Geschichte der Demokratischen Schule - Karl Geller - E-Book

Geschichte der Demokratischen Schule E-Book

Karl Geller

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Beschreibung

Die erste umfangreiche Aufarbeitung und Niederschrift der Geschichte der Demokratischen Schule! Neben dem historischen Ein- und Überblick, woher Demokratische Schulen kommen und was sie ausmacht, gibt dieses Buch eine detaillierte Übersicht über die aktuelle Situation der Demokratischen Schulen in Deutschland, Europa und der Welt. Ein Muss für jeden, der sich mit dem Thema Demokratische Schule auseinandersetzt.

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Geschichte der Demokratischen Schule

Karl Geller

Widmung

Dem Teil der Vergangenheit, der Kinder wie Menschen behandelt hat

Der Zukunft

La Lotta

1862

„Ich bezweifle, dass [eine Schule wie Jasnaja Poljana] innerhalb eines weiteren Jahrhunderts allgemein anerkannt sein wird. Es ist nicht wahrscheinlich …, dass Schulen, deren Grundlage die Wahlfreiheit der Schüler ist, selbst in einhundert Jahren, von nun an gerechnet, werden eingerichtet worden sein.“

Lew Nikolajewitsch Tolstoi

Danksagung

Mein herzlichster Dank gilt:

Andreas Rauch für seine, an meine Studie angeschlossene, quantitative Befragung von Schüler an deutschen Demokratischen Schulen.

Andreas Hyler für die Programmierung des Fragebogens der Absolventenstudie mit 28 Absolventen Demokratischer Schulen in Deutschland, die hier aus Zeitgründen leider keine Erwähnung findet, aber später noch veröffentlicht wird.

Susanna Gocke für die Übersetzung der spanischen Quellen.

Ana Irene Pérez Rueda für die Recherchehilfe in den spanischen Quellen und ihre Informationen über die Escuela libre Paideia.

Elisa Marder Zampieri und Lisiane Laffe für Recherche und Übersetzung der portugiesischen Quellen und ihre Einschätzung zu besetzten Schulen in Brasilien, die hier aus Zeitgründen leider keine Erwähnung finden konnte, aber nochmal eigens veröffentlicht werden.

Josh Platzky und Anselm Schindler für Informationen und Recherchehilfe über Rojava.

Nidia Aeraki für die Übersetzung der griechischen Quellen und die Recherchehilfe in den griechischen Quellen.

Dimitrios Sklavenitis für die Recherchehilfe in den griechischen Quellen.

Jos Heuer für die Recherchehilfe in den niederländischen Quellen und sein Interview.

Marie-Therese Hattendorf für allgemeine Recherchehilfen.

Yaacov Hecht für die Weitergabe von Kontakten und seinen Einschätzungen zur Universalität, Allgemeingültigkeit und Korrektheit dieser Arbeit.

Felix Augustinowski, Regina Hofbauer und Lisa Ophüls für diverse Korrekturhilfen.

Michael Lippok für die wissenschaftliche Begleitung und Beratung.

Neba dea akademischa Hilf mecht i mi aa bei moim Vata un moim Großvata bedanka dia zvoadeascht mai Schdudium bezahld hend. A herzlich‘s vergelts Gott dia zwoi!

Vorwort

Zum einen ist dies die wahrscheinlich erste umfangreiche Niederschrift der Geschichte der Demokratischen Schulen und enthält zum anderen eine vermutlich einmalige Übersicht über die aktuelle Situation der Demokratischen Schulen in Deutschland, Europa und der Welt.

In dieser Arbeit wurde versucht, möglichst einfache Sprache zu verwenden, so dass nicht-muttersprachlich Deutsch sprechende Menschen diese Arbeit so gut wie möglich verstehen können. Ich weiß, dass mir das oft nicht gelungen ist. Ich hoffe trotzdem, dass die wichtigsten Aspekte verständlich sind. In diesem Sinne wurden für Begriffe, die alle Geschlechter umfassen, nur die männlichen Geschlechtsbezeichnungen (generisches Maskulinum) benutzt. Dennoch sind alle Geschlechter gemeint. Häufig wurden englische Passagen unübersetzt übernommen, wenn sie in relativ leicht verständlichem Englisch geschrieben sind und keine zentrale Bedeutung für das weitere Verständnis haben.

Einleitung

Demokratische Schulen sind vermutlich die Schulen mit dem radikalsten reformpädagogischen Ansatz. Sie beschränken sich nicht auf eine andere Didaktik, kleine Freiheiten im Schulalltag oder setzen auf Belohnung statt Strafe. Demokratische Schulen haben den Anspruch, Kinder als vollwertige Menschen mit allen daraus resultierenden Konsequenzen zu betrachten.

Dieser Ansatz vereinigt Menschen auf allen Kontinenten. Freilerner, Wirtschaftspioniere, Revolutionäre, liebevolle Eltern, Utopisten, Kinderrechtsaktivisten und Schulbesetzer, um nur einige zu nennen. Die Geschichte Demokratischer Schulen beginnt mit der modernen Demokratie und muss sich trotzdem immer wieder gegen den demokratischen Staat wehren, während dieser ein Schulmodell favorisiert, das aus der vordemokratischen Zeit stammt und kaum praktische Demokratie enthält.

Seit den 1990ern erlebt die westliche Welt eine weitere Schulgründungswelle radikal freier und basisdemokratischer Schulen. Im Gegensatz zu früheren Schulgründungswellen scheint mir erstmals die Voraussetzung für eine breite gesellschaftliche Akzeptanz zu existieren, da kritische Stimmen gegenüber der »neuen Pädagogik« kaum zu vernehmen sind. Zudem ist die Bewegung weltweit gut organisiert. Erleben wir also heute den Startschuss für den Sieg der Pädagogik vom Kinde aus, den progressive Pädagogen seit über 100 Jahren prophezeien?

Ein Blick in die Geschichte reformpädagogischer Schulen könnte helfen, die weitere Entwicklung vorherzusagen. Doch diese ist für Demokratische Schulen bisher nicht ausführlich aufgeschrieben worden.

Die wenigsten Gründer und Lehrer an Demokratischen Schulen dürften wissen, wo die pädagogischen Wurzeln der Demokratischen Schule liegen, oder wie vielfältig die Bewegung, denn als solche muss sie mittlerweile bezeichnet werden, geworden ist.

Aber nicht nur die Geschichte, auch die Gegenwart dürfte den meisten Menschen im Umfeld Demokratischer Schulen nicht bewusst sein. So lag bis jetzt keine Übersicht mit Anspruch auf Vollständigkeit über die Anzahl oder pädagogische Ausrichtung Demokratischer Schulen der Welt, Europa oder Deutschland vor.

Diese Arbeit wurde verfasst, um dies zu ändern.

Um einen Blick in die Zukunft zu wagen, macht es Sinn sich diejenigen Wirkungslinien von pädagogischen Projekten zu betrachten, die heutige oder ehemalige Demokratische Schulen möglich gemacht haben und dabei zu bewerten wie »erfolgreich« sie in der Verbreitung der Idee waren und wie stark dabei unterschiedliche Wirkungslinien auf welche Art und Weise interagiert haben.

Die Forschungsfrage dieser Arbeit lautet daher:

Wie haben sich die institutionellen Wesensmerkmale Demokratischer Schulen aus ihren ideengeschichtlichen Quellen ergeben?

Unter Quellen seien hier sowohl Ideologien, die privaten und politischen Sozialisationsumstände der Gründerfiguren, pädagogische Vorgängerprojekte, als auch pädagogische Idole verstanden.

Obwohl Ulrich Klemm sechs institutionelle Wesensmerkmale für Demokratische Schulen definiert, habe ich mich auf die beiden wesentlichen beschränkt. Wie später zu sehen ist, bedingen Lernfreiheit und die Demokratische Entscheidungskultur die anderen vier institutionellen Wesensmerkmale bei Klemm und entsprechen sinngemäß der Definition der European Democratic Education Community.

Für die Beantwortung der Forschungsfrage war es wichtig zu analysieren, welche Schulen sich heute als Demokratische Schulen verstehen und wie sich die Bezeichnung »Demokratische Schule« ergeben und verbreitet hat. Es zeigte sich schnell, dass einige Schulen den sogenannten »Demokratischen Schulen« sehr ähnlich sind, teilweise mit ihnen in Kontakt stehen, sich aber nicht als solche bezeichnen oder bezeichnet haben. Dies ließ unterschiedliche Ursprünge vermuten, welche ich tatsächlich auch herausarbeiten konnte.

Die Umstände der Gründung Demokratischer Schulen (Vorgängerschulen, pädagogischer Einfluss, politische Rahmenbedingungen, wirtschaftliche Situation, …) ließ sich nicht von den Gründerpersönlichkeiten und deren Lebensgeschichte trennen, weswegen ich beides nachvollzogen und das Wichtigste festgehalten habe. Des Weiteren interessierten mich konzeptionelle Besonderheiten, ihr Einfluss auf andere Schulen und die Gründe ihres Auftretens bzw. Nicht-Auftretens.

Dabei ist eine globale Übersicht (geographische Verbreitung, Anzahl, Schülerzahl, politische Bedeutung, Organisation, konzeptuelle Orientierung, …) Demokratischer Schulen und ihrer Netzwerke mit dem Schwerpunkt auf Deutschland entstanden.

Aus sprachlichen, zeitlichen und organisatorischen Gründen wurde ein Fokus auf die westliche Welt gelegt, insbesondere auf Deutschland. Dennoch enthält diese Arbeit so gut wie möglich Informationen zu Schulen aus anderen Teilen der Welt, z. B. Japan, Brasilien, Argentinien, Thailand, Indien und Ägypten.

1. Begriffsklärung

1.1 Übersicht

In der akademischen Literatur finden sich einige stark 1234Werteorientierte Definitionen demokratischer Bildung. Es findet sich jedoch keine Definition für Demokratische Schule mit Anspruch auf Vollständigkeit, die eine klare Trennung der Schulen in eindeutig Demokratische und eindeutig nicht Demokratische Schulen zulassen würde und sich gleichzeitig mit dem Selbstverständnis aller Schulen, welche sich explizit der Bewegung Demokratischer Schulen zugehörig fühlen, deckt.

Hattendorf fasst unter Berufung auf Kamp 2006 das pädagogische Grundgerüst Demokratischer Schulen so zusammen:

5»Die beiden zentralen Prinzipien sind persönliche Freiheit und gemeinsame Lösungs- und Entscheidungsfindung. Quer dazu verläuft die grundlegende Annahme der Gleichheit aller Individuen: Jeder hat die gleiche Freiheit und den gleichen Anteil an Entscheidungen.«

Selbst Yaacov Hecht, der den Begriff Demokratische Schule erst etabliert hat, äußert sich in seinem einzigen Buch nicht zu einer Definition6. Er schreibt im Gegenteil, dass es der Schulversammlung der Hadera Democratic School lange nicht gelungen ist, eine Schulverfassung zufriedenstellend aufzuschreiben. Zusätzlich zur demokratischen Schulversammlung als oberstes Entscheidungsgremium wurde deshalb die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Schulverfassung festgeschrieben.

Er wiederholt diese zwei Grundpfeiler öfters, ohne konkret auf die praktische Bedeutung einzugehen. 7»Of course when we say democratic education, we do not only mean maintaining democratic procedures in a school, but first and foremost the democratic essence which is expressed in the safeguarding of human rights.«

Diese Unschärfe in der Definition ist zum Teil dadurch begründet, dass sich erst 1987 ein Selbstverständnis unterschiedlicher demokratiepädagogischer Schulen als »Demokratische Schule« entwickelte (vgl. Kapitel 3), die heute noch nicht abgeschlossen ist (vgl. Kapitel 2.5.2.2).

8Auch Prof. Dr. Klemm, der vielleicht bekannteste Forscher zu radikalen Schulversuchen im deutschsprachigen Raum, sieht diese Unschärfe insbesondere zu anderen reformpädagogischen Schulen:

»Eine Abgrenzung ist oftmals schwierig, da bewusst und unbewusst Elemente übernommen werden und es unklar bleibt, wer, der oder die ›Erste‹ war. Es kann vielmehr festgestellt werden, dass eine ganze Reihe von inhaltlichen, methodischen und didaktischen Elementen aus reformpädagogischen und Freien Demokratischen Schulen identisch sind. So ist es auch schwierig, hier oftmals eine klare Differenzierung oder Trennung vorzunehmen.«

Einige Demokratische Schulen haben verschiedene Phasen und Modelle der demokratischen Organisation ausprobiert und sich dabei sehr gewandelt. Besonders gut ist dies bei den Pionieren der Demokratischen Schulen zu beobachten, die von der Existenz anderer Demokratischer Schulen nichts wussten. Dabei ist es nicht immer klar, ab welchem Zeitpunkt der jahrelangen internen Schulentwicklung der Status einer »vollwertigen« Demokratische Schule erreicht ist, bzw. verloren ging.

1.2 Zentrale Merkmale Demokratischer Schulen

9Prof. Ulrich Klemm schlägt (statt einer Definition) daher vor, Demokratische Schulen anhand sechs konkreter Merkmale, die sie notwendigerweise erfüllen müssen, zu charakterisieren. Laut ihm erfüllen moderne Demokratische Schulen folgende Aspekte:

Keine Noten und keine fremdbestimmten BeurteilungenAltersmischungBildungs- und Lernfreiheit

»Freiheit bedeutet in Demokratischen Schulen, dass jeder das lernt, was er lernen möchte. Dass jeder dann lernt, wann er lernen möchte und dass jeder mit dem zusammen lernt, mit dem er zusammen lernen möchte. Zeit, Raum, Inhalt und Partnerin und Partner beim Lernen sind individuelle Angelegenheiten.«

Selbstregulierung und Menschenrechte – Rechte für Kinder

So wie Janusz Korczak sein Waisenheim Dom Sierot als folgerichtige Umsetzung der (von ihm formulierten) Kinderrechte sah, so sind auch heute noch Demokratische Schulen darauf bedacht Kinder, ihre fundamentalen Rechte in der Schule zu garantieren. Die Democratic School of Hadera hat eine Art Verfassungsgericht, das Entscheidungen des Lösungskomitees (vgl. Kapitel 2.2.2) im Fall von Menschenrechtsverletzungen aufheben kann.

Heterogenität, Vielfalt und Individualität sowie Vernetzung und Institutionalisierung

»Transparenz, Vernetzung, Offenheit sind wichtige Basiselemente der Struktur Demokratischer Schulen. Dies zeigt sich einmal im Bezug zu ihrer unmittelbaren Umgebung. Als Demokratische Schulen verstehen sie sich als aktiven Bestandteil der demokratischen Gesellschaft und öffnen sich für den Alltag außerhalb der Schule.«

6. Regelmäßig tagende Schulversammlung

»[…] die 10 ›oberste Autorität‹ ist die Schulversammlung, d. h. eine Vollversammlung aller Schülerinnen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer, die regelmäßigstattfindet und sowohl relevante pädagogische, soziale als auch disziplinarische Fragen erörtert, Entscheidungen trifft und Regeln festlegt.«

11Maria Schiffner macht außerdem darauf aufmerksam, dass nicht die Schulversammlung der rechtliche Träger der Schule ist, sondern eine Rechtsform die demokratisch sein kann (z. B. ein e. V.), aber nicht sein muss (z. B. gGmbH). In jedem Fall kann der Träger der Schule die Meinung der Schulversammlung ignorieren, wenn deren Kompetenz nicht explizit festgeschrieben ist. Auch die assembly der Sudbury Valley School und der Top-kring einiger Soziokratischer Schulen stehen über der Schulversammlung (in der nur Schüler und Lehrer Mitglied sind). In Summerhill war A. S. Neill Eigentümer und oberster Entscheider. Er beschloss Regeln (in seltenen Fällen) auch mal gegen die Autorität der Schulversammlung.

Die Schulversammlung delegiert an den meisten, insbesondere größeren Schulen Aufgaben und Verantwortung an Komitees und Einzelpersonen. Abseits der Kinderrepubliken liest man zuerst bei Sudbury von solchen Komitees, wobei es als wahrscheinlich angesehen werden kann, dass sie zumindest temporär schon vorher existiert haben, um nicht jedes Detail vor der versammelten Gemeinschaft besprechen zu müssen.

Demokratische Schulen haben sowohl Legislative (Schulversammlung, Kreise, …), Judikative (Lösungskomitee, Tribunal, …), als auch Exekutive (12Beddies Officier, Musikraumbeauftragter, …).

13Insofern herrscht eine primitive Gewaltenteilung, die auf freiwilligem Engagement aufbaut.

1.3 Definition der European Democratic Education Community – EUDEC

14Die EUDEC definiert Demokratische Schulen durch drei Merkmale.

Firm foundations in a values culture of equality and shared responsibility.

Übersetzung: Eine stabile Kultur der Gleichwertigkeit und der gegenseitigen Verantwortung.

Collective decision-making where all members of the community, regardless of age or status, have an equal say over significant decisions such as school rules, curricula, projects, the hiring of staff and even budgetary matters.

Übersetzung: Entscheidungen werden kollektiv von allen Mitgliedern der Gemeinschaft unabhängig von Alter oder Status getroffen. Jeder hat ein gleiches Mitspracherecht zu wichtigen Entscheidungen, wie zum Beispiel Schulregeln, Lerninhalte, Projekte, Anstellung des Schulpersonals und Finanzen.

Self-directed discovery; Learners choose what they learn, when, how and with whom they learn it. Learning can happen inside or outside of the classroom, through play as well as conventional study. The key is that the learning is following the students intrinsic motivation and pursuing their interests.

Übersetzung: Selbstbestimmtes Entdecken; Lernende wählen, was sie lernen möchten, wann, wie und mit wem sie lernen. Lernen kann innerhalb oder außerhalb des Klassenzimmers geschehen, durch Spiel, ebenso wie durch klassisches lernen/studieren und forschen. Lernen muss der intrinsischen Motivation der Schüler folgen und auf ihre Interessen abzielen.

1.4 Stufen der Demokratie-Entwicklung an Demokratischen Schulen

Historisch ist es sinnvoll die Demokratischen Schulen im Sinne ihrer Vorläufer mit gleichem Menschenbild (bzw. Kinderbild) weiter zu fassen und auch Schulen ohne (regelmäßige) Schulversammlung zu erwähnen.15

Beispielsweise sind die meisten libertären Schulen (vgl. Kapitel 2.1) keine Demokratischen Schulen nach der Definition aus Kapitel 1.3, in denen die Schulleiter und Lehrer die Entscheidungsmacht auf die Schulversammlung übertragen haben. Dennoch gibt es zahlreiche demokratische Entscheidungsprozesse der Schulgemeinschaft zu Aspekten, die die Gemeinschaft in wichtigen Punkten betreffen. Dies ist allerdings nicht die Norm, sondern die (mehr oder weniger häufige) Ausnahme.

Ein zentrales Anliegen aller in dieser Arbeit erwähnten ideengeschichtlichen Zweige ist ihr Wunsch nach einer Schule, in der ein demokratisches Klima und große individuelle Freiheit herrscht. Ein passender wenngleich unscharfer Überbegriff wäre vielleicht Selbstbestimmung. Außerdem basieren sie alle auf einem ähnlichen Menschenbild. Dieses Menschenbild zieht keine klare Linie zwischen Kind(esalter) und Erwachsenen(alter). Entgegengebrachtes Vertrauen, Rechte und Pflichten hängen daher von der individuellen Situation, dem Wissens- und Könnenstand und nicht vom Alter ab. Die Kinder haben das Recht sich für ihren Weg zu entscheiden. Sie sind frei, ihren Bildungsweg selbständig zu wählen und zu gestalten. Diesen ungefragt zu bewerten ist nicht die Aufgabe der Lehrer, im Gegenteil ist es ihre Aufgabe diesen Weg zu unterstützen, 16 »auch dann, wenn sie den Vorstellungen des Erziehers zuwiderlaufen.«

Es gibt (außer durch staatlichen oder elterlichen Druck) keine Hierarchie der Unterrichtsinhalte und -fächer. Prinzipiell ist alles Wissen gleichwertig. Strafen sind die absolute Ausnahme und kommen sie doch zur Anwendung, dann sind sie vergleichsweise milde oder bestehen aus Wiedergutmachung (z. B. Reparatur zerstörter Gegenstände) statt reiner Bestrafung.

Der Mindestkonsens der Demokratischen Schulen und ihrer direkten Vorläufer ist daher nicht immer die demokratische Schulversammlung, sondern Demokratie als ein Verständnis von Zusammenleben, aufbauend auf gegenseitigem Respekt und größtmöglicher Freiheit des Individuums. Dieser Mindestkonsens bedingt die etwas konkreteren Merkmale, wie sie von Klemm genannt werden (vgl. Kapitel 1.3). Die Merkmale 3, 4 und 6 folgen offensichtlich.

Wenn sich Kinder und Erwachsene mit größtem Respekt und Achtung der persönlichen Freiheit begegnen, dann entstehen ständig neue Gruppenkonstellationen und Aktivitäten. Weswegen eine strenge Alters-, Geschlechter oder andersartige -Trennung sehr unlogisch und deutlich unpraktikabler als eine »natürliche« Trennung nach Sympathie oder Interessen vorkommt (Merkmal 2). Denn Interesse und Sympathie dürfte wohl kaum allein am Alter oder an einem anderen singulären äußeren Merkmal festgemacht werden können (Merkmal 5).

Ebenso unnatürlich wirkt eine ungefragte Bewertung nach standardisierten Maßstäben, wenn sich Lehrer und Schüler auf Augenhöhe begegnen und kein allgemeines Curriculum zu Grunde legen (Merkmal 1). Wobei letzteres direkt aus der individuellen Lernfreiheit folgt.

Kein Curriculum bedeutet in der praktischen Konsequenz, dass Kinder ihren natürlichen Interessen folgen und erklärt die von Klemm genannte Vernetzung nach Außen (Merkmal 5).

Konkret gibt es zwei Aspekte dieses Mindestkonsens und damit wesentliche Merkmale Demokratischer Schulen, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können und sich beide im Verlauf der Geschichte spürbar stärker ausgeprägt haben.

1. Freiheit

Freiheit vor allem im Sinne von Lernfreiheit, also die Freiheit was, wann, wie, wo, mit wem und ob gelernt wird selbst zu entscheiden. Einige andere Schulen der Reformpädagogik, darunter insbesondere die Montessorischulen haben bereits das Wie, Wann und mit Wem deutlich freier gestaltet, als es die staatlichen Schulen getan haben. Was aber gelernt wird, bzw. ob überhaupt gelernt werden muss, haben nur die wenigsten Schulen ihren Schülern freigestellt.

2. Demokratische Entscheidungskultur

Die zweite historische Entwicklung ist die der Etablierung der demokratischen Entscheidungskultur. Dies kann von situativen Gemeinschaftsentscheidungen und situativer Beachtung der Kinderwünsche durch die Pädagogen bis zur Schulversammlung als höchstes beschlussfähiges Organ der Schule gehen. Die ersten Schulen und Kinderrepubliken mit Parlament, wie Summerhill und die George Junior Republic waren auch im Alltag stark durch die Gründerväter geprägt, die sich (wenn auch selten) gegen den Willen der Mehrheit stellten. Eher beeinflussten sie Mehrheitsentscheidungen durch ihre Position und ihr Charisma, manchmal stellten sie sich aber auch ganz offen gegen eine getroffene Entscheidung. Darüber hinaus gab und gibt es an manchen Schulen Fragen, die grundsätzlich nicht von der Schulversammlung entschieden werden können, wie die Einstellung der Lehrer in Summerhill. Wichtig für alle Demokratischen Schulen ist aber, dass jedes Mitglied der Schulgemeinschaft Teil der Schulversammlung ist. Lediglich die Soziokratischen Schulen funktionieren mit imperativen Mandaten für das höchste beschlussfähige Organ. Allerdings reicht zur Wahl der Vertreter keine einfache Mehrheit aus. Es braucht einen Konsent (vgl. Kapitel 2.5.1), wodurch indirekt wieder alle an der Entscheidung beteiligt sind.

Jüngere Schulgründungen schafften immer häufiger »den Sprung« von der Schülermitbestimmung zur selbstorganisierten Schule mit der Schulversammlung als höchstes Gremium, oder wurden gleich so gegründet. Dies ist sehr wahrscheinlich vor allem der Sudbury School und ihren vielen Nachfolgern zu verdanken. Methodos e. V. (vgl. Kapitel 2.6.2), besetzte Schulen (vgl. Kapitel 2.7) und die Schule für Erwachsenenbildung (vgl. Kapitel 2.7.2) zeigen, wie Lehrer sogar komplett oder weitestgehend aus der Organisation der Schule herausgehalten werden können.

Auffällig ist, dass es keine Schule mit Schulversammlung zu geben scheint in der selbstbestimmtes Lernen nicht erlaubt ist, wenn gleichzeitig die Schulversammlung mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet ist. Eventuell Ausnahmen davon sind das Dom Sierot (vgl. Kapitel 2.3) und Paideia (vgl. Kapitel 2.1.4). Allerdings habe ich hier den Eindruck, dass ein Schüler der selbstbewusst formuliert was er lernen oder nicht lernen möchte keine strafenden Konsequenzen befürchten muss. Auch wenn ich es für wahrscheinlich halte, dass Lehrer in manchen Fällen versuchen argumentativ auf den Schüler einzuwirken etwas (anderes) zu lernen. Die ausgewertete Quellenlage ist dazu leider nicht eindeutig.

Darüber hinaus unterscheiden sich die Schulversammlungen durch die Art der Entscheidungsfindung. Mit dem Aufkommen der Soziokratischen Schulen entstand eine Alternative zur Mehrheitswahl: der Konsent (vgl. Kapitel 2.5.1).

Die Mehrheitswahl verhindert zumindest in der Theorie die Herrschaft einer Minderheit (z. B. Lehrer) gegenüber der Mehrheit (z. B. Schüler). Der Konsent hat zudem den Anspruch auch die Minderheit vor der Mehrheitsmeinung zu schützen. Dennoch beschränkt eine voll entwickelte Soziokratie in der Praxis das direkte Mitspracherecht in Kreisen, in die man nicht delegiert wurde und/oder auf Grund der damit einhergehenden Verpflichtung nicht delegiert werden wollte.

Es gibt Agile Learning Center, deren Schulversammlung mit eingeschränkter Entscheidungskompetenz ausgestattet ist und im Konsent entscheidet und Sudbury-Schulen die in ihrer Schulversammlung (hier höchstes Organ der Selbstverwaltung) mit Mehrheit entscheiden. Bei beiden ist offensichtlich ein höherer Grad an Demokratie erkennbar, als bei einer Schule deren Schulversammlung eingeschränkte Kompetenzen hat und per Mehrheitsbeschluss entscheidet. Ein Vergleich der beiden Modelle in Bezug auf den Grad ihrer Demokratisierung macht pauschal allerdings keinen Sinn. Wenn überhaupt dann ist dies im Einzelfall sinnvoll und möglich.

Ich schlage deshalb eine Wertebasis und drei aufsteigende Demokratisierungs-Stufen für die Einteilung Demokratischer Schule vor:

0. Selbstbestimmtes Lernen ohne Schulversammlung

1. Schulversammlung mit eingeschränkter Entscheidungskompetenz (Organisation des Alltags und des Lernens)

2. Schulversammlung als höchstes Organ der Selbstverwaltung ODER Konsent-Entscheidung in der Schulversammlung

3. Schulversammlung als höchstes Organ der Selbstverwaltung UND Konsent-Entscheidung in der Schulversammlung

Dabei ist die erste Ordnung mit Null bezeichnet, da Selbstbestimmung die Wertebasis Demokratischer Schulen darstellt. Es ist allerdings möglich, dass die Lehrer den Wunsch äußern, dass die Schüler »etwas« lernen. Ob gelernt wird, liegt nicht ausschließlich im Verantwortungsbereich der Schüler. Dies widerspricht der Definition von Selbstbestimmung der EUDEC (vgl. Kapitel 1.3), erscheint mir aber im historischen Kontext als sinnvoll. Zum einen ist der Unterschied zwischen den beiden Definitionen gering, außerdem gelang es mir oft nicht die jeweiligen Schulen entsprechend genau zu kategorisieren.

Die Schulversammlung in der ersten Stufe hat die absolute Entscheidungskompetenz über wichtige Bereiche des Schulalltags und ist beispielsweise kein Morgenkreis, der dem Lehrer als Forum seiner Tagesplanung dient und nur bei Bedarf für Entscheidungen befragt wird.

Das ODER in der zweiten Stufe ist, als »entweder oder« nicht als »und/oder« zu verstehen.

Die zentralen, in dieser Arbeit genannten, Schulen sind in der nebenstehenden Graphik nach diesen vier Stufen kategorisiert und im Sinne ihrer ideengeschichtlichen Historie (vgl. Gliederung des Kapitels 2.) sortiert. Waldorfschulen und staatliche Schulen in Deutschland erfüllen keine der Stufen, auch nicht die nullte Stufe als Vorrausetzung für eine Demokratische Schule und sind, ebenso wie Montessorischulen, als Vergleichswert aufgeführt. Montessorischulen dagegen unterscheiden sich stark. Einige von ihnen erfüllen die Vorrausetzung einer Schule mit selbstbestimmtem Lernen, die Mehrheit wohl eher nicht.

4 Stufen der schulischen Demokratie-Entwicklung.

Die Schulen in der Stufe 2 (bis auf die Agile Learning Centers) praktizieren keine Konsent-Entscheidungen und betrachten die Schulversammlung als höchstes Organ der Selbstverwaltung. Die durchschnittlichen Agile Learning Centers entscheiden im Konsent, aber die Schulversammlung stellt (faktisch) nicht das höchste beschlussfähige Organ dar. Montessorischulen können sehr unterschiedlich gestaltet sein und gehören deshalb nicht immer in Stufe 0.

1 Sahling 2017.

2 Skiera 2003. S. 334f

3 Graner 2007. S. 23

4 Hofmann 2013.

5 Hattendorf 2017. S. 22

6 Hecht 2017. S. 81

7 Hecht 2017. S. 329

8 Klemm 2013. S. 117

9 Klemm 2013. S. 130–134

10 Graner. S. 27

11 Schiffner 2007. S. 56

12 Preater 2016.

13 Stephens 1988. S. 29–39

14 European Democratic Education Community Democratic Education Info

15 Auch Klemm (2013) bezeichnet Jasnaja Poljana als Demokratische Schule, obwohl sie keine echte Schulversammlung besaß.

16 Skiera 2003. S. 342–344

2. Ideengeschichtliche Zweige zur Entstehung Demokratischer Schulen

Soweit dies der aktuelle Forschungsstand vermuten lässt, verlief die Geschichte der Demokratischen Schulen unterschiedlicher ideengeschichtlicher Zweige anfangs zeitlich parallel, ohne voneinander beeinflusst zu sein und vernetzte sich danach immer mehr. Erst die Französische Revolution in Europa und die US-Staatsgründung in Amerika schufen die politischen Rahmenbedingungen für die Umsetzung (teilweise schon vorher fertiger) pädagogischer Konzepte. 1Auch heute noch befinden sich Demokratische Schulen ausschließlich in demokratischen Ländern. Die wenigen Ausnahmen sind in zeitweisen oder teilweise demokratischen Phasen (z. B. 2Ägypten, 3Thailand) entstanden und existieren dort (bis jetzt) unter den undemokratischen (Militär)Regierungen weiter.

Die historische Breite Demokratischer Schulen reicht von der Bauernkinderschule Jasnaja Poljana und der Straßenkinderschule First Street School in New York bis zum Internat Summerhill mit einem relativ hohen Schulgeld. Ihre Größe variiert zwischen sehr kleinen Schulen von wenigen Dutzend Schülern (LOS Deurne) bis hin zu mehreren hundert Schülern (Democratic School of Hadera: 500; SfE-Berlin: 800). Die pädagogische Bandbreite variiert zwischen Lebensgemeinschaften (Summerhill) und Tagesschulen, zwischen Erwachsenen- (SfE-Berlin) und Kleinkinderbildung, von Schulen mit angegliedertem Kindergarten (Democratic School of Hadera), sowie unterschiedlich radikaler Ausprägung von Freiheit (Sudbury-Modell im Vergleich zu Escuela libre Paideia) und Demokratie (Konsent-Prinzip der selbstverwalteten Soziokratischen Schule De Vallei PO im Gegensatz zur Einschränkung der Befugnisse der Schulversammlung auf Alltagsgeschehen in Summerhill).

Die Geschichte Demokratischer Schulen ist also offensichtlich sehr vielfältig und rückblickend betrachtet sehr verworren. Sehr oft verfließen pädagogische Elemente, ideologische Motivationen, politische Umstände und persönliche Besonderheiten der Gründer zusammen zu einem besonderen Konzept. Mir schien es daher sinnvoll die Demokratischen Schulen über ihre direkten Vorgänger zu einer Ursprungsschule/pädagogischen Einrichtung zurückzuverfolgen und bei dieser »Urschule« anzufangen, um einen Erzählstrang zu beginnen. Wie nachher gezeigt, liefen einige Erzählstränge parallel ab, bis sie sich immer mehr vernetzten und beeinflussten. Diese Urschulen bzw. ihre Gründer entspringen, soweit dies die Literaturrecherche vermuten lässt, einer spezifischen Motivation, bzw. wurden auf eine bestimmte Art und Weise in ihrer Sozialisation geprägt, die ihr pädagogisches Handeln bedingten. Sicherlich sind meistens mehrere Motivationen vorhanden gewesen, die jeweilige Schule zu gründen, doch im Allgemeinen wird eine Motivation besonders herausgestellt oder deutlich, bzw. ein(e) Erlebnis/Sozialisationsumgebung der Gründer ist offensichtlich konzeptuell prägend gewesen.

Ideengeschichtliche Zweige in diesem Sinne werden von Schulgründern/Schulen definiert, die ohne eine andere Demokratische Schule als Vorbild zu haben, quasi selbständig die Idee einer Demokratischen Kindergemeinschaft/Schule entwickelt haben. Wenngleich viele spätere Gründer nicht eindeutig zu einem der Zweige zugeordnet werden können und es wechselseitige Beeinflussung und inhaltliche Überschneidungen gab und gibt, so kann doch bei den ersten Schulen eines ideengeschichtlichen Zweiges meist eine Grundmotivation oder Sozialisation, bzw. bei den Nachfolgern ein dominanter historischer Einfluss ausgemacht werden.

Im Wesentlichen konnte ich so sieben verschiedene ideengeschichtliche Zweige ausmachen, die in ihrer praktischen Umsetzung zu Demokratischen Schulen geführt haben. Hierbei wird die Demokratie-Entwicklungsstufe 1 aus Kapitel 1.4 als Mindestkriterium für die Bezeichnung Demokratische Schule herangezogen. Das bedeutet, dass die Schule eine Schulversammlung mit gewissen Kompetenzen zur Organisation von Lernen und Alltag besitzt und selbstbestimmtes Lernen stattfindet. Diese Definition ist insofern sinnvoll, als dass diese Schulen alle grundsätzlich ein Menschen-/Kinderbild teilen, wie in Kapitel 1.4 erklärt und darüber hinaus konkrete Schritte zur strukturellen Implementierung einer Schülerselbstverwaltung unternommen haben.

Die Quellenlage zu den meisten Demokratischen Schulen ist entweder schlecht und/oder beinahe alle Quellen wurden von der Schule selbst veröffentlicht. Einzig für Summerhill gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher und ausführlicher Publikationen über einen großen Zeitraum, sowohl vom Gründer Alexander Sutherland Neill, als auch von Schülern, Lehrern, Besuchern, Journalisten und Wissenschaftlern.

Daher ist das Kapitel 2.2.1.3 Summerhill – Die vielleicht berühmteste Schule der Welt besonders ausführlich, um stellvertretend für alle Demokratischen Schulen, welche in der Mehrheit maßgeblich von Summerhill beeinflusst sind, zu zeigen, wie der Schulalltag einer Demokratischen Schule im Detail funktioniert, wie mit Krisen umgegangen wird, welche pädagogischen Ansichten vertreten werden und wie sich die Auswirkungen gestalten.

2.1 Libertäre Pädagogik

4»Der libertären Erziehungsbewegung und -konzeption geht es, allgemein und plakativ gesagt, um die Befreiung der Pädagogik von einer weltanschaulich geprägten und autoritären Erziehungspraxis. Sie richtet sich gegen Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen, denen es um die Formung des Menschen, im Sinne bestimmter weltlicher oder religiöser Ideologien geht. Sie bekämpft metaphysisch determinierte Erziehungskonzepte und setzt an ihre Stelle das Konzept des freien Lernens in einer freien Erziehungsgemeinschaft.

Wir müssen in der libertären Erziehungskonzeption in erster Linie eine pädagogische Befreiungsbewegung sehen, der es um die Emanzipation der Kinder und Jugendlichen aus institutionalisierten pädagogischen Zwängen (Familie, Kindergarten, Schule, etc.) geht. Erziehungsprozesse werden hierbei als Sozialisationsprozesse aufgefasst, die nicht nur im System Schule ablaufen. Fremdgesteuerte Bildung und Erziehung findet ebenso in der Familie und anderen Institutionen statt. […] Bildung und Erziehung werden in der libertären Pädagogik zur »Praxis der Freiheit«, wo zukünftige »Strukturen einer Kulturrevolution« entwickelt werden. Wenn radikale Pädagogik Teil einer radikalen Bewegung ist, kann ihr Handeln nicht darin bestehen, ein neues Erziehungssystem in einem Vakuum zu schaffen.

Man muss Strategien entwickeln, die auf die politischen Realitäten des gegenwärtigen Erziehungssystems eingehen.« – Prof. Dr. Ulrich Klemm. Libertärer Pädagogik, auch anarchistische Pädagogik genannt, geht es also um radikale Strategien zur Erneuerung von Erziehungs- und Bildungsprozessen, die den Menschen als Ganzes erfassen mit dem Ziel eine freie und emanzipierte Gesellschaft zu schaffen. Damit ist der libertäre ideengeschichtliche Zweig klar politisch ausgerichtet. Denn er hat den Anspruch die Ideale, die in seiner Pädagogik verankert sind, durch die Erziehung auf die ganze Gesellschaft zu übertragen. 5Deutlich wird hier auch das anarchistische Ideal, dass der Weg (hier die Erziehung/Schule) zu einer sozialen und freien Gesellschaft bereits diese Ideale leben muss. Das heißt die Erziehung bzw. Schule soll so frei und sozial sein, wie möglich.

2.1.1 Leo Tolstoi & Jasnaja Poljana

6Leo Nikolajewitsch Tolstoi war ein russischer Schriftsteller und zählt weltweit zu den Klassikern im Genre des realistischen Romans. Tolstoi nimmt im Kontext der russischen Pädagogik des 19. Jahrhunderts einen herausragenden Platz ein und bündelt in den 1860er Jahren verschiedene Strömungen freiheitlicher Bildungs- und Erziehungsansätze. Er spielt damit für Russland nicht nur eine wesentliche Rolle im 19. Jahrhundert, sondern wirkt auch bis in die Zeit der Sowjetpädagogik hinein. Beeinflusst und beeindruckt von Tolstoi waren z. B. die Sowjetpädagogen Nadesha K. Krupskaja (1869–1939) und Stanislaw T. Schazki (1878–1934).

Lew Nikolajewitsch Tolstoi am Ende seines Lebens (1828–1910)

71875 erschien eine erweiterte und überarbeitete Neuauflage seines Schulbuches »Das Neue Alphabet«, das mit einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren zu einem der verbreitetsten Schulbücher im damaligen Russland wurde und ihn zu einem der berühmtesten russischen Pädagogen seiner Zeit machte. Es ist auf Basis einer von Tolstoi entwickelten Lese-Lern-Methode entwickelt. Einer der zentralen Aspekte dieser Methode ist die Vergegenwärtigung der Nützlichkeit der einzelnen Schritte des Lesen-Lernens.

8Des Weiteren basiert diese Methode auf Begeisterung und Freiwilligkeit beim Lesen (und Lernen allgemein) gegenüber starren Strukturen und autoritärem Auswendig lernen. Dennoch sah er seine Methode auch kritisch und wand sich im Laufe seines Lebens immer mehr dem Ideal einer Erziehung mit größtmöglicher Freiheit zu.

9»Der einfachste und natürlichste Gedanke, daß die Zeit für ein gutes mechanisches Lesen noch nicht gekommen war und daß gegenwärtig gar kein Bedürfnis danach vorliege, daß die Schüler die beste Methode schon selber finden werden, wenn das Bedürfnis sich einstellen wird – dieser Gedanken kam uns erst vor kurzem.«

10Tolstoi gründete 1859 auf dem Gut Jasnaja Poljana seiner Familie eine Bauernschule für die Kinder seiner zuvor von ihm befreiten Leibeigenen. Um hierfür neue Impulse zu bekommen, unternahm er eine Reise, die ihn nach Deutschland, Frankreich, Belgien, England und Italien führte. Er hospitiert in Schulen und Kindergärten, besucht bekannte Pädagogen und hört Vorlesungen an der Berliner Universität. Die Eindrücke, die er hier vom deutschen und französischen Schulsystem gewann, waren für ihn frustrierend, wie ein Auszug aus seinem Tagebuch belegt: 11»War in der Schule. Entsetzlich. Gebet für König, Prügel, alles auswendig, verängstigte, seelisch verkrüppelte Kinder«. Mit dieser Einstellung kehrt er 1861 nach Russland zurück, gründet die pädagogische Zeitschrift »Jasnaja Poljana« und diverse Schulen. »Im Mittelpunkt seiner bildungspolitischen Ziele steht die Alphabetisierung armer Bevölkerungsgruppen, insbesondere der Bauern. Tolstoi strebte eine ganzheitliche Bildung an, mit Hilfe derer sich die niederen Stände (Russland war bis 1917 eine Feudalgesellschaft) aus ihrer Unwissenheit und aus ihrem Elend befreien können.

Seine Schule in Jasnaja Poljana, in der er zeitweise bis zu 70 Jungen und Mädchen im Alter von sieben bis zehn Jahren […] und Erwachsene in drei Klassen unterrichtete, bot ausschließlich freien Unterricht an, d. h. es konnte jeder kommen und gehen, wann er wollte.« Dass diese »freie Schulordnung« nicht zu Chaos führte, lassen die Aufzeichnungen von Wassilij Morosow, einem ehemaligen Schüler Tolstois aus der Zeit 1859–1862 vermuten und decken sich auch mit anderen 12Quellen: 13»In der Schule herrschte bei uns ein guter Geist. Wir lernten mit Lust. Aber mit noch größerer Lust lehrte Lew Nikolajewitsch [Tolstoi]. Sein Eifer war so groß, dass er nicht selten sein Mittagessen vergaß.«

Jasnaja Poljana 2019 (Bild: A. Savin – Wikimedia)

14»Darüber hinaus gab es in Tolstois Schule nach einer gewissen Zeit keine Strafen, keine Noten, keine Hausaufgaben und kein ›Sitzenbleiben‹ oder eine sonstige, offizielle Stigmatisierung als ›Schulversager‹ mehr.«

Für die damalige Zeit kann man in Jasnaja Poljana eine weit entwickelte Form des demokratischen Zusammenlebens erkennen – nicht nur für Russland. Wenngleich nicht explizit eine regelmäßig tagende Schulversammlung erwähnt wird, so sprechen die Aufzeichnungen von Wassilij Morosow und »Die Schule von Jasnaja Poljana« – eine Zusammenstellung von Schriften Tolstois über die Schule – von etlichen Gruppenentscheidungen, beispielsweise zu Ausflügen (Schlittenfahrt) und beim Umgang mit Konflikten. Zwar geschah dies sehr selten, jedoch handelte Lew Tolstoi auch eigenmächtig gegen Beschlüsse der Schulgemeinschaft, wie in diesem von ihm notierten Beispiel:

15Ein Diebstahl eines Buches, Eigentum eines Schülers, durch einen anderen Schüler wurde kollektiv diskutiert und die Strafe gemeinsam entschieden. Das Herumlaufen mit einem Hut auf dem »Dieb« geschrieben stand, isolierte den Schüler in der Schulgemeinschaft. Leo Tolstoi nahm ihm nach einem weiteren Diebstahl den Hut ab und erklärte die Strafe für beendet, da er sie als unwürdig und kontraproduktiv ansah.

16Tolstoi propagierte in seiner pädagogischen Zeitschrift »Jasnaja Poljana« eine freie Schulordnung, die zum Maßstab für ein freiheitliches Lernen in Institutionen werden sollte und drei Leitideen miteinander verband:

• Bildung statt Erziehung

• Freiheit statt Zwang

• Erfahrung statt Dogma

Diese offensichtlich, dem autoritären Zaren-Regierungssystem entgegenstehenden Werte, sowie seine zahlreichen regierungs- und kirchenkritischen Äußerungen, machten ihn in den Augen der Zarenbürokratie verdächtig. Eine Hausdurchsuchung auf Jasnaja Poljana, bei der zwar keine belastenden Beweise gefunden werden konnten, hatte trotzdem die Schließung der Schule zur Folge.

Jasnaja Poljana ist wahrscheinlich die älteste (1859–1862) libertäre Schule der Geschichte und die erste Schule in der Lernen völlig selbstbestimmt stattgefunden hat. Weder Milton Gaither in 17The Libertarian Historiography of Education noch Ulrich Klemm in Geschichte und Gegenwart Freier Demokratischer Schulen erwähnen ältere Schulen. Im Gegenteil schreibt Klemm 18»können wir in der Schulgeschichte noch wesentlich weiter bis in das 19. Jahrhundert zurückgehen und stoßen hier vielleicht auf die ersten Wurzeln Freier Demokratischer Schulen. Zu nennen ist im historischen Zusammenhang die freie Bauernschule des russischen Dichters und Philosophen Leo Tolstoi auf seinem Bauerngut Jasnaja Poljana von 1859 bis 1862.«.

19Ulrich Klemm ist der Ansicht, dass Tolstoi, der als Erzieher in der deutschen Pädagogik nur wenig Beachtung fand, im deutschsprachigen Raum seit 100 Jahren lediglich im Rahmen einer akademisch-theoretischen Aufarbeitung diskutiert wird, aber keinen praktischen Einfluss hatte.

20In der Hochphase libertärer Schulkritik Ende der 60er Jahre wurde Tolstoi als Klassiker der freiheitlichen Erziehungskonzeption in den USA neu entdeckt. Vor allem George Dennison, der sich mit seiner »First Street School« in New York von Tolstoi inspirieren ließ, beeinflusste mit seinem Buch 21»Lernen und Freiheit. Aus der Praxis der First Street School.« wiederum viele weitere Schulen und Menschen.

22Mahatma Ghandi, der sich selbst als religiöser Anarchist verstand, und Gewaltfreiheit propagierte, hegte eine große Bewunderung für Tolstoi, dem ein urchristlicher, pazifistischer Anarchismus zugesprochen wird. Tolstois Menschenbild und Ansätze zum Zusammenleben freier Menschen, auch im pädagogischen Sinne, faszinierten Ghandi so stark, dass er seine von ihm gegründete Kommune in Südafrika Tolstoi Farm nannte.

2.1.2 Francisco Ferrer und die Escuela Moderna

23Beeinflusst vom französischen libertären Pädagogen und Waisenhausleiter Paul Robin gründete Francisco Ferrer 1901 mit 30 Schülern in Barcelona die Escuela Moderna. Die Schule wurde nach schnellem Wachstum der Schülerzahl auf 266, nur fünf Jahre nach der Gründung 1906 wieder durch den Staat geschlossen. Sie ist Vorbild für eine ganze Bewegung libertärer Schulen, die sich meistens ebenfalls Escuela Moderna (bzw. Modern School) nennen. Die Escuelas Modernas verbreiteten sich in den nächsten zwei Jahrzehnten über ganz Spanien und darüber hinaus. 24Allein in der spanischen Provinz Katalonien zählt Avrich 48 Escuelas Modernas.

The Modern School New York (wahrscheinlich 1911/12)

Durch den Sieg des Faschismus im spanischen Bürgerkrieg musste die letzte Escuela Moderna Spaniens 1939 schließen.

25Die Escuela Moderna verzichtete auf Strafen, Belohnungen, Noten, Religionsunterricht und unterrichtete gemischtgeschlechtlich und altersübergreifend. Ferrer wollte die Koedukation auch auf soziale Klassen anwenden und reichen und armen Kinder eine gemeinsame Schulzeit ermöglichen. Er priorisierte praktischen Unterricht und unternahm häufig Exkursionen. Seine Schüler waren frei in der Gestaltung ihres Schulalltags, Unterricht war nicht verpflichtend.

26Laut Skiera habe kaum ein Pädagoge vor ihm, die Anerkennung von Kindern als vollwertige, eigenständige Menschen mit umfassenden Rechten formuliert. Als Beispiel führt er ein Zitat Ferrers an: »… beruhe der ganze Wert der Erziehung in der ›Respektierung des physischen, intellektuellen und moralischen Willens des Kindes.‹ und fasst seine Haltung zum Einfluss von Lehrern so zusammen: ›Die Entwicklung der kindlichen Energien, die Richtung seiner eigenen Bemühungen, gelte es zu unterstützen, auch dann, wenn sie den Vorstellungen des Erziehers zuwiderlaufen.‹«

27Obwohl keine Schulversammlung explizit erwähnt wird, berichtet Avrich (2014) von »participation of children and parents in the administration of the school.«

28Esparanto, als eine Sprache der Völkerverständigung, war ein wichtiges Unterrichtsfach in den Ferrer Schools.

29Ferrers Schule bot abends Kurse und Vorlesungen für Erwachsene an, betätigte sich in der Ausbildung von Lehrkräften und übersetzte dafür Unterrichtsbücher in einfaches Spanisch. 30Seine Pläne zur Gründung einer Universität scheiterten allerdings.

31Ferrer gründet nach der Schließung der ersten Escuela Moderna die »Ligue internationale pour l’education rationelle de l’enfance«. Die Liga publizierte auf Italienisch, Französisch und Spanisch und verbreitete die Ideen Ferrers insbesondere nach Süd- und Nordamerika.

32Nach den Arbeiteraufständen der »tragischen Woche« gegen die Masseneinberufung zur Armee 1909 in Barcelona wurde Ferrer, als vermeintlicher Anführer der Revolte mit vier anderen Angeklagten, in einem offensichtlich politischen Verfahren, unschuldig zum Tode verurteilt.

33Als Reaktion auf seine Ermordung versammelten sich 15.000 Menschen vor der spanischen Botschaft in Paris und stürmten sie. Aktivisten ließen eine schwarze Flagge von der großen Kathedrale in Mailand hängen und Ferrer erschien auf der Titelseite der New York Times. 34In den kommenden Jahrzehnten wurden zahlreichen Straßen und Plätze, vor allem in Italien und Frankreich, nach ihm benannt.

35Gewandt an das Erschießungskommando waren seine letzten Worte angeblich: »Zielt genau, meine Freunde. Ihr seid nicht verantwortlich. Ich bin unschuldig. Es lebe die Escuela Moderna!« 36Ferrer war zu diesem Zeitpunkt international bereits sehr bekannt. Massiver internationaler Protest konnte das Urteil dennoch nicht stoppen, sorgt aber für eine weitere Verbreitung seiner Pädagogik. Das Ferrer-Center in New York City zählt dabei zu den prominenteren der vielen internationalen nach seinem Tod entstandenen »Ferrer-Schools«.

37Alumni der US-amerikanischen Ferrer Schools beteiligten sich 1960 aktiv am Aufbau alternativer Schulen im Zuge der Free School Movement (vgl. Kapitel 2.1.3).

38Die Machnowschtschina oder Machno-Bewegung war eine anarchistische Bauernbewegung in der Südostukraine, die während des russischen Bürgerkriegs von 1917–1922 ein anarchistisches Gesellschaftsmodell in einem wechselnd großen Gebiet etwa von der Größe Österreichs umsetzte. Im Bereich des Schulwesens setzte sie Ferrers Pädagogik um. Sehr wahrscheinlich starb Ferrers Schulmodell dort zusammen mit den Machnowzi durch den Angriff der Roten Armee der autoritären Bolschewiki.

39Auch im südamerikanischen Raum verbreitete sich Ferrers Pädagogik. Edgar Rodriguez berichtet von mehr als zehn libertären »rationalist schools« bis 1939, die vermutlich auf Ferrer zurückgehen. 40Die schweizerische École Ferrer in Lausanne, sowie die Scuola Moderna in Italien und das Internat La Ruche in Frankreich gehen ebenfalls auf Ferrer zurück.

2.1.3 George Dennison und die Free School Movement in den USA

Stark beeinflusst von der allgemeinen politischen Aufbruchsstimmung der 60er und 70er Jahre, sowie explizit von A. S. Neills Buch: »Summerhill: A Radical Approach to Child Rearing« (deutscher Titel: »Summerhill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung«), sowie von George Dennisons Buch »The lives of children« über die von ihm mitgegründete First Street School41