind Gedächtnisinhalte, sie gelangten in die Person im Zuge der Kunstwahrnehmung (Betrachtung von Artefakten),

sowie ihr Wissen über das Funktionieren der menschlichen Wahrnehmung (Kap.1.6), also ihre

⇒ Laienpsychologie der Wahrnehmung; auch der Hobbymaler hat Vorstellungen darüber, ob etwas als zusammenhängende Gestalt wahrgenommen wird, ob etwas in der Ferne als größer oder kleiner oder wann etwas als perspektivisch falsch wahrgenommen wird usw.

Natürlich geht es hier nur anfänglich um die Aufzählung von Determinanten bzw. Wirkfaktorengruppen. Es geht aber vor allem um diese innere Arbeit, die Betrachter und Maler leisten, selbst. Dieser werde ich mich ausführlich widmen, also

⇒ dem Wechselspiel Bild-Betrachter (Was löst das Bild aus, wie wird ein Eindruck vom Bild gebildet und verändert?) (Kap. 2.)

⇒ und dem Wechselspiel Bild-Maler (Was geschieht in ihm, wenn er einen Einfall für ein Bild hat oder wenn er am Bild arbeitet?) (Kap. 3.).

In dieser Abfolge kommt der Betrachter zuerst, weil der Maler auch selbst Betrachter seines entstehenden oder fertigen Werks ist, und weil daher bei der Analyse der inneren Prozesse des Malers auf der der Prozesse beim Betrachter aufgebaut wird. Aber Malen ist nicht nur Auseinandersetzung mit Farben und Leinwand im Sinne dieser letztgenannten Wechselwirkung, sondern wichtig ist darüber hinaus und gleichzeitig – und darin wird es in Kap. 4. gehen -

⇒ der innere Bezug des Malers auf den (gedachten oder konkreten) Betrachter

⇒ und der innere Bezug des Betrachters auf den Maler, so wie er sich ihn, seine Absichten und Kompetenzen, vorstellt.

Als zwingende Ergänzung zu den dyadischen Wechselbezügen zwischen Bild und Betrachter bzw. zwischen Bild und Maler bedarf es also eines Perspektivenwechsels hin zum Triadischen, und in dieser Perspektive nun stellt sich Malen dar als

⇒ Kommunikationsversuch des Malers mit dem Betrachter via Bild.

⇒ Das Bild ist das Kommunikationsmedium.

⇒ Der Maler verschlüsselt aus spontanen Einfällen oder eigenen Plänen für das Bild heraus und bedient sich dabei in der Regel eines Stils, einer Formensprache, meist dem / der seiner Zeit und Umgebung (er encodiert).

⇒ Der Betrachter entschlüsselt (decodiert) diese Bildsprache bzw., genauer und sicher richtiger gesagt, er encodiert seinerseits für sich selbst, was er da vor sich hat.

Malen ist somit eine besondere Form analoger Kommunikation über das Dritte, das Bild. Sie kann eindeutig und sie kann mehrdeutig sein, und gerade bei der Malerei ist natürlich die Frage interessant, inwieweit sich Maler und Betrachter hierüber (Eindeutigkeit, Mehrdeutigkeit, welche Bedeutungen?) einig sind. Diese Frage ist interessant, aber Uneinigkeit schmälert nicht notwendig den Wert der Malerei, sondern kann ihn erhöhen.

Ich fasse zusammen:

Die eine Frage ist die nach den Einflussfaktoren auf das Geschehen auf Betrachter- und auf Malerseite.

Die andere Frage ist die nach dem Geschehen selbst, also nach den Prozessen, die im Maler, die im Betrachter ablaufen.

Falls sich ein Leser fragen sollte, warum man sich mit dem Betrachter befasst, wenn es doch um die Kreativität des Malers geht, so ist zu wiederholen: Der Maler ist während des Malens stets und fortwährend auch Betrachter – zugegebener Weise: ein besonders befangener, voreingenommener und engagierter Betrachter, aber eben auch Betrachter, und darum geht es denn auch: Was passiert dabei, wenn er das Bild zu den verschiedenen Entstehungszeitpunkten betrachtet? Salopp ausgedrückt: Was macht das Bild mit seinem / ihrem Innerem, was macht sein / ihr Inneres mit dem Bild? Und, um wieder auf die erste Frage zu kommen: Durch welche Faktoren ist das, sind diese inneren Prozesse, beeinflusst?

Und der weitere, hier für ebenso wichtig gehaltene Aspekt ist der der Kommunikation zwischen Maler und Betrachter, genauer, zwischen dem Maler und seinem internen Betrachtermodell und dem Betrachter und seinem internen Malermodell (mit ‚Modell’ sind hier innere Vorstellungen über den Anderen und dessen Erwartungen gemeint). Und in dem Falle, in dem der Betrachter auch der Maler selbst ist: Auch er hat ein internes Modell nicht nur eines künftigen anderen Betrachters sondern auch seiner selbst, also ein inneres Bild dessen, was für ein Maler und Mensch er ist.

Bild und Bedeutung. Ein Bild kann definiert werden als „flacher Gegenstand mit pigmentierter Oberfläche..., dessen Reflexionsstärke von Stelle zu Stelle variiert und der als Stellvertreter oder Ersatz für die räumliche Anordnung einer völlig anderen Menge von Gegenständen dienen kann“ (Hochberg, 1978, S. 61f.) Ich übernehme diese sehr technische Definition aus gutem Grunde.

Sie beinhaltet, dass das Bild ein physikalisch-chemisches Ding mit bestimmten materiellen Merkmalen ist (flach, Pigmente etc.) und

dass es zur Abbildung von etwas dienen kann.

Sie beinhaltet nichts, was mit Bedeutungen zu tun hat.

Die Bedeutung haftet nicht dem Bild als materielle Eigenschaft an, auch wenn man leichthin mal der Einfachheit halber sagt, das Bild bedeute dies und das. Die Bedeutung entsteht in der Interaktion zwischen Maler und Bild, zwischen Betrachter und Bild und in den inneren Bezügen von Maler und Betrachter (auch wenn sie sich nicht persönlich kennen – das ist ohnehin nur in Ausnahmen der Fall), sie konstituiert sich also in diesem kommunikativen Geschehen.

Auf der Basis dieser Überlegungen wird ein theoretisches Modell (Kap. 5 und 6) konzipiert, das auf die Beantwortung der Frage hinauswill, was eigentlich Kreativität ist. Dass es so viele Seiten braucht, das zu beantworten, hat mit dem zu tun, was jeder weiß: Die Frage ist, sofern man es sich nicht allzu leicht macht, nicht leicht zu beantworten.

In Kap. 7 wende ich, weitgehend anhand introspektiver „Daten“, an zwei Fällen – nämlich der Herstellung eigener Werke (Bild und Plastik) – diese Theorie an bzw. belege sie kasuistisch. Ich fühle mich dazu berechtigt, weil nur dann, wenn der Maler über sich spricht, introspektive Daten aus erster Hand vorgelegt werden, die man hier unbedingt braucht, so subjektiv sie auch sind.

In Kap. 8 erfolgen einige Überlegungen zur Entwicklung der Malerei über ihren eigenen Rahmen, über den Rahmen des Bildes (Malmittel, Leinwand) hinaus, es geht um Installationen und Performances im Rahmen von Kunstinstallationen und um fließende Übergänge vom Bild her zu diesen anderen Settings / Arbeitsbühnen von Künstlern, wie sie oben bereits angesprochen wurden.

1 Urheberschaft ist allerdings umstritten.

2...und zum Beispiel bei der „Honigpumpe am Arbeitsplatz“, Kassel, documenta 6: Elektromotor, 2 Schiffsmaschinen mit Kupferwalzen, Stahlbehälter, Zinnrohr, Plastikschlauch, 2 Tonnen Honig, 1000 kg Margarine.

3Wenn ich aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung künftig nur die maskuline Form wähle, meine ich natürlich immer alle Geschlechter.

4 Eine kleine Geschichte des Mülls in der Kunst findet sich in dem Buch Ist das Kunst oder kann das weg? Von Saehrendt & Kittl, 2016, mitsamt der – je nach Sichtweise – tragischen oder witzigen Missverständnisse angesichts der Deklarierung von Müll zur Kunst oder seiner angeblich künstlerischen Verteilung in Ausstellungshallen.

6 Dies veranschaulicht man am besten durch Beispiele: Der Kölner Künstler Wolf Vostell schaufelte Spaghetti durch ein Loch in einer Autotür, der Düsseldorfer Kunstprofessor Joseph Beuys ließ sich einige Tage mit einem wilden Kojoten in einer Galerie einschließen, wodurch u.a. die entstehenden psychischen und physischen Energien anschaulich werden sollten.

7 Eine Performance ist meist eine Art Kurzauftritt von Leuten, der Theater- / Bühnen-Charakter hat bzw. irgendetwas zwischen Kurztheaterstück, Ballett und Bühnenkunstwerk ist und oft innerhalb von Rauminstallations-Kunstwerken stattfindet, denen sie dann eine besondere Bedeutung geben oder deren gemeinte Bedeutung unterstreichen.

8 vgl. z.B. Werke Christos, etwa Christo und Jeanne-Claude, Floating Peers im norditalienischen Lago d’Iseo oder die Verhüllung des Berliner Reichstags.

9 Das heißt auch: Die großen Ausstellungen bilden nicht ab, was in der Gesellschaft geschieht.

10 Bei genauerer Betrachtung geht es natürlich nicht um das „Nichts“. Es besteht vorab ein Raum voller Stile, Erwartungen, Tabus usw. In den Kapiteln des Malerei-Kreativitäts-Textes über situative und personale Wirkfaktoren werden Aspekte beschrieben, die im Prinzip auch auf Komponisten und Autoren beim künstlerischen Tun einwirken. Sie schaffen de facto nicht aus dem „Nichts“, sondern aus diesem Faktorenraum heraus.

11 Wir dürfen hier freilich nicht erwarten, dass sich „Ähnlichkeit“ exakt durch Erfüllung ganz bestimmter Übereinstimmungskriterien definieren lässt. In Kap. 1.5.1.1. gehe ich hierauf näher ein, was Malerei anlangt. Ähnlichkeit ist besser verstehbar als ein Schwarm- oder Bereichsbegriff.

12 Ich erinnere an den Buchtitel „Ist das Kunst oder kann das weg?“ (Saehrendt & Kittel, 2016)

13 … sogar so breit, dass man in der Psychologie von einem Persönlichkeitsmerkmal Kreativität ausgeht, vgl. Kap. 1.3.1.

14 Demgegenüber würde wohl kaum jemand einen Druck einer Fotografie eines Bildes von Dali für ein Kunstwerk halten, er würde vielmehr z.B. sagen, das sei ein Plakat von einem Dali-Bild; als sprachliche Verkürzung sagen wir witzigerweise vielleicht: „Wir hängen den Dali im Flur auf!“.

15 ...für den etwa Picasso geradezu eine Hassfigur war wie für Viele seiner Generation, worüber sich aber glücklicherweise mit ihm diskutieren ließ. Picasso gilt heute für Viele als bedeutendster Maler des 20. Jahrhunderts. Aber auch heute noch kann man in Alltagsgesprächen mit Menschen, die sich nicht besonders viel mit Kunst befasst haben, feststellen, dass er eine Art negativer Bezugspunkt ist (im Sinne von nicht-abbildend, keine schönen Stimmungen darstellend, verzerrend, vereinfachend).

16…wobei dann das mit den Zeitepochen wechselnde Gewicht der Kreativität innerhalb dieses Kunstbegriffs von Interesse wäre...

17 …wie beispielsweise Definitionen, was was bedeutet, was der Zweck von etwas ist; Skripten, also sozial geteilten Vorstellungen über Handlungsabläufe wie ‚Zeitung am Kiosk kaufen’ oder ‚Wohnungsbesichtigung vornehmen’

18 Von „unbelebten“ Aspekten wird hier gesprochen im Unterschied zu Element (b), also evtl. vorhandenen Personen. Der Ausdruck ist insofern etwas problematisch, als diese unbelebten Elemente meist von Menschen angefertigt und mit Bedeutung aufgeladen wurden. Zum Beispiel die Vitrine um Museum oder ein barocker Bilderrahmen.

1. Malerfaktoren, Betrachterfaktoren, Kontextfaktoren

Auf das Handeln des Malers wirken sich vielerlei Faktoren aus, die im Folgenden geordnet dargestellt werden sollen. Vieles von dem lässt sich, wie gezeigt werden wird, auch auf den Betrachter übertragen, der nicht zugleich der Maler des Bildes ist, der interpretiert das Bild ja auch nicht in einem luftleeren Raum sondern, um es vereinfacht zu sagen, als Kind seiner Zeit und Produkt seiner Art von Verarbeitung des Erlebten. Mit dem Betrachter bzw. dem, was in ihm vorgeht, befasst sich dieser Text ebenfalls ausführlich, auch deshalb, weil wie bereits erwähnt, der Maler selbst auch Betrachter des entstehenden und vollendeten Werks ist. – Betrachter und Maler: Unter welchen Einflüssen stehen sie?

1.1. Determiniertheit und Autonomie im Kunstwerk

Beginnen wir mit dem Allgemeinsten. Wir haben es bei einem Kunstwerk mit etwas Janus-Köpfigem zu tun. Seine Produktion ist einerseits von vielen Faktoren abhängig und insofern ein Stück weit „determiniert“. Und doch ist der kreative Prozess irgendwie jenseits der Gesetzmäßigkeiten insofern, als er immer anders verläuft. Adorno (1996, Bd. 7), selbst nicht nur Sozialwissenschaftler und Philosoph sondern auch Künstler (Komponist), weist in seiner Ästhetischen Theorie darauf hin, dass das Kunstwerk einerseits ein gesellschaftlich erzeugter Tatbestand ist, indem es Produkt gesellschaftlicher Arbeit und in die herrschenden Produktionsverhältnisse eingebunden – und auch verkäufliche Ware – ist. Es ist aber in sich, verglichen mit anderen im gesellschaftlichen Kontext hergestellten Gebilden, funktionslos19; deshalb kann zur Kunst gesagt werden: „Indem sie sich als Eigenes in sich kristallisiert, statt bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren und als ‚gesellschaftlich nützlich’ sich zu qualifizieren, kritisiert sie die Gesellschaft durch ihr bloßes Dasein.“ (S. 337)

Abb. 1. E.Kayser, Adorno findet auf hoher See sich20

Hierdurch hebe sie sich als „authentische Kunst“ ab von Produkten der Kulturindustrie wie Kino, Radio, Fernsehen, die dem Menschen das Verlangen nach Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung austrieben.

Von Autonomie des Kunstwerks ist natürlich nicht nur bei Adorno die Rede (siehe z.B. Bredekamp, 2015). Wenn von Autonomie des Kunstwerks die Rede ist, wird es als etwas gesehen, das ein distinktes Gegenüber des Betrachters darstellt. Bredekamp spricht dabei von verschiedenen Arten des 'Bildakts'. Dabei geht es u.a. darum, dass Bilder in der Kulturgeschichte teils wie autonome Wesen behandelt wurden, dass also z.B.

Picassos

Guernica

abgedeckt wurde im Zshg. mit der Veranstaltung, bei der Powell „Beweise“ präsentierte, mit deren Hilfe die Militärintervention im Irak begründet wurde (vgl. auch

Kap. 8.2

), oder dass…

Vorhänge vor

Gustave Courbets

Skandalbild

Der Ursprung der Welt

angebracht waren oder dass es einen…

Bildersturm in der Reformation (und, füge ich hinzu, in der Neuzeit z.B. in Palmira) gab und in gewisser Weise bei Charlie Hebdo (Mohammed-Darstellungen in Karikaturen).

Solche Vorgänge, aber vor allem wohl das „bildaktive Surplus“ (Bredekamp, 2015, S. 15), eine sozusagen überschüssige Unerklärbarkeit von Bildern, Bildaspekten oder Bildelementen, belegen nach dieser Auffassung, dass es berechtigt sei, wenn Bildern eine autonome Macht oder Kraft zugeschrieben wird. Bredekamp (S. 18) schreibt, dass in seinem antikonstruktivistischen Vorstoß „das Gegenüber des Menschen eine eigene Objektaktivität“ bewahre.

Bredekamp tritt - seinem Vorwort zur Neufassung 2015 (S. 17) gemäß - an gegen „mächtige Denktraditionen der Moderne, die ungebrochen die gegenwärtige Welt des Wissens beherrschen. Hierzu gehören Formen des Dualismus, wie sie im harten Naturalismus mancher Bereiche der Naturwissenschaften, im Zerebralzentrismus einer hegemonialen Neurowissenschaft, im Konstruktivismus der analytischen Philosophie oder auch in der linguistischen Spielart der Zeichentheorie verankert sind.“ Es klingt fast ein wenig nach einer Verschwörung, gegen die man sich durch Einnahme einer anderen (der Bildakt-) Position wehren müsse, die die dem Menschen gestaltet entgegenkommende Welt in den Mittelpunkt hebt. Wie überzeugend diese Gegenposition („Der Bildakt“) belegt wird, muss der einzelne Leser entscheiden. Ich halte aber diese Perspektive, auch wenn ich sie im vorliegenden Text nicht einnehme, für eine wichtige Ergänzung in der Untersuchung von Bildern und ihrer Wechselwirkung mit dem Betrachter, aber vor allem insofern, als hier an einigen Stellen durch Einspruch und Kritik gegenüber der in der Bildaktperspektive vorgebrachten Argumente der Blick für die hier vertretene Auffassung geschärft wird. Ich komme in Kap. 2.3. hierauf ausführlicher zurück.

Im Gegensatz zu dieser Perspektive nehme ich, wie schon im Einleitungskapitel angekündigt, im vorliegenden Text eine konstruktivistische Position ein. Der Betrachter wird dabei als jemand gesehen, in dem die Welt nicht einfach wahrnehmungsmäßig abgebildet ist, sondern als jemand, der seine eigene subjektive Wahrnehmung des Bildes aufbaut und Eigenes in das Bild hineinprojiziert. Sinn und Bedeutung werden dadurch konstituiert. Vereinfacht gesagt konstruiert er das in sich nach, was er vor sich sieht. Untermauerungen dieser Position durch neurowissenschaftliche Befunde werden dankbar aufgegriffen, und ich ziehe auch, weil sie teils hilfreich erscheint, sprachpsychologische Erkenntnisse hinzu. Aus meiner Sicht gibt es keinen Zweifel, dass Bilder als analoge Kommunikationsmedien oft eine massivere, stärkere Wirkung auf das Gefühlsleben der Betrachter ausüben als (Verbal-)Texte, was vielleicht zur Einnahme eines „Bildakt“-Standpunktes verführen mag. Dass wir Bilder als so unmittelbar emotional wirkend erleben, liegt teils daran, dass im Unterschied dazu Texte, bevor sie Wirkung entfalten, erst sozusagen umständlicher entziffert werden müssen.

Die Einwirkung von Texten verläuft aufgrund von Sequenzierungs- / Linearisierungsvorgängen (und - notwendigkeiten) bei der Sprachproduktion und entsprechend bei der Sprachwahrnehmung und dem Sprachverstehen zeitlich ausgedehnter als die Einwirkung eines Bildes mittels blitzschneller Blickabtastbewegungen darauf. Die Wirkung erfolgt also unmittelbarer. Das ist leicht nachzuvollziehen, wenn man vor seinem geistigen Auge das Foto des kleinen Mädchens, das in Vietnam vor einem Napalm-Angriff flüchtete (Nick Uts ‚Napalm Girl') einer rein verbalen Beschreibung der Szene gegenüberstellt. Ich möchte hier also eher davon sprechen, dass das Bild auf die eben skizzierte Weise anders auf das Gehirn einwirkt als der sprachliche Text; ich spreche hingegen nicht von einer autonomen Wirkmächtigkeit des Bildes im Sinne der Bildakttheorie. Dass man zwischen diesen Positionen einen derart tiefen (bzw. gar ideologischen) Graben sehen muss wie das von dem zitierten Vertreter der Bildakttheorie getan wird, finde ich nicht zwingend erforderlich.

Die oben angeführten Bemerkungen Adornos unterstellen noch eine recht klare Unterscheidbarkeit zwischen Kunst und sonstigem Kulturprodukt, denn er meint ja, die Kunst „hebe sich ab“ davon. Sicher ist dem theoretisch zuzustimmen, vorausgesetzt, man hätte etwas bereits als Kunst identifiziert. – Um der Frage ein wenig auszuweichen, ob sich hier bei Adorno nicht ein Zirkelschluss21 eingeschlichen hat, kann man vielleicht feststellen, dass die Situation heute unübersichtlicher geworden ist. Saehrendt & Kittl (2016, S. 9) thematisieren, wie schwer es (heute?) ist, hier noch klare Grenzen zu ziehen, und fragen:

„...wie kann ich Kunst überhaupt noch von anderen Bereichen, die ebenso bunt, glänzend und durchdesignt sind, unterscheiden? Diese Fragen stellen sich heute drängender denn je, da sich einerseits das Kunstuniversum immer weiter ausdehnt und andererseits keine klaren Unterscheidungskriterien mehr existieren zu den heutigen Erlebniswelten des Tourismus, der Eventkultur und kulturell orientierten Markeninszenierungen.“ – Und S. 35: „In den entwickelten pluralistischen Ländern der Welt hat Kunst heute die Eigenschaft von Kriechöl: Sie dringt überall ein, wird zum Schmiermittel der gesellschaftlichen Mechanik, ölt die Konsummaschinerie, die niemals stillstehen darf.“

Mit der in den Bemerkungen von Adorno angeklungenen Unterscheidbarkeit zwischen Kunst und sonstigem Kulturprodukt, von dem sich die Kunst abhebe, wäre es demnach in der realen Kunst heute nicht mehr weit her, man muss Adornos Äußerung als idealtypisch und theoretisch charakterisieren, und so verweist sie auf etwas, was Kunst zu sein hätte, wenn sie sich zurückbesinnen wollte.

1.2. Der aktuelle situative Kontext von Bild und Maler bzw. von Bild und Betrachter

1.2.1. Der situative Kontext des Betrachters

Durchrennen oder Sich-Einlassen. Museen waren die „Geburtsstätten für die freie Begegnung zwischen Bürger und Kunstwerk.“ Saehrendt & Kittel, 2016, S. 198) Diese Autoren sprechen von einer „ritualisierten Unterwürfigkeit der Betrachter, getragen von der Hoffnung, vom Werk eine geistige Bereicherung zu erfahren oder emotional ergriffen zu werden“ und meinen: „Noch vor einer Generation war diese Form der Annäherung sehr verbreitet: Eine Mischung aus Verlegenheit angesichts der sakral anmutenden Inszenierung von Kunst und Angst, sich falsch zu verhalten.“ Schließlich: „Die Festlichkeit der hohen Künste ist in der Gewöhnlichkeit verloren gegangen.“ (a.a.O., S. 199). Die Autoren erwähnen eine Studie des Kulturwissenschaftlers Tröndle, der festgestellt habe, dass der männliche Besucher heutzutage im Museum nur 11 Sekunden (Durchschnittswert) vor einem Bild verbringe, Frauen etwas mehr. Ich vermute, dass die Betrachtungszeit in einer der heute modischen Riesenausausstellungen für das einzelne Werk im Durchschnitt noch kürzer ist.22Es mag ja zutreffen, dass die kontemplative Begegnung mit dem Kunstwerk – selbst wenn man sie bereinigt von Aspekten wie Unterwürfigkeit und Angst davor, etwas falsch zu machen – irgendwie dem Zeitgeist widerspricht; allerdings ändert sich auch sozusagen per definitionem der Zeitgeist mit der Zeit, und gerade eben hat man sich wieder an Vorgaben wie „Entschleunigung!“ und „Achtsamkeit!“ gewöhnt.23 Ob das etwas am Umgehen mit Kunst bewirkt, darf bezweifelt werden, so wünschenswert es m.E. Sicht wäre. Alles andere ist, aus meiner Sicht, Kapitulation vor dem Trend, kurz hinzusehen und weg zu zappen bzw. woanders hin zu surfen oder zu googeln oder eine andere Nachricht zu lesen in Erwartung einer schnellen Aufregung. Die Gefahr ist allgegenwärtig, dass der Künstler versucht, mit dem jeweils Sensationelleren aufzuwarten, das aber den Betrachter an der Oberfläche belässt. Ich plädiere für die ruhige Auseinandersetzung mit dem Bild im Gegensatz zum Durchrennen durch eine Biennale und von mir aus eingesponnen in eine „Mischung aus Flanieren und effizientem Manövrieren“ (a.a.O., S. 202), aber im Gegensatz zu einem „impulsiv fahrigen Hin und Her“, was in Großausstellungen für Viele die dominierende Bewegungsform ist.

Diese Anmerkungen über den Betrachter im Museum versus auf einer großen Kunstmesse zeigen, dass der situative Kontext, in welchem die Bildbetrachtung stattfindet, nicht unbedeutend ist. Im eben genannten Zusammenhang beeinflusst er die Intensität und Dauer der Auseinandersetzung mit dem Bild.

Unterschiedliche museale Kontexte. Aber selbst, wenn man in dem äußeren Rahmen „Museum“ bleibt, können Situationen der Betrachtung sehr unterschiedlich sein:

Der Eindruck, den ein großformatiges Bild des Barockmalers Rubens (1577-1640), in dem er üppige nackte Frauen auftreten lässt, auf den Betrachter macht, wird anders sein, wenn dies das einzige Bild dieser Art in einer Ausstellung ist als dann,

wenn ein ganzer Saal oder Gang voll solcher Bilder hängt. Und er würde noch anders sein,

wenn (ich habe so etwas allerdings noch nie erlebt) das Bild neben dürren weiblichen Figuren in Bildern des expressionistischen Wiener Malers Schiele (1890-1918) hinge.

Aber auch einzeln zu betrachtende Altarbilder im Museum oder in der Kirche erhalten eine ganz andere Aufmerksamkeit als

eine ganze Serie, sagen wir mal in einer Museumsabteilung über gotische Altarbilder.

Diese Hinweise mögen genügen; ich möchte das Thema der Auswirkung unterschiedlicher musealer Kontexte auf die Bildbetrachtung hier aus dem Grunde nicht weiter vertiefen, weil es zu weit wegführt vom Maler, denn der hier zuletzt gemeinte Betrachter ist ja nicht der Maler selbst. Das gilt auch für die beiden folgenden Absätze, in denen ich situative Gegebenheiten und die Frage, was sie beim Betrachter auslösen, nur streifen möchte.

Volle oder geteilte Aufmerksamkeit; Funktionen eines Museumsbesuchs. Auch andere situative Kontextbedingungen wirken sich auf die Betrachtung aus. So kann es natürlich leicht vorkommen, dass es einem Betrachter gar nicht primär um ein Bild geht, sondern z.B. darum, mit jemandem ins Gespräch zu kommen oder dort gesehen zu werden etc.

Man achtet als Betrachter von Bildern im Museum auf anderes, wenn man mit jemandem dort ist, der die eigene Aufmerksamkeit auf ein anderes Drittes (ihn und seine Ansichten etc.) lenkt als auf das Bild. Ich möchte nicht behaupten, dass das schlimm sei, aber es ist etwas anderes als Konzentration allein auf das Bild.

Aber auch wenn man mit jemandem anders ein Bild betrachtet, kann es sein, dass die eigene Aufmerksamkeit geteilt ist, nämlich wenn man weiß, dass dieser andere von einem Urteile, Bewertungen erwartet. Ich behaupte, dass das das den eigenen Betrachtungsprozess beeinflusst. Auch hier kann man natürlich nicht einfach sagen, das wäre schlecht, aber es ist etwas anderes als die ungeteilte Hinwendung auf ein Artefakt.

Es hängt von der Persönlichkeit des Betrachters ab, ob er / sie eine intensivere Begegnung mit einem Werk haben kann, wenn er allein davorsteht oder mit jemandem ist, mit dem er darüber spricht, oder ob es ihm mehr bringt, wenn er eine Arbeit erst allein studiert und sich dann mit jemandem bespricht. Abgesehen davon, dass es natürlich immer von der konkreten anderen Person und der eigenen Beziehung mit ihr abhängt, was man vorzieht, verhält es sich ein wenig wie mit „Lerntypen“. Der eine lernt besser, wenn er das zu Lernende hört wie etwa bei einer Vorlesung, der andere mag eher ein „visueller“ Typ sein, der Bilder, Diagramme, Texte etc. als Unterstützung dringender braucht.

Was Kunstbetrachtung betrifft, ist die „Verfügbarkeit“ des Anderen als präsenter Austauschpartner natürlich eine Frage des situativen Kontextes, und man muss, wenn man das braucht, im Vorfeld des Museumsbesuchs mehr organisieren oder es riskieren, andere Museumsbesucher zu stören, indem man sie anspricht. Und sofern man die Anwesenheit des Anderen als störend für die eigene Auseinandersetzung mit dem Bild erlebt, nötigt einem dieser Umstand entsprechende Lösungsfindungen auf, die wesentlich durch die Spezifität des eigenen Charakters und durch die jeweilige eigene Wahrnehmung des situativen Kontextes bestimmt sind.

Andere Kontexte der Bildbetrachtung: Botschaften des Bildbesitzers. Wenn man in eine Privatwohnung kommt, wird man meist mit Bildern an den Wänden konfrontiert. Damit werden seitens des Eigentümers Mit-Botschaften gesendet.24

Eine großformatige Reproduktion eines Feininger-Bildes „will“ etwas anderes (über den Besitzer) mitteilen als ein Plakat mit der sorgsam inszenierten Toilettensitzung von Frank Zappa, wie man es in den 60-er und 70er-Jahren oft vorfinden konnte. (Das Beispiel ist im wahrsten Sinne des Wortes „plakativ“; ich sehe hier mal von der Frage ab, ob das Zappa-Plakat „Kunst“ war oder ist, es geht mir nur um die Illustration des Aspekts der „Botschaft“.)

Solche Kontextfaktoren „wirken“ sozusagen unauffällig oder, wenn man so will, suggestiv / manipulativ im Hintergrund, solange man es nicht anspricht, und das direkte Ansprechen fällt je nach Beziehungs-Kontext und Betrachter-Persönlichkeit mal leichter, mal schwerer. Zwei andere Beispiele:

Es hat sicher eine andere Wirkung auf den Betrachter, wenn er ein Bild von G. Richter in einem Museum betrachtet als wenn er eines bei einem Besuch im Wohnzimmer den Herrn X. vorfindet. Ein Grund dafür mag sein, dass Herr X. dieses Bild einfach liebt; aber indem er ein so teures Bild als sein Eigentum zeigt, transportiert er natürlich unter anderem Status-Botschaften über sich; die Kunst wird mit einer Funktion (Status zu kennzeichnen) versehen, und meine Aufmerksamkeit als Betrachter des Bildes wird unweigerlich gespalten, d.h. sie kann gar nicht eindeutig beim Bild sein, sie ist zum anderen Teil bei dieser Kommunikation über Bedeutung und Einkommen des Herrn X in Relation zu mir.

Ein Beispiel aus einem öffentlichen (oder besser halböffentlichen) Raum: Als Gerhard Schröder deutscher Bundekanzler war, konnte man auf Pressefotos hinter seinem Schreibtisch an der Wand ein Bild von Baselitz sehen.

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Seine Amtsnachfolgerin Merkel präsentiert sich gern vor einem Adenauer-Portrait von Kokoschka. Die Konstellation Merkel-Kokoschka-Adenauer soll vielleicht, so meine Interpretation, suggerieren: Die Kanzlerin stellt sich für den Betrachter so dar, dass ihre Verknüpfung mit den Themen Konservativismus (Adenauer) und Moderne (aber nicht zu zeitgenössisch, vielmehr Kokoschka, Klassische Moderne) in den Vordergrund kommt.

Normalerweise wird all dies nicht angesprochen und somit explizit oder bewusst gemacht. Die Bildbetrachtung verläuft allenfalls nebenher, aber sie wirkt sich auf den Betrachter aus (sonst würden kaum so teure Bilder, die ja zudem versichert werden müssen, in diesen Räumen verwendet).

Das letztere ist auch ein Beispiel für „andere“ Funktionen der Kunst (vgl. auch Kap. 8.1.); die Kunst wird eingesetzt und damit aus dem Bereich des „Nutzlosen“26 herausgeholt. (Man könnte – obwohl das hier nicht unser Thema ist - natürlich fragen: Kann sie dann noch als Kunst gelten? Der Strudel, in den man dann gerät, ist offensichtlich: Wenn ein Artefakt vorher Kunst war, wieso ist es das dann nicht mehr, wenn es eine solche andere Funktion erhält?)

Diese wenigen Stichworte bzw. Beispiele galten den Einflüssen des situativen Kontextes, in dem das Bild betrachtet wird, auf den inneren Prozess beim Betrachter. Dies ist jedoch wie bereits erwähnt nicht unbedingt zentral für die hier im Fokus stehende Thematik der Kreativität beim Malen, sodass wir hier von einer weiteren Vertiefung des Themas Einfluss des Kontextes auf den Bildbetrachter absehen können. Ich nähere mich also wieder dem Maler selbst, aber auch hier zunächst den Einflüssen – und zwar anderen Einflüssen - des Kontextes.

1.2.2. Der situative Kontext beim Malen

Weit wichtiger für unser Thema ist nämlich die Frage, was der Kontext mit dem Maler macht, geht es uns doch vor allem um die Frage der Kreativität beim Malen.

Auf welche Weise das „Autonome“ oder „Authentische“ des Kunstwerks jeweils entsteht und herausgearbeitet wird, hängt letztlich auch von den gesellschaftlichen Umständen ab, unter denen es entsteht, auch wenn es, versteht man es mit Adorno, nicht gerade völlig gesellschaftlichen Normen ‚willfahren’ mag, und auch wenn es nicht im üblichen Sinne ‚gesellschaftlich nützlich’ ist.

Zentrum der aktuellen äußeren wie inneren Situation des Malers oder des Betrachters ist natürlich das Bild, mit dem sie sich beschäftigen. Mit der Interaktion des Betrachters mit dem Bild selbst (Kap.2) und der des Malers mit dem Bild selbst (Kap.3) werden wir uns noch ausführlich beschäftigen. Es gibt aber auch einen situativen Kontext, in dem sich Maler und Bild miteinander befinden, also einen Hintergrund der Arbeit am Bild.