Das Bedürfnis nach ästhetischer Erfahrung und der kreative Prozess - Egon Kayser - E-Book

Das Bedürfnis nach ästhetischer Erfahrung und der kreative Prozess E-Book

Egon Kayser

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Beschreibung

Wie funktionieren Wahrnehmen und Verstehen im Alltag, und wie unterscheidet sich dies vom Prozess der Bildbetrachtung im Bereich der vormodernen und der modernen Kunst? Ein Prozessmodell von Alltags- und von Kunstrezeption wird auf der Grundlage vorliegender psychoanalytischer, neurowissenschaftlicher und kunstwissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt. Der Betrachter-Seite wird die Schöpfer-Seite gegenübergestellt durch die Entwicklung eines Prozessmodells der kreativen Prozesse bei der Erstellung vormoderner und moderner Bilder. Als übergreifendes Thema für all dies wird der Umgang mit dem Befremdlichen und dem Fremden ausgemacht. Wahrnehmen und Verstehen bei moderner Kunst wird als Übungsfeld für die Integration von Erfahrungen mit dem Befremdlichen und Fremden und die Überwindung von Vorurteilen im sozialen Bereich verstanden.

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Seitenzahl: 465

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Überblick

I. Welt: Verarbeitung der Welt

1. Wirklichkeitsevidenz

2. Falsifikation, Transzendierung und Rückkehr

3.

Verstehenwollen

4. Hypothesengenerierung und -überprüfung

5. Innere Konstruktion der Wirklichkeit

II. Kunstwelt 1: Verarbeitung der vormodernen Kunstwelt

1. Das Bild

2. Ästhetisches Bedürfnis und ästhetische Erfahrung

3. Aufnehmen,

Verstehenwollen

, Hypothesengenerie-rung und -überprüfung bei der Betrachtung von vormodernen Bildern

4. Der kreative Prozess

III. Kunstwelt 2: Verarbeitung von Bildern der Moderne durch den Betrachter, kreativer Prozess beim Maler

1. Sicherer Boden für die Ungewissheiten der modernen Kunst

2. Hypothesengenerierung und -prüfung bei der Betrachtung von Bildern der Moderne

3. Bedeutungsfragen und die Frage von

Endlichkeit

oder Unendlichkeit des Suchprozesses:

Polysemietheorie und Negativitätsästhetik

4. Der kreative Prozess

4.1. Materialfragen beim kreativen Prozess

4.2. Bedeutung der Entscheidung für einen bestimmten Stil der Malerei beim kreativen Prozess

4.3 .Bedeutung des inneres Betrachtermodells beim Transformationsprozess

4.4. Inhalt und Form im kreativen Prozess

4.5. Externalisierung, (Re-)Internalisierung und Distanzierung im kreativen Prozess

4.6. Dekonstruktion und Konstruktion innerhalb des kreativen Prozesses

4.7. Der Kontext des Kreativen

4.8. Parallelen in den inneren Prozessen beim Maler und beim Betrachter

IV. Welt und Kunstwelten: Neubewertung

der Fragen des Konsenses und der Evidenz

1. Ebenen des Verstehens von Situation und Bild

2. Sicherheit und Wagnis

3. Auswirkung der ästhetischen Erfahrung auf den außerästhetischen Bereich: (1) Umgang mit dem Befremdlichen

4. Auswirkung der ästhetischen Erfahrung auf den außerästhetischen Bereich: (2) Umgang mit dem Fremden

V. Generierung und Prüfung psychoanalytischer Hypothesen über das eigene Werk

1. Über die Verwendung von Introspektions-Material

2. Kunstwerk oder Werk, Künstler oder Werk-Ersteller?

3. Das Werk

4. Gewollte Erinnerungen an die Erstellung des Werks

5. Erinnerungen und Ideen, die bei Betrachtung des fertigen Werks aufsteigen

6. Eigene Interpretation des Werks auf Grundlage der Erinnerungen und Assoziationen

7. Überlegungen zum kreativen Prozess bei diesem speziellen Werk

8. Zusammenfassung

9. Diskussion

Literaturangaben

Anhang 1: Zusammenfassung der Theorie anhand der zentralen Thesen

Anhang 2: Die Enttäuschung des Herrn F: Geschichte zur Illustration des Zusammenhanges zwischen interpersonalen Ressourcen, Bedürfnissen und Beziehungseinschätzung

Fußnoten

Überblick

Eine aus meiner Sicht außerordentlich grundsätzliche Art der Verankerung von uns Menschen in der Welt besteht darin, das, was wir wahrnehmen, für wirklich zu halten (Wirklichkeits-Evidenz-Erleben, im Folgenden: W-Evidenz). Wir verfügen über blitzschnell und in großen Teilen unbewusst ablaufende interne Mechanismen, Unklarheiten diesbezüglich zu prüfen und zu „korrigieren“.

Der innere „Antreiber“ dafür ist ein tief in uns verankertes Motiv, das hier Verstehenwollen genannt wird, welches einen Hypothesengenerierungs- und Prüfungsprozess auslöst mit dem Ziel, eine möglichst zeitstabile, in sich möglichst widerspruchsfreie und interpersonalen Vergleichen standhaltende innere Konstruktion der Welt zu erreichen.

Das wirklich Erstaunliche dabei ist, dass uns diese Welt „evident“, real, wirklich vorkommt - und zwar trotz laufender Irritationen und Unvollkommenheiten, die sich, von der Sinnesrezeptorenebene bis zu „höheren“ geistigen Prozessen (z.B. Zurkenntnisnahme von Erkenntnissen der Physik oder philosophischer Theorien) immer wieder ereignen. Immer wieder landen wir in der absoluten Gewissheit, dass das, was wir da gerade vor uns sehen, „das Ding an sich“ sei - auch wenn wir vielleicht längst „wissen“, dass ein Zugang zum „Ding an sich“ unmöglich ist.

Wenn wir den Bereich der Kunstwerke betreten, begeben wir uns bezüglich der Fragen des Verstehenwollens, des erreichbaren konsensualen Verstehens, des Erlebens von W-Evidenz, vor allem bei der sog. modernen Kunst, auf Glatteis. Was uns bei Betrachtung der sonstigen Welt hochgradig erschüttern würde, suchen wir hier auf und setzen uns ihm aus.

Wie ist dieser Kontrast Welt↔Kunstwelt zu verstehen? Wieso haben sich die Künstler und die Kunstinteressierte Mitwelt auf dieses Abenteuer eingelassen? Welche Folgen könnte das zeitigen?

Zu den einzelnen Kapiteln:

In Kap. I geht es um Wahrnehmung, Verstehen, um den Wunsch nach Konsens, um das Erleben von W-Evidenz in der Alltagswelt und die vielen Formen ihrer Transzendierung. Das Motiv Verstehenwollen wird erläutert und begründet und auf das „pathologische“ Gegenstück (nicht verstehen zu wollen) hingewiesen. Das Motiv, verstehen zu wollen, meldet sich bei der Konfrontation mit Befremdlichem. Es löst einen Prüfprozess aus: Hypothesengenerierung und -prüfung.

In Kap. II geht es um den Kunstbereich vor Anbruch der sog. Klassischen Moderne, um künstlerische Artefakte, speziell: um Bilder mit eher abbildendem Charakter. Es geht um die Fragen, was eigentlich ein Bild ist, wie der Prozess „Verstehenwollen → Hypothesengenerierung und -prüfung“ beim Bildbetrachter hier abläuft und wie der kreative Prozess beim Künstler verläuft.

In Kap. III betreten wir den Bereich der modernen bildnerischen Kunst mit all seinen Unklarheiten, was die Identifizierbarkeit von Gegenständen und Szenen und Fragen von Sinn und Bedeutung anlangt, kurzum: Es geht um die Probleme, auf die der Prozess „Verstehen-wollen → Hypothesengenerierung und -prüfung“ stößt und wie er damit umgeht, und es geht schließlich auch um den kreativen Prozess beim Maler der Moderne.

In Kap. IV werden die Erfahrungen mit der Alltagswelt und mit den Kunstwelten miteinander konfrontiert. Es geht dabei u.a. um die Auswirkung der ästhetischen Erfahrung auf den außerästhetischen Bereich, u.a. durch Zuhilfenahme des Begriffs der Konfrontation mit dem „Fremden“, der für die Kunstbetrachtung wie auch für den Bereich des sozialen Miteinanders herangezogen wird.

Das letzte Kapitel des Textes (IV) besteht aus einem kürzeren und gewagten (weil ein eigenes Werk analysierenden) Text, der zum einen auf die im Haupttext entwickelte psychologische Theorie über Kunstwahrnehmung und den kreativen Prozess rekurriert und zum andern die Generierung und Prüfung psychoanalytischer Hypothesen über ein künstlerisches Werk aus Sicht des Produzenten vorführt.

Es folgen zwei Anhänge. Im ersten wird die hier vorgestellte Theorie in Thesen zusammengefasst dargestellt. Der zweite enthält eine kurze Geschichte zum Verstehenwollen einer zwischenmenschlichen Beziehung angesichts einer unerwarteten Konfliktsituation.

I. Welt: Verarbeitung der Welt

Womöglich ist unser primäres Anliegen in der Welt die Befriedigung unseres Bedürfnisses nach Sicherheit (Carson, 1969, 1979), und damit nach Freiheit von Angst.

Was aber macht uns „sicher“? Wie sind wir eigentlich im Leben, in der Welt, verankert, auf welche Weise kommen wir darin vor? Hier ein paar Vorschläge:

Ichbewusstsein:

Wir erleben uns selbst im Zentrum unserer Welt, als lebendig, als Ursprünge unserer Handlungen, als abgegrenzt von Anderen, als über die Zeit hinweg stabil und als Einheit unserer Gedanken, Einstellungen, Überzeugungen, Gefühle und des Körpers. Scharfetter (2020) zählt Formen des Ich-Bewusstseins auf (die z.B. bei Schizophrenen gestört sein können)

1

. Der Neurobiolo-ge Roth (2019, S. 28f.) benennt für das Bewusstsein der körperlichen Identität und eigenen räumlichen Lokalisation, für das Erleben der personalen Kontinuität und für das Gefühl der Autorschaft eigener Handlungen zuständige Areale der Großhirnrinde, die bei Patienten aufgrund von Läsionen (Verletzungen, Folgen von Schlaganfällen) identifiziert werden konnten.

Wenn wir von uns sprechen, sagen wir „ich“, und wir erleben uns als Ausgangspunkt unserer Wahrnehmung und unseres Willens, auch wenn Vertreter der modernen Neurowissenschaften das „Ich“ für eine Fiktion halten, die in den Hirntätigkeiten, soweit sie sich auf Monitoren der bildgebenden Verfahren sichtbar machen, keine Entsprechung fände (Eagleman, 2012, in einem Interview: „Das Ich ist ein Märchen.“)

Der Aspekt der Ich-Aktivität lenkt den Blick auf ein primäres Gefühl schon beim Säugling (vgl. Dornes, 1997, zum „kompetenten Säugling“): Die „Wirkmächtigkeit“. Sich

wirkmächtig erleben

zu wollen, ist ein wichtiger Antrieb für Erfahrungen in der Welt, und das setzt voraus, dass man sich selbst als Ursprung seiner Handlungen, die Effekte in der Welt hervorbringen, erlebt.

Verankerung in der eigenen Geschichte:

Wir erinnern uns an frühere Handlungen und Erlebnisse, erleben unsere Gegenwart als vorläufigen Folgezustand (Ich-konsistent) und entwickeln mehr oder weniger ausgearbeitete Zukunftsmodelle für unser Leben.

Verankerung in sozialen Beziehungen:

Wir sind und erleben uns innerhalb sozialer Beziehungen (Verwandtschaft, Freunde, Kollegen usw.) und erleben uns in den verbalen und nonverbalen Kommunikationen „gemeint“, als wir identifiziert, und wir beziehen uns auf diese Anderen als „ich“ und erkennen sie als „Onkel Heinz“ etc. und haben Vorstellungen darüber, wer sie sind und welchen Handlungen von ihnen in etwa erwartbar sind.

Arbeit: Von den mit Arbeit verbundenen sozialen Kontakten und Beziehungen abgesehen erleben wir uns auch in Betätigungs- /Handlungszusammenhängen, definieren uns teils über das, was wir inhaltlich tun, über unsere soziale und berufliche Rolle (‚Netzwerker‘, Mechaniker, Künstler).

Spirituelle Verankerung:

Evtl. erleben wir uns in spirituellen oder religiösen Zusammenhängen, beziehen uns innerlich auf Gott und/oder ein religiöses oder spirituelles System bzw. dessen Institutionalisierung wie eine Kirche, beten, meditieren etc. Möglicherweise liegt, was die Menschheitsgeschichte anlangt, hier gar der Ursprung innerer Verankerung: In früheren Kulturen erlebte „man sich von magischen Heilsmächten, elterlichen Königen und Priestern getragen, gehalten und bestimmt“ (Janus, 2008, S.194f.) Erst ein „modernes Ich“ begreife „sich aus der Kontinuität der eigenen Lebensgeschichte“ (ebda.), was aber nicht ausschließt, dass Menschen sich „über ihre instinktive Einpassung in eine bestimmte Lebenswelt hinaus … aufgehoben (erleben) in einem Kosmos mythenhafter Räume und Elternfiguren, wie dies in den Mythen der Menschheit entfaltet ist“ (ebda.)

Es mag auf den ersten Blick nicht auffallen - so selbstverständlich erscheint es uns -, aber ein wichtiger, vielleicht gar der elementarste, basalste Aspekt unserer Verankerung in der Welt, fehlt in dieser Aufzählung:

Wir nehmen Facetten der Umgebung und unserer selbst sinnlich wahr und halten das Wahrgenommene für die

Wirklichkeit.

Wir sind also sinnlich in der Welt verankert und nehmen mit ihr über unsere Sinnesorgane Kontakt auf.

Hierzu nun mehr.

1. Wirklichkeitsevidenz

Die Frage, wie wirklich die Wirklichkeit, die wir wahrnehmen, denn sei, ist nicht nur nicht neu (vgl. z.B. Watzlawick, 1976) sondern u.a. Thema der Philosophie seit der griechischen Antike (vgl. z.B. Gollasch, 2017, Baumann, 2015). Und seit der griechischen Antike hat sich eine große Menge an Zweifeln darüber angehäuft, wie valide denn das Bild der Wirklichkeit ist, das uns unsere Sinneseindrücke vermitteln. Im Laufe dieser riesigen Zeitspanne sind Gegenpositionen aufgebaut worden, wobei die eine Seite postuliert, dass wir alles aus diesen primären Sinnes-Erfahrungen ableiten, dass unser Hirn außer sich selbst im Grunde nur diese empirische Basis (die wahrnehmbare Welt) zur Verfügung hat, und die andere postuliert, verlässlich seien allein das Geistige und die Welt der Ideen.2 Im Grunde aber gehen wir in unserem Erleben mit Wahrgenommenem so um, als gäbe es keine Zweifel an und Einwände gegen seine Gültigkeit. Wir „übersehen“ dabei, in welchem Ausmaß das, was wir als wahrgenommene, z.B. gesehene Welt erleben, durch innere Verarbeitungs- und Ergänzungs-Vorgänge beeinflusst ist. Ein einfaches Beispiel zeigt, wie wenig das, was von uns bei der Weltwahrnehmung verstanden wird, ein Abbild dessen ist, was an unmittelbarem visuellem Input, der die Sinnesrezeptoren (hier: auf der Netzhaut des Auges) eingeht:

Beispie1 1 Kap. I.1: Ich sehe in Augenhöhe vor mir im Regal ein graues Quadrat, also eine grau gefärbte Fläche, und „weiß“, dass es sich dabei um ein nach oben offenes quaderförmiges Gefäß handelt, also eine dreidimensionale Töpferware. Wie sollte da auch eine quadratische Fläche stehen! Die quadratische Fläche auf der horizontalen länglichen schmalen rechteckigen Fläche dort „ist“ also ein auf einem Regal-Brett liegender Kubus. Geht man von Quadrat und Rechteck aus, ist die dritte Dimension hinzu-gedacht, quasi aus der Erinnerung3 ergänzt. Aber noch bevor sich die dritte Raumdimension in meine Wahrnehmung einschaltet, verfüge ich offenbar bereits über Kategorien wie Quadrat, Rechteck, oben-unten (woraus bei der räumlichen Sichtweise ein ‚liegen auf‘ wird, worin ferner ein Wissen über die Schwerkraft einfließt). Es ist offensichtlich, dass in die jeweils aktuelle Wahrnehmung aus unserem Inneren heraus Einiges einfließt, dass ihr Vielerlei vorausgeht, sie leitet.

Das Beispiel lässt erahnen, dass womöglich der größte Teil des Verständnisses der Situation nicht im engen Sinne wahrgenommen, sondern gedacht oder, wenn man so will, dazuerfunden bzw. vom Gehirn ergänzt ist.

Das betrifft nicht nur die Wahrnehmung der Dinge sondern umso gravierender die der Personen.

Bsp. 2a Kap. I.1: Selbstverständlich „wissen“ wir ganz genau: Marianne ist traurig. Ja, wir sehen es ihr unbedingt an. Und doch sehen wir unmittelbar nur eine bestimmte - durch Vorgänge in Mariannes Gehirn, in ihren Nervenbahnen und Muskelfasern bedingte - Veränderung ihrer Mimik. Neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse geben uns ferner Auskunft, dass das auch damit zu tun hat, dass beim Anblick dieses Gesichtsausdrucks Mariannes in unserem Gehirn Areale mitaktiviert werden, die auch beteiligt sind, wenn wir selbst traurig sind und entsprechende Mimik zeigen (Stichwort „Spiegelneuronen“ - dazu z.B. Kraft, 2008b, S.35 und s.u.). Natürlich „erleben“ wir solche hirnphysiologischen und -anatomischen Sachverhalte nicht unmittelbar, sie werden uns nicht bewusst, wenn wir Marianne sehen; unser Gehirn steuert hier also, wenn man so will, etwas Wichtiges bei, was zum Verstehen des Gesichtsausdrucks Mariannes führt, dieser Vorgang selbst aber bleibt uns als Vorgang in unserem Gehirn unbewusst.

Bsp. 2b Kap. I.1: Im Prinzip ähnlich verhält es sich im Bereich der Dinge. Wenn wir eine raue Oberfläche von etwas sehen (gegenüber einer glatten), wissen wir, wie sie sich (gegenüber der glatten) anfühlen würde, wenn wir sie anfassten. Auch hier besagen Ergebnisse humanneurobiologischer Forschung mit Hilfe bildgebender Verfahren, dass parallel zu dem visuellen Wahrnehmungsereignis eine Nachbarregion im Gehirn aktiviert wird, die ansonsten bei taktilen Reizen (Empfindung „rau“) angesprochen wird. Was wir also erleben und wissen, wenn wir eine raue Oberfläche sehen (nämlich wie sie sich an-fühlen würde), geht also weit über eine rein visuelle Angelegenheit hinaus (vgl. dazu z.B. Kandel, 2019, S. 104, und s.u.).

Schon in diesen Beispielen wird deutlich, wie sehr Wahrnehmen immer mehr ist also Registrierung eines Inputs bei bestimmten Sinnesrezeptoren (z.B. Netzhaut des Auges). Auch wird das sinnlich Wahrgenommene „gedanklich“ oder „verstandesmäßig“ geordnet oder zu Einheiten geformt, alphabetisiert, verwörtert, versprachlicht („Kubus“, „Gefäß“, „traurig“).

Eines ist offensichtlich: Wir müssen die Ebenen oder Bereiche auseinanderhalten, über die wir beim vorliegenden Thema reden.

Die eine Ebene ist die, die uns hier besonders interessiert: Die Ebene unseres Erlebens, also unsere Alltagserfahrungen. Wir

sehen

und sind uns sicher, dass Marianne traurig

ist.

Die andere Ebene sind die Resultate der von Menschen betriebenen Forschung und des philosophischen Denkens. In den

Naturwissenschaften

werden z.B. Gegenstände in ihrer chemischen Beschaffenheit betrachtet; oder die Gesichtsmimik wird bedingt gesehen durch Ereignisse in Muskeln, Nerven, Hirnprozessen der „traurigen“ Person; oder bei der Erforschung unseres Mitfühlens der Traurigkeit anderer wird als dessen wahrscheinliche unmittelbare Ursache unsere Erfahrung von Traurigkeit bei uns selbst und die Aktivität/Funktion der Spiegelneuronen entdeckt. In der

Philosophie

(mit Unterabteilungen wie Ontologie, Metaphysik, Erkenntnistheorie) stößt man etwa auf die Perspektive des an den sinnlichen Erfahrungen ansetzenden „Empirismus“ oder auf einen gegenteiligen „idealistischen“ Ansatz (z.B. Platons Ideenlehre), oder man trifft etwa auf die Transzendentalphilosophie Kants (die nicht die Gegenstände sondern die Arten unserer Erkenntnis darüber untersucht), oder die Sprachphilosophie (die die Bedeutung der Sprache für all unser Erkennen und Denken in den Vordergrund hebt), oder die „Phänomenologie“ (die bei unserem Erleben ansetzt, aber es philosophisch zu durchdringen versucht).

Diese zwei Ebenen, das eigene Erleben (man sieht einen Kubus, obwohl der sensorische Input selbst eigentlich nur eine Fläche zeigt; man sieht, dass Marianne traurig ist…) und Resultate von Wissenschaft und Philosophie, gilt es zu unterscheiden. Hilfreich könnte an dieser Stelle sein, das sog. 3-Welten-Modell des Philosophen Sir Karl Popper in die Überlegungen einzubeziehen (s. Popper, 1978). Er nahm eine ontologische Position ein, bei der er, grob vereinfachend, wie er selbst meinte, drei Welten annahm:

Eine

Welt 1

: die physikalische der materiellen Objekte,

eine

Welt 2

der subjektiven Bewusstseinsinhalte wie Gedanken und Gefühle, und

eine

Welt 3

der Resultate des Denkens der Menschen, also sprachliche Gegenstände der Welt, Theorien, Behauptungen oder Aussagen.

Er schlug dieses 3-Welten-Modell als eines von vielen denkbaren Modellen aus heuristischen Gründen, der besseren Übersicht wegen, vor und hielt auch eine Erweiterung für möglich um

eine

Welt 4

der Kunstwerke.

Ich halte diese Erweiterung besonders für den vorliegenden Text (Kap. II ff.) für eine hilfreiche Idee und nehme mir die Freiheit, mich einige Male auf dieses Modell, das man andererseits nicht zu ernst nehmen sollte, in dieser erweiterten Version, als auf Poppers 3-bzw. 4-Welten-Modell zu beziehen. Die eben vorgeschlagene Unterscheidung verschiedener Betrachtungsebenen ist dem Modell leicht zuzuordnen: Unterschieden wurde Welt 3 (Resultate von Forschung und Denken in Wissenschaft und Philosophie) von Welt 2 (Erleben; Gedanken, Gefühle). Und hier, in unserem Erleben, scheint es für uns so zu sein, als sei das Wahrgenommene genau so externe Wirklichkeit, also Welt 1, fast so, als handele sich um die Verwechslung zweier Welten. Ganz unabhängig davon, was über die Zweifel an der Wirklichkeit dessen, was wir für wirklich halten, bereits von uns selbst und anderen gedacht oder geschrieben wurde, erscheint uns das, was wir wahrnehmen, die ‚wirkliche', ‚reale' oder 'objektive' Welt zu sein. Es erscheint uns evident, und wenn wir nicht sagen …

Ich halte diesen Gegenstand in diesem Moment für eine Kubus-förmige Vase, obwohl ich eigentlich nur eine Flä che sehe. Ich vermute aufgrund ihrer Mimik, die ich sehe, dass Marianne traurig ist.

sondern

Da steht eine Vase auf einem Regalbrett. Rechts sitzt Marianne und ist traurig.

… ist das keine sprachliche Abkürzung sondern zeigt genau das an, was wir erleben. Ständig sind wir sicher, dass wir etwas real genauso Existierendes sehen, hören, ertasten, über das wir aber eigentlich jeweils nur rudimentäre Sinneseindrücke erhalten.

Aber natürlich können wir unsere Wahrnehmungen jederzeit überprüfen: Wir fragen jemand anders, ob Marianne traurig ist, oder sie selbst, und wir fragen jemanden anders, ob sie dort auch eine Vase sehen; wir können Letzteres auch morgen überprüfen und/oder mit dem Tastsinn nachprüfen, was wir gesehen haben ober wir erheben uns und schauen uns das Ding (die Vase aus Steingut) auch von oben oder von schräg von vorn an ….

Das ist der Sachverhalt auf der Ebene des Erlebens. Im reibungslosen Fall handelt es sich um ein Erleben außerordentlicher Unmittelbarkeit. Die Voraussetzungen, die den Wahrnehmungsprozess strukturieren, die Ergänzungen, die wir vornehmen, all das bleibt in einem sozusagen unerkannten, und unbewussten Bereich. Ich spreche bei diesem Unmittelbaren im Folgenden von Evidenz bei der Welt- bzw. der Wirklichkeitswahrnehmung (Wirklichkeits-Evidenz-Erleben, kurz: W-Evidenz).

Zum Begriff ‚Evidenz‘: Dabei erleben wir einen Sachverhalt als unmittelbar einleuchtend. Man hat weder das Gefühl, dies weiter beweisen oder belegen oder, wie oben angedacht, überprüfen zu müssen noch das, dass dies widerlegbar sei. Darauf gründet ein Gefühl der Gewissheit.

Schon der mittelalterliche Philosoph und Theologe Johannes Duns Scotus (um 1266–1308) beschrieb die Evidenz als intuitive Erkenntnis. Evident seien Prinzipien der Logik (z.B. der Satz von der Identität: Gegenstand A ist mit Gegenstand B identisch, wenn es keine Unterschiede zwischen A und B gibt), evident ist uns auch die Intentionalität des eigenen Handelns, evident sind uns aber auch Gegenstände der unmittelbaren sinnenbasierten Erfahrung (de Vries, 1937, S. 43). Was uns selbst betrifft, liefert uns, sofern wir nicht unter schizophrenen Ichstörungen leiden, unser Ichbewusstsein (s.o.) Evidenz über uns.

Besonders im Werk des Phänomenologen E. Husserl spielte das Erleben von Evidenz eine wichtige Rolle; in der Philosophie wurde der Begriff der Evidenz, etwa ihre Bedeutung in der Logik oder bei der Suche nach wahren Urteilen, immer wieder kritisch hinterfragt.

Im vorliegenden Text geht es jedoch nicht um die Frage der Bedeutung der Evidenz in der Erkenntnistheorie der Philosophie. Es geht um Evidenz im Alltagsleben der Menschen bei ihrem „Erkennen“ dessen, was Wirklichkeit ist und bei ihrer Selbstverortung in der Wirklichkeit.

„All unser Argumentieren, Ableiten, Widerlegen, Überprüfen ist ein ununterbrochener Appell an Evidenzen, wobei … das ‚Appell an…‘ nicht so misszuverstehen ist, als würde die Evidenz jeweils den Gegenstand der Rechtfertigung darstellen. Sie ist das ‚Wie‘ und nicht das ‚Worüber‘ des Urteilens.“ (Stegmüller, 1969, S. 168).

Evidenz ist demnach eine zentrale Säule unseres Argumentierens, Einsicht ohne methodische Vermittlungen. Das Gefühl für Evidenz ist so basal, grundlegend, dass es meist nicht weiter hinterfragt wird. Sogar die Väter der amerikanischen Verfassung begannen ihr Werk mit den Worten: „We hold these truths tobe selfevident…“

Wenn man Poppers 3- bzw. 4-Welten-Modell als vereinfachendes ontologisches Weltmodell zugrunde legt, handelt es sich bei der W-Evidenz wie bereits gesagt tatsächlich um eine Gleichsetzung von Erleben und physikalischer Realität. Wir schließen immerzu blitzschnell von gewissen Sinnesreizen auf das Vorhandensein von etwas, was großteils bzw. in der Hauptsache über sie hinausgeht. Jeder, der sich mit Wahrnehmung schon beschäftigt hat, weiß natürlich, dass es sich dabei um mehr handelt als um die Reizaufnahme durch Rezeptoren, in denen die Umwandlung in elektrische bzw. physiologische Impulse stattfindet, die dann ins Großhirn weitergeleitet und dort „verstanden“ werden. Vielmehr findet eine komplizierte Verarbeitung der eingehenden Reize im Gehirn statt. Es geht hier zwar auch um diese Verarbeitung, denn wir wollen auch herausfinden, was den Wahrnehmungsprozess im Alltag von dem bei der Betrachtung von Bildern (Kunst) unterscheidet. Aber gerade hier an dieser Stelle geht es auch um Folgendes: Wir schließen aufgrund unserer Wahrnehmung auf die Existenz des Wahrgenommenen einer realen Welt und halten das, was wir erleben, für eine 1:1-Abbildung derselben. Um es einmal drastisch zu formulieren, halten wir das, was wir da gerade wahrnehmen, eigentlich gar spontan für das „Ding an sich“, das z.B. Schopenhauer als das gerade unabhängig von unserer Wahrnehmung Vorhandene bezeichnet, oder von dem Kant sagte: „(W)as die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht, und ich brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann.“ (vgl. Gollasch, 2017, S. 396). Gollasch (S. 230) schreibt in seiner Gegenüberstellung des Denkens „der“ Hirnforscher mit dem Platons: „Was das Ding an sich (unabhängig vom Erkennenden) ist, ist ein für uns Unbestimmtes, Nichtseiendes: Ihm den Staus der Wahrheit zuzusprechen, …. ist ein sinnloser Begriff von Wahrheit.“ Es erscheint also hochgradig paradox, wenn uns im Alltag dennoch vom unmittelbaren Wahrnehmungsbild eines Gegenstandes, einer Landschaft oder einer Person völlig evident zu sein scheint, dass es dies genauso tatsächlich, physikalisch-chemisch, „wirklich“ da draußen gibt, wenn uns also im Moment des Wahrnehmens die Tatsache der eigenen Gedächtnisbeiträge, Umformungen, Verzerrungen innerhalb des Wahrnehmens- und Verstehens-Prozesses völlig unbewusst sind. Dass wir das aber, selbst wenn wir uns philosophisch, psychologisch, naturwissenschaftlich oder wie auch immer mit diesem Thema befassen, so meinen, erleben, für wahr halten, dass uns die Existenz unserer Welt, wie wir sie sehen, also die W-Evidenz, und vermutlich anderen Lebewesen die Existenz ihrer Welt, so wie sie sie wahrnehmen, so vollkommen evident ist, spricht unbedingt dafür, wie essenziell wichtig ein solcher unbewusster Schluss für uns, für unser Leben und wie wichtig er im Verlauf unserer Gattungsgeschichte sein bzw. immer gewesen sein muss, es muss also außerordentlich starke Gründe dafür geben.

Einer der Gründe besteht darin, dass sich uns diese Evidenz immer wieder bestätigt, und zwar hauptsächlich auf folgende drei Weisen:

• Intermodalität:

Eine direkte Rückmeldung und Bestätigung unserer Weltwahrnehmung erfahren wir durch intermodale Wahrnehmung. Wenn wir etwa eine horizontal im Raum auf etwa Beckenhöhe lagernde Platte (modalspezifisch) sehen, können wir hinlangen und sie (ebenfalls modalspezifisch, aber mittels einer anderen Sinnesmodalität) betasten; beides zusammen ergibt eine intermodale Herangehensweise, und dadurch bestätigt sich unser erster Eindruck. Man könnte von interner Konsistenz der intermodalen Wahrnehmungseindrücke sprechen.4

• Stabilität über die Zeit hinweg:

Realität, wie sie von uns erlebt und angenommen wird, erscheint über die Zeit hinweg relativ konstant/stabil (den Tisch gab es gestern, es gibt ihn heute, es wird ihn morgen geben. Dass wir zu einem anderen Zeitpunkt dasselbe Ding wahrnehmen, bestärkt in der Annahme, dass dies Ding wirklich ist.5

• Interpersonaler Konsens:

Andere bestätigen die Wahrnehmung bzw. die W-Evidenz: Meier sieht das Regalbrett mit dem Kubus (Steingutvase) ja offensichtlich auch, denn er schiebt den Kubus zur Seite und legt sein Handy zum Laden auf das Regalbrett. Konsens ist Grundlage für Kooperation, für soziale Koordination, soziales Handeln überhaupt, ohne ihn ist ein Leben in Kollektiven nicht möglich.

Was ist das nun, über das da W-Evidenz und Konsens besteht? Nehmen wir einen Tisch als Beispiel. Das Wahrnehmungsergebnis ist nicht einfach die Registrierung des visuellen Abbildes des Tischs auf der Netzhaut (also die Aufnahme der Lichtereignisse im Auge). Neben der unmittelbaren Sinnesempfindung sind, damit ein „Tisch“ daraus wird, weitere Aspekte dieses Gegenstandes zu bestimmen, oder, anders ausgedrückt: die Faktizität der semantischen Merkmale des Tischs ist festzustellen. Die verschiedenen Sinneseindrücke, kombiniert mit der Erfahrung zeitlicher Permanenz und interpersonaler Bestätigung, verdichten sich in unserem Gehirn zur inneren Repräsentanz eines über die Zeit hinweg (und auch, wenn man sich anderen Dingen zuwendet - s.u. zur „Objektpermanenz“) existierenden und auch durch Andere erfahrbaren dreidimensionalen Gegenstandes. Dieses Objekt im Gehirn, diese innere Konstruktion, ist keine dort ständig aktivierte feste Größe, es wird vielmehr bei Bedarf zusammengesetzt, aktiviert, und dient als internes Modell, um zu verstehen, was wir da gerade vor uns haben. Und diese Konstruktion erscheint uns dann subjektiv nicht als Konstruktion oder als durch alle möglichen Vergleiche identifiziert, es erscheint als Tisch: Das ist ein Tisch. Die aktuellen Erregungen von Rezeptoren unserer Netzhaut allein reichen dafür, wie wir sahen, bei weitem nicht aus. Insofern wird bereits an dieser Stelle das transzendiert (s.u.), was sich eigentlich als Sinnesreiz soeben bietet.

Die Bestätigung eines Sinneseindrucks durch andere Sinneseindrücke, das Erleben von Stabilität über die Zeit hinweg und das Erleben interpersonalen Konsenses (konsensuale Validierung) bestärken uns in der Richtigkeit des Evidenzeindrucks (W-Evidenz). Dem Resultat unseres Wahrnehmungsprozesses (Das ist ein Tisch) und Evidenzlebens geht nicht einfach ein Registrieren des primären Sinneseindrucks voraus sondern ein inneres Organisieren/Hinzufügen und häufig genug Hinterfragen. Es handelt sich um eine hochkomplexe Angelegenheit, deren Ergebnis dann die subjektive Sicherheit des „Das ist ein Tisch“ ist.

2. Falsifikation, Transzendierung und Rückkehr

Unübersehbar verhält es sich also so, dass wir immerzu im Denken und auch im Wahrnehmungsprozess Ausflüge hinter die Kulisse dessen machen, was unsere Sinne aktuell aufnehmen. Diese Ausflüge dienen der Ergänzung oder Hinterfragung dessen, was sich uns da sozusagen auf den ersten Blick bietet. Ich schlage vor, von Transzendierungen dessen zu sprechen, was die Sinne aktuell aufnehmen, und sieben Klassen A-G von Arten der bzw. von Anlässen für Transzendierungen zu unterscheiden:

Klasse A Transzendierung in Form unbewussten Ordnens von Sinnesdaten

Klasse B Transzendierung in Form von deutlich kognitiven Beiträgen zum Wahrnehmungs- und Verstehensprozess

Klasse C Auslösung der Transzendierung durch Zeichen, Sprache, Bilder

Klasse D Transzendierung in Form von bildlichen Vorstellungen und abstrakten Ideen

Klasse E Transzendierungsvorgänge bei momentan aufgetretenen Unklarheiten, Widersprüchen, Befremdlichkeiten in den Wahrnehmungsprozessen

Klasse F Transzendierungen bei gravierenden und bedrohlichen Vorkommnissen

Klasse G durch absichtsvolle kritische Hinterfragung ausgelöste Transzendierungen

Bei Transzendierungen wird die Oberfläche des aktuellen unmittelbaren Wahrnehmungsinputs6 sozusagen durchstoßen. Das geschieht permanent: Es erfolgt im Gehirn eine Weiterverarbeitung, bei der sortiert, ergänzt, ausgeblendet, verstärkt wird.

Klasse A: Hierbei handelt sich um Vorgänge, die sozusagen an den Sinnesdaten noch sehr nah dran sind, und zwar um solche, die sich automatisch ergeben, noch ohne dass besondere Probleme im reizauslösenden Feld aufgetreten wären. Die hier der Klasse A zugeschriebenen Vorgänge bewirken beispielsweise, dass uns Elemente im Blickfeld als zusammengehörig oder als Einheiten erscheinen, weil sie einander ähnlich oder nahe beieinander sind Wir sehen mehr oder anders als es sich auf der Netzhaut darstellt, und es kommt uns nicht nur so vor, als sähen wir genau dies, sondern so als sei es („da draußen“) so, und es ist uns nicht bewusst, dass unser Gehirn die Daten längst sortiert hat. Jedenfalls gehen wir über das hinaus, was sich dem Sinnesorgan zunächst einmal darstellt hat. Es gibt eine Fülle solcher Vorgänge, z.B.:

• Figur-Hintergrund-Formation:

Anhand der Bestimmung der Konturen eines Objekts und seiner Oberfläche im Vergleich zu der der Umgebung wird die Figur vom Hintergrund unterschieden. (Vgl. hierzu auch Kap. I.4, Prozessschritt 2)

• Wahrnehmungs-Konstanz:

Bsp. für Farbkonstanz: Trotz unterschiedlicher Lichtreflexion im Detail sehen wir eine einheitliche Farbfläche. Bsp. für Größenkonstanz: Wir wissen, dass entfernte Objekte, die aktuell klein erscheinen, groß sind, wenn sie uns näher sind; wenn wir eine sehr kleine und eine sehr große menschliche Figur vor uns hätten, sähen wir die große als im Vordergrund, also uns nahe, und die kleine weit entfernt von uns, und wissen, dass sie „in Wirklichkeit“ etwa gleich groß sind.

• Gestaltgesetze:

Gestaltgesetze beschreiben - vermutlich angeborene - Organisationsprinzipien unserer Wahrnehmung. Ein Beispiel: Man sieht die Fortsetzung einer Straße auch nach der Kreuzung mit einer anderen Straße. In der Gestaltpsychologie spricht man vom Gesetz der guten Fortsetzung bzw. des glatten Verlaufs.7

• Amodale Wahrnehmung:

Amodale Wahrnehmung ist die Wahrnehmung der gesamten physischen Struktur, auch wenn nur Teile eines Objekts unsere sensorischen Rezeptoren beeinflussen, das Objekt also zum anderen Teil verdeckt ist. Dennoch wird es als vollständige Struktur wahrgenommen (Beispiel: Das sog. Kanizsa-Dreieck8, benannt nach Gaetano Kanizsa). Ähnlich im akustischen Bereich, wenn eine Melodie stoßweise durch Geräusche unterbrochen oder überlagert wird: Wir hören die Melodie.

Klasse B. Bei den Transzendierungsvorgängen, die hier dieser Klasse B zugeordnet werden, bewegen wir uns etwas weiter vom direkten Reizinput weg. Es geht um deutlich kognitive Beiträge zum Wahrnehmungs- und Verstehensprozess. Beispielsweise war eben wiederholt vom „Objekt“ die Rede, und es scheint völlig klar, um was es sich dabei handelt. Aber bei genauerer Betrachtung ist das, was ein Objekt für uns ausmacht, schon recht weit entfernt von dem unmittelbaren visuellen Input eines solchen. Die oben erwähnte graue quaderförmige Steingut-Vase auf meinem Regalbrett ist ein gutes Beispiel hierfür.

• Objektverständnis/Konzept/Begriff:

Zunächst zur Bildung des Konzepts/Begriffs eines Gegenstandes: Wie bereits erwähnt, haben sich bereits in der frühen Entwicklung des Kindes - wahrscheinlich sogar angeborener Weise - modalspezifische Erfahrungen (z.B. Tast-Erfahrung, kinästhetische Erfahrungen) unterschiedlicher Art zu einem Konzept des dreidimensionalen und zeitbeständigen Gegenstandes (z.B. Ball, Tisch) vervollständigt.9, 10, 11

Dass unsere Wahrnehmung in der Regel bereits begriffliche Fähigkeiten voraussetzt, beschreibt der Philosoph Baumann (2015, S. 263) durch folgendes Beispiel: „Waldi, der Dackel, ist in der Lage, einen Teilchenbeschleuniger zu sehen, aber ist wohl nicht in der Lage zu sehen, dass er einen Teilchenbeschleuniger vor sich hat. Ihm fehlt der Begriff des Teilchenbeschleunigers und vielleicht fehlen ihm Begriffe überhaupt.“

• Objektpermanenz:

Hierbei handelt es sich um das Verständnis dessen, dass das Objekt auch dann weiterexistiert, wenn man keine Verbindung zu ihm mittels Sinnesrezeptoren hat, es also gerade nicht sieht, ertastet etc. Beim Kleinkind baut sich dieses Wissen erst allmählich auf.

• Funktionswissen:

Das Gehirn trägt Zweck-/Funktionswissen als Element des Weltwissens bei. Dieses Wissen betrifft den Nutzen, Zweck, Gebrauchswert dieses Objekts. Was etwa einen Tisch betrifft, so haben wir seit unserer frühesten Lebenszeit die Art seiner Benutzung miterlebt. Auch dies ist eine Transzendierung im hier besprochenen Sinne.12 Niemand aus Kulturkreisen, in denen ein bestimmtes Objekt, z.B. ein Tisch, benutzt wird, in denen es also Gebrauchsgegenstand ist, kann die Aufnahme der Sinnesdaten - das rein Visuelle - trennscharf vom Wissen um den Verwendungszweck trennen, wir sehen den Tisch auch als etwas mit einer Funktion und sind kaum in der Lage, bei seinem Anblick davon zu abstrahieren. Und das bedeutet auch, dass man den Anblick des Dings nicht von Zusammenhängen (mit Menschen) trennen kann. So gesehen gibt es das Ding ohnehin nur in Relationen, in Zusammenhängen, auch sprachlichen; vermutlich ist es unbewusst untrennbar mit Menschen, der Tätigkeit des Sitzens oder Daran-Stehens, vermutlich auch mit Stühlen verbunden. Auch dies ist also eine (selten bewusst werdende) Art des Transzendierens, es geht über die unmittelbaren Sinnesempfindungen weit hinaus. Ich habe vermutlich schon als Kleinkind die Erfahrung gemacht, dass das, was, wie bereits beschrieben, von vorne wie ein horizontaler und zwei vertikale Striche aussieht (Tischplatte und Tischbeine von vorn gesehen), ein dreidimensionales Ding ist, dass sich auch anfassen lässt, unter das man krabbeln kann etc., und ich habe gelernt, was seine Funktion für die Erwachsenen ist. So sehe ich schließlich nicht mehr diese Striche bzw. schmalen Rechtecke sondern erfasse sie mittels eines internen Modells als Tisch und sehe den Tisch als Gebrauchsgegenstand.13

• Laienepistomologie und Anthropomorphisierung:

Hierbei handelt es sich um automatische Schlussfolgerungen vom Gesehenen aus. In der Psychologie spricht man auch von „Laienepistomologie“ (Kruglanski, 1980) oder von der „Psychologie des Mannes auf der Straße“, also „Alltagspsychologie“ (Heider, 1958) - in Abhebung von der wissenschaftlichen Psychologie. Sieht man in einem Trickfilm auf der Leinwand z.B. ein Quadrat, das einem bestimmten Bewegungsprogramm folgt, und einen Kreis, der demselben Programm folgt, wobei die Bewegung des Kreises aber zeitlich etwas verspätet erfolgt, drängt sich dem Beobachter der anthropomorphisierende14 Eindruck auf, dass der Kreis das Quadrat „verfolgt“ oder das Quadrat vor dem Keis „flieht“. Es scheint uns wirklich so zu sein, d.h. wir meinen, das so zu sehen, im Prinzip ähnlich wie beim oben erwähnten gemeinsamen Schicksal, es ist hier nur mehr hineingedeutet; allerdings stellen Opfer und Verfolger ja auch eine Art Einheit (mit - in gewissem Sinne - gemeinsamem Schicksal - vgl. die „Gestaltgesetze“) dar.

Klasse C. Eine besondere Art des Transzendierens vollziehen wir laufend, wenn wir Hinweisschilder sehen, lesen, gesprochene Sprache hören oder Bilder - vor allem solche abbildenden Charakters - betrachten:

• Zeichen und Symbole:

Hier geht es um den kognitiven Schluss vom Gesehenen auf das, was damit bezeichnet wird. Dies setzt ein Zeichen- bzw. Symbolverständnis voraus, also zumindest das Verständnis dafür, dass das unmittelbar Wahrzunehmende für etwas Anderes, Zweites, steht. Das gilt für unser gesamtes inneres Lexikon, für alle Verkehrszeichen und Hinweisschilder im Alltag ebenso wie für mathematische Formeln und Bezeichnungen (Cosinus...). Die Alltags- und Berufswelt in unserer Zivilisation ist damit gespickt, wir transzendieren also beständig das sinnlich Wahrgenommene (die Zeichen selbst), indem wir die entsprechenden Konzepte (internen Modelle) in uns generieren, also das mit dem Zeichen Gemeinte.15, 16

Im vorliegenden Text werden uns Fragen von Symbol und Bedeutung in den Kapiteln über Kunst natürlich noch beschäftigen. Die Fähigkeit, Symbole zu verstehen, ist nicht angeboren. Einen Erklärungsversuch für die Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit beim kleinen Kind liefern Autor*innen der Psychoanalyse (Übersicht s. Wittneben, 2009), beginnend mit Freud; demnach geht diese Entwicklung zurück auf die Erfahrung des - aufgrund von sich allmählich verfestigenden Erinnerungsspuren - vom Kleinkind nicht mehr ignorierbaren Objektverlustes beim Wechsel von Präsenz und Abwesenheit der Mutter.17

Klasse D. Bildliche Vorstellungen und abstrakte Ideen: Manchmal tauchen wir ganz ab in die Welt der Begriffe, Konzepte, Theorien. Wir bewegen unser Bewusstsein hinein in Poppers (s.o.) Welt 3. Beispiele:

• Abstraktionen und Ideen: o Wie ist das Verhältnis von Freiheit und Angst? o Was ist Abwehr in Freuds Theorie? o Können Systeme miteinander kommunizieren?

Das hat dann mit Sinnesreizen und Wahrnehmung nichts mehr zu tun. Aber es gibt auch einen Zwischenbereich zwischen sinnlich Wahrnehmbaren und abstrakten Konzepten: Es ist der …

• Bereich der bildlichen Vorstellungen, der Anschauungen:

Es gibt abstrakte oder logische Überlegungen, die zunächst die Ebene des sinnlich Wahrnehmbaren vollkommen transzendieren, in denen aber dann auch wahrnehmungsnähere Komponenten, hier: Anschauungen, bildliche Vorstellungen, auftauchen. Ein Beispiel ist der Syllogismus. „Jedes Säugetier hat einen Kopf. Ein Mensch ist ein Säugetier. Also hat ein Mensch einen Kopf.“ Dies ist zumindest der Anschauung näher, weniger abstrakt als ein Begriff wie Freiheit. Ein Mensch ist ein inneres Objekt - in diesem Fall (beim og. Syllogismus) handelt es sich aber nicht um die Vorstellung eins bestimmten, einem selbst bekannten Menschen, sondern um eine verallgemeinerte Vorstellung, also etwas in einem Zwischenbereich zwischen einem abstrakten Begriff wie Freiheit und einem konkreten inneren Bild eines Menschen.

Darüber, ob man in Inhalten der Klasse D noch Transzendierungen der Ebene des Inputs bei Sinnesorganen sehen kann oder nicht, lässt sich sicher streiten. Aber es handelt sich meist um Ableitungen aus sinnlich Wahrgenommenem. Wir benötigen jedenfalls auch solche Kategorien wie Freiheit oder Abwehr, aber auch logische Schlüsse, um Situationen zu verstehen. Wenn man beispielsweise bemerkt, dass eine Person einer anderen Person Motive zuschreibt, die man ihr selbst sicher nicht zugeschrieben hätte, kann einem der Projektionsbegriff im Sinne eines Abwehrmechanismus zum Verständnis des Vorgangs helfen, ähnlich wie einem die Kenntnis von Figuren logischer Schlüsse wie ‚Syllogismus‘ dann helfen kann, wenn es einen verwirrt, dass jemand „völlig unlogisch“ argumentiert.

Klasse E. Bei dieser Klasse der Anlässe für Transzendierung handelt es sich um momentan aufgetretene Unklarheiten, Widersprüche, Befremdlichkeiten in den Wahrnehmungsprozessen, die aufzuklären und zu beseitigen sind. Solche Ereignisse drohen, die Evidenz in Frage zu stellen, d.h., so wie es sich im Moment sinnlich darstellt, kann es nicht „wirklich“ sein. Etwas passt nicht, so, als hätten wir es mit einer Oberfläche zu tun, die an einer bestimmten Stelle völlig unscharf ist. Es handelt sich um eine Stelle, hinter die wir blicken, die wir durchstoßen, transzendieren müssen, so als hätten wir einen blinden Fleck aufzuklären. . Bei Transzendie-rungen dieser Art helfen uns allerdings Mechanismen anderer Transzendierungsklassen.

Je nach Perspektive, die man einnimmt, würde man annehmen, dass das Gehirn oder das menschliche Ich solche Transzendierungen unternimmt, um die - momentan durch eine Unklarheit verunsicherte - innere Konstruktion der Welt zu korrigieren und auf dieser neuen Basis die damit verbundene W-Evidenz - also auch für die infragestehende unscharfe Stelle - wiederherzustellen.

Bsp. 3 (Kap. I.2):

Wir fahren im Auto auf eine Linkskurve zu. Die Straße dort kann nicht eingesehen werden, weil ein Wald hoher Bäume sie verdeckt. Was wir unmittelbar sehen, müssten wir eigentlich so verstehen, dass die Straße vorn links an Bäumen endet. Dieser Schluss vom unmittelbar Wahrnehmbaren auf die Wirklichkeit würde uns bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h in Schockstarre oder Panik versetzen, und er widerspräche natürlich auch all unserer Erfahrung. Diese Erfahrung, dieses Gedächtnismaterial, schaltet sich auch umgehend ein, das untaugliche interne Modell einer links am Waldrand abrupt endenden Straße wird ersetzt durch ein Modell, das die bisherige Erfahrung mit unübersichtlichen Linkskurven besser widerspiegelt. „Transzendierung“ bedeutet hier also die Ersetzung des Sichtbaren durch das aufgrund von Erfahrung Wahrscheinlichere und durch das die Wahrnehmung mit-strukturierende Gestaltgesetz der guten Fortsetzung (s.o., Klasse A).

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Wenn ich vor mir sehe, dass meine Straße die Andeutung einer Linkskurve macht, aber dort hinter Bäumen verschwindet, stellt dies im Prinzip eine Unwägbarkeit dar, die besonders wichtig sind, wenn ich schnell fahre: Geht die Kurve nach ihrem sichtbaren Teil weiter? Folgt eine scharfe Rechtskurve…? Vermutlich werde ich vorsichtshalber die Geschwindigkeit drosseln müssen. Transzendierungen, die hier den Charakter von Prognosen haben, dienen der Selbsterhaltung. Vermutlich sind meine anderen Fahrgäste derselben Meinung.

Wenn ich gestern dieselbe Strecke gefahren bin und erlebt habe, dass die Kurve nach links tatsächlich recht scharf weitergeht, kann ich heute damit rechnen, dass es genau so sein wird, und die Anderen denken auch so, oder sie beachten das gar nicht, weil sie davon ausgehen, dass ich das schon richtig machen werde. Implizit gehen sie davon aus, dass unsere Bilder der Welt identisch sind: Das ist eine längere scharfe Linkskurve. Fahren wir nun erneut diese Strecke und sehen vor uns, dass die Straße nach links hinter Bäumen verschwindet, wissen wir, dass dort die Kurve weitergeht. Die Erinnerung ist eingewoben in das aktuelle Erleben, in das Sehen und Wissen. Die Evidenz hat sich sozusagen um die Erfahrung am Tag zuvor ausgedehnt und verleibt sie ein.

Klasse F. Während Vorkommnisse der Klasse E zwar Fragen aufwerfen, die dringend Antworten erfordern, um den Alltag bewältigen zu können, ist der Anlass in Klasse F ein gravierendes und bedrohliches Vorkommnis, das prinzipiell geeignet wäre, an der Evidenz zu zweifeln, also diese Sicherheit zu erschüttern. Es geht dabei sozusagen um das „Eingemachte“, nämlich umdas Konfrontiertsein mit Gegebenheiten, die nicht mit üblichem Aufwand eingereiht werden können, die also unsere Sicherheit schwerer erschüttern. Dabei scheint es so, als hielte die Welt den Vertrag nicht ein. Beispiele sind „optische Täuschungen“. Es gibt Bücher voller Beispiele, und stellvertretend wird hier die Täuschung gezeigt, die Franz Müller-Lyer 1889 (s. Myers, 2005, S. 248) erstmals zeigte. Die Strecken A-B und B-C erscheinen den meisten Menschen gleich lang; wenn man nachmisst, ist A-B um ein Drittel länger als B-C.

Abb. 1 Wahrnehmungstäuschung

Und hier eine andere Version, bei der die horizontalen Strecken gleich lang sind.:

Abb. 2 Wahrnehmungstäuschung

Solche Täuschungen erstaunen, aber sie verängstigen bzw. bedrohen die Sicherheit, in der wir uns mittels der W-Evidenz ansonsten immer wieder wiegen, nicht wirklich. Dies liegt einerseits daran, dass man leicht Erklärungen findet (hier in den schrägen Kontexten der horizontalen Linien). Man kann zum andern auch beruhigt sein, weil die Phänomene ja bereits als Täuschungen etikettiert sind. Dadurch sind sie als Besonderheiten ausgewiesen, und vor Besonderheiten meint man ja immer ohnehin geschützt zu sein, für sie scheint unser „Vertrag“ mit der Welt nicht zu gelten.

Ich nenne aber nun eine Anekdote als Beispiel für eine Situation, in der die Welt den Vertrag nicht einhält:

Bsp. 4 Kap. I.2): Ich fuhr mit dem Fahrrad. Da sah ich in ca. 10 m Höhe und ca. 50 m entfernt ein wenig links vor mir in der Luft folgendes: Etwas Braunes, wohl ein Raubvogel, saß auf den mittleren von drei parallelen hellen „Strichen", die ca. 70 cm übereinander angeordnet und je ca. 1 m lang waren. D.h. ca. 50 cm rechts und links von dem Vogel endeten sie. Mir kam es vor, als schwebte diese Anordnung, und ich konnte sie nicht verstehen. Ich blieb stehen, das Phänomen blieb zunächst unverändert. Es ging mir blitzartig durch den Kopf, das könnte eine schwebende Antennenkonstruktion sein oder eine Drohne. Dass ich es nicht verstand, irritierte mich sehr stark bis hin zu einem leichten Angstgefühl. Ich fragte "Was ist das?!" Meine Begleiterin fand den Anblick auch seltsam, tippte dann aber auf einen Falken. Nach ein paar Sekunden fuhren wir wieder los, und in dem Moment wurden im Zuge des Weiterfahrens die Verlängerungen der Striche nach rechts und links sichtbar (und der Falke flog davon). Es handelte sich „natürlich“ um drei Stromleitungen; an einer bestimmten Stelle jeweils verdoppelt oder jedenfalls etwas dicker19 waren; und auf der mittleren der drei dickeren Stücke hatte der Falke gesessen hatte. Die besonderen Lichtverhältnisse hatten dazu geführt, dass dieser Bereich, also ca. jeweils 1m jeden Drahtes, hell in der Sonne geglitzert hatten, während sich der Rest der Drähte, wohl weil die Drähte dort dünner waren, grau vor dem Wolkenhimmel nicht abgehoben hatte, also für einen Moment unsichtbar war. So hatte sich das völlig „unwirkliche“ Bild ergeben, das ich plötzlich gesehen hatte.

„Eine schwebende Antennenkonstruktion“ oder „eine Drohne“ waren sozusagen auf ein schnelles Resultat ausgerichtete Versuche meines Gehirns, das Phänomen zu identifizieren, führten aber zu keiner innerlichen Bestätigung im Sinne von „aha, das ist…“, sodass ich Rat bei meiner Begleiterin suchte.

Hinsichtlich der W-Evidenz besteht im Alltag in einem hohem Maße Konsens, und da, wo er punktuell nicht besteht, verfügen wir über Routinen, die externe Validität zu überprüfen Das geschieht etwa, indem man einen Eindruck mit anderen Sinnen, z.B. dem Tastsinn (was im Anekdotenbeispiel nicht möglich war) prüft, oder indem man abwartet, ob sich das Phänomen über die Zeit hinweg noch ändert und dabei erklärlicher wird, oder durch interpersonale Validierung - indem man mit jemand anders klärt, um was es sich handeln könnte. Das alles sind Bemühungen, sicherzustellen, dass die Natur den oben angesprochenen „Vertrag“ doch ein-hält. Brüche der beschriebenen Art scheinen jedenfalls hochgradig zu verunsichern (vgl. auch Kayser, Schwinger und Cohen, 1984), soweit sie nicht, wie die og. optische Täuschung, als Ausnahmeerscheinungen angekündigt oder durch Nachsinnen oder Nachforschung erklärbar werden (wie im Falle der optischen Täuschung durch Beachtung der Kontextlinien).

Bei Bsp. 4 Kap. I.2) hatte ich offensichtlich kein brauchbares internes Modell zur Verfügung, um das Gesehene einzuordnen. Die Erschütterung war merklich. Meine Begleiterin sagte mir nachher, sie habe das auch genauso gesehen, sich aber weniger erschrocken, weil sie es bereits kannte; als sie es zum ersten Mal gesehen habe (drei parallel-laufende helle Striche in der Luft) - an derselben Stelle, wenn auch ohne Falke -, habe sie sich ebenfalls erschrocken.

Im diesem Anekdotenbeispiel wird für einen kurzen Moment, in dem die W-Evidenz durchbrochen wird, die Welt, bildlich gesprochen, erschrocken angehalten und nach Orientierung gesucht. Das ist deshalb der Fall, weil der Vorfall außerhalb der Routinen stattfindet, er ist außergewöhnlich. Es vollzieht sich nicht die gewohnte automatische Einordnung und Identifizierung. Und genau an dieser Stelle offenbart sich das Prozess-hafte des Vorgangs, das sonst durch die rasche automatische Wiederkennung verdeckt ist. DASS es aber auch bei rascher Einordnung des Gesehenen ein Prozess ist, zeigt uns die moderne Hirnforschung, die mit ihren bildgebenden Verfahren Reaktionen des Gehirns als in der (sehr kurzen) Zeit ablaufende Prozesse zeigen (dazu unten mehr). Aber eben befanden wir uns ja nicht in einem wissenschaftlichen Bereich sondern im Alltag und dem Erleben. Hier wird bei einem solch massiven Bruch-Ereignis das Prozesshafte auch subjektiv spürbar, erlebbar. Wir kommen, bildlich gesprochen, „ins Rudern“.

Insofern handelt es sich um einen Vorfall, der dem zu entsprechen scheint, den der Betrachter moderner Kunst - unser Thema in Kap. III - erlebt. Auf diesen Erfahrungsbereich bezieht sich Adornos (Ästhetische Theorie, 2019, Orig. 1970) sog. „Negativitätsästhetik“ (vgl. z.B. Menke, 1991). Gemeint ist damit u.a., dass sich bei der Betrachtung nicht sogleich das aus dem außerästhetischen Bereich gewohnte sofortige Resultat einstellt, die Identifizierung oder das Wiedererkennen von Gegenständen etc. Es geschieht genau an dieser Stelle stattdessen etwas Prozesshaftes, womöglich etwas, das keinen Halt und kein Resultat findet. Ich komme, wie gesagt, im Kap. III darauf zurück.

Das in der Anekdote Beschriebene wäre so gesehen vergleichbar mit einem Kunstwerk moderner Art, und die Folge war ein Erschrecken, eine um Aufklärung bemühte Aktivität und eine Wiederberuhigung. Die Heftigkeit zeigt an, wie sehr wir zumindest im Alltag innerlich auf W-Evidenz und ihr automatisches Sich-Einstellen angewiesen sind. Dabei erscheint die Tatsache, dass wir derart grundlegend von W-Evidenz überzeugt sind und uns selbst immer wieder ganz sicher und selbstverständlich in der vermeintlichen objektiven Wirklichkeit (Welt 1 in Poppers 3- bzw.4-Welten-Modell) verorten, umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, wie viele Anlässe wir eigentlich haben, an ihr zu zweifeln.

Klasse G. Durch absichtsvolle kritische Hinterfragung ausgelöste Transzendierungen: Hier sind zwei Typen kritischer Hinterfragung zu unterscheiden. Die erste Art bezieht sich unmittelbar auf etwas, was wir gerade sinnlich vor Augen haben, die zweite ist allgemeiner und fundamentaler, indem dort grundsätzlich hinterfragt wird, ob wir dem trauen können, was wir z.B. sehen. Zunächst zu dem Fall, dass man die schöne, einfache Oberfläche der W-Evidenz ganz bewusst und willentlich durch eigene kritische Analyse durchstößt, z.B. so:

• Farben:

Das, was da gerade auf dem Tisch vor mir liegt, ist ein grüner Holzwürfel. Ich durchbreche einmal willentlich diese klare und evidente Oberfläche und schaue darunter. (a) Obwohl das Objekt grün lackiert ist, scheint klar zu sein, dass sich unter dem Lack Holz befindet. (Ich „übersehe“ dabei, dass das allenfalls wahrscheinlich ist.) (b) Ich habe irgendwo gelernt, dass es zu der Farbwahrnehmung ‚grün‘ u.a. so kommt: Der Farbanstrich hat dazu geführt, dass das Objekt nun eine Oberflächenbeschaffenheit der Art hat, dass vom darauf fallenden Licht alle Wellenlängen außer einer bestimmten absorbiert werden. Nur Licht dieser einen Wellenlänge wird reflektiert, etwas davon fällt in mein Auge, und nur bestimmte Bereiche meiner Netzhaut reagieren darauf und schicken Impulse durch Nervenbahnen Richtung Hirn. Die Antwort ist anders als bei anderen Wellenlängen. (c) Und aufgrund eines sozialen Konsenses gibt es dafür in unserer Sprache das Wort ‚grün‘, was ich früher einmal gelernt habe.

Aber ‚ist‘ der Würfel grün? Sendet er etwa grünes Licht aus? Nein, sondern er reflektiert nur einen Teil des weißen Lichts, das auf ihn fällt. Vielleicht müsste man sagen: Ausgerechnet grün stößt der Gegenstand ab, also IST er das (grün) gerade nicht! Aber das wäre spitzfindig, entscheidend ist ja, dass er morgen auch noch grün ist und andere das auch so sehen!20

All dies beschäftigt uns normalerweise nicht, sondern uns ist uns trotz all dieser zugegebenermaßen sehr kleinlichen Einwände ganz klar, dass ein grüner Holzwürfel auf dem Tisch liegt. Das erscheint evident und ausreichend, um zu handeln und Handlungen zu koordinieren. Ist es nicht wundervoll, dass es so einfach ist? Und auch für den Verfasser ist es so einfach, er kann einen grünen Holzwürfel vor sich erkennen, er muss sich nicht zwingend fragen, ob er wirklich grün ist, ob er wirklich aus Holz ist, was der Wahrnehmung letztlich zugrunde liegt (das „Ding an sich“?), obwohl er soeben dieses schöne glatte Bild in mehreren Hinsichten mit kleinlichen Fragen ‚durchstoßen‘ hatte.

Der zweite Typus kritischer Hinterfragung innerhalb der Klasse G zeichnet sich dadurch aus, dass wir absichtsvoll und kritisch genereller, d.h, unabhängig von einer gerade vorliegenden Reizkonstellation hinterfragen, wie gültig denn das Bild der Welt ist, dass uns unsere Wahrnehmung liefert. Hier durchstoßen wir also die W-Evidenz proaktiv und willentlich. Beispiele:

• Die Außenwelt der Milbe: Von Biologen bekommen wir mitgeteilt, dass uns die Milbe gar nicht sehen kann mangels Augen. Was für ein Bild der Welt bzw. von uns hat sie aber? Wir schließen, dass die Außenwelt, die sich ihr darbietet - und wir haben keine Gründe, anzunehmen, dass sie dies nicht für real hält -, völlig anders beschaffen sein muss als unsere. Allein das zu bedenken, d.h. diese Transzendierung in Form dieser Überlegung, hätte eigentlich das Potenzial, an einer 1:1-Zuordnung von Sinnesempfindung und Welt zu zweifeln.

• Variierende Gemütszustände –variierende Welten: Manchmal bemerken wir an uns selbst, dass wir Dinge, Begegnungen, Personen anders wahrnehmen und erleben als zu einem anderen Zeitpunkt, zu dem wir uns anders fühlten, in anderer Stimmung waren. Manchmal wird uns das bewusst, und bisweilen fragt man sich dann, was denn nun gelte. 21

Wissen über das Unsichtbare: Auch erfahren wir von Physikern, dass wir zwischen uns und einem betrachteten Objekt zwar so etwas wahrnehmen wie Leere (wahrscheinlich nennen wir es Luft), dass sich in dieser vermeintlichen Leere aber jede Menge Moleküle, Strahlung, Radiowellen, Funksignale ‚bewegen’. Wir sehen das nicht, teils können wir es uns mit entsprechenden Apparaturen sicht- oder hörbar machen, indem wir sie also mit technischen Mitteln unseren Rezeptoren zugänglich machen. Aber das Ganze weist uns deutlich darauf hin, dass wir ja wohl doch die Welt nicht so wahrnehmen, wie sie ‚ist’, dass - im Gegensatz zur

W-Evidenz

- das „Ding an sich“ gar nicht erfahrbar ist.

Bei den zuletzt genannten Beispielen handelt es sich um Transzendierungen, die auf Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Selbstbeobachtungen bzw. auf Denkoperationen und absichtsvollem Zugriff auf Gedächtnismaterial und auf Welt 3, wenn man Poppers Weltenmodell zurate zieht, beruhen.

Zusammenfassend lässt sich zur Transzendierungs-Thematik sagen: In den Wahrnehmungs- (und Verstehens-) Vorgang fließt sehr viel mehr ein als z.B. bei der visuellen Wahrnehmung Licht verschiedener Wellenlänge und Intensität, das unsere Sinnesorgane / die Netzhaut reizt. Was u.a. miteinfließt:

die Konstruktion eines dreidimensionalen Objekts (z.B. Vase, Tisch), obwohl die genannten Lichteinfälle auf zwei eigentlich zweidimensionale Retinae der beiden Augen erfolgen, oder auch

die o.g. Permanenzerfahrung;

soziale Konstruktionsaspekte fließen ein (vgl. Berger & Luckmann, 1980); uns allen haben, als wir Kinder waren, Bezugspersonen „beigebracht", wozu ein Tisch gut ist, wie man daran sitzt etc., und wir konnten diesen Gegenstand innerhalb der sozialen und sprachlichen Verwendungszusammenhänge erleben; der Tisch ist dann sozusagen so definiert, er ist also auch eine Konstruktion, die im sozialen Raum für uns mit Namen versehen bereitliegt, wenn wir heranwachsen; er ist in gewisser Weise Teil des symbolischen Systems und existiert dort natürlich auch nicht unabhängig von Funktionen, Handlungszusammenhängen, Menschen, (die mit Tischen etwas machen, also an Tischen sitzen, plaudern, essen oder beten);

sonstiges Weltwissen.

Bei alldem wird also immerzu etwas ‚zusammengebracht’: modalspezifische Erfahrungen werden intermodal verknüpft, Definitionen aus dem sozialen Raum werden beigemischt, emotionale Aspekte / Konnotationen werden eingewoben. Dies alles geschieht immerzu, und das eigene Weltbild im Sinne der Evidenz der „Welt“22 wird dadurch immerzu teils bestätigt, teils korrigiert, modifiziert, erweitert. Eine zentrale Beschäftigung zumindest des Menschen ist es, meist ohne dass er sich dessen bewusst wird, dass er verstehen will.

Transzendierung gehört also zum Alltag. An dieser Stelle ergibt sich jedoch das folgende Paradoxon: Stets könnte die Notwendigkeit zu einer solchen Transzendierung uns darauf aufmerksam machen, wie fragwürdig die Sicherheit ist, die wir durch unser sonstiges Evidenzerleben zu haben scheinen. Das Evidenzerleben müsste also eigentlich erschüttert werden - oder bereits längst so sehr erschüttert sein, dass wir nicht mehr daran glauben, dass das, was z.B. unsere Netzhaut uns da an Sensation liefert, eine Auskunft darüber geben dürfte, was wirklich ist. Und das eigentliche Paradoxon besteht darin, dass wir dennoch immer wieder in den Sicherheits-Schoß der Evidenz zurückkehren. Das Ganze ähnelt einem Vertrag, den man mit der Welt hat, und auf dessen Einhaltung seitens der Welt man fest baut. Nun mögen Unschärfestellen bzw. Unklarheiten und Befremdlichkeiten im Alltag (s.o., Klassen E und F) unvermeidbar sein und Transzendierungen notwendig machen, die uns dann in den „sicheren Hort“ der W-Evidenz zurückführen. In diesen Fällen erfolgen Transzendierungen aus der Notwendigkeit heraus. Die unmittelbaren Sinnesreize allein liefern offensichtlich nicht das, was man für ein Verstehen braucht. Die Evolution hat im Menschen einen physiologisch-anatomischen „Apparat“ geschaffen, der ihn die Reizgegebenheiten auswerten hilft. Dazu muss er über diese unmittelbare Reizaufnahme hinausgehen, was hier als Transzendierung bezeichnet wurde. Das ist der Grund dafür, dass wir heute sagen können, Wahrnehmung seit mit Denken und Sprache eng verknüpft. Ganz offensichtlich haben den Menschen solche Abwege evolutionär, also phylo- wie ontogenetisch, weitergebracht, so gesehen waren sie für seine gattungs- und individuelle Geschichte funktional. Ein Wahrnehmungsirrtum, also z.B. eine optische Täuschung, verunsichert zwar zunächst, ihm nachzugehen zahlt sich aber letztlich aus, d.h. bereichert das Bild der (vermeintlichen) Wirklichkeit und scheint indirekt die Korrektheit/Reliabilität/Validität der sonstigen Wahrnehmung zu bestätigen, indem der Irrtum aufgeklärt werden kann.

Ein reliableres und valideres Bild erlaubt letztlich effizientere Orientierung und Erreichung von Zielen.

Beispiel Größenkonstanz: Wir kommen zu dieser Erfahrung u.a. dadurch, dass wir bemerken, dass ein Objekt scheinbar (wahrnehmungsmäßig) ständig größer wird, wenn wir uns ihm oder es sich uns nähert; entsprechend erleben wir, wie es kleiner wird, wenn wir uns von ihm entfernen oder es sich von uns entfernt. Das durch diese Erfahrungen entstandene Wissen um die Größenkonstanz ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, abschätzen zu können, wie weit ein für uns im Prinzip identifizierbares Objekt (z.B. ein Auto, Reh oder ein gefährliches Raubtier) entfernt ist (z.B. vom Jäger), und das Wissen ist also notwendiges Element seiner (des Jägers) Handlungsplanung.

So erscheint es also plausibel, anzunehmen, dass Transzendierung aus dem Bedürfnis resultiert, ein verlässliches und gültiges Bild der Welt zu bekommen. Wieso aber diese in G aufgeführten sozusagen absichtsvoll herbeigeführten Erschütterungen der Sicherheiten der W-Evidenz? Warum tut der Mensch das, wo doch seine Gewissheit dadurch ständig unterminiert werden kann, dass das, was er wahrnimmt, die Welt ist? Es wäre natürlich unplausibel, hinter solchen Transzendierungen ein Bedürfnis anzunehmen, sich selbst zu verunsichern oder sein eigenes Weltbild zu labilisieren. Das entspräche der völlig unplausiblen Annahme, ein Organismus kümmere sich nicht um sein Überleben (Gollasch, 2017, S. 254). Das Gegenteil muss angenommen werden, nämlich, als Antrieb auch hinter den Vorgängen der Klasse G den Selbsterhaltungstrieb zu sehen. Transzendierungen dienen, obwohl sie zunächst die Verlässlichkeit des aktuellen Bildes bzw. dessen Tauglichkeit für die kommenden Momente und die dabei nötigen Entscheidungen in Frage stellen, nicht der Destabilisierung der Evidenz meiner Welt sondern der Stabilisierung. Dazu gehören Zukunftsprojektionen23 und Projektionen auf andere Menschen.24 Soziale Koordination erfolgt auf dieser Basis.

Letztlich sollen uns auch diese Ausflüge dazu verhelfen, besser zu verstehen. Auch bei Ausflügen in abstrakte Welten, Denkwelten, geht es letztlich um den Zugewinn an Stabilität und Konsens. Philosophen - von Platons Idealismus in der griechischen Antike bis zum neuzeitlicheren bei Hegel - rangen um das ‚Wirkliche’ u.a. angesichts der Unzuverlässigkeit von Sinnesdaten. Das genannte Paradoxon ist nur aufzulösen, indem man sich vergegenwärtigt, dass all diese Ausflüge hinter die Oberfläche dessen, was unsere Sinnesorgane aufnehmen, dazu dienen, das Erleben der W-Evidenz von Zweifeln frei zu halten bzw. zu befreien. Trotz der Mängel und Begrenztheiten auf der Ebene der Sinneswahrnehmung soll eine subjektive Welt erhalten werden, die über die Zeit hinweg stabil ist, deren Existenz konsensual ist, sodass andere also die Auflösung der Rätsel bestätigen. Das gilt wie gesagt auch dann, wenn Denker von Platon bis Hegel die Ideen oder das Geistige für das eigentlich Wirkliche halten, denn auch hier gilt die Suche dem, was stabil oder unvergänglich sein könnte, wenn die Wahrnehmungswelt uns momentan täuschen mag. Es ist nicht vermessen, auch diesen großen Denkern zu unterstellen, dass sie innerlich auf Suche nach Sicherheit - nur woanders, z.B. im Bereich der „Vernunft“ oder im Ideenhimmel - waren und dass sie es aber andererseits, sobald sie sich im Alltag bewegten, für ganz selbstverständlich hielten, dass das, was ihnen gerade ins Blickfeld kam, die Wirklichkeit war. Teils auf angeborener Basis, teils durch Erfahrung wird, wie wir sahen, das aktuell Erblickte korrigiert, ergänzt, innerlich koordiniert mit dem unterschwellig Gewussten, wodurch sie W-Evidenz auf empirischer Basis vergrößert; sie entfernt sich damit von der Beschränkung auf das, was unmittelbar von außen auf die Rezeptoren einwirkt. Sie tut das auch bei jeder Projektion, die wir nicht (und in der Regel ist das so) als solche sofort erkennen oder „entlarven“.

Überprüfungen auch oberflächlicher Art könnten uns jedoch jederzeit vor Augen führen, dass wir meist nur sehr rudimentäre Sinnes-„Daten“ über das, was wir als sicher existierend und sicher so existierend, wie wir das in dem Augenblick annehmen, verfügen. Ich würde so weit gehen, zu behaupten: Die meisten uns zugänglichen Aspekte der Welt werden nicht im engen Sinne sinnlich wahrgenommen, sondern sind vielmehr gedacht und erschlossen. Diese Beiträge erfolgen in den allermeisten Fällen - Ausnahme ist vor allem Klasse G der Anlässe zur Transzendierung - unbewusst. Unübersehbar ist, dass wir bei alldem bemüht sind, stimmige, reliable/valide Konstruktionen vorzunehmen und nicht einfach alles hinnehmen. Es scheint irgendwie vorgebahnt zu sein, was ‚passt‘ und was nicht.25

Dass der Kubus auf dem Regalbrett liegt, ist ein problemloser Fall. Wenn aber das, was ich sehe, ein Quadrat unter diesem horizontal ausgerichteten Rechteck ist, stellen sich sogleich Fragen wie etwa die, ob da was unter dem Brett klebt oder angeschraubt ist - woran man wie bereits erwähnt erkennen kann, dass sogar ein Wissen über die Schwerkraft in den Prozess des Erkennens einfließt.

Beide Fahrradfahrer*innen (Anekdote im Bsp. 4, Kap. I.2