Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nach dem Mord an einem Generaldirektor der Zürcher Investment Bank ermittelt die Polizei in alle Richtungen. Kurz darauf wird ein zweites Mitglied der Geschäftsleitung am Hauptsitz der Bank getötet. Verzweifelt bittet deren Verwaltungsratspräsident Philipp Humboldt um Hilfe. Er soll mit seinem Freund Armand Muzaton, Leiter der Kriminalpolizei, den Mörder fassen - und die Bank retten. Doch der Täter ist ihnen stets einen Schritt voraus, die Geschäftsleitung wird weiter dezimiert. Und dann wird auch Philipp niedergeschlagen …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 255
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Andreas Russenberger
Geschäftsleitung
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2023 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © PIRO / Pixabay
ISBN 978-3-8392-7746-1
»Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie denken!«
Heinz Erhardt
Der pochende Schmerz in ihrem Kopf war das Einzige, was sie spürte.
Was war passiert?
Ihre Augen brauchten eine kurze Zeit, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie glaubte die Umrisse von Tannen zu erkennen. Dicke Schneeflocken schwebten ihr entgegen, sanft hin und her wogend. Gegen den schwarzen Himmel wirkten sie grau wie Vulkanasche. Alles war friedlich und still. Sie versuchte, ihre Hände und Beine zu bewegen. Erfolglos. Nur mit Mühe konnte sie den Kopf ein wenig heben. Ihr Körper war mit einer feinen Schneeschicht bedeckt. Aus der Asche war eine weiße Decke geworden. Vor ihrem Mund bildete sich feiner Nebelhauch. Die Temperatur musste weiter gefallen sein. Sie spürte die Kälte nicht mehr. Es fühlte sich an, als ob frisches Quellwasser durch ihre Adern flösse. Müde schloss sie die Augen.
Ich habe meine Familie verraten, schoss es ihr durch den Kopf.
Eine Träne kullerte über ihre Wange und verwandelte sich kurz darauf in einen wunderschönen Eiskristall.
Am Zürichsee, 31. August
Hansjörg Wullschleger war ein vielbeschäftigter Manager. Den Golfsport zählte er ohne Gewissensbisse zur Arbeitszeit. Einerseits ließen sich nirgends so gute Kontakte knüpfen wie auf dem Golfplatz. Vier ungestörte Stunden mit einem gleichrangigen Kollegen, dem CEO der Bank oder einem reichen Kunden – einfach unbezahlbar. Andererseits war Golf für Wullschleger eben auch Arbeit. Harte Arbeit genau genommen, denn der hochbezahlte Generaldirektor war ein grottenschlechter Spieler, ja sogar völlig talentfrei, wie ihm sein ehemaliger Golflehrer unverblümt mitgeteilt hatte. Ehemalig, weil sich Wullschleger vehement beim Präsidenten des noblen Golf- & Freizeitclubs dafür eingesetzt hatte, dass der impertinente Golflehrer fristlos entlassen wurde. Dieser hatte die dünne Linie, welche die Höflichkeit von der Ehrlichkeit trennt, eindeutig überschritten, und bei einer Mitgliedschaftsgebühr, die den durchschnittlichen Schweizer Jahreslohn deutlich übertraf, musste man sich nicht alles gefallen lassen. Wullschleger war ein Mann, der besser austeilen als einstecken konnte. Ein Wesenszug, der seiner Karriere förderlich gewesen war und seiner Lebensphilosophie entsprach.
Me, myself and I.
Wullschleger war an diesem frühen Donnerstagmorgen alleine unterwegs, der Golfplatz würde sich erst später füllen. Ein heißer Spätsommertag kündigte sich an. Die Sonnenstrahlen färbten die Luft honiggelb, und es duftete nach frisch geschnittenem Gras. Bereits um 7 Uhr morgens herrschten über 20 Grad, und auf Wullschlegers pinkfarbenem Poloshirt mit dem Krokodil zeigten sich die ersten Schweißspuren. Trotz des herrlichen Wetters trottete der hochdekorierte Manager mit hängendem Kopf über die penibel gepflegte Anlage. Wullschleger war nie warm geworden mit dieser Sportart. Was mochte der Reiz daran sein, einen Ball, kleiner als ein Ei, in einem nur unwesentlich größeren Loch zu versenken, welches von einer nummerierten Fahne bewacht wurde? Und das 18 Mal! Der Manager hatte aus geschäftlichen Überlegungen mit dem Golfen angefangen. Die Mitgliederliste des elitären Clubs, der hoch über dem Zürichsee thronte, las sich wie ein »Who’s who« der Zürcher Oberschicht. Die Aufnahmekriterien wiesen eine hohe Korrelation zum Vermögen und Status der Mitglieder auf. Abseitsstehen war da keine Option.
Schlecht für die Karriere.
Heute jedoch musste der Manager eine Trainingsrunde absolvieren. Am Wochenende stand die Clubmeisterschaft an. Bei diesem Turnier kam das wahre Können zum Vorschein – oder eben nicht. Jeder Schlag wurde gezählt, bis zum bitteren Ende. Wullschleger hatte sich in den vergangenen Jahren bei diesem Anlass immer entschuldigen lassen. Einmal war es der Rücken, dann die Schulter oder eine Geschäftsreise gewesen. Beim letzten Mal hatte er sich selbst ins Knie geschossen, wie er gerne zu sagen pflegte. Wullschleger hatte sich aufgrund eines erfundenen Schwächeanfalls seiner Frau kurzfristig abgemeldet, ohne diese darüber in Kenntnis zu setzen. Als sich einige Clubmitglieder in der Folgewoche bei ihr nach dem Wohlbefinden erkundigten, konnte ein Skandal nur dank der raschen Auffassungsgabe von Wullschlegers Gemahlin abgewendet werden. Ja, es gehe ihr wieder besser, hatte sie spontan gelogen. Ihre Loyalität bezahlte der Manager mit einer mehrwöchigen Verbannung ins Gästezimmer.
Also blieb ihm dieses Jahr nichts anderes übrig, als an der Clubmeisterschaft teilzunehmen. Und so versuchte Wullschleger nun mit einem guten Training zu retten, was schon verloren war.
Der Banker platzierte seinen batteriebetriebenen Golf Caddy im Wert von mehreren Tausend Franken neben dem Abschlag auf Loch Nummer vier, einer kurzen Spielbahn. Wullschleger kontrollierte auf seiner GPS-Uhr, was er bereits wusste: exakt 153 Meter bis zur Fahne. Er studierte die Schläger in seiner Golftasche und wählte den Driver, die Mutter aller Golfschläger. Der Driver war das längste Exemplar im Set und mit einem riesigen Schlägerkopf aus Titan bestückt – schwer, damit den Ball zu verfehlen. Ein guter Spieler würde mit diesem Schläger weit über das Ziel hinausschießen. Für Wullschleger war er die einzige realistische Chance, den Ball in die Nähe des Loches zu bringen.
Er machte einige Probeschwünge, seine Gelenke knackten wie ein alter Holzstuhl. Dann bückte er sich und präparierte den Ball mit dem Logo der Zürcher Investment Bank – warum eigene Bälle kaufen, wenn die vom Geschäft gratis waren? Anschließend richtete er sich aus, wackelte einige Male synchron mit dem Driver und seinem Hinterteil und drosch brachial drauflos. Der Ball flog davon wie ein Schieferstein auf Wasser, berührte immer wieder den Boden und gewann kaum an Höhe. Bald übernahm die Schwerkraft vollends die Kontrolle, und die kleine weiße Kugel rollte auf dem Rasen weiter und weiter, bis sie auf wundersame Weise unweit der Fahne liegen blieb. Wullschleger war begeistert und ballte die Hand zur Beckerfaust.
Das Glück des Tüchtigen.
Er verstaute seinen Schläger und machte sich auf den Weg zum Grün. Dort zog er den Putter aus der Golftasche, steckte sich den Golfhandschuh in die Gesäßtasche seiner Sporthose und schritt beschwingt durch das unerwartete Resultat zu seinem Ball. Seine dünnen Beine, die in Shorts steckten und nicht richtig zum massigen Oberkörper passten, leuchteten weiß in der Morgensonne.
Konzentriert, ja geradezu theatralisch studierte der Bankmanager die Lage des Balles und imaginierte sich die ideale Rollbahn zum Loch. Das wäre nicht nötig gewesen, da die fehlenden zwei Meter flach wie ein Brett waren. Aber ein bisschen Show gehörte für Wullschleger dazu, sogar wenn er sich alleine wähnte. Er blickte sich kurz um, ob wirklich niemand Zeuge seines besten Schlages seit Langem geworden war. Nirgendwo eine Menschenseele. Im angrenzenden Waldstück raschelte es. Wahrscheinlich ein Waldtier, dachte er sich. Dann setzte der Hobbygolfer mit grimmiger Entschlossenheit den Putter an den Ball, holte aus und ließ den Schläger mit einer sanften Pendelbewegung nach vorn schwingen.
In diesem Moment der absoluten Konzentration durchbrach ein lauter Knall die morgendliche Stille. Wullschleger zuckte zusammen, und der Ball verfehlte das Ziel. Ein aufgeschreckter Fuchs rannte über die Spielbahn. Wullschleger blickte ihm nach, bis er im Dickicht verschwunden war.
Der Manager schlug sich mit der linken Hand auf die rechte Schulter. Er glaubte, eine Biene habe ihn gestochen. Nur so war der stechende Schmerz, gefolgt von einem unangenehmen Kribbeln, zu erklären. Es fühlte sich an, als ob eine Brausetablette in seiner Schulter steckte. Langsam stellte sich ein metallischer Geschmack in seinem Mund ein. Wullschleger spuckte aus und war mehr erstaunt als erschrocken, als er roten Speichel vor sich auf dem teppichähnlichen Rasen sah. Die zweite Kugel durchschlug sein linkes Schulterblatt und blieb im Herz stecken. Der Manager fiel um wie eine Bahnschranke.
Es blieb ihm wenig Zeit für die letzten Gedanken. Umso erstaunter war Wullschleger über die Fülle an Bildern und Gefühlen, die sich ihm aufdrängten: Er umarmte seine Frau und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Dann kündigte er mit offenem Hemd und Dreitagebart seine Stelle bei der Zürcher Investment Bank und gleich noch die Mitgliedschaft im Golf- & Freizeitclub. Die Meinung seines Umfeldes war ihm plötzlich egal, er fühlte sich frei und leicht wie nie zuvor – wenn auch nur für wenige Sekunden. Schlagartig fiel der Vorhang, und es wurde dunkel. Die offenen Augen Wullschlegers waren auf den Golfball gerichtet.
*
Die Person im angrenzenden Waldstück betrachtete Wullschleger durch das Zielfernrohr. Anschließend schwenkte sie das Jagdgewehr sanft nach rechts und nahm den Golfball ins Visier. Der Finger am Abzug zuckte. Doch es war nicht der richtige Augenblick für Spielereien. Schon bald würde es auf dem Golfplatz von Polizisten wimmeln. Also zielte sie auf das Bein des Managers und drückte ab. Der laute Knall peitschte durch die Luft, und die Kugel zertrümmerte das rechte Knie Wullschlegers. Keine Regung, kein Zucken, als hätte das Geschoss einen Sandsack getroffen. Zufrieden stand die Person auf, verpackte sorgfältig das Gewehr und verschwand im dichten Wald.
Am Zürichsee, 31. August
Armand Muzaton, Leiter der Zürcher Kriminalpolizei, war bislang noch nie in seinem Leben in einem Golfmobil gesessen. Heute brauste er in einem dieser elektrisch betriebenen Wägelchen holpernd über den Platz des noblen Golf- & Freizeitclubs hoch über dem Zürichsee. Das Ziel der Fahrt war Loch Nummer vier, wo die sterblichen Überreste von Hansjörg Wullschleger lagen.
Das Golfmobil wurde von James Knight gesteuert, einem Vorstandsmitglied des Clubs. Knight war nicht nur namentlich ein Ritter, sondern er war von der verstorbenen britischen Königin auch zu einem ebensolchen geschlagen worden. Nomen est omen. Standesgemäß hatte er sich dem Polizeibeamten als Sir Knight vorgestellt. Er habe ein Kind aus der Themse gerettet, erzählte er scheinbar beiläufig. Samt Anzug und Schuhen sei er ins Wasser gesprungen und dabei selber fast ertrunken. Armand war beeindruckt gewesen und hatte seinerseits auf seinen Rang als Hauptmann verwiesen. Keine Reaktion.
Knight, im normalen Leben ein britischer Investmentbanker, trug trotz der schwülen Hitze einen dunklen Nadelstreifenanzug aus feinstem Zwirn und hielt ohne Rücksicht auf Verluste das Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt. Er sah wohlhabend aus, aber sie befanden sich ja schließlich auf einem der exklusivsten Golfplätze der Schweiz. Armand klammerte sich mit beiden Händen am Sitz fest, um nicht aus dem Gefährt geschleudert zu werden. Bei jeder Unebenheit schlug er mit dem Kopf gegen das Dach. Sir James Knight hockte derweil lässig auf der Fahrerseite und steuerte mit einer Hand, während er mit dem Daumen der anderen auf seinem Smartphone auf und ab wischte.
»So ein Mist, ich werde meinen Flug nach London verpassen. Das wird meinen Kunden gar nicht freuen. Ich bin dummerweise der einzige Vorstand, den das Sekretariat erreichen konnte«, lamentierte der Banker.
Armand wunderte sich über die Gefühllosigkeit, beließ es aber dabei. »Kannten Sie das Opfer?«, fragte er stattdessen.
»Ja, sicher. Wullschleger war ein miserabler Golfspieler, dennoch ein hoch angesehenes Mitglied unseres Clubs. Alle mochten ihn.«
Der selbstgefällige Knight begann Armand zu nerven, er glaubte ihm kein Wort. Der Ärger mochte auch dessen ruppiger Fahrweise geschuldet sein. Gerne hätte Armand ihn aus dem Wagen geschubst. Der Anstand verbot es ihm jedoch. Als sie endlich ihr Ziel erreichten, stieg Armand erleichtert aus und streckte seinen Oberkörper durch.
Die Szene, die sich dem Hauptmann bei Loch vier bot, glich einer gut arrangierten Theaterbühne und wollte nicht in die pittoreske Landschaft passen. Forensiker der Kantonspolizei untersuchten in ihren weißen Schutzanzügen akribisch den Tatort, einige stehend, andere auf den Knien. Armand wäre nicht überrascht gewesen, wenn Wullschleger plötzlich aufgestanden und die Anweisungen des Regisseurs entgegengenommen hätte. Ein frischer Tatort rief bei ihm die wildesten Assoziationen hervor.
Eine der verhüllten Gestalten trat auf Armand zu und begrüßte ihn. »Mord auf dem Golfplatz. Gibt es eigentlich einen Krimi mit diesem Titel?« Die Frage von Paul Rechsteiner, dem Leiter der kriminaltechnischen Abteilung der Kantonspolizei Zürich, war eine rhetorische und sein schwarzer Humor legendär.
Armand nickte Rechsteiner zu. Die beiden Beamten waren gut befreundet und hatten schon viele Fälle zusammen gelöst. »Was ist denn hier passiert?«, fragte Armand und blickte sich um. Der Rasen schien mit einer Nagelschere geschnitten worden zu sein. Jeder Grashalm stand stramm auf dem ihm zugewiesenen Platz. Armand bückte sich und strich mit der offenen Hand über das Grün. »Erinnert mich an meinen Bürstenschnitt beim Militär.«
»Du hattest noch Haare in der Rekrutenschule?«, frotzelte Rechsteiner.
Armand richtete sich schmunzelnd auf. »Nicht nur das. Ich hatte dort auch freundliche Kollegen.«
»Immerhin hast du es bei uns bis zum Hauptmann gebracht. Im Militär blieb es meines Wissens beim Korporal, nicht wahr?«
»Hat gereicht, mein Freund. Bring mich doch bitte auf den neuesten Stand der Ermittlungen.«
Rechsteiner ging mit Armand zur Leiche hinüber. »Drei Schusswunden. Eine Kugel durchschlug von hinten das linke Schulterblatt und steckt jetzt wahrscheinlich im Herz. Der Tod muss rasch eingetreten sein. Die Gerichtsmedizin wird dir mehr dazu sagen können.«
Armand studierte aufmerksam den Tatort und schritt einmal um die Leiche. Das Poloshirt war blutgetränkt, ein Knie zertrümmert. »Gibt es Zeugen?«
Rechsteiner hob die Schultern. »Priya spricht im Clubhaus gerade mit dem Angestellten, der Wullschleger gefunden hat. Ich habe noch nichts von ihr gehört. Aber wir haben das Versteck des Schützen gefunden.« Rechsteiner streckte seinen Arm in Richtung des angrenzenden Waldes aus, wo weitere Beamte nach Hinweisen suchten. »Dort im Gebüsch hat es sich jemand gemütlich gemacht. Sträucher und Gras sind niedergedrückt, als ob ein Reh dort geschlafen hätte. Der Platz ist gut gewählt: sichtgeschützt, mit freiem Blick auf das Grün. Das war ein kaltblütiger Mord.«
»Mord auf dem Golfplatz …«, wiederholte Armand nachdenklich und strich sich mit der Hand über den kahlen Schädel. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Es musste mittlerweile gegen 30 Grad sein; die Sonne brannte vom Himmel. Zwei Polizeibeamte deckten den Leichnam mit einer Plane ab. Armand warf einen letzten Blick auf den leblosen Körper. Er tat dies mit einer nüchternen Professionalität. Es war nun einmal eine Tatsache, dass die x-te Leiche nicht mehr die gleichen Emotionen hervorrief wie die erste. Dennoch war Armand jedes Mal aufs Neue überrascht, wie leer eine Leiche auf ihn wirkte. Das, was den Menschen ausgemacht hatte, war aus ihm entwichen, und zurück blieb eine leblose Hülle. Seinem unbedingten Willen, den Täter zu überführen, tat dies keinen Abbruch. Und allein das zählte.
»Ich mache mich wieder an die Arbeit«, sagte Rechsteiner und riss Armand aus seinen Gedanken. »Die Spuren an einem Tatort kühlen sehr schnell ab. Sogar bei diesen Temperaturen.«
Armand ging zurück zu James Knight, der immer noch mit seinem Smartphone beschäftigt war. Der Banker sah frisch aus, als käme er direkt aus dem 3-D-Drucker: faltenfreier Anzug, die grau melierten Haare wie angeklebt, keine einzige Schweißperle, Einstecktuch perfekt auf die Krawatte abgestimmt. Letzteres hätte Armand nur zu gerne herausgezogen, um sich das Gesicht zu trocknen. Er selbst schwitzte wie in einer Sauna, und die Kleider klebten an seinem Körper. »War Wullschleger heute Morgen alleine unterwegs?«, fragte er lauter als nötig.
Knight blickte erschrocken auf. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht kann Ihnen unser Sekretariat im Clubhaus weiterhelfen. So früh am Morgen ist der Platz meistens leer. Wirklich schade, dass Hansjörg am Wochenende nicht an der Meisterschaft teilnehmen kann.«
Armand traute seinen Ohren nicht. »Wollen Sie das Turnier durchführen? Eines Ihrer Mitglieder wurde ermordet …«
»Hansjörg hätte es so gewollt. Es ist der Höhepunkt jeder Saison«, sagte der Sir und schüttelte den Kopf. »Tragisch, einfach tragisch.«
Armand legte ihm die Hand auf die Schulter. Anscheinend war der britische Banker doch zu Emotionen fähig. »Ein Mord geht einem immer nahe. Vor allem, wenn man mit dem Opfer befreundet war.«
»Ich rede nicht vom Mord, sondern vom Blut auf dem Green. Das bringen wir nicht bis zur Meisterschaft weg.«
Armand zog seine Hand zurück. Was für ein Snob! Er spürte, dass er sich nicht lange würde beherrschen können, und verabschiedete sich kurz angebunden. Für ihn gab es hier im Moment nichts weiter zu tun. Er setzte sich in Bewegung.
»Soll ich Sie zurückfahren?«, rief ihm Knight nach.
Armand drehte sich um. »Nein danke. Ich gehe lieber zu Fuß.«
Der Investmentbanker zögerte einen Moment. »Hansjörg war verheiratet. Jemand muss seine Frau informieren.«
»Das werde ich übernehmen«, antwortete Armand und ließ sich die Adresse geben.
Der Polizeihauptmann lief quer über den Golfplatz zum Clubhaus. Vielleicht hatte Priya in der Zwischenzeit etwas herausgefunden. Da sich Armand den Weg auf der abenteuerlichen Fahrt im Golfmobil nicht eingeprägt hatte, machte er ungewollt einen gewaltigen Umweg und musste mehrmals die Richtung wechseln. Schimpfend zog er sein Jackett aus. Dunkle Schweißflecke zeichneten sich unter seinen Armen ab. Seit Armand mit Ekatarina zusammengezogen war, hatte er sein Training sträflich vernachlässigt und einige Kilo zugelegt. Das Hemd spannte mittlerweile am falschen Ort. Während er durch den Park irrte, bekam Armand schließlich seine Abkühlung, aber anders als erwartet. Das Wasser floss entgegen der Gesetze der Schwerkraft von unten nach oben …
Am Zürichsee, 31. August
Nachdem sich Armand in der Herrentoilette des Clubhauses notdürftig abgetrocknet hatte, betrat er schlecht gelaunt das Restaurant, wo Priya gerade ihre Befragung beendet hatte. Ein stämmiger Mann in einem grünen Overall verließ den Raum und musterte Armand belustigt von oben bis unten. Der Hauptmann ging zu Priya an den Tisch und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Seine Kleidung klebte am Körper.
»Was ist denn mit dir passiert?« Priya blickte ihren Vorgesetzten fragend an.
Armand krempelte grimmig die Ärmel hoch. »Ich habe die Bekanntschaft mit einer übereifrigen Sprinkleranlage gemacht, die ihren Dienst in dem Moment angetreten hat, als ich über ihr stand.«
Priya schüttelte sich vor Lachen. Als sie die tadelnde Miene einer Serviceangestellten bemerkte, atmete sie durch und winkte die Dame freundlich zu sich. »Könnten Sie uns bitte zwei Tassen Kaffee bringen?« Ihr Chef, ein bekennender Kaffeetrinker, benötigte dringend eine Aufmunterung.
»Und bitte gleich noch zwei Croissants«, ergänzte Armand und erzählte Priya, als sie wieder alleine waren, von der halsbrecherischen Fahrt im Golfmobil, der kalten Reaktion von James Knight auf den Tod des angeblichen Kollegen und die ersten Erkenntnisse von Rechsteiner. Seinen Ärger über die für sein Umfeld kaum wahrnehmbare Gewichtszunahme behielt er für sich. Tat nichts zur Sache.
Nachdem der Kaffee und die Croissants serviert worden waren, fasste Priya ihr Gespräch zusammen. »Der Greenkeeper war schon sehr früh unterwegs und hat die Fairways vertikutiert. Übermorgen findet die Clubmeisterschaft statt und …«
Armand schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass die Tassen gefährlich ins Schlingern gerieten. »Kannst du bitte normal mit mir sprechen? Ich habe kein Wort verstanden.«
Die junge Polizistin hob beide Hände hinter den Kopf und band ihren Pferdeschwanz neu. Dann formulierte sie ihre Aussage wie gewünscht neu. »Was ich sagen wollte: Der Gärtner hat die Wiese von altem Schnittgut und Moos gereinigt, damit der Boden mehr Sauerstoff bekommt. So erreicht man, dass die Fairways – sorry, die Spielbahn – aussieht wie ein Teppich. Das ist ungemein aufwendig und daher ein Markenzeichen von teuren Clubs, wie dieser einer ist.«
Nun war Armand zufrieden. »Und hat der Gärtner etwas bemerkt, was uns weiterhilft?«
Priya verneinte und stellte ihre Tasse zurück auf den Unterteller. »Gesehen nicht, aber gehört. Er war laut seiner Aussage auf einem Rasentraktor unterwegs, als er den ersten Knall wahrnahm. Zunächst dachte er, sein Motor sei defekt. Gerade, als er absteigen wollte, sei ein weiterer Schuss gefallen. Der dritte Schuss habe ihm schließlich den Weg gewiesen, und kurz darauf habe er Wullschleger gefunden. Sofort habe er im Clubhaus angerufen und Alarm geschlagen. Begegnet sei er niemandem außer der Leiche …«
»Hat er etwas über Wullschleger erzählt?«, fragte Armand.
Priya senkte ihre Stimme. »Wullschleger sei ein arroganter Kerl gewesen, den niemand mochte. Und das Golfspielen habe er auch nicht erfunden.«
»Wenn das Rotlichtmilieu von Zürich ein Haifischbecken ist, tummeln sich im noblen Golfclub die Piranhas. Am besten teilen wir uns auf: Du bleibst hier und koordinierst die Untersuchungen. Hör dich am besten gleich noch etwas um. Ich werde die Witwe Wullschleger besuchen. Aber zuerst essen wir unsere Croissants – die duften wirklich lecker«, sagte Armand und biss herzhaft zu.
Herrliberg, 31. August
Armand schob das massive Gartentor auf und betrat das Anwesen. Kurz darauf rastete das Schloss hinter ihm mit einem lauten Klacken wieder ein. Wie eine Gefängnistür. Der Garten war penibel gepflegt und erinnerte an den Golf- & Freizeitclub. Der Unterhalt des weitläufigen Anwesens musste ein kleines Vermögen kosten. Es bestand kein Zweifel: Wer hier wohnte, besaß viel Geld. Armand fühlte sich beobachtet, als er über den Kiesweg zum Haus ging. Tatsächlich erwartete ihn an der Haustür bereits eine elegante Dame, die sich als Rita Wullschleger vorstellte. Armand schätzte die Frau auf um die 50 – oder auf etwa 60, sollte sie nie gearbeitet haben. Ordnungsgemäß zeigte er ihr seinen Dienstausweis. Frau Wullschleger bat den Polizeibeamten einzutreten und führte ihren Gast in den Salon des herrschaftlichen Hauses. Das Klackern ihrer Absätze auf dem schwarzen Schieferboden hallte dabei laut durch die Räume. Im Salon angekommen, läutete sie mit einer antiken Handglocke, und kurz darauf betrat eine Hausangestellte in schwarzem Kostüm und mit weißer Schürze den Raum.
»Bringen Sie uns bitte Tee und etwas Gebäck«, sagte die Hausherrin mit ruhiger Stimme und wandte sich dann an Armand. »Ich hoffe, Sie mögen Pfefferminztee?«
»Vielen Dank«, antwortete Armand. Er hasste Pfefferminztee.
Als sie wieder alleine waren, wies Wullschleger Armand einen Platz zu und setzte sich selbst auf eine gelbe Récamiere. Sie schlug die Beine übereinander und legte ihre Hände auf die Knie. »Unser enger Freund James hat mich über den schrecklichen Vorfall informiert. Ich bin fassungslos«, sagte sie gefasst.
Armand ärgerte sich über Knight. Er ließ sich aber nichts anmerken und kondolierte Frau Wullschleger. Er hatte gelernt, dass die Hinterbliebenen in solchen Situationen Zeit brauchten und man sie nicht mit Fragen überhäufen durfte. Die einen reagierten panisch, andere zeigten keinerlei Regungen. Frau Wullschleger gehörte zu Letzteren. Sie machte keine Anstalten, das Gespräch weiterzuführen. Armand tat es ihr gleich und blickte sich im eleganten Salon um. Der Raum erinnerte ihn an ein Rokokozimmer in einem französischen Palais. Neben der Récamiere, auf welcher Frau Wullschleger immer noch regungslos saß, befanden sich weitere antike Sitzgelegenheiten im Raum: Auf einem der feingliedrigen klassischen Stühle hatte Armand Platz genommen. Zwei große Gemälde mit Jagdszenen riefen ihm schließlich den Grund seines Besuches ins Gedächtnis zurück.
»Hat Ihr Mann in letzter Zeit Drohungen erhalten?«, fragte er mit tiefem Bass und beugte sich leicht nach vorn. Armand hatte Angst, dass der Stuhl unter seinem Gewicht zusammenbrechen könnte. Die filigrane Konstruktion gab ein knarrendes Geräusch von sich. Gerne hätte er sein Jackett abgelegt, doch sein zerknittertes Hemd ließ dies nicht zu. Armand spürte, wie ihm ein Schweißtropfen wie ein kalter Finger die Wirbelsäule entlang hinunterlief. Er drückte den Rücken leicht nach hinten, und der Tropfen wurde vom Stoff des Hemdes aufgesogen.
Frau Wullschleger verneinte. Dann verfiel sie in Schweigen und wartete, bis die Haushälterin das Teeservice hereingeschoben und alles ordnungsgemäß angerichtet hatte.
»Ich möchte nicht mehr gestört werden«, sagte die Hausherrin bestimmt.
»Sehr wohl, Madame«, entgegnete die ältere Dame und verließ lautlos den Raum. Der weiche Teppich im Salon verschluckte die Geräusche ihrer Schritte.
Frau Wullschleger nahm vorsichtig ihr Tässchen zur Hand. Das weiße Porzellan war mit spielenden Kindern verziert. Sie begann zu sprechen, ohne aufzublicken. »Nun zu Ihrer Frage, Herr Muzaton. Sie tönt für mich, als ob mein Mann sich Feinde geschaffen hätte und somit selber für seinen Tod verantwortlich wäre.« Sie hob die Tasse mit abgespreiztem Finger zum Mund und nippte, ohne zu trinken.
»Das war nicht meine Absicht«, erwiderte Armand. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Normalerweise kein gutes Zeichen. Aber dies war eine spezielle Situation. Sein Gegenüber war eine trauernde Witwe, auch wenn sie sich diesen Umstand nicht anmerken ließ. »Es ist bei einem Mordfall zentral, dass man sofort in alle Richtungen ermittelt. Je länger eine Untersuchung dauert, desto geringer sind die Erfolgschancen. Das zeigt meine Erfahrung. Darum wäre ich froh über Ihre Kooperation. Ich würde Sie äußerst ungern zu uns auf die Dienststelle beordern.«
Ein kurzes Zucken um die Mundpartie der Hausherrin zeigte Armand, dass seine Nachricht bei ihr angekommen war. Doch sie fasste sich sofort wieder und wischte sich ein nicht existentes Staubkorn von ihrem zweifellos teuren Deux-Pièce. Als sie den Kopf wieder hob, zeigte sie ein aufgesetztes Lächeln. Wenn Blicke töten könnten … Armand lehnte sich unwillkürlich in den Stuhl zurück.
»Das wollen wir vermeiden, Herr Hauptmann. In unser beider Interesse«, sagte Wullschleger spitz. »Natürlich bin ich bereit, Ihre Fragen hier und jetzt zu beantworten.« Sie machte eine kurze Pause. »Mein Mann hatte keine Feinde. Er war ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft und war sozial engagiert. Es muss sich um einen tragischen Unfall handeln.«
Armand wäre am liebsten aufgestanden und hätte die Witwe geschüttelt. Einfach, um zu schauen, ob sich hinter der Fassade ein Mensch verbarg. Er änderte seine Taktik und legte die Samthandschuhe ab.
»Ein Unfall ist ausgeschlossen. Man kann sich ohne Gewehr schwerlich selber in den Rücken schießen. Wer wusste, dass Ihr Mann heute früh alleine auf dem Golfplatz sein würde?«
Frau Wullschleger stand abrupt auf, das Lächeln war verschwunden. »Wenn Sie damit unterstellen wollen, dass ich etwas mit der Sache zu tun haben könnte, weise ich das vehement zurück. Alles, was Sie hier sehen, gehört mir. Ich war diejenige, die das Geld in die Ehe mitgebracht hat. Ich werde keine weiteren Fragen beantworten ohne meinen Anwalt. Erkundigen Sie sich bei Hansjörgs Sekretärin. Wenn jemand einen Überblick über seine Termine hat, dann wohl sie.«
Armand hatte genug von dem oberflächlichen Getue. »Frau Wullschleger, Ihr Mann wurde ermordet, und ich will den Täter seiner gerechten Strafe zuführen. Das muss doch auch in Ihrem Interesse sein, Herrgott noch mal!«
Die frischgebackene Witwe blickte den Hauptmann irritiert an, und setzte sich langsam. Ihre Gesichtszüge waren weicher geworden. »Verzeihen Sie, Herr Muzaton. Sie haben natürlich recht. Ich versichere Ihnen, dass ich nichts mit dem Tod meines Mannes zu tun habe. Was ich Ihnen jetzt sage, muss unter uns bleiben …«
Armand nickte und Wullschleger sprach weiter.
»Hansjörg und ich waren über 30 Jahre verheiratet, unsere Ehe war zuletzt allerdings mehr Schein als Sein. Wir mochten uns, nicht mehr und nicht weniger. Sollte er amouröse Abenteuer gehabt haben, hat er diese diskret behandelt und mich nie öffentlich kompromittiert. Für uns stimmte es so, wir haben uns arrangiert. Sie müssen wissen, dass ich aus einer traditionsreichen Industriellenfamilie stamme, da bleibt man sein ganzes Leben lang gesellschaftlichen Normen verpflichtet. Eine Scheidung stand daher nie zur Debatte. Wir würden uns damit nur selbst ins Knie schießen – das war Hansjörgs Lieblingsspruch.«
Armand behielt den tatsächlichen Knieschuss für sich. »Können Sie mir Informationen über die Arbeit Ihres verstorbenen Ehemannes geben, die für unsere Ermittlungen wichtig sein könnten?«
Wullschleger überlegte lange. »Hansjörg war sehr erfolgreich in seinem Beruf. Prestige und Geld waren ihm äußerst wichtig. Er wollte es allen recht machen und gierte regelrecht nach Anerkennung. Von seiner Arbeit und den Kollegen in der Bank hat er nie viel erzählt.« Die Hausherrin änderte abrupt das Thema. »Wissen Sie zufällig, was ich jetzt unternehmen muss? Ich habe mich nie um Formalitäten gekümmert, das hat immer Hansjörg übernommen.«
Armand faltete die Hände ineinander, sie fühlten sich klebrig an. »Zunächst wird unsere Gerichtsmedizinerin den amtlichen Todesschein ausfüllen. Mit diesem können Sie dann auf die Gemeinde gehen, wo die nächsten Schritte eingeleitet werden. Die Beerdigung müssen Sie mit dem hiesigen Pfarrer oder Priester organisieren. Er oder sie wird Ihnen auch gerne seelsorgerisch zur Seite stehen, sofern Sie das wünschen. Ich war früher selber im Kirchendienst tätig«, schloss der ehemalige Priester.
Wullschleger schaute überrascht auf. »Und heute jagen Sie Verbrecher?«
»Der Unterschied ist nicht so groß, wie man meinen könnte. Die Beichte wird einfach durch das Verhör ersetzt.«
Die Witwe schmunzelte, um gleich wieder ernst zu werden. »Was waren wohl Hansjörgs letzte Gedanken?«
»Ich habe viele Sterbebegleitungen gemacht. Trotzdem kann ich Ihnen diese Frage nicht beantworten, da ich nie mit Toten gesprochen habe. Den letzten Gedanken nimmt jeder mit ins Grab.«
Wullschleger legte die Stirn in Falten und trank gedankenverloren ihren Tee aus. Dann schaute sie auf die feine goldene Uhr an ihrem Handgelenk und stand abrupt auf. »Nun müssen Sie mich bitte entschuldigen, Herr Muzaton. Ich habe einen Termin bei der Maniküre. Das wird mich auf andere Gedanken bringen. Meine Angestellte bringt Sie zur Tür.«
Armand war froh, dass er das Haus verlassen konnte. Trotz der Größe des Anwesens herrschte eine klaustrophobische Atmosphäre, die ihm die Luft nahm. Rasch legte er seine Visitenkarte auf den Salontisch. »Das ist nicht nötig, ich finde den Weg. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen etwas einfällt. Wir werden uns sicher nochmals bei Ihnen melden.«
*
Wullschleger stand am Fenster und blickte dem davonfahrenden Wagen nach, bis er verschwunden war. Sie hatte ihre Arme fest um den Oberkörper geschlungen, als ob sie fröstelte. Sie kannte den Leiter der Zürcher Kriminalpolizei aus der Presse. Wenn jemand den Mord an Hansjörg aufklären würde, dann er. Doch wollte sie die Wahrheit wirklich erfahren? Welche Abgründe verbargen sich hinter dem Verbrechen? Wullschleger ging nachdenklich zu einem kleinen Sekretär, öffnete die Schublade und nahm ihr Smartphone zur Hand. Nachdem sie den Termin bei der Maniküre abgesagt hatte, wählte sie eine neue Nummer. James Knight meldete sich sofort.
»James, kannst du bitte vorbeikommen? Ich will jetzt nicht alleine sein«, sagte Wullschleger mit schwacher Stimme.
»Natürlich, Rita!«, antwortete Knight, ohne zu zögern. »Ich bin zwar gerade auf dem Weg zum Flughafen, werde aber alle meine Termine absagen.«
Zürich, 1. September
Verwaltungsratspräsident Hubert von Fink saß aufrecht am Kopf des mächtigen ovalen Tischs im altehrwürdigen Boardroom der Zürcher Investment Bank. Hier tagte der Verwaltungsrat des globalen Finanzinstituts zu seinen ordentlichen Sitzungen. Oder wie heute zu einer außerordentlichen. Die Decke mochte gut und gerne fünf Meter hoch sein und war mit klassischem Stuck verziert. Durch die großen Fenster warf die Sonne ihre Strahlen in den Raum. An der Längsseite der Wand hingen die Porträts aller bisherigen Verwaltungsratspräsidenten der Bank. Die Ahnengalerie reichte bis ins 19. Jahrhundert zurück. In diesem Stil waren auch die Bilder gemalt. Opulent und düster wie bei einem Rembrandt. Von Fink würde zu gegebener Zeit hervorragend in diese Reihe passen. Auf seinem gedrungenen Körper thronte ein imposanter Schädel. Das massive Kinn ließ auf Entschlossenheit und Durchsetzungskraft schließen. Über von Finks grauen Steinaugen hingen kräftige schwarze Brauen, die in einem markanten Kontrast zu den schlohweißen Haaren standen. Dafür passten sie zu den tiefen Augenringen. Von Fink hatte schlecht geschlafen, daran bestand kein Zweifel.
Der Verwaltungsratspräsident nahm seine Brille, die er wie üblich um den Hals gehängt hatte, und schob sie behutsam auf die Nase. Der Konferenztisch war voll besetzt. Fast der gesamte Verwaltungsrat hatte sich zu Wullschlegers Ehren eingefunden. Einzig das Mitglied aus Japan hatte keinen Flug mehr nach Zürich erwischt. Es war über das Videosystem zugeschaltet. Von Fink klopfte mit den Knöcheln seiner Hand auf den Tisch. Er hatte durchgesetzt, dass die Sitzungen trotz internationaler Beteiligung auf Deutsch abgehalten wurden. Schließlich, so von Finks Standpunkt, hieße die Bank ja immer noch »Zürcher« Investment Bank. Die Deutschlektionen der Verwaltungsräte wurden selbstverständlich von der Firma bezahlt.