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Ernst Weiß war ein österreichischer Arzt und Schriftsteller. Er beging Selbstmord als die deutschen Truppen 1940 Paris einnahmen. Dieser Band enthält viele seiner schönsten Erzählungen: Boëtius von Orlamünde Stern der Dämonen Die Verdorrten Franta Zlin Marengo Hodin Die Galeere Mensch gegen Mensch
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Seitenzahl: 978
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Gesammelte Prosa
Ernst Weiß
Inhalt:
Ernst Weiß – Biografie und Bibliografie
Boëtius von Orlamünde
Erster Teil
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10.
11
12
13
14
Zweiter Teil
1
2
3
4
5
6
7
8
Dritter Teil
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Stern der Dämonen
Erster Teil
I
2
3
4
5
6
Zweiter Teil
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Dritter Teil
1
2
3
Die Verdorrten
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Franta Zlin
1
2
3
4
5
6
7
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10
Marengo
1
2
3
4
5
6
7
Hodin
1
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4
Die Galeere
1
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3
4
5
6
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8
9
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30
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33
34
35
Mensch gegen Mensch
Erster Teil
I
II
III
IV
V
VI
Zweiter Teil
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
Dritter Teil
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
Gesammelte Prosa, Ernst Weiß
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849639594
www.jazzybee-verlag.de
Österreichischer Arzt und Schriftsteller, geboren am 28. August 1882 in Brünn, verstorben am 15. Juni 1940 in Paris. Der aus einer jüdischen Familie stammende Weiß war der Sohn des Tuchhändlers Gustav Weiß und dessen Ehefrau Berta Weinberg. Am 24. November 1886 starb der Vater. Trotz finanzieller Probleme und mehrfacher Schulwechsel (unter anderem besuchte er Gymnasien in Leitmeritz und Arnau) bestand Weiß 1902 erfolgreich die Matura (Abitur). Anschließend begann er in Prag und Wien Medizin zu studieren. Dieses Studium beendete er 1908 mit der Promotion in Brünn und arbeitete danach als Chirurg in Bern bei Emil Theodor Kocher und in Berlin bei August Bier.
1911 kehrte Weiß nach Wien zurück und fand eine Anstellung im Wiedner Spital. Aus dieser Zeit stammt auch sein Briefwechsel mit Martin Buber. Nach einer Erkrankung an Lungentuberkulose hatte er in den Jahren 1912 und 1913 eine Anstellung als Schiffsarzt beim österreichischen Lloyd und kam mit dem Dampfer Austria nach Indien, Japan und in die Karibik.
Im Juni 1913 machte Weiß die Bekanntschaft von Franz Kafka. Dieser bestätigte ihn in seiner schriftstellerischen Tätigkeit, und Weiß debütierte noch im selben Jahr mit seinem Roman Die Galeere.
1914 wurde Weiß zum Militär einberufen und nahm im Ersten Weltkrieg als Regimentsarzt in Ungarn und Wolhynien teil. Nach Kriegsende ließ er sich als Arzt in Prag nieder und wirkte dort in den Jahren 1919 und 1920 im Allgemeinen Krankenhaus.
Nach einem kurzen Aufenthalt in München ließ sich Weiß Anfang 1921 in Berlin nieder. Dort arbeitete er als freier Schriftsteller, u.a. als Mitarbeiter beim Berliner Börsen-Courier. In den Jahren 1926 bis 1931 lebte und wirkte Weiß in Berlin-Schöneberg. Am Haus Luitpoldstraße 34 erinnert daran eine Gedenktafel. Im selben Haus wohnte zeitweise der Schriftsteller Ödön von Horváth, mit dem Weiß eng befreundet war.
1928 wurde Weiß vom Land Oberösterreich mit dem Adalbert-Stifter-Preis ausgezeichnet. Außerdem gewann er im selben Jahr bei den Olympischen Spielen in Amsterdam eine Silbermedaille im Kunst-Wettbewerb.
Kurz nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 verließ er Berlin für immer und kehrte nach Prag zurück. Dort pflegte er seine Mutter bis zu deren Tod im Januar 1934. Vier Wochen später emigrierte Weiß nach Paris. Da er dort als Arzt keine Arbeitserlaubnis bekam, begann er für verschiedene Emigrantenzeitschriften zu schreiben, u.a. für Die Sammlung, Das Neue Tage-Buch und Maß und Wert. Da er mit diesen Arbeiten seinen Lebensunterhalt nicht decken konnte, unterstützten ihn die Schriftsteller Thomas Mann und Stefan Zweig.
Ernst Weiß letzter Roman Der Augenzeuge wurde 1939 geschrieben. In Form einer fiktiven ärztlichen Autobiographie wird von der „Heilung“ des hysterischen Kriegsblinden A.H. nach der militärischen Niederlage in einem Reichswehrlazarett Ende 1918 berichtet. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wird der Arzt, weil Augenzeuge, in ein KZ verbracht: Sein Wissen um die Krankheit des A.H. könnte den Nazis gefährlich werden. Um den Preis der Dokumentenübergabe wird „der Augenzeuge“ freigelassen und aus Deutschland ausgewiesen. Nun will er nicht mehr nur Augenzeuge sein, sondern praktisch-organisiert kämpfen und entschließt sich, auf der Seite der Republikaner für die Befreiung Spaniens und gegen den mit Nazideutschland politisch verbündeten Franquismus zu kämpfen.
Als Weiß am 14. Juni 1940 den Einmarsch der deutschen Truppen in Paris von seinem Hotel aus miterleben musste, beging er Suizid, indem er sich in der Badewanne seines Hotelzimmers die Pulsadern aufschnitt, nachdem er Gift genommen hatte. Im Alter von 57 Jahren starb Ernst Weiß am 15. Juni 1940 im nahegelegenen Krankenhaus.
Wichtige Werke
Die Galeere, Roman, S. Fischer, Berlin 1913Der Kampf, Roman, S. Fischer, Berlin 1916 (seit 1919 Franziska)Tiere in Ketten, Roman, S. Fischer, Berlin 1918Das Versöhnungsfest, Eine Dichtung in vier Kreisen, in: Der Mensch (Zeitschrift), 1918Mensch gegen Mensch, Roman, Verlag Georg Müller, München, 1919Tanja, Drama in 3 Akten, UA 1919 in PragStern der Dämonen, Erzählung, Genossenschaftsverlag Wien/Leipzig 1920Nahar, Roman, Kurt Wolff Verlag, München 1922Hodin, Erzählung, Verlag H. Tillgner, Berlin 1923Die Feuerprobe, Roman, Verlag Die Schmiede, Berlin 1923Atua, Erzählungen, Kurt Wolff Verlag, München 1923Der Fall Vukobrankovics, Kriminalreportage, Verlag Die Schmiede, Berlin 1924Männer in der Nacht, Roman (um Balzac), Propyläen Verlag, Berlin 1925Dämonenzug, Erzählungen, Ullstein, Berlin 1928Boëtius von Orlamünde, Roman, S.Fischer, Berlin 1928 (seit 1930 Der Aristokrat)Georg Letham. Arzt und Mörder, Roman, Zsolnay, Wien 1931Der Gefängnisarzt oder Die Vaterlosen, Roman, Verlag Julius Kittls Nachf., Mährisch-Ostrau, 1934Der arme Verschwender, Roman, Querido Verlag, Amsterdam 1936Jarmila, Novelle, 1937Der Verführer, Roman, Humanitas Verlag, Zürich 1938Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike“ verfügbar; zusätzliche Bedingungen können anwendbar sein. Im Gesamten ist dieser Text zu finden unter http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Wei%C3%9F_%28Schriftsteller%29.
Ich heiße Boëtius Maria Dagobert von Orlamünde, oder besser gesagt, ich nenne mich Orlamünde. Das historische Geschlecht derer von Orlamünde ist im sechzehnten Jahrhundert ausgestorben. Orlamünde ist also hier bloß ein Name. Ich entstamme einem anderen uradeligen Geschlecht, das ich nicht nennen will. Trotz meines hochklingenden Namens bin ich nicht viel. Auch meine Eltern lebten in den erbärmlichsten Verhältnissen. Wußten sie es? Täuschten sie sich? Sie besaßen noch Reste früheren Glanzes, aber sie hungerten, und unser alter Diener David mit ihnen. Statt nun den Adel abzulegen und einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen und auf diese Weise die einfachste Folgerung aus dem Niedergang der einst mächtigen Herren von Orlamünde zu ziehen, bedachten sie mich, ihr einziges Kind, außer mit den Geschenken der Armut und Genügsamkeit noch mit dem wahrhaft unsinnigen Rufnamen Boëtius. Nicht genug daran. Sie glaubten in ihrer Verblendung, mir eine "fürstliche" Erziehung geben zu müssen. Man erzieht mich erst durch einen alten Abbé daheim, später bringt mich mein geliebter Vater in ein adeliges Knabenstift, wenn ich es so nennen kann, in eine groß angelegte Anstalt, in welcher die Sprossen der reinblütigen Häuser, die man aus irgendeinem Grunde zu Hause nicht erziehen will oder kann, eine standesgemäße Erziehung erhalten. Dieses adelige Knabenstift heißt Onderkuhle und liegt im östlichen Belgien, nicht weit von der Grenze.
Unter diesen großen Herren verschwinde ich in dem ersten Jahre als der kleinste, der ärmste, der schüchternste und rothaarigste zugleich. Rothaarig – so klar das Wort und so scharf es einen Menschen äußerlich kennzeichnet – ist nicht ganz das rechte Wort. Zwar habe ich die lichtblauen, wie ausgewässerten Augen der meisten Rothaarigen. Wohl habe ich ihre buttercremefarbene, mit rotbraunen Sommersprossen gemusterte Haut, die feinen, langen Hände, die gestreckte, aber innerlich irgendwie verbogene Figur und knochenlose Körpergestalt, wie sie viele sehr blonde oder rothaarige Jünglinge haben, und diese Körperanlage ist es, die mich zum eleganten Tanze, zu jeder netten Verbeugung, zu jeder "adeligen Geste" unfähig macht. Man muß mich nur sehen, wie unbeschreiblich ungeschickt, geziert und unbehilflich ich, zum Staunen des Zeremonienmeisters, an meinem Ehrentage das letzte Jahrgangszeugnis aus der etwas zitternden, roten und weich aufgequollenen Hand des alten Direktors von Onderkuhle entgegennehme, der dabei, um mich nicht zu beschämen, mit seinen ebenfalls zitternden und leicht verglasten Augen wegsieht, während doch gerade sein fest auf mich gerichteter Blick die Kraft gehabt hätte, mir mein Selbstbewußtsein, meine gesunde männliche Haltung, mein Vertrauen auf mich und auf die bei aller Fürchterlichkeit doch wohlwollende Welt wiederzugeben. Nein, er sieht fort, in den Winkel, wo die alten blauen Schulfahnen hängen. Wozu eine Schule Fahnen besitzt, ist mir nie klargeworden. Zieht sie doch ebensowenig in Schlachten, als sie Veteranen, Verwundete und T. in ihren Reihen zählt. Aber die Fahnen sind da und aller Stolz. Der Haushofmeister, Zeremonienmeister und Lehrer der Etikette in einer Person (sein Name ist Garnier), er, der von einem russischen Leibeigenen und einer französischen Kammerzofe abstammen soll und der hier bei uns trotz seiner scheinbar ganz untergeordneten Rangstellung das ganze Heer der Ordonnanzen, Knechte und Verwaltungsorgane befehligt, dieser Mann reinigt sie jeden Morgen, bevor er seinen Inspektionsgang durch die Anstalt und durch unser Gut antritt. Und zwar tut er das in der Weise, daß er die schwarzen Fahnenstöcke mit einem weißen seidenen Lappen abreibt, dann mit der Daumenfläche wischend über die vergoldeten sechseckigen alten Schilder fährt, die an den Stöcken mit goldenen Nägeln befestigt sind. Nur die Fahnentücher reinigt er nicht, weil sie möglichst alt und ehrwürdig aussehen sollen. Er darf keine Bürste gebrauchen, er legt bloß die Falten in eine bessere Ordnung und läßt die blauen Fransen durch seine alten, "fürstlich" schönen, elfenbeinfarbenen, ringgeschmückten Finger rieseln.
Was sollen diese Fahnen der adeligen Schule? Was soll der unsichere Blick des trunksüchtigen Direktors, des alten Herrn in seiner hochgeschlossenen Uniform, die der eines Kavallerieobersten ähnlich sieht, aber noch mehr Gold angestickt trägt als eine solche? Was soll ich, der auf einem Podium, nein, vor diesem, auf dem spiegelglatt parkettierten Fußboden steht? Ich hebe mein rechtes Bein schon auf den Katheder und nehme in der lächerlichsten Stellung von der Welt mein Zeugnis aus der Hand des störrisch wegblickenden Schulobermeisters entgegen. Wie entbehrt dies alles der Vernunft! Freilich ist es schön und regt bei manchen edlere Gefühle an. Auch findet diese Szene nicht in Deutschland, Österreich oder Schweden statt, den drei vernünftigsten Ländern Europas, sondern im katholischen Belgien, wo man auch dem Schein sein Recht läßt. Und Schein ist auch alles. Ich, der uradelige Aristokrat und Bettler, meine Zeugnisse, die nichts eines Zeugnisses Wertes bekunden (denn Reiten, Fechten, Schwimmen, Turnen beweist man nicht durch gestempelte Zeugnisse), der Direktor in seiner Oberstenuniform, der Pulver nie gerochen hat, die Fahnen, die man nicht abstauben darf, der Haushofmeister, der der eigentliche Meister der Schule ist, denn er beherrscht, wie so viele Dienende in der Welt, die andern, welche die Macht zu besitzen glauben, denen aber der Mut fehlt, sie anzuwenden.
Ich lernte in der Schule von Onderkuhle (sie ist bei uns so weit berühmt, daß man nur zu sagen braucht, ich bin in Onderkuhle erzogen ...) bei meinen teuren Lehrern herrlich reiten. Es waren zwei Reitlehrer da, Absolvent des Kavalleriekursus in Brüssel war der eine, der andere ein ehemals preisgekrönter Herrenreiter; sie waren recht mit mir zufrieden. Dabei wird mir wahrscheinlich meine beim Reiten und Fechten ziemlich ungezwungene Haltung (schlaksig nennen sie manchmal die Leute) sehr von Nutzen gewesen sein. Diese Haltung sieht bloß ungeschickt aus, sie ist es aber keineswegs, besonders nicht auf dem Rücken eines Pferdes. Beim Reiten darf man nicht vergessen, daß sich ein lebender Körper mit einem anderen in einer gewissen Harmonie bewegt. Je leichter die Gewichtsverschiebung vor sich geht und je mehr sich der Reiter dem Pferde anpaßt, sowohl im muskelbeherrschten Sitz im Sattel als auch in der Gewichtsverteilung, wobei man oft das Gefühl wie bei einer Goldarbeiterwaage spielen lassen muß, desto harmonischer kommen die in ihren Grundelementen feststehenden Tritte des Pferdes heraus. Darf ich es ganz ungeschickt ausdrücken: Wenn ein passabler Reiter auf einem guten Pferde sitzt, beherrscht der Reiter das Pferd nicht mehr als das Pferd ihn. Beide sind eine unlösbare Einheit, ein Fleisch und, auf die Dauer der Reitstunde wenigstens, auch eine Seele.
Nun kann ich nicht erwarten, daß der Leser sich bis jetzt aus meinem verworrenen Darstellungsversuch schon ein Bild gemacht hat, wie ich lebe und meine Kindheit vom zehnten Jahre an verbringe. Ergebnis: Ich kann reiten und fahren, schwimmen, fechten, mit Pistolen schießen, kenne die Grundzüge des Exerzierreglements praktisch in ihrem Gebrauch, die Grundtatsachen der Geographie und der Geschichte sind mir nicht fremd. Kein Sport macht mir Mühe, jeder macht mir Freude, aber ich kann nicht richtig rechnen; nicht ganz fehlerfrei schreiben.
Nicht ohne Grund nahm unser Zeremonienmeister – den ich vorhin als Abkömmling eines freiwillig Leibeigenen und einer französischen Zofe bezeichnet habe – neben dem geistlichen Hirten den ersten Platz ein. Das Exerzieren unter dem Kommando eines Präfekten dauert nur eine halbe Stunde am Tage. Der Abbé, eine sehr wichtige Person in unserem kleinen Staate, überwacht zwar unser Gewissen, schreibt die üblichen, für einen gläubigen Katholiken leichten Übungen und Gebete vor und legt großen Wert auf regelmäßige Beichte und auf unseren Fleiß im schulplanmäßigen Religionsunterrichte. Den ganzen Tag aber, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, stehen wir unter den Augen des Meisters, der uns "die Formen" lehren soll. Vor allem den Gruß. Er läßt alle vor seiner Person defilieren. Wir sind barhäuptig. Er hat auf seinem kohlschwarzen, aber an den Schläfen bereits leicht melierten Kopfhaar eine Mütze. Drei Schritte vor ihm müssen wir haltmachen. "Zurück, zurück!" ruft er uns zu, als hätte er Angst, wir wollten ihm an den Hals. Nun blickt er uns mit seinen slawischen Augen an, damit wir uns tief verbeugen. Nie tief genug. Keine königliche Hoheit hat so viel Verbeugungen von hohen Aristokraten entgegengenommen wie er. Er spielt so lange den Herrscher, bis wir den Herrscher in ihm sehen. Antworten, Schweigen, den Vortritt lassen, den Vortritt nehmen, Benehmen bei Tisch, Begrüßung und Abschied von Höherstehenden, Gleichgestellten, Domestiken, alle Feinheiten des aristokratischen Verkehrs, Körperhaltung, seelische Haltung, Selbstbeherrschung, Takt, Selbstverständlichkeit im Befehlen und vor allem stets Distanz wahren und sich seiner Stellung bewußt bleiben, sei sie hoch oder niedrig – das sind die Fächer, die er lehrt. Stunde für Stunde, bei den Mahlzeiten, selbst dann, wenn wir schlafen. Er hat seine steingrauen, etwas auseinanderweichenden Augen überall. In seinen Fächern werden wir nie Meister. Er tut, als wäre er darin aufgewachsen, und doch ist es bekannt, daß er nur ein Jahr bei dem Grafen F. in St. Petersburg zugebracht hat. Allerdings war dieser der vollendetste Hofmann seiner Zeit.
Gut Florett fechten zu können (eine Kunst, bei der mir mein scheinbar knochenloser Körper die besten Dienste leistet) sei wichtiger, meint er, als Ansammlung toten Wissens und das Rechnen mit Dezimalzahlen. Für die Religion hätte der junge Aristokrat den Beichtvater, für die Politik seinen König, für die Vermögensverwaltung seinen Rendanten. Dezimalzahlen gäbe es im Grunde gar nicht, und wenn es sie auch gäbe, zieme es einem Mann von Familie nicht, seinen Leuten solche Bagatellen nachzurechnen.
Das ist der Zug unserer Erziehung. Der Direktor ist ein goldgestickter Schatten, der Abbé ist immer im Jenseits, der Meister aber herrscht hier. – Mein Vater lebt in der Ferne.
Ich könnte mich zum Rennreiter, zum Fechtmeister ausbilden lassen, so groß sind meine Vorkenntnisse. Mein Handgelenk und meine Wirbelsäule (die letztere ist von größter Wichtigkeit) verlieren ihre Geschmeidigkeit nie. Aber Fechtlehrer! Welch phantastischer Beruf in einer Zeit, die das Duell, den entscheidenden Zweikampf, das Gottesurteil an der Spitze des Rapiers nicht mehr kennt. Und Rennreiter? Nein. Anderswo ist jetzt der eigentliche, der blutige Fechtboden der Zeit.
So lebe ich bis an mein achtzehntes Lebensjahr in dem exklusiven Stifte; als guter Reiter und Fechter bei allen, selbst bei dem griesgrämigen russischen Zeremonienmeister hoch angesehen. Wenn ich kein Geld habe (Geld braucht man allerorts, selbst hier), so wird darüber keine Silbe verloren, vorausgesetzt, daß ich nur sonst meinem Namen Ehre mache – und ich mache ihm wenigstens keine Unehre.
Eine glückliche Kindheit? Ich darf nicht klagen.
Noch erinnere ich mich eines Tages, einer Spazierfahrt im Walde. Zum Schulstift gehörte auch ein kleines Gestüt. Wir hatten freie Pferde genug, nicht alle konnten als Wirtschafts- und Schulpferde benutzt werden. Das Mustergut, das mit der Schule in Onderkuhle verknüpft war, brauchte die Zugtiere noch nicht alle, es war vor der Ernte, Anfang Juli vielleicht. Ich vertrat einen der Reitlehrer, der verreist war (verreist nannte man es, wenn ein Lehrer erkrankt war), und dieses Ehrenamt brachte mir viele Vorteile. Ich war zu dieser Zeit über das Alter der meisten anderen Zöglinge hinaus, war keiner Klasse (es waren deren fünf) zugeteilt und erwartete jeden Tag, daß man mir nahelegen würde, einen Berufsweg einzuschlagen und Onderkuhle zu verlassen.
Um so schöner dieser Tag. Die Stalldiener zogen unser honigfarbenes Gig aus dem Verschlag, es war ein zweiräderiger, hoher, weichfedernder Karren. Wir, mein Freund Titurel und ich, spannten ein junges, noch nicht dreijähriges Pferdchen vor, das mit seinem zarten, leicht zusammenpreßbaren Körper die Riemen und Schleifen nicht vollständig ausfüllte, sondern sich in ihnen wie ein Mensch in einem zu weiten Anzüge bewegte; so ähnlich schrumpfte daheim unser alter Diener David in seiner violettintenfarbigen Livree von Jahr zu Jahr ein, sein Rock hing ihm bis an die Knie und später noch tiefer. Bei ihm war es Alter und Ende, bei unserem Pferdchen Anfang und Jugend. Nun setzte sich das Pferdchen in Gang, sich fortwährend unaufmerksam nach uns, die wir Rücken an Rücken im Wagen sitzen, umwendend und das blanke Maul zum Wiehern öffnend. Da es durch den Zügelriemen und das Stangengebiß belästigt ist, wälzt das Tier seine breiten schwarzen, innen hellroten Lefzen nach außen, wodurch der trotz allen Bürstens struppige Kopf ein komisches, knabenhaft lustiges Aussehen erhält. Es trabt nun das Pferd mit uns durch den Park zu einem nahen See, der nicht mehr zu unserem Gute gehört. Sage ich nicht unser Gut, als wäre das alles, Ställe, Wirtschaftsgebäude, Rechnungsstuben, Gesindewohnungen, Brunnen und Tränken, Spritzenhaus, Kornkammern, Scheunen, Schweinekoben, Taubenschläge und der eingezäunte Raum mit Perlhühnern, Pfauen, Truthähnen, der Schuppen mit den Pflügen, mit der Dreschlokomobile und den mechanischen Heuwendeapparaten mein persönliches Eigentum? Und doch gehört mir nichts. Nicht einmal die Peitsche, die ich ruhig in der Hand halte, ohne auch nur mit der Spitze die feine, zitternde Haut des isabellfarbenen Tieres zu berühren.
In schlankem Trabe geht es neben den Düngergruben über einen kleinen Steg in die Obstgärten, wo schon alles abgeblüht ist. Es sind aber doch noch Reste von weißem Blütengefieder am Boden rings um die schwarzen, in der Sonne stark glänzenden, wie gefirnißten Apfelbaumstämme zurückgeblieben. Die Zeit ist wolkenlos. Kein Wind. Nachts nur ein wenig Tau unter dem herrlich prangenden Mond; man trägt keine Uniformmütze (wir waren alle in einer Art Uniform, ich sagte es schon von dem Direktor und Schulmeisterdiener). Bloß ich lege die Mütze nicht gern ab, was seine Gründe hat; nun aber halte ich sie zwischen den Knien. Sie knirscht, wenn der Wagen schwankt und schaukelt. Handschuhe zieht man wohl an, da es Vorschrift ist und der Meister seine Augen überall hat. Nun aber, da wir die Gemarkung des Hofes verlassen, streife ich die Handschuhe ab, und während das gebrechliche Gefährt bei meiner Bewegung sich von vorn nach rückwärts wiegt, stecke ich die Handschuhe, einen in den andern gefaltet, mit der Innenseite nach außen, meinem Freunde in die Brusttasche.
Durch die Büsche erblickt man bei der Wegbiegung hinter sich das Schulgebäude, aus roten Ziegeln schloßartig erbaut; je weiter man kommt, desto größer und gewaltiger scheint es zu werden, und desto höher scheint es von der ganz unbedeutenden Höhe in die klare, flimmernde Sommernachmittagsluft emporzusteigen. Nun liegt es bei einer scharfen Wendung des Weges hinter uns, wir fahren unter jungen Linden dahin, dann dreht sich der Weg in eine Pappelallee (man nennt sie die italienische), an die sich von beiden Seiten ein Tannenforst anschließt, es ist still, bloß ein Kuckuck ruft, ziemlich weit entfernt. Der Wagen geht so schnell und leicht, das Pferd hebt sich so regelmäßig und taktfest in seinem etwas zu weiten Geschirr, daß wir unter den hohen, malachitgrünen Tannen wie auf Schienen dahingleiten. Zu dem Duft der Bäume kommt der Geruch nach Wagenschmiere, die so reichlich aus den Radnaben tropft, daß die sehr eng an den Wagen heranstreifenden Laubsträucher, Ebereschen, Sauerampfer, Farn, Ginster und die hohen, im feuchten Grunde riesig aufschießenden graugrünen Kletten davon beschmutzt werden. Ich blicke mich um und sehe meinen Freund damit beschäftigt, meinen Handschuh, den ich ihm zur Aufbewahrung gegeben, aus der Tasche herauszuziehen, umzuwenden und an seinen bloßen, kurzgeschorenen Kopf zu heben, an seine sommersprossigen Wangen zu schmiegen, vielleicht um die Weichheit des Leders zu prüfen. Damit ist es aber nicht weit her; denn da die Eltern der Zöglinge Handschuhe und Mützen, als das einzige übrigens, zu liefern haben, sind bei mir Handschuhe ein sehr kostbarer, sehr geschonter Artikel. Ich weiß, daß mein Vater mir im Jahr nicht mehr als zwei bis drei Paare schicken kann.
Noch habe ich kein Wort von ihm, meinem Herrn, meinem alten Herrn, erzählt, an den doch mein Herz gerade jetzt denkt. Ich will bloß den erdigen, schokoladefarbenen, rein nach Tannen und Ginster duftenden Waldboden vor mir sehen, wie er sich unter den blank geputzten, spiegelnd schwarzen Hufen des Pferdchens aufrollt. Es geht bergauf, dem kleinen See entgegen. Hier stehen Buchen, Eichen. Mitten unter dem hellen, weich umflaumten Laube keimt das ernste erzähnliche Grün der Nadelbäume, unter dem wie Früchte die weißgrünen neuen Sprossen der Zweige hervorleuchten in fast stechendem Glanz. Ein Himmel voll edler Bläue steigt über den zart ineinanderwehenden Kronen der im Sommerabendwind erbebenden Bäume empor. Dann öffnet sich der Weg, der Abfluß des tiefblauen Sees rauscht in gedämpftem Wirbelschlag über ein ganz glatt gescheuertes Wehr aus den weißen Stämmen, an denen sich flatternde, haardünne Algen und schwarzbraunes, fleischiges Moos streifenweise angesetzt haben. So strömt das völlig klare Wasser in doppelter Färbung, in wechselnden Streifen herab. Es gibt noch einen Gegenstand auf Erden, der ähnlich, wenn auch nicht in so schönen Farben, gestreift oder gescheckt ist – ich sage es endlich, es ist mein Haupthaar, das durch ein sonderbares Spiel der Natur zwei Farben zugleich bekommen hat, die eine mehr gelblich (an den Schläfen), die andere mehr rötlich (auf dem Scheitel). Jeder merkt es nicht, vielleicht nur der, der es weiß. Vielleicht sehe nur ich selbst mich so. Solange ich es verbergen kann, wie jetzt unter der hechtfarbenen Uniformmütze, die ich aufgesetzt habe, als friere es mich in dem kühleren Wasserhauche, solange ist mir wohl. Aber wie soll es werden, wenn ich einmal die hellgraue Mütze abgeben, die ebenfalls hechtfarbene Uniform an den russischen Leibeigenen, den Meister des Hauses, zurückstellen muß und ich dann in meiner ganzen rothaarigen Häßlichkeit, ohne Kenntnisse und verwertbare Fähigkeiten in das Leben hinaustreten soll, von dessen Grausamkeit mein armer Vater mir viel erzählt hat, wenn er mich hier besucht?
Man nennt ihn den Fürsten, und fürstlich ist er auch geboren, seine Haltung ist ohne Makel, sein Wesen edel, seine Worte sind gewählt, seine Kleidung von der ruhigsten Eleganz, er gibt beim Abschied den Dienern die größten Trinkgelder, verehrt der Ordonnanz, die sein Zimmer aufgeräumt und seine glänzenden Lackschuhe abgestaubt hat, eine goldene Nadel mit einem Hufeisen. Er gibt mit vollen Händen, er schenkt fast gedankenlos, gedankenlos vor Freude, mit seinem Sohn hier zu wohnen. So tritt er mit seinem kavaliermäßigen Gang, eine ruhige Herrschergewalt in seinen schieferfarbenen Augen, im alten Glanze auf, wie ein reicher Mann, wie der Besitzer eines großen Feudalgutes, oder wie ein Prinz, der als inspizierender Kavalleriegeneral nur im Extrazuge und nie ohne seine Adjutanten und zwei Kammerdiener reist. Aber wenn mein Vater einen Augenblick gefunden hat, mit mir allein zu sein, wie viele traurige Dinge muß ich hören, wie ängstlich wird mir zumute, wie demütig lausche ich seinen exklusiven Lehren, die doch, wie er auch selbst im Grunde weiß, nicht befolgt werden dürfen. Wir gehen an der Anstaltskapelle vorbei und sehen dem Geflügel zu, das sich auf der Treppe umhertreibt. Die Worte "Entbehrungen" und "standesgemäß" kommen am häufigsten vor. Unaufhörlich wird, ohne daß wir den Umkreis des kleinen Gotteshauses verlassen, von der Zukunft gesprochen. Aber was "Zukunft" für mich bedeutet, wird nie ganz klar. Eine Lebensrente, die aber nicht zum Leben, sondern nur zum Entbehren reicht, steht meinen Eltern von seiten sehr reicher Verwandter in Irland, die niemand von Angesicht gesehen hat, zu. Eine Perlenkette, aus rötlichen und schwarzen Perlen gemischt, der letzte Rest eines unbezahlbaren Familienschmuckes, ist verpfändet oder soll es werden – doch ist dies nicht leicht insgeheim ins Werk zu setzen, und die Welt, die Öffentlichkeit darf nur wissen, daß wir leben, aber nicht, wie. Hier wird seine Miene sehr ernst, er faßt mit seinen langen behandschuhten Händen erst nach meinem Arm, dann nach meinem Kopf, nimmt mir die Mütze herunter und betrachtet sie. Auch er hat, vor zwanzig und mehr Jahren, eine ähnliche getragen, froh, feudal und sorgenfrei – und da er mir die frohe, sorgenfreie Jugend nicht verdüstern will, verstummt er plötzlich und gibt mir die Mütze zurück. Wüßte er, wie sehr mich in diesem Augenblick T. beschäftigt – er spräche anders. Aber er tut, als wäre ihm alles leicht, als könne er über alles lächeln. Er schlägt seine schieferfarbenen Augen auf, in denen sich die helle Treppe der kleinen Kapelle mit den noch kleineren Hühnern winzig spiegelt, und jetzt feuchtet er mit der Zunge seine breiten, etwas hängenden Lippen an. Weiß er nichts? Kennt er mich nicht? Nicht sich? Oder ist es Verlegenheit und Scham?
Jetzt sind es sechs Monate, daß mein alter Vater zum letzten Male hier war, ich weiß es noch genau, denn es war sein letzter Besuch. Aber nicht vom "Letzten", nicht von T., so tief auch beide zusammenhängen, will ich jetzt sprechen, nicht von alt, auch wenn er, mein liebster Vater, damals so alt war, wie ich, dank einem schönen T., nie zu werden hoffe.
Die Brücke über den Abfluß des Sees, über die jetzt unser Wägelchen schaukelt, ist auch nicht die jüngste. Das Holz ist weich und verfault, es duftet nach Pilzen, die in nicht geringer Menge an der Unterseite der kleinen Brücke gedeihen und dort das morsche Holzwerk unterminieren. Ich fahre langsamer, nicht aus Angst, die Brücke könnte unter unserm Gewicht einbrechen, sondern damit mein junges Pferdchen seine schmalen Hufe nicht zwischen den Holzschwellen verhakt und stolpert.
Fremde Menschen kommen vorbei, die Frauen tragen große grünlichweiße Hauben bis über die Augen, deren Glanz trotzdem durch die Löcher der Stickerei flimmert. Die Männer marschieren in hohen Stiefeln, um den Mund haben sie große Bärte. Erinnert man sich jetzt der Schulstunden in der Mitte der geschwätzigen, meist gutmütigen, oft aber auch boshaften Kameraden in Onderkuhle und sieht man jetzt die Brücke, den See vor sich statt der vertrauten Institutswände, dann erblickt man in diesem Augenblick ein langes und vielfältiges, nie auszuschöpfendes Leben vor sich. Alles ist voller Hoffnung.
Mein Freund Titurel, der von seiner letzten Krankheit sich noch nicht ganz erholt hat (stets wird er so schwer mit allem fertig, auch mit seinen Aufgaben), verdankt eben seiner Schwäche und Erholungsbedürftigkeit den Urlaub von heute nachmittag und die Erlaubnis zur Wagenfahrt. Sein Rücken preßt sich, als wir nun den See hinter uns lassen und in schnellerer Fahrt auf der Hauptstraße nach der Stadt zwischen Kartoffeläckern und wohlbewässerten Wiesen und Rübenplantagen dahineilen, fester an mich. Der Wagen wirft sich. Irgend etwas hat verdächtig in dem Federwerk geknackt. Ich bremse, bringe das Pferd, und zwar nicht durch Reißen an den Zügeln, sondern eher durch Nachlassen, zum Halten. Außerdem beginne ich ganz fein zu pfeifen, ein Appell, welchen mein Pferdchen sofort versteht und befolgt. Ich habe es seinerzeit erzogen, habe ihm mit weicher, bittender Hand die ersten kunstgerechten Gänge an der Longe beigebracht und habe es an das ganz fremde, ihm anfangs unbegreifliche Gebiß gewöhnt.
Der Freund gleitet nun mit großer Schnelligkeit von seinem Sitz herab, ohne zu bedenken, daß er die Deichselspitze dadurch in die Höhe reißt und dem im Maule noch sehr weichen Tiere nicht eben wohltut, nun steht er vor mir und will mir von meinem Sitz herunterhelfen. Ich blicke mich um, ob auf der Chaussee nicht ein anderer Wagen oder ein Automobil kommt. Plötzlich fühle ich den Knöchel meines linken Fußes von Titurels Hand umklammert. Er breitet mir etwas Weiches unter meinen Fuß, mit dem ich eben, möglichst sanft, abspringen will, um das gebrechliche Gig nicht zu sehr zu erschüttern. Jetzt stehe ich auf dem Erdboden, vor mir den Freund, der seine linke Hand mit meinen Handschuhen mir als Fußstütze dargeboten hat. Wollte er mir damit einen besonders ritterlichen Dienst erweisen, worauf ein krankhaftes Lächeln seiner geschlossenen Lippen hindeutet? Seine Zähne sind schlecht, aus Scham öffnet er seinen Mund so wenig wie möglich. Deshalb wirkt er oft schüchtern, ist es aber nicht, eher ironisch. Aber ich habe die Handschuhe ihm zur Aufbewahrung gegeben, nicht zu Ritterdiensten. Ich sehe jetzt vor mir meinen alten Vater, an den ich das Gedenken bis jetzt gewaltsam unterdrückt habe. Ich weiß, wie schwer er das Geld für ein neues Paar erschwingen wird. Trägt er doch die seinen nur zur "Parade", das heißt bei Besuchen in Onderkuhle oder bei wichtigen Ausgängen und Staatsvisiten, bei denen man auf ihn, das heißt auf seinen Namen, rechnet. Der Freund schweigt. Er erwartet wohl ein gutes Wort von mir. Ich kann aber meinen Zorn nicht beherrschen. Ohne zu reden, nehme ich die feuchten, beschmutzten Handschuhe ihm aus der Hand und werfe sie, als wären sie nun ganz wertlos geworden, über meine Schultern nach rückwärts in die Rübenfelder. Sodann bücke ich mich unter den Wagen und finde eine Stellschraube der rechten Federlasche gelockert, die ich mit der Handhabe eines meiner Schlüssel fassen und anziehen kann.
Dann sitzen wir auf und kehren den gleichen Weg zurück. Doch es ist nicht mehr das gleiche. Auf der Waldstraße hören wir hinter uns einen Wagen heranrollen. Unsere Rücken haben sich schon lange voneinander gelöst. Wir sitzen steif und voll Haltung da, niemand, auch nicht der Zeremonienmeister, könnte etwas auszusetzen haben. Er kennt nur Haltung, nie Herz, nie Gefühl. Kennt er auch den T. nicht? Kennt er ihn? Ich treibe mein Pferd, ich schone die Peitsche nicht. Trotzdem überholt uns der andere Wagen. In ihm sitzt der Zeremonienmeister, der uns nicht zu erkennen scheint. Weder erwartet er einen Gruß, noch denkt er daran, den unsern zu erwidern. Vielleicht denkt er in diesem außerdienstlichen Augenblick nicht an uns, die Schüler, sondern an sich und seine "privaten" Reichtümer, die er hier gesammelt haben soll und die ihm bald auch eine Herrschaft außerhalb von Onderkuhle ermöglichen werden. Wen wird er in Brüssel beherrschen? Herrlich und einsam lehnt er mit gesenkten schweren Augen in seinem Wagen. Die Pferde wiehern einander zu, auch die seinen sind nicht alt, reines Blut und noch nicht lange im Zuge. Auf ihren schlanken Lenden, auf den glatten, wie reife Kastanien glänzenden Flächen der breiten Kruppen und auf den scharf gekanteten Seiten des Halses unter der ganz kurz gehaltenen Mähne spielt hin und wieder der Schatten der Bäume. Ein leichter Wind hat sich erhoben. Das Licht der sinkenden Sonne wird ab und zu verdeckt. Regen liegt in der Luft wie Abendrot. Den Kuckuck hört man nicht mehr. Die Brücke ist sehr dunkel und riecht jetzt mehr nach Fäulnis und Moder. Die Pferde des Leibeigenen wenden sich nach uns um. In den großen sumpfbraunen Augen des einen sehe ich den See gespiegelt oder das Laub, halb blau, halb grün, nur ein Schein, nur ein Augenblick, ein Schimmern. Mein Pferd beginnt zu schwitzen, und es färbt sich die Haut zuerst an den Rändern des Geschirrs dunkler, dann wachsen die Härchen zusammen, stehen in Reihen, als hätte man sie mit einem breitsträhnigen Kamme gestriegelt. Jetzt riecht es, aromatisch und schwer, nach Schweiß, nach Tannen, Regen und Staub.
Es war früh am Abend, die Schüler der "Fünften" waren auf dem Tennisplatz, wo durch die Dämmerung die Bälle flogen, sehr hell gegen die dunklen Drahtnetze geschnitten. Dann kommt das Aufschlagen der Bälle an den stark gespannten Saiten der Raketts und das gleichmütige Zählen der Partie, wobei ich die etwas fette Stimme des jungen Prinzen X. (Piggy) erkenne, der gern dieses Amt übernimmt, sich aber ungern in einen Kampf einläßt. Handelt es sich aber darum, einem Schüler nachts im Schlafe mit einer Gartengießkanne einen "Rückenguß" zu geben, ist er als erster dabei. Auch das "Flohpulver" kennt er und die "russische Lektion". Er selbst ist aber immer "neutral".
Die kleineren Kameraden spielen Kricket auf einem andern Platze. Ihr Kreischen und Lachen ist sehr laut, oft übertönt es die Schläge mit den Holzhämmern. Ab und zu schreit auch einer auf, den ein Kamerad, sei es aus Ungeschicklichkeit (wie er sagt) oder aus Bosheit (wie es meist ist) oder "um den Mann auf die Probe zu stellen", mit dem Holzhammer in die Achillesferse oder auf die Kniescheibe geschlagen hat. Auch ich kenne diesen Schmerz. Keine von diesen sehr unbarmherzigen und doch zur Erlangung des Ranges als "Mann" notwendigen Proben hat man mir in den ersten Jahren hier erspart. Mich hat daheim niemand gestraft. Ich wußte nicht, was körperlicher Schmerz ist. Ich empfand ihn auch hier nicht als Strafe, niemals habe ich, wie Prinz X., mich bei den Lehrern oder bei dem Zeremonienmeister über einen älteren und stärkeren Kameraden beschwert, obwohl ich oft nachts vor Schmerzen nicht einschlafen konnte. Denn es gab viele Proben.
Nun lagern die Lehrer in ihren weißen, leichten Interimsröcken auf den mit rotweißgestreifter Leinwand überzogenen Gartenstühlen, die Wolken aus ihren Zigarren sammeln sich zu einem blauen Diadem über ihnen unter den hohen Sommerbäumen. Der Russe geht bereits zwischen ihnen und den Spielplätzen umher, scheinbar, um nach den Wünschen der Lehrer zu fragen, in Wirklichkeit, um alle, Lehrer und Schüler, zu überwachen.
Jetzt sind wir im Hofe bei den Ställen. Seine Pferde sind schon ausgeschirrt. Ein Stallpage (Fredy) reibt sie am Rücken und am Bauche mit trockenem Stroh ab. Sonst verschmähen sie im allgemeinen Stroh, jetzt aber schnappen sie nach demselben mit ihren langen, wie Erdbeereis blaßroten Zungen und fletschen ihre dunkel elfenbeinfarbenen, matt blinkenden Raffzähne, wobei sie den Ärmel des ängstlich lachenden Stalljungen mit erfassen. Mein Pferd öffnet wieder das Maul zum Wiehern, wobei es den schönen dreieckigen Kopf etwas hebt und seitwärts nach dem Stalleingang wendet. Nun steht es wieder still auf meinen Blick, tänzelt bloß ein wenig auf den Vorderbeinen. Die Zügel sind in festem Knoten um die Kurbel der Bremse geschlungen. Ich will meinem Freunde Titurel vom Sitze herabhelfen. Er ist so still, stiller als sonst. Jetzt fällt er mir wie eine leblose Masse in den Arm, er blickt mich stumm mit seinen überaus glänzenden, messingfarbenen Augen an, will lachen, aber die Bewegung geht nur in wilden Wellen über sein blasses, sommersprossiges, etwas derbes Gesicht. Er klagt nicht. Er zeigt seine Zähne nicht. Er zittert, wohl infolge eines Fieberfrostes, und so nehme ich ihn denn, obwohl ich kleiner bin als er, ohne besondere Mühe auf meine Arme und trage ihn über den Hof, wo er vom aufsichthaltenden Unterpräfekten empfangen und sofort mit einer strengen Bemerkung in das Krankengebäude hinübergeschafft wird. Als ich mich umsehe, steht der Wagen nicht mehr vor der Freitreppe, aber mein kleines Pferd ist dem Hütejungen ausgekommen, es trabt, schelmisch mit dem allzu langen Schwanze schlagend, zwischen den im Abendschimmer leuchtenden Gebäuden umher, wiehert ohne Aufhören, die Stimme willkürlich hebend und senkend, als spräche es zu sich selbst. Jetzt ist es an die geschorene Hecke gekommen, welche die Spielplätze von den Wirtschaftsgebäuden trennt, und tobt sich in lustigem Schreien und hohen Sprüngen über das dunkelgrüne Buschwerk aus.
Wer wollte nicht mit ihm tauschen? Nicht mehr Boëtius von Orlamünde sein, sondern ein dreijähriges, starkes, vollkommen gesundes und schönes Tier, das nichts vom T. weiß, das ganz im Leben aufgeht.
Ich liebe Tiere sehr, aber etwas von dieser Liebe ist Neid.
Ich habe in der folgenden Nacht nicht sehr gut geschlafen, da ich außerordentlich stark an meinen Vater, den Schöpfer meines Lebens, und an Titurel, meinen einzigen Freund, denken mußte, und so kommt es, daß ich morgens noch schlaftrunken beim Gehen über die Schwelle stolpere. Ich wohne in diesem Jahre nicht mehr gemeinsam mit den anderen Schülern in einem der großen Schlafsäle. Es gibt ihrer sieben, einige standen schon lange leer. Das Haus konnte mehr Schüler fassen, als jetzt da waren. Von den vielen Anmeldungen wurden vom Direktor, dem Abbé und dem Meister nur die "reinsten Namen" ausgewählt – oft nur ein Bruder, wenn drei eingereicht hatten. Angeblich wurden aber viel mehr Schüler in den Rechnungen geführt – alles zum Vorteil des Meisters. Sicheres habe ich nie erfahren können. Es betrifft mich auch nicht.
Ich darf, obgleich in der Buchführung überzählig, da keiner Schulklasse einzuordnen, in Onderkuhle leben, da meine Familie noch nicht über meine Zukunft entschieden hat. Man hat mir, vorläufig, heißt es, eine kleine Kammer eingeräumt, die sich an den Saal der fünften Klasse anschließt, ein enges, wenn auch hohes und helles Zimmer, welches dadurch viel von seiner Behaglichkeit verliert, daß eine Menge alter Möbel, und zwar hoher Schreibsekretäre und Nachtkästchen, in dem Raum zusammengepfercht ist. Hat man sich abends ein paar Blumen mit vom Spaziergang heimgebracht, dann muß man sie auf die schräge Platte eines hohen Sekretärpultes legen oder in ein altes Tintenfaß in Wasser stellen. Die Kleider, die sich jeder Schüler selbst ausbürsten muß, hängen über einem Nachtkästchen. Will man nachts, schlaflos, wie es manchmal vorkommt, zu einem Buche greifen, dann muß man es aus der Tiefe einer Schublade hervorsuchen, sich dann an den Sekretär postieren und so, wie ein Buchhalter an seinem Pulte, zu lesen versuchen, wobei die Schultern und der herabhängende Kopf schneller müde werden als die Beine. Die Peitsche, die ich ins Zimmer mitgenommen habe, hängt seitwärts am Sekretär an einem Nagel, der eigentlich für Lineale bestimmt ist. Alles in allem sieht mein Schlafzimmer eher wie ein Büro aus, und daher auch meine tiefe Abneigung gegen dieses, und daher auch in besonderem Zusammenhange meine tiefe Abneigung gegen Büros, Rechenstuben, Beamtentätigkeit und Zahlen.
Warum hat man mir als einem der ältesten Schüler, der oft den Reit- und Fechtlehrer vertritt, nicht gestattet, mich wenigstens noch am Abend und in der Nacht als Kind zu fühlen und mein Bett in der Reihe der anderen Schülerbetten zu haben? Will mich der Meister zu seinesgleichen machen? Soll ich Respektsperson sein wie er? Wie unendlich beruhigend wäre es, meine Kameraden neben mir atmen zu hören, wenn ich nicht schlafen kann. Wie herrlich ist es, noch eine letzte Minute morgens im Bett zu verbringen, wenn die anderen Knaben schon das ihrige verlassen und sich lachend und kreischend in die Waschräume begeben haben! Wie wunderbar schmeckt eine Zigarette, deren Mundstück, noch warm von den Lippen des Nachbars, mir nachts zwischen die Lippen gesteckt wird, denn das Laster des Rauchens grassiert in den höheren Klassen von Onderkuhle, ebenso aber auch die Tugend der Kameradschaft, alles mit den Gleichalterigen zu teilen, die untereinander eine große, einheitliche Familie bilden. Wir kennen uns nachts unter anderen Namen, die wir unserer Lektüre (wir lernen wenig, aber wir lesen viel) entnommen haben. So heißt mein Freund, den ich vorhin Titurel nannte, nur nachts so, bei Tage ist er Träger eines der berühmtesten Namen Belgiens. Ich heiße Tyl, und da die Namen gut zueinander passen, werden wir oft miteinander genannt. Im übrigen sind meine Freuden so unschuldig, daß der Beichtvater, der sie jeden Donnerstag erfährt, bloß die geringste Buße dafür ansetzt und meinem Versprechen, diese Sünden nie mehr zu begehen, ohne weiteres Glauben schenkt. Zwischen mir und meinen Kameraden herrscht eine Sympathie von solcher Reinheit, daß ich, wenn ich Lehrerstelle vertreten muß, ganz vergesse, daß der Junge, der nun mit dem bläulich blinkenden Florett auf dem schwarzen Teppich im Fechtzimmer vor mir "die Auslage hält" und eine naive Defensive markiert, oder der andere, der in der Reitschule neben dem angeschirrten, aber bügel- und zügellosen Gaul steht und auf mein Zeichen wartet, um aufzuspringen – ja, ich vergesse ganz, daß ich diesen Knaben kenne, daß ich nachts in seiner Nähe geschlafen habe, daß ich weiß, wie seine Lippen schmecken, und daß ich Zigaretten, noch warm von seinem Munde, geraucht habe, ich kenne am Tage keinen Titurel, ich bin kein Tyl mehr, ich tue meine Pflicht. Man hätte mir den Platz unter den Jüngeren ruhig noch dieses Jahr lassen können. Doch der alte, leibeigene Meister wollte es nicht. Ihm fügt sich alles, und dabei sind seine Blicke nicht gerade, sein Blut ist nicht adlig, seine Hände sind auch nicht rein, ich weiß alles von ihm, er nichts von mir.
Ich erzählte von der Nacht, von meinem schlechten Schlaf. Nicht die Träume einer sehnsuchtskranken Jugend sind es, die mich wecken, die mich mein Ohr an die Tür des benachbarten Schlafsaales pressen lassen, woraus die sanften ziehenden Atemzüge der "Fünften" hervorklingen, nicht mit dem Liebeshunger der Jugend horche ich nach ihren allzu leise geführten Gesprächen, nicht aus Begierde nach Zigaretten oder Tabak schmiege ich meinen geöffneten Mund an die Spalten der Tür, um den Zigarettenrauch einzuatmen, der aus den Fugen hervorquillt – was mich bewegt, ist etwas ganz anderes. Etwas anderes läßt mich aufstehen und mich mit emporgezogenen Schultern an einen und dann an den anderen der unnützen hohen Sekretäre pressen. Es ist ein Gefühl, das man bei einem Siebzehnjährigen nicht vermuten wird. Aber wird man glauben, daß dieses Gefühl, das ich zu bald nur nennen muß, in meiner Seele gearbeitet hat, seitdem sie Seele war, seitdem ich mich überhaupt erinnern kann? Ich muß es nennen – aber selbst vor dem Namen habe ich Angst. Todesfurcht ist es.
Am nächsten Morgen verlasse ich mein Zimmer, nachdem ich mich, ungeschickt genug, an einem der Sekretäre, der zu einem Waschtisch umgewandelt ist, gewaschen habe und nachdem ich den letzten, schon mehrere Monate alten Brief meines Vaters wieder in der Lade des Nachttisches verborgen habe – denn es gibt keinen anderen Tisch in diesem Raum, auch keinen Wandschrank, wie ihn die anderen Schüler haben –, dann trete ich heraus und stolpere auf der Schwelle über einen weichen, aber zähen Gegenstand. Ich hebe ihn auf, vielleicht ist es ein in Seidenpapier eingewickeltes Butterbrot, das einer der Knaben verloren hat, obwohl ich auch nicht wüßte, wie – aber es sind meine Handschuhe, die ich gestern bei der Wagenfahrt in ein Rübenfeld geworfen habe. Sie sind gesäubert, wenn auch nicht vollkommen; sind trocken; man hat die Erde von den Nähten entfernt, sie sind tragbar, wenn man auch keine besondere Ehre mit ihnen einlegen kann. Man hat mir mit dem Wiedergeben einen Dienst erwiesen, ich kann es nicht leugnen, und ich freue mich, daß ich sie wiederhabe. Aber ist nicht mein Titurel schwerkrank ins Lazarett gebracht worden? Hat man nicht an seinem Bette gewacht? Warum hat man ihn nicht, wenn er schon so töricht, so fiebrig und knabenhaft unbesonnen war, daran gehindert, das Bett zu verlassen, den ganzen langen Weg am See vorbei in der regnerischen Nacht zu durchmessen? Der Regen goß vom Himmel, ich weiß es, denn ich hatte nachts den Kopf mehrmals aus dem Fenster gebeugt. – Mich, den Gesunden, schauerte es, er aber hat die Angst vor den Folgen, das Grauen vor dem T. so weit überwunden, daß er sich aus einem Gefühl der Ritterlichkeit heraus, ein echter Titurel, auf den weiten Weg gemacht, sich durch die Rübenfelder hindurchgequält hat, bis er die Handschuhe wiederfand. Ich sehe es, es sind die meinen, die Anfangsbuchstaben B. v. O. sind mit verblaßter, violettrötlicher Tinte an der Innenseite vermerkt. Obgleich das Handschuhpaar oft genug von mir mit venezianischer Seife gewaschen worden ist, wird diese Marke nie ganz verlöschen. Ich weiß nicht mehr, wann sie eingezeichnet worden ist.
Aber eingezeichnet bleibt sie wie das Gefühl von Tod in meiner Seele. Man weiß nun, was es ist.
Ein Leben, das ohne Aufhören unter der Gewalt des T. steht, ist so gut wie gar kein Leben. Man will sich davon befreien. Man will den T. vergessen, will arbeiten, muß man doch auch arbeiten, da das Leben Forderungen hat, denen sich alle fügen, auch die Orlamündes. Man kann, wenn man erfolgreich ist, für sich, für andere sorgen. Man hat seine Freunde, die nahe sind, die unfern in ihrem hohen, weiten Schlafgemache atmen, man hat seine Eltern, an die man nur mit Sehnsucht, Mitleid und mit einem kaum zu beschreibenden Gefühl denken kann: dieses Gefühl ist dem ähnlich, das einer hat, wenn er im Winter einmal spätabends heimkehrt und sich behaglich vor dem Schlafengehen auskleidet und sich nun, von eben diesem unbeschreiblichen Gefühl durchflutet, im wieder dunkel gemachten Zimmer mit dem Rücken an den warmen Ofen lehnt. Die Wärme hebt sich geradezu zauberhaft an dem bloßen Nacken neben dem breiten Kragen des Nachthemdes empor. Jetzt hat man die Empfindung von der Länge, von der Endlosigkeit des Daseins. Das ist wunderbarer als alles andere. Man atmet so leise, daß es ist, als atme man nicht. Und wenn der Ofen nun aufflackert und stärkere Wärme ausstrahlt, ist es, als decke er den Knaben, der vor ihm steht, von den Füßen bis zum Halse mit schweren, von dem Pferdeleibe noch warmen Decken zu.
So wäre es mir, wenn ich bei meinen Eltern immer leben dürfte, wenn ich an demselben Tische essen dürfte wie sie, wenn ich neben meinem Vater in dem großen Volkspark von Brüssel ausreiten dürfte. Unsere Pferde würden im gleichen Schritt gehen, die Köpfe nicken im Takt, die Bauchriemen und Sattelgurte knarren. Von der Lohe, womit die Wege bedeckt sind, steigt, als stießen Maulwürfe darunter die Köpfe durch, feiner, brauner Staub auf. Die etwas blassen, hängenden Lippen des Herrn (man lasse mich meinen Vater den Herrn nennen, ich möchte ihn zu gern als Großen sehen; mich klein neben ihm zu wissen tut mir wohl), die mit einem blassen Rot beschlagenen Lippen des Herrn feuchten sich, da seine Zunge in dem seltenen Genusse des Reitens sich über seine starken, weit auseinanderstehenden Zähne vordrängt. Weder er noch sein Sohn spricht ein Wort. Das Ende der pfeilgeraden Allee ist unsern Blicken nicht erreichbar. Früh ist es am Morgen. Es wäre die Morgenarbeit unserer Pferde. Abgesehen von dem hohen, unbeschreiblichen Genusse, hätten wir noch die Befriedigung, eine Arbeit zu leisten, etwas Nützliches zu tun, das auch zu unserm Namen und unserer Abstammung paßt. Gibt es einen bescheideneren Wunsch? Kann jemand das "Geschenk des Lebens" mit tieferer Dankbarkeit entgegennehmen? Sieht jemand nüchterner die Notwendigkeiten und Überflüssigkeiten des sozialen Daseins, wenn er als höchsten Wunsch eine einfache Stunde Reitens mit seinem Vater, dem verarmten, stellungslosen Fürsten, in der Allee eines öffentlichen Volksparkes ersehnt? Aber der ungeheure Wert des Zusammenseins mit meinem Vater besteht nur für mich. Was ich von dieser Stunde mit ihm erhoffe (vergeblich, ich sage es gleich, es ist vorbei), das ist nicht mehr als das, was alle anderen Söhne immer besitzen und nie würdigen. Ich war Waise, als mein Vater noch lebte.
Der seligste Zustand ist der des Tieres, vorausgesetzt, daß Steine und Lüfte nicht noch beneidenswerter sind. Doch schon das Tier, in dessen Seele man sich, wenn auch schwer, hineinversetzen kann, weiß nichts vom T., bevor es stirbt. Ich liebe Pferde, ich liebe Tiere über alles, aber etwas von dieser Liebe ist Neid. Die Nähe eines Tieres, besonders eines schönen, großen, starken, tut mir wohl, ich sonne mich in seiner Nähe. Wenn ich die Augen des Tieres mit meinen Blicken erfasse, möchte ich das kleine Spiegelbild werden in der eckigen und wie mit verknittertem braunem Pergament umschlossenen Pupille des Pferdes oder gar als ein winziger Orlamünde leben in dem atlasglänzenden Augenstern einer Katze, der sich ausweitet und zusammenzieht im Lichte, als wäre es eine Brust, die Licht einatmet und Licht ausatmet.
So tief möchte ich in dem Dasein eines Tieres untergehen und mich da auflösen, wo es keinen T. mehr gibt.
Für das Tier ist das Leben etwas Ungeheures. Es begreift den T. gar nicht, darin bleibt es ewig Kind, auch das vergrämteste, das gequälteste. Selbst der müdeste Droschkengaul, der so niedrig geworden ist mit seinen geknickten Kniekehlen, daß niemand ihn wiederzuerkennen vermöchte, der ihn in seiner Jugend als Füllen gekannt hat, selbst er besteht nur aus Leben ohne Schatten des Todes.
Jedes Tier in der Natur hat es schwer, es sucht sich seine Nahrung mühsam genug, aber es hat dafür seine ganze Kraft. Es tut so, als wäre nie eine Zeit abzusehen, wo es sich seine Nahrung nicht mehr zu suchen brauche, weil es selbst zur Nahrung für Raubtiere oder Würmer geworden sei. Es sucht sich seine Geschlechtsfreunde, zum erstenmal, als hätte es sie noch tausendmal zu erwarten, und so bis zum letztenmal mit der gleichen Lust, mit demselben tödlichen Willen. So ist das Tier treuer und stärker als der treueste und stärkste Mensch und mutiger.
Wenn es genießt, so genießt es herrlich alle Freuden des Daseins. So schläft eine Katze in der Sonne auf einem abgeernteten, aber noch kräftig durchstrahlten Weizenfelde, nachdem sie sich an Feldmäusen oder auch an Heuschrecken den Magen gefüllt und von ein paar gehöhlten Blättern den Abendtau getrunken hat. Die Katze liegt da, die Vorderpfoten unter der ruhig atmenden Brust gefaltet, als bete sie zu sich selbst. Sie hat den Schwanz um sich geschlagen, als wolle sie sich wärmen. Die Augen hat sie geschlossen, ja, sie kann es nicht genug finster haben und birgt den runden Kopf noch in der faltigen Haut des Halses. Sie ruht. Sie ist unsterblich. Ist sie nicht beneidenswerter als je ein Mensch? Was ist ihr T., was Leben, was Vater und Mutter? Mir ist sie beneidenswert, mir, der nie einen Menschen, und sei es Napoleon, beneiden könnte. Ja, das Tier geht in seiner Unschuld vor dem T. noch weiter, wenn auch selten.
Ich kannte einen prachtvollen Kater, der die sonderbare Neigung hatte, in das Feuer zu gehen. Er war rostrot gefärbt, hatte üppige, auf dem Halse aufgeplusterte, auf dem Unterleib ineinander verfilzte Haare, einen sehr langen Hals und außerordentlich kräftige, gewölbte Hinterbacken, die aber von dem kinderarmdicken, mächtigen Schweif, der wie ein Tigerschweif hin und her schlug, fast verdeckt waren. Als ich dieses Tier zum erstenmal sah, fielen mir blanke Stellen auf. Es waren fast ganz ausgefressene oder ausgestanzte runde Löcher am Nacken und Rücken, unter denen die saubere, oft geleckte Haut in heller Rosenfarbe durchschimmerte. Man hielt dies für Räude, berührte das Tier nicht mit bloßen Händen, hinderte es aber nicht, sich mit seinem sonst lockigen, schön gerundeten Rücken an den Fußrändern unserer Beinkleider schnurrend zu reiben. Der Kater schmeichelte zu gern um meinen Freund und um mich herum, als fühle er, daß wir, im Gegensatz zu den meisten Zöglingen von Onderkuhle, Katzen gern mögen.
Wir saßen eines Abends im Winter in unserem Zimmer (eigentlich ist es nur meines, aber es täte wohl, es mit Titurel zu teilen), in unserem dunklen, wohlgeheizten Zimmer, meine vielen Schreibsekretäre schimmerten, von unten her sanft beleuchtet. Auch durch die Ritzen der Tür drang aus dem benachbarten Schlafsaale Licht, zart in feinen Linien, die sich nur dann verdunkelten, wenn einer der Kameraden drüben durch den Raum ging, ohne Schuhe, so daß man ihn eher sehen als hören konnte.
Wir aber, Titurel und ich, waren allein, bloß irgendwo in den unteren Fächern eines sehr alten und nach Studiersaal muffig riechenden Schreibsekretärs hatte sich unsere Katze verkrochen, denn dort hatten wir ihr aus alten Schulheften, zerrissenen Handschuhen und ähnlichem Gerümpel eine Lagerstätte bereitet, die ihr besonderes Vergnügen machte, wenn sie auch nicht lange da aushielt. Denn etwas anderes ist es, was sie anzieht. Wir sprechen von Pferden, Prüfungen, Lehrern und Zöglingen. Da hören wir ein sonderbares Klirren. Der Kater hat sich dem eisernen Ofenvorsatze genähert, nun schlägt er heftig mit dem prachtvollen Schwanz, der mit seinen aufgerichteten Haaren lebhaft im Schimmer des Feuers erglänzt, jetzt richtet sich das Tier auf den Hinterpranken auf. Der Anblick des starken rostroten Katers mit den kahlen getigerten Flecken auf dem geschmeidigen, wellenförmig bewegten Rücken ist erschreckend schön, besonders wenn die schon ins Bläuliche hinüberspielende Lichtmasse von der glühenden Kohle auf die langen flimmernden Haare fällt. So sieht das Tier in seiner gestreckten Haltung fast gewaltig aus. Wir fassen uns, Titurel und ich, an den Händen, die wir einander zum Zeichen, ruhig zu sein und das Tier nicht zu stören, heftig pressen. Schwer kann der Freund in solchen Augenblicken ein heiseres, sardonisches Lachen unterdrücken. Aber er begreift, was ich will, und zwingt sich zur Ruhe.
Nun haben die Flammen, da der Luftzug geringer geworden ist, etwas in ihrem Glanze nachgelassen, sind blaugrün geworden, edelsteinfarbene Wölkchen, mehr ein tiefer Duft als ein brennendes Mineral. Ein schwüler, gesättigter Hauch kommt uns beiden, die wir mit geöffnetem Munde, Schulter an Schulter und Hals an Hals gepreßt, vor dem Kamin auf den Knien hocken, entgegen. Ich blicke meinen Freund an und sehe, was er mir bis dahin immer verborgen hat, seine schadhaften Zähne. Dies hat er im Augenblick vergessen. Er will offenen Mundes sehen, wie ein schönes Tier mit dem T. ringt. Mir aber bereitet es ein unbeschreibliches, aus Freude, Schauer, Mitleid, Zuneigung, Abscheu und Brüderlichkeit gemischtes Gefühl, diese gelblichen Zähne zu sehen neben meinen schneeweißen. Titurels Zähne haben dunkle, ausgezackte Ränder und kleine, durch Goldplomben ausgefüllte Löcher, in denen sich das Kohlenlicht funkelnd fängt – ich zittere, wenn ich dieses mir sonst verborgene Geheimnis betrachte, etwas in mir wird stolz und groß, wenn er, Titurel, klein wird, irdisch, sterblich und zerbrechlich. Ich habe nur Angst, daß er es bemerkt und mich flieht. Denn wen habe ich hier außer ihm? Die Katze habe ich ganz vergessen und den heiser gurrenden Schrei, den rötlich leuchtenden Schatten des gerade losspringenden Tieres weiter nicht beachtet – aber um so fürchterlicher überfällt mich der Schrecken und läßt mich laut aufschreien, als ich sehe, wie mein Freund in höchster Eile seinen linken Arm, an dem er den Ärmel bis zu Schulterhöhe aufstreift, in die dunkle, aber aus ihrer Dunkelheit funkensprühende Ofenhöhle hineinpreßt, wobei er, um den Schmerz zu verbeißen, diesen im wahrsten Sinn des Wortes zwischen seinen knirschenden Zähnen verbeißt. Mit aller Gewalt schleudert er das unselige Tier hervor. Es hat sich im Ofen gewaltig aufgeblasen. Seine Muskeln hat es aufs äußerste gespannt. Es sträubt sich knurrend und fauchend mit offenem Rachen und emporgezogenen, gerunzelten Nüstern gegen seine Rettung. Man muß es fortzerren, es an den Hinterpranken über den Kniegelenken energisch anfassen, und dabei schreit es mit aufgerissenem Maule, als hätte es sich an den Flammen wie an frischem Fleische berauscht oder irgendwo im Walde an einer blutreichen Beute entzündet. Entzündet ist es auch, denn der starke, gelockte, hohe Pelz glimmt an manchen Stellen des Rückens wie gut brennbares, wenn auch etwas feucht gewordenes Papier. Jetzt ist es stumm, windet sich aber in den tollsten Bewegungen. Titurel wickelt es in die Unterseite seines Hausrockes, wobei er in der Ungeduld, die Flammen zu löschen und das Tier zu retten, auch einen Zipfel seines weißen Hemdes hervorzieht, auf dem lauter aquamarinblaue Hufeisen und damit gekreuzte Peitschen aufgedruckt sind, und legt das komisch gemusterte Stück Leinwand dem Tier um, dessen Flammen schnell erlöschen.
Auf meinen Schrei sind in der Nachbarschaft im Schlafsaale der "Fünften" die Kameraden sehr still geworden. Wir beide, Titurel und ich, ängstigen uns davor, daß in dieses Schweigen sofort das grauenvolle Jammern des verbrannten Tieres hineinschallen werde, das seine Feuersucht mit Feuerwunden zahlen muß. Aber nichts davon. Wohl setzen sich die wütenden, wollüstigen Bewegungen des Katers unter dem Schutze des Hemdes fort, so stark, daß Titurel das Tier herauslassen muß. Aber es scheint über T., den richtigen Tod, zu triumphieren.
Wer möchte nicht mit einem so unerschrockenen Wesen tauschen? Das Feuer im Kamin flackert wieder auf, die Stimmen im Nachbarsaal werden lauter. Der Zigarettenrauch dringt zart zu uns.
Der Kater öffnet sein rosenrotes Maul, zeigt die rauhe, etwas milchig angehauchte Zunge und gähnt laut. Er schmeichelt uns beiden schnurrend um die Füße, gegen die er seine hohe, runde Stirn kräftig stößt, und hindert uns daran, auf geradem Wege zum Fenster zu gehen und die nach versengtem Haar scharf riechende Luft herauszulassen.
Dieser Abend mit der Feuerkatze war der letzte, den ich im Winter mit Titurel in meinem kleinen, schmalen Zimmer verbrachte. Kurz darauf erkrankte er, wurde dann zur Erholung nach Hause beurlaubt und kehrte im Spätfrühling noch nicht ganz geheilt zu uns zurück. Er hat den T. gestreift, man sieht es ihm an.
Nun ist es vielleicht Zeit, noch etwas zu sagen, das sich auch auf T. bezieht, aber ihm gerade entgegengesetzt ist. Ich habe es bereits angedeutet, als ich von der Feuerkatze sprach. Sie hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Mehr als das: darin war etwas, das in meiner Seele schon lange vorbereitet war und was dieses mutige, schmerzfreie, dem Leid trotzende, im wahrsten Sinne feurige Tier mir bestätigt hat. Es gibt nämlich Zeiten in meinem Leben, wo ich so von Mut, von Lebensdrang erfüllt bin, daß ich mich nicht weniger mutig als die Feuerkatze in Flammen stürzen möchte. In solchen Zeiten scheue ich keine Gefahr, kenne keine Bedenken, ich lebe mit einem so heißen Genuß, mit einer so vollkommenen Befriedigung aller Lebensgier, daß mich der nicht wiedererkennt, der mich nur in Tagen des T. gekannt hat. Wenn in diesen Tagen und Nächten des T. meine armselige Person verschwunden ist und annulliert worden ist, so war mit ihr auch sonst alles Lebende und Erstrebenswerte auf der ganzen Welt annulliert. Seit gestern, seit der kleinen Spazierfahrt zum See, hat sich aber in mir alles gewendet.
Nun bin ich auf dem Wege zu meinem kranken Freund. Ich atme so tief, daß die versilberten Knöpfe an meinem Uniformkittel sich vordrängen, ich trete fest auf den kiesbedeckten Weg zum Lazarett, daß es klingt wie Sporengeklirr (Sporen trage ich nie, auch nicht bei der Arbeit), ich springe die sehr helle, bläulich geweißte Treppe zu den Sälen des Lazarettes hinauf, werfe meine hechtgraue Mütze auf das Bett des kranken Titurel, die Handschuhe berge ich in deren Höhlung. In soldatischer Haltung stehe ich, als wäre ich wirklich der Rittmeister, den ich vertrete, an dem elfenbeinfarben emaillierten Krankenbett. Meine Hand berührt Titurels Stirn, die von senkrechten Falten durchzogen ist und an der man, scharf abgesetzt, den Mützenrand als Scheidegrenze zwischen dem mehr und weniger gebräunten Teil seiner sommersprossigen Haut wahrnimmt.
Trotz der zwei offenen Fenster riecht es in dem Krankenzimmer streng und säuerlich. Aber in mir schlägt die Wonne des Lebens mit solcher Gewalt, daß ich es nicht beschreiben und daß ich es auch nicht vor ihm verbergen kann. Gerade diese wilde, fast schmerzliche Lebensfreude macht mich ihm gegenüber mild. Mag immerhin aus seinem Munde dieser strenge, säuerliche Geruch kommen, nichts schreckt mich ab, mich über sein verfallenes Gesicht zu beugen und mit ihm zu sprechen, als wäre ich sein älterer Bruder. Er antwortet nicht. Ich danke ihm für den Dienst mit den Handschuhen, aber während ich spreche, kann ich es nicht vermeiden, den Blick zu seinen nackten Füßen mit den grobgekörnten, hornähnlichen Zehennägeln zu wenden. Die Füße der Menschen haben mich stets zum Lachen gereizt, sie erscheinen mir wie Karikaturen der menschlichen Hände. Über meine Lippen geht, ich mag mich dagegen wehren, wie ich will, ein Lächeln, das er sofort versteht. Denn er erblaßt vor Erregung, krümmt seinen langen Oberkörper, zieht die Knie an. Er umfaßt mich mit seinen metallisch funkelnden Fieberaugen und sagt mit teilnahmsloser Stimme, ohne jede Spur von Vertrautheit: "Gänzlich überflüssig. Ich bin unbeteiligt. Der Zeremonienmeister kennt deine Verhältnisse." Und während er die Lippen zusammenkrampft, dabei aus männlicher Selbstbeherrschung seinem armen Körper die bequeme Lage nicht wiedergibt, fügt er ironisch hinzu: "Ihr beiden ...", spricht aber den Schluß nicht aus. Er schließt die Augen, holt ein Taschentuch unter dem Kissen hervor, faltet es zusammen, legt es auf den Nachttisch neben das Wasserglas, in welches das Thermometer eingetaucht ist. Ich bin nicht mehr für ihn da.
Er hat gestern mit dem Rücken zu mir auf dem Gig gesessen. Er hat den Meister gesehen, wie dieser sich nach meinen Handschuhen gebeugt hat. Heute hätte er, Titurel, es gerne gesehen, wie ich mich vor ihm, Titurel, beuge. Gut. Aber in mir ist eine solche Lebensfreude, ein so starkes Vibrieren der bis zum Rande heiß und wonnevoll gefüllten Adern, daß ich eben nichts als Freude, auch jetzt am Bette meines einzigen, kranken Freundes, empfinden kann. Aus seiner Beleidigung fühle ich seine Liebe.
Ich stehe auf, hole ihm frisches Wasser, stecke das Thermometer in die Metallhülle zurück, lasse die Vorhänge möglichst geräuschlos herab, überfliege die vom Anstaltsarzt (er ist gleichzeitig Lehrer der Naturgeschichte bei uns) sorgfältig angelegte Fieberkurve. Ich sehe meinen Titurel an. Ich ergreife seine Hände, die sich wie ein Stück heißes Fleisch anfühlen. Ich habe nur den Wunsch, ihn wie ein Kind zu behandeln, ein törichtes, unwissendes, unvollendetes, hilfloses, aber sehr geliebtes Wesen. Zu gern möchte ich ihm etwas Gutes tun, wogegen er sich nicht wehren kann. Er liegt still da, blickt durch mich hindurch.