Gerüchteküche - Ines Parizon - E-Book

Gerüchteküche E-Book

Ines Parizon

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Beschreibung

Das hatte sich Kriminalkommissarin Marie Müller auch anders vorgestellt. Statt Ruhe und Frieden im geerbten Häuschen im Offenburger Rebland zu finden, wird sie noch vor Antritt ihres ersten Arbeitstages zu einem Fall gerufen. Ein Toter liegt, nackt bis auf die Unterhose, unterhalb des Brandeckturms im Wald. Es handelt sich dabei um den Zell-Weierbacher Feuerwehrkommandanten und Bruder ihrer alten Schulfreundin. Die fehlende Kleidung wäre schon Grund genug für Spekulationen der örtlichen Gerüchteküche gewesen, doch es war nicht die erste Leiche, die dort oben gefunden wurde.

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Seitenzahl: 213

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Liebe Lesenden, dieser Regionalkrimi spielt in einem kleinen Ort. Um die Gerüchteküche möglichst kalt zu lassen, weise ich darauf hin, dass die nachfolgenden Personen und Handlungen frei erfunden sind. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

Ich wünsche euch viel Spaß und gute Unterhaltung beim Lesen.

PS: Falls ihr Fan werden wollt, findet ihr mich auf Instagram unter inpa-books ;)

Schwarzwaldmarie

Für meine Opas, die mich immer in die Natur entführt haben, um mir den Schwarzwald zu zeigen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Prolog

Mit der Motorsäge in der Hand bahnte er sich seinen Weg durch die Brombeerhecken zu dem halb umgeworfenen Baum. Seine Wurzeln standen etwa einen Meter schräg aus der Erde. Die Hitze des Tages war hier am späten Abend kaum noch spürbar. Trotzdem schwitzte er in seiner Schnittschutzhose. Das Gewitter mit dem dazugehörigen Sturm hatte der vom Borkenkäfer geschwächten, einst mächtigen Fichte den Rest gegeben. Jetzt hing der dürre Baum mit seinen schon lange braunen Nadeln an einem anderen Baum fest und drohte auf den Wanderweg, der hinunter zu Absaloms Grab führte, zu stürzen. Er war nicht gerne hier oben. Vielleicht hatte er es deswegen schon so lange vor sich her geschoben die toten Bäume zu fällen. Immer wenn er hier war, musste er an sie denken. Seine erste Liebe. Wie oft hatten sie sich hier oben getroffen. Heimlich. Doch dann war sie tot. Den Anblick ihres leblosen Körpers würde er nie vergessen. Ihr leerer Blick gegen den Himmel gerichtet. Ihr langes Kleid mit den blauen Blumen, das ihre blasse Haut im spärlichen Licht des Mondes unterstrich. Ihr blondes langes Haar, das ihr lose um das Gesicht lag. Die Veilchen, die neben ihrem Gesicht blühten. Zur Erinnerung hatte er eines von ihnen gepflückt und mitgenommen.

Er schloss seine Augen, um die Bilder zu vertreiben. Auch nach 38 Jahren kam es ihm vor, als sei es gestern geschehen. Er seufzte.

Am frühen Morgen hatte er einen Anruf von seinem Nachbarn bekommen, dass seine Bäume die Sicherheit der Wanderer und der Mountainbikefahrer gefährdeten. So ein Rentner hatte anscheinend nichts Besseres zu tun, als in Allerherrgottsfrühe in den Wald zu wandern, um die Sturmschäden zu begutachten. Schon seit Jahren warf dieser ihm vor, sein Waldstück nicht richtig zu pflegen. Und mindestens genauso lange wollte er es ihm abkaufen. Aber er hatte nicht vor es zu verkaufen. Das Stück lag gut erreichbar unterhalb des Brandeckturms. Es hatte schon seinem Großvater gehört und irgendwann wollte er es seinen Kindern vermachen. Vorausgesetzt er würde irgendwann mal welche haben. Er war erst 55 Jahre. Als Mann hatte man noch Zeit.

Er sah sich den Baum genau an. Wenn er ihn mit der Säge von dem riesigen Wurzelwerk abtrennte, würde er ihn mit seinem Fällheber sicher zu Fall bringen können. So etwas war nicht immer ganz gefahrlos, aber er hatte für den Notfall sein Handy in der Tasche.

Sein Nachbar hatte recht, wenn der Baum fiel, würde die Baumkrone auf dem Wanderweg landen. Gut, dass er die Sperrschilder dabei hatte, schließlich wollte er nicht versehentlich jemanden erschlagen, auch wenn hier um diese Uhrzeit an einem Montagabend kaum noch einer unterwegs war.

Kapitel 1

Marie saß an ihrem Frühstückstisch und schnitt sich einen Apfel klein. Leider waren ihr die Haferflocken ausgegangen, also gab es anstatt Müsli ein Quarkbrötchen dazu. Das Frühstück für Helden. Sie war ein bisschen aufgeregt, denn heute war ihr erster Arbeitstag als Kriminalhauptkommissarin. Also genau genommen war es nicht ihr erster Tag als Kommissarin, sondern der erste Tag auf dem Polizeipräsidium in Offenburg. Sie hatte sich von Hamburg hierher versetzen lassen, nachdem sie und ihr Mann beschlossen hatten, nach Zell-Weierbach zu ziehen. Eine kleine Ortschaft, die im Zuge der Gebietsreform Baden-Württembergs in die Stadt Offenburg eingemeindet wurde. So viel zur Theorie. Wenn man die 3529 Einwohner, die es laut Wikipedia dort im Jahr 2016 gegeben hat, fragen würde, dann waren sie keine Offenburger. Nein, dann waren sie Zeller. Meistens weltoffen. Ein wunderbarer Ort, um Urlaub zu machen. Manchmal aber, wie viele kleine badische Ortschaften, weniger offen für Zugezogene. Dieses Problem hatte Marie nicht. Sie war hier aufgewachsen. Ihre Mutter, die vor einem Jahr nach einem Unfall gestorben war, hatte ihr das kleine Häuschen mit Garten hinterlassen. Die Mieten in Hamburg waren nicht gerade billig und es war die Gelegenheit, der lauten Großstadt zu entfliehen. Also hatten sie das kleine Häuschen renovieren lassen und sind mit Sack und Pack in den kleinen Vorort am Rande des Schwarzwalds gezogen.

So sehr sie sich als junge Frau nach der großen weiten Welt gesehnt hatte, so sehr freute sie sich, jetzt wieder hier zu sein. In ein paar Monaten würde sie 50 werden, da hatte man die Weisheit des Alters. Hier war es ruhig und ländlich, aber trotzdem nah genug an der Stadt.

Sie steckte sich ein Stückchen Apfel in den Mund. Er schmeckte schon ein wenig mehlig. Schade, aber es war Sommer. Bald würde die neue Ernte auf den Streuobstwiesen, die es hier überall gab, reif werden. Aber zuerst kamen die Zwetschgen. Eigentlich waren es botanisch gesehen Pflaumen, aber das machte für Marie keinen Unterschied. In ihrem Garten stand auch ein Bäumchen und die Früchte hatten schon Farbe angenommen. Leider waren sie innen noch grün. Sobald sie reif waren, würde sie davon einige Gläser Marmelade kochen. Vielleicht mit einem Hauch von Zimt. So wie Andreas es am liebsten mochte. In Hamburg hatte Marie keinen Garten gehabt, deswegen hatte sie dieses Jahr mit wachsender Begeisterung ein Gemüsebeet angelegt. Tomaten, Radieschen und Salat. Doch egal, was sie gesät hatte, es mochte ihr nicht so recht gelingen. Entweder sie hatte zu viel gegossen oder zu wenig. Um den Rest haben sich die Schnecken gekümmert. Aus Rücksicht auf die Tiere in der Umgebung, hatte sie darauf verzichtet Schneckenkorn zu streuen und aufgegeben. Im nächsten Jahr würde sie es erneut versuchen. Vielleicht mit solchen Antischneckenringen um die Pflanzen. Mal schauen, wie lange dann ihre Geduld reichte. Sie sah auf die Uhr. Noch eine Stunde bis Arbeitsbeginn.

Marie war mal wieder viel zu früh aufgestanden. Im Gegensatz zu Andreas. Ihr Mann schlief noch, denn er war der geborene Langschläfer, was er sich auch so drei Mal in der Woche gönnte. Als Versicherungsgutachter hatte er mit dem Umzug eigentlich keine Probleme gehabt. Die meisten Angelegenheiten wurden im Homeoffice geklärt und wenn es doch mal etwas gab, bei dem seine Anwesenheit erforderlich sein sollte, würde er mit der Bahn zum Zielort fahren. Er war schon vor ihrem Umzug deutschlandweit unterwegs gewesen.

Marie stellte sich ans Fenster, während die Kaffeemaschine sanft brummte und eine zweite Tasse ihres Lieblingsgetränks zubereitete. Sollte sie sich vielleicht eine volle Thermoskanne mit ins Büro nehmen? Vielleicht war der Kaffee dort nicht nach ihrem Geschmack. Gab es dort überhaupt eine Kaffeemaschine oder musste sie ihn beim nächsten Bäcker kaufen?

Ihr Handy auf dem Küchentisch vibrierte. Sie drehte sich um und fiel beinahe über den schwarzweißen Kater, der sich auf Samtpfoten in die Küche geschlichen hatte. Er spekulierte wohl darauf, vielleicht die ein oder andere Leckerei vom Frühstück abzubekommen.

„Oh, Kopernikus, dass du immer im Weg herumlaufen musst.“ Sie warf dem Kater einen bösen Blick zu und griff nach dem Handy. Eine unbekannte Nummer.

„Müller.“

„Hallo Frau Müller. Hier spricht Rafael Erikson. Ich wurde Ihnen als neuer Partner bei der Kriminalpolizei zugeteilt. Entschuldigung, wenn ich Sie jetzt schon störe, aber es wurde eine Leiche im Wald gefunden und da man mir gesagt hat, dass Sie Tatorte am liebsten persönlich in Augenschein nehmen, dachte ich mir, ich informiere Sie gleich darüber.“

Eine Leiche am frühen Morgen, das war nicht gerade der Einstieg, den sie sich für den ersten Tag gewünscht hatte. Der Tod war immer so traurig und erforderte viel mehr Schreibkram. Vor allem, wenn der oder die Tote auf unnatürliche Weise aus dem Leben geschieden war. Davon mal abgesehen, dass so etwas einem gewaltig den Appetit verderben konnte.

Sie wollte den Mann am anderen Ende der Leitung gerade fragen, wie die weitere Vorgehensweise sei, als sie im Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Kopernikus versuchte, möglichst unauffällig, mit seiner Pfote nach ihrem auf dem Teller liegenden Quarkbrötchen zu angeln.

„Nein!“, schrie sie.

„Wie gesagt, ich wollte Sie nicht stören. Wir müssen nicht persönlich dort auftauchen, der Kriminaldauerdienst ist schließlich schon vor Ort.“

Marie war zum Tisch gehechtet und hatte in letzter Sekunde verhindert, dass Kopernikus den Teller vom Tisch zog. Natürlich sehr zum Missfallen des Katers, was dieser mit einem schlechtgelaunten Fauchen quittierte.

„Entschuldigung, ich meinte nicht Sie. Wo sollen wir uns treffen, beziehungsweise wo ist der Tatort?“

„Ich schlage vor, dass ich Sie abhole.“

„Einverstanden.“

„Dann bis gleich.“

Marie legte auf.

Hatte sie schon alles eingepackt, was sie brauchte? Sie holte ihre Tasche aus dem Flur und sah hinein.

Sie hatte eine Maske, was bei Leichen, die schon eine Weile vor sich hingammelten, sehr von Vorteil sein konnte. Am besten in Kombination mit einem scharfen Pfefferminzbonbon. Auch die hatte sie schon in ihre Tasche gepackt. Da waren die Ersatzhandschuhe, denn die Kollegen der Spurensicherung hatten nicht immer ihre Größe parat. Ihre Oma hatte immer gesagt, kleine Hände seien besser, um beim Putzen in die Ecken zu kommen.

Ein Kommentar, der nur von einer Frau mit verstaubtem Rollenbild kommen konnte. Und in einer Extrahülle hatte sie ihr Tablet. Sie hatte es sich extra für Notizen angeschafft. Natürlich würden es ein Notizbuch aus Papier und ein Bleistift auch tun, aber so musste sie die gesammelten Informationen nicht noch einmal in den Computer eingeben. Eine weitere Speicherkarte und eine Powerbank mit Kabel waren für alle Fälle im vorderen Fach verstaut. Sehr schön. Gut, dass sie den inneren Schweinehund gestern Abend noch überwunden und alles zusammengepackt hatte. Sonst würde sie jetzt total gestresst durchs Haus flitzen und trotzdem die Hälfte vergessen. Sie goss sich ihren Kaffee in einen Thermobecher um und biss in ihr Quarkbrötchen. Wer weiß, wann und ob sie heute Zeit für ein Mittagessen haben würde. Dabei sah sie schadenfroh zu Kopernikus, der es sich inzwischen auf ihrem Küchenstuhl bequem gemacht hatte.

Wenn der Kater nur nicht so haaren würde.

„Tja, wenn man vom Tisch klauen möchte, isst es die Mama alleine auf.“

Der Kater drehte sich beleidigt von ihr weg.

„Na gut, dann schmoll halt.“

Sie nahm ihre Sachen, schluckte den letzten Bissen hinunter und machte sich auf den Weg nach draußen. Am besten wartete sie unten an der Straße. Dann würde das Klingeln Andreas nicht wecken. Das mochte er nämlich gar nicht. Er konnte ein ausgesprochener Morgenmuffel sein.

Dann würde sie sich noch die nächsten zwei Tage anhören können, dass er so schlecht geschlafen hatte.

Es dauerte nicht lange, da bog ein grüner Golf in ihre Straße ein und hielt auf ihrer Höhe an. Marie öffnete die Beifahrertür und stieg schnell ein, denn schon kam das nächste Auto die enge Seitenstraße entlang.

Der Mann mittleren Alters am Steuer sah sie mehr als irritiert an.

„Was machen Sie da?“

„Sie wollten mich doch abholen.“

„Nein, ich wollte Sie fragen, ob Sie wissen, wo ich den nächsten Supermarkt finde.“

„Also sind Sie nicht Rafael Erikson?“ Marie spürte, wie ihr das Blut zu Kopf stieg.

„Wie kommen Sie denn darauf?“

Das Auto hinter ihnen hupte.

„Ich muss mich tausendmal entschuldigen. Ich habe sie verwechselt.“

Marie öffnete die Beifahrertür wieder und stieg aus.

Der Mann schüttelte den Kopf und fuhr schnell weiter. Marie wäre am liebsten im Boden versunken. Das andere Auto war stehen geblieben und der Fahrer starrte sie grinsend aus dem geöffneten Beifahrerfenster an. Es war schon so peinlich genug, dass sie ins falsche Auto gestiegen war, da brauchte sie nicht auch noch einen schadenfrohen Zeugen ihres Missgeschicks. Darum sagte Marie unwirsch:

„Die Straße ist frei, Sie können gerne weiterfahren.“ Dabei schwang sie wie eine Stewardess bei der Sicherheitseinweisung im Flugzeug ihre Arme.

Der Autofahrer grinste noch breiter und beugte sich etwas zum Fenster.

„Das kann ich gerne tun, aber meine Vorgesetzte wartet.“

Marie sah ihn verständnislos an. Es dauerte eine Weile, bis die Worte in ihren Verstand eindrangen.

„Sie sind?“

„Ja, genau der. Darf ich mich noch einmal vorstellen? Ich bin Kriminalkommissar Rafael Erikson.“

Marie starrte ihn immer noch perplex an.

„Ja, auch wenn die Maximalpigmentierung meiner Haut nicht darauf schließen lässt, ich bin ein waschechter Schwarzwälder.“

„Ich wusste nicht... ich meine... so war das nicht gemeint. Ich habe sie verwechselt.“

Dabei zeigte sie auf den nicht mehr vorhandenen Golf.

Rafael grinste immer noch. Er stieg aus, ging ums Auto herum und hielt ihr die Autotür auf.

„Das passiert öfter, als man denkt. Aber jetzt haben Sie ja das richtige Auto gefunden. Sie dürfen gerne einsteigen. Ich verspreche auch, Sie nicht zu entführen“, dabei hob er die Hand zum Schwur an sein Herz.

Er wusste, dass Marie es nicht böse gemeint hatte.

Schließlich hatte er von seinem Sitz aus ganz gut beobachten können, was gerade geschehen war und wieso Marie etwas verwirrt reagierte. Aber es machte ihm einfach zu viel Spaß die Leute ein wenig mit Alltagsrassismus aufzuziehen. Deswegen hatte er auch bei der Hochzeit vor zwei Jahren den Nachnamen seines Mannes angenommen.

Erikson klang hellhäutiger als Botha. Er hatte auch nicht gelogen. Er war wirklich ein waschechter Schwarzwälder. In seinem Ausweis steht als Geburtsort: Hornberg.

Marie schien ihre Fassung wiedergefunden zu haben. Sie setzte ein selbstbewusstes Lächeln auf und stieg ein.

Rafael schloss die Tür hinter ihr und setzte sich wieder ans Steuer.

„Woher wussten Sie eigentlich, dass ich mir gerne Tatorte persönlich ansehe?“

„Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.“

In Wirklichkeit hatte Rafael einen alten Studienkollegen. Dieser war einige Wochen der Wache in Hamburg zugeteilt gewesen und hatte ihn ausführlich über seine neue Arbeitskollegin informiert.

„Aha, dann hoffe ich mal, man hört nur Gutes. Wo führt uns unser Weg denn heute hin?“, fragte Marie, als sie gerade an der Zeller Brugg, einem sehr zu empfehlendem kleinen urigen Restaurant mit 4,6 Sternen auf Google, in den Talweg hoch zum Riedle einbogen.

„Kennen Sie den Brandeckturm?“ Marie nickte, natürlich kannte sie den gemauerten Aussichtsturm oben im Wald. Er besaß eine kleine Plattform, von der aus man einen großartigen Rundblick über die Rheinebene, die Vogesen und die Schwarzwaldberge hatte.

„Da müssen wir hin.“

Marie zog die Augenbrauen hoch.

Gut, dass sie mit ihrem Einsatzfahrzeug auf den breiten Wanderwegen bis hinauf zum Turm fahren konnten. Weder Marie noch Rafael hatten Lust auf eine ausgedehnte Wanderung zum Fundort.

Als sie ausstiegen, ließ Marie ihren Blick schweifen.

Es sah immer noch so aus wie früher. Bis auf die großen Solarpanels, die jetzt unterhalb der Aussichtsplattform den Turm zierten. Von dort oben hatte man an einem klaren, sonnigen Tag wie heute sicher eine sensationelle Aussicht. Vielleicht sollte sie einmal mit Andreas herkommen. In Hamburg hatte man keine so schöne Aussicht. Sie könnte auch ein kleines Picknick einpacken. Wieso nicht ein bisschen Romantik in den Alltag bringen? Sie liebte es, diese unendlichen Weiten zu betrachten.

Aber heute hatte sie keine Zeit dafür. Sie schulterte ihre Tasche und ging zwischen den geparkten Streifenwagen hindurch. Am Rand des Platzes war eine Wandergruppe aus etwa fünf Leuten neben einer langen Sitzbank. Sie standen zum Teil mit dem Rücken zu den Geschehnissen hinter dem Turm.

Deswegen vermutete Marie, dass es sich hier wohl eher um Zeugen handelte. Schaulustige wollten immer so nah wie möglich am Geschehen sein. Am besten noch mit dem Handy filmend, denn das generiert eine Menge Klicks. Sie beschloss, sich zuerst die Leiche anzusehen. Einige Rettungssanitäter und Polizisten in Uniform standen neben einem provisorisch errichteten Sichtschutz. Marie fragte sich, wieso die Rettungssanitäter noch da waren. Anscheinend war eine Rettung hier nicht mehr vonnöten. Oder gab es noch Verletzte? Manchmal werden nicht alle Fakten von der Leitstelle weitergegeben. Die an den weißen Overalls erkennbaren Kollegen der Kriminaltechnik waren dabei Spuren am Waldrand zu sichern und ein Kollege des Kriminaldauerdienstes, kurz KDD genannt, war dabei Fotos zu schießen. Verletzte konnte sie keine entdecken.

Als Marie neben den Tatortfotografen trat, stockte ihr der Atem. Es war nicht, weil der Tote auf dem Boden nackt war bis auf seine Boxershort, die übrigens mit grellgelben Quietscheentchen bedruckt war. Es schockte sie auch nicht, dass seine Augen starr ins Leere sahen. Oder das viele Blut, das aus seiner klaffenden Kopfwunde geflossen war. Nein, solch einen Anblick kannte sie bereits von ihren vielen Einsätzen. Ihr stockte der Atem, weil sie den Toten kannte.

Es war Gerhard Gerber.

Klar, er war auch älter geworden, sein einst dunkelbraunes Haar war inzwischen angegraut, aber sie erkannte ihn sofort.

„Scheiße“, murmelte sie vor sich hin.

Rafael, der neben Marie stand, schüttelte den Kopf.

„Das können Sie laut sagen. Ist das nicht der Feuerwehrkommandant von Zell-Weierbach?“ Marie sah ihn erstaunt an.

„Feuerwehrkommandant?“ Der Kollege, der gerade noch Fotos geschossen hatte, nickte. „Jap, Gerhard Gerber.“

Marie sah sich um.

„Ist das hier der Tatort?“

„Aufgrund der Menge an Blut, die neben ihm in den Boden gesickert ist und weil es keinerlei Schleifspuren gibt, gehe ich stark davon aus.“

„Gibt es eine Tatwaffe?“

„Haben wir bis jetzt noch keine gefunden.“

„Die Kleidung des Toten?“

„Ist auch nicht auffindbar.“

„Hat schon jemand seiner Familie Bescheid gegeben?“ Der Kollege schüttelte den Kopf.

„Gut, dann werde ich das übernehmen.“

Rafael rieb sich das Kinn.

„Gibt es sonst noch etwas, das wir wissen müssten?“

Wieder schüttelte der Kollege den Kopf.

„Wir müssen noch etwas auf den Arzt für die erste Leichenschau warten, aber ich denke, der arme Kerl liegt hier schon die ganze Nacht.“

Marie ging in die Hocke, um sich die Wunde am Kopf des Toten genauer anzusehen. Sie wirkte irgendwie kantig. An seinen Händen sah man keine Abwehrverletzungen und die Fingernägel waren sauber. Sein Körper wies keine Verletzungen auf, abgesehen von dem Loch an seinem Kopf. Ob er seinen Angreifer gekannt hatte? Anscheinend hat man nur einmal auf ihn eingeschlagen. Mehrere Schläge hätten auf eine Beziehungstat hinweisen können oder auf eine psychologische Störung des Täters.

„Was hat er denn da im Haar?“

Marie beugte sich weiter vor.

Auch Rafael ging jetzt in die Hocke.

„Ich glaube, das könnten Sägespäne sein.“

Marie nickte und stand auf. Sie sah sich um und ging ein Stückchen in den Wald hinein.

„Wurden hier im näheren Umkreis irgendwelche Bäume frisch gefällt?“

„Das Gewitter vorgestern könnte einige Bäume umgerissen haben.“

Marie wandte sich an den Kollegen des KDD:

„Ich hätte gerne Proben und den Standort von jedem frischgefällten Baum im Umkreis von einem Kilometer.“

Dann hielt sie inne.

„Wurde er von den Leuten dort drüben gefunden.“

Der Kollege des KDD nickte.

Marie seufzte.

„Gut, dann hören wir uns mal an, was sie zu berichten wissen.“

Der Kollege des KDD grinste.

„Viel Spaß, da ist ein besonders gesprächiges Exemplar dabei.“

„Solange uns die Aussage weiter bringt.“

Sie gingen hinüber zu der Gruppe.

Verdeckt von den anderen saß auf der Bank zusammengesunken und wimmernd eine Frau. Ihr Gesicht hatte sie in ihren Händen vergraben.

„Wer von Ihnen hat den Toten gefunden?“, fragte Marie.

Eine recht resolut wirkende Frau, die eher etwas abseits der Gruppe stand, ergriff das Wort.

„Das waren dann wohl mir älle. Unsere Wanderführerin hedd uns gebeda, uns einen Boom in der Nähe zu sucha um ihn zu umarma.“ Sie sprach in einem starken schwäbischen Dialekt.

„Habe ich das richtig verstanden?“

„Jo, i halde des au für Bledsenn.“

Der Mann, der ihr am nächsten stand, sah sie genervt an.

„Jolanda, jetzt fang nicht wieder damit an.“ Marie zog die Augenbrauen zusammen, deswegen versuchte es die Frau jetzt in einem sehr gekünstelt wirkendem Hochdeutsch, das klang, als ob sie Marie und ihren Kollegen für minderbemittelt hielt.

„Wissen sie, des kommd davon, wenn man mal den Mann entscheida lässt.“

„Du hast gesagt, du willst mal woanders hin als an den Bodensee.“ Der Mann rollte mit den Augen.

„Damit meinte ich irgendwo ans Meer. Italien oder Mallorca, aber hanoi, der Herr bucht uns einen Urlaub im Schwarzwald. Waldbaden. Das ist so toll und der noischde Wellnesstrend, hat er gesagt und was kam dabei raus? Ich muss bei Sonnenaufgang aufbrechen zu einer ewig langen Wanderung, bei der man Bäume umarmt.“

„Was denn, du hast gesagt, du magst Spaziergänge bei Sonnenaufgang.“

„Da wusste ich auch noch ned, dass wir eins sein sollen mit dem Grünzeug hier im Wald. Oder das mir beim Streunen durch des zeckenverseuchte Gebüsch über einen nackten Leichnam stolpera.

Das hat weder etwas mit Romantik noch mid einem Strand zu tun.“

„Du hast aber auch immer etwas zu meckern“, flüsterte der Mann. Hier brauchte es keinen talentierten Ermittler, um zu erkennen, wer in dieser Beziehung die Hosen an hatte.

Marie, Rafael und die anderen Gruppenteilnehmer sahen zwischen den beiden Streithähnen wie bei einem Tennismatch hin und her. Gerade als die Frau wieder zurückfeuern wollte, erklang eine zaghafte, verweinte Stimme.

„Marie? Marie Vogt?“ Marie sah erstaunt zu der Frau auf der Bank hinab.

Sie hatte ihren Kopf aus ihren Händen gehoben und sah Marie direkt an.

„Ja, Vogt war mein Mädchenname“, da erkannte sie die Frau.

„Anja?“ Die Frau nickte.

Sie waren damals schon zusammen in den Kindergarten gegangen.

Es war schön, sie mal wiederzusehen. Aber nicht unter diesen Umständen.

„Hast du gesehen, es ist Gerhard.“

Marie nickte.

„Jemand muss es Nadine und seiner Mutter sagen.

Jetzt ist auch noch der letzte Mann aus der Familie tot. “ Marie setzte sich neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Das werden wir schon machen. Aber jetzt erzähl mir erst einmal genau, wie ihr die Leiche gefunden habt.“

Anja nickte und eine Träne rollte ihr über die Wange.

„Also...“, doch da wurde Anja unterbrochen.

„Das habe ich ihna gerade gesagd. Mir sollda einen Baum umarma und da lag er dann.“

Marie und Rafael starrten das sich vorher streitende Paar an.

„Herr Gott Jolanda, jetzt sei doch einmal im Leben still. Die Polizei hat dich gerade gar nicht gefragt.“

„Woher willsch noh wissa, dass sie vo der Polizei sind? Soweid i sehe, draga die beida koi Uniform.

Es könnda genauso gut zwoi Journalista sai, die uf oi dolle Story aus sind.“

Der Mann ballte die Fäuste und ließ einen kehligen Ton verlauten, der ein bisschen wie ein Knurren klang. Würde nicht 30 Schritte weiter eine Leiche liegen, wäre dieses Schauspiel fast schon komisch gewesen. Das gleiche musste auch Rafael gedacht haben, denn er biss sich auf die Unterlippe und sah in die andere Richtung, um sich kurz zu sammeln.

Dann zog er seinen Ausweis aus der Tasche und zeigte ihn den beiden.

„Ich würde vorschlagen, die anderen kommen schon mal mit zu einem der Streifenwagen, damit wir ihre Personalien aufnehmen können.“

Die Frau sah unschlüssig zwischen Marie, die immer noch mit Anja auf der Bank saß und Rafael, der mit der restlichen Wandergruppe davonlief, hin und her. Dann schien sie sich aber geschlagen zu geben und folgte den anderen. Natürlich nicht, ohne noch einen Kommentar abzugeben:

„I hoffe do schwer, dass diese Sache net dazu führd, dass wir die Stadt net verlassa dürfen. I kanns nämlich gar net erwarda, vo dahana wegzukomma.“

Marie wandte sich wieder an Anja.

„So, jetzt erzähl mir mal genau, wie es dazu kam, dass du Gerhard gefunden hast.“

„Ich habe während meiner Elternzeit eine Ausbildung zur Natur- und Umweltpädagogin gemacht und anlässlich der Heimattage, die dieses Jahr in Offenburg stattfinden, kam mir die Idee, in den Sommerferien ein paar Touren für die zahlreichen Touristen anzubieten. Eine Kombination aus Wandern, Sightseeing und Entspannungsübungen. So etwas ist im Moment total angesagt. Diese Runde startete heute Morgen um sechs Uhr unten an der Abtsberghalle und sollte so gegen 14 Uhr mit einem gemeinsamen Vesper an der Winzergenossenschaft enden. Als wir gegen acht Uhr hier ankamen, war nichts Verdächtiges zu sehen.

Zumindest ist mir nichts aufgefallen. Niemand war hier. Kein Wanderer und auch keiner der vielen Mountainbiker, die sonst so auf der Strecke zu finden sind. Wobei bei dem Tempo, das die so drauf haben, hätten sie Gerhard niemals dort im Unterholz gesehen. Ich habe ihn schließlich auch nicht gesehen. Bevor wir den Turm hochsteigen wollten, bat ich die Teilnehmer, sich einen Baum zu suchen. Sie sollten dort Kraft tanken oder einen Wunsch in den Himmel senden. Wie auch immer.

Wir sind zu den Bäumen gegangen und dann lag er da. Tot, mit aufgerissenen Augen. Wer weiß, ob wir ihn überhaupt entdeckt hätten, wenn wir auf der anderen Seite zu den Bäumen gegangen wären.

Vielleicht hat mich sein Geist spüren lassen, dass er gefunden werden wollte.“

Zugegeben, den Teil mit dem Geist fand Marie dann doch etwas zu spirituell, aber die Sache mit der Wanderung klang nach einem schönen Ausflug.

Sie hätte niemals gedacht, dass sich Anja zu einer Bäumeumarmerin entwickeln würde. Damals in der Schule hätte sie eher auf Arzthelferin getippt.

Nein, sie musste jetzt professionell bleiben, schließlich ging es hier gerade um ihren Job.

„Hat jemand von euch den Toten, also Gerhard, angefasst?“ Anja fuhr sich fahrig durch die Haare.

„Nein, ich glaube nicht. Ich habe sofort die Polizei gerufen und dann sind wir hierher zu den Bänken.

Ich wollte ihn so nicht sehen, das wird mich sicher in meinen Träumen verfolgen.“

Marie wusste genau, wovon Anja sprach. Eine Leiche zu sehen, zumal sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war, war nicht leicht zu verdauen. Selbst als Kommissarin, wo man es ständig mit so etwas zu tun hatte, brauchte es Übung solche Bilder aus dem Kopf zu vertreiben. Aber wenn man das Opfer gekannt hatte, war es um einiges schwerer. Auch ihr würde der Anblick in Erinnerung bleiben und das nicht nur wegen der Quietscheentchen.