Geschichten für Ruth - Urs Frauchiger - E-Book

Geschichten für Ruth E-Book

Urs Frauchiger

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Beschreibung

In seinen leichtfüssig daherkommenden und von tiefer Durchdringung zeugenden Betrachtungen erweist sich Urs Frauchiger einmal mehr als geistreicher und empathischer Erzähler. Mit ausgewiesener Kenner- und Leidenschaft bewegt er sich in den Themenfeldern Musik – Literatur – Natur und Wandern. Seine Essays kreisen um Mozarts «Zauberflöte», den Schweizer Schriftsteller und Feuilletonisten Joseph Victor Widmann, spüren dem Zauber des verschlossenen Rosengartens oder dem unvergleichlichen Celloton von Pablo Casals nach. Dessen geheimnisvolle Gefährtin Guilhermina Suggia findet ebenso würdigende Beachtung wie die portugiesische Dichterin Sophia de Mello Bryner Andresen, deren überragende Gedichte der Autor und seine Frau Ruth Huber gemeinsam übersetzt haben. Auf seinen Wanderungen lässt uns der Autor in Collodi auf die Spuren Pinocchios stossen oder räsoniert darüber, was man beim Wandern ohne Plan und Fremdbestimmung alles erlebt. Diese Geschichten sind jeweils in sich geschlossen und doch wie absichtslos ineinander verwoben. Das Resultat: eine kurzweilige, auf unterhaltsame Weise bildende Lektüre von hoher Eleganz und Leichtigkeit. 

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Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Wie dumm ist die Zauberflöte?

Der verschlossene Rosengarten

Joseph Viktor Widmann und die Bedeutung

Wandern

Archäologische Erinnerungen eines Wanderers

Pau Casals oder der eigene Ton

Quem e esta Senhora?

Gedichte in Lissabon

Von Elfen, Trollen und vom roten Faden

Über den Autor

Über das Buch

Urs Frauchiger

Geschichten für Ruth

Gedruckt mit Unterstützung der Ulrico Hoepli-Stiftung, Zürich.

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2021 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Martin ZinggUmschlaggestaltung: Marianne Doma & Stefan Bieri, bido-graphic GmbH, Muttenz

Urs Frauchiger

Geschichten für Ruth

Essays

Wie dumm ist die Zauberflöte?

... was mich aber am meisten freuet, ist der Stille beifall(Mozart)

Wie ein Mensch auf die Zauberflöte reagiert, sagt mehr über diesen Menschen aus als über die Zauberflöte. Das darf uns nicht daran hindern, etwas über die Zauberflöte zu sagen.

Vielleicht sollten wir zuerst versuchen, etwas über die Oper an sich zu sagen, ohne in trockene Gattungsgeschichte zu verfallen. Mich interessiert vielmehr die Frage «Was darf die Oper»? Mit besonderer Berücksichtigung des Problems Darf Oper auch dumm sein?

Sie muss nicht, aber sie darf! – Kurt Tucholsky hat verkündet, die Satire dürfe alles. Das hat allen Satirikern den Kopf verdreht und einigen den Kopf gekostet. Denn die Satire darf nicht alles. Dazu ist sie eine viel zu ernste Sache.

Die Oper aber darf alles! Das ist ihre Raison d’être, und das gilt für alle Opern, für die Buffa, das Singspiel, die Operette, das Musical – aber auch, wenn nicht in noch höherem Masse, für die Seria. Das ist ihre gesellschaftliche Funktion und ihre Verantwortung! Wie wäre es sonst zu erklären, dass in einem todernsten historischen Stück der Held über die Bühne stürmt und singt: «Die Häscher nahen! Schleunige Flucht tut Not», und dann singt der diesen Text zehn Minuten lang, ohne dass jemand ruft: «Geh doch endlich, du Esel.» Im Gegenteil: Wir atmen auf und applaudieren.

Wer in die Oper geht, betritt eine andere Welt, eine, in der alle Regeln der «real existierenden Welt», so es das überhaupt gibt, ausser Kraft gesetzt werden. Es ist nicht a priori eine bessere Welt, aber eine andere.

Die ihr hier eintretet, lasst allen Dünkel fahren! Oper ist nicht vernünftig, nicht logisch, nicht real und schon gar nicht realistisch. Aber dumm? Viele Opern, wenn nicht alle, leben davon, dass die Dummköpfe am Schluss bestraft werden. Auf eine gescheite Art bestraft werden. Dürfen folglich der Librettist, die Librettistin nicht dumm sein? – Schikaneder gibt uns die Antwort: Er war mit Sicherheit kein Intellektueller. Ein Tunichtgut, ein Schlaumeier, ein Schelm, ein Schürzenjäger war er. Und gleichzeitig ein mit allen Wassern gewaschener Theatermann, auch Musicus, Regisseur, Librettist, Stückeschreiber und Schauspieler. Er spielte einen der ersten deutschsprachigen Hamlet, offenbar mit Anstand. Das soll ihm einmal jemand nachmachen! Für ihn war das Theater eine Rumpelkammer, der er entnahm, was er gerade brauchte. Das war nicht immer gescheit, aber dumm bestimmt auch nicht.

Wie komme ich denn zu solchen Spintisierereien? – Vor geraumer Zeit lief auf 3Sat die Aufzeichnung einer «Zauberflöte im Steinbruch». Dadurch handicapiert, dass die Sänger ein Gesichtsmikrofon trugen, dass sie schwachsinnig und entstellend gekleidet waren und dass einmal mehr ein profilierungssüchtiger Regisseur die Sänger und, schlimmer noch, die Sängerinnen daran hinderte, ihren Beruf professionell auszuüben. Und dass die Drei Knaben die Protagonisten auf einem E-Roller umkreisten und falsch sangen, weil ihr Hauptaugenmerk begreiflicherweise darauf gerichtet war, niemanden tot zu fahren.

In den angeregten und erregten Diskussionen der folgenden Tage wurde unter anderem Schikaneders Drehbuch als das «dümmste Libretto der Operngeschichte» bezeichnet.

Das traf mich mitten ins Herz. Es betrifft ein frühkindliches Erlebnis, das fortan mein Weltbild über den Haufen warf und prägte: Kurz vor Weihnachten war meine Mutter mit mir aus dem hintersten Emmental ins Berner Stadttheater zu einer Aufführung der Zauberflöte gefahren. Ich war schon schulpflichtig und auf meinem ¾-Cello bis zum zweiten Band «Mittelstufe» gelangt. Auf Mozart freute ich mich; er war mir dank unseres vorsintflutlichen Radios ein Begriff. Auf der Hinfahrt versuchte die Mutter, mich auch auf die verworrene Handlung vorzubereiten. Das beängstigte mich eher, doch in der Aufführung fügte sich, dem pädagogischen Geschick meiner Mutter sei Dank, eines plötzlich problemlos ins andere.

Ich sei aufrecht dagesessen und hätte mich überhaupt nicht bewegt. Es war zu viel für mich. Ich verstand nichts und gleichzeitig alles: die Schlange, die ich nicht aus dem Zoo, sondern aus der Bibel kannte. Die Drei Damen, eine Verzauberung, die ich noch nicht ganz verstand: Erotik, das Urelement der Oper, Papageno, der mein Freund wurde. Ihn dürstete nach einem «Lieben Weiblein» – schon wieder einer! Die bezaubernd schöne Bildnis-Arie, da hörte ich mehr als dass ich schaute. Die bezaubernd schöne Pamina. Und wieder die Drei Damen. Sie überreichen dem bezaubernd schönen Tamino die Zauberflöte. Mit meinem Cello hätte ich sie gleichwohl nicht getauscht. Und jetzt die Königin der Nacht, hoch oben in Glanz und Gloria, die noch höher hinaus sang, als sie schon stand oder schwebte! Warum stürzte sie nicht ab? (Ich war nicht schwindelfrei.) Die Drei Knaben – ohne Velo. Jetzt ein Hain, kein Wald, ein Hain. Säulen, ein Tempel der Weisheit. Was war das, Weisheit, von der ständig die Rede ist? Im Emmental gab es das nicht. Plötzlich ein «Schwarzer», damals sagte man «Neger». Dann ein drohendes Zurück! Fortissimo! Das Zurück, das gab’s im Emmental die ganze Zeit. Es dröhnte aus dem Hintergrund, alles tauchte hier aus dem Hintergrund auf. Schon wieder der «Neger», aber Tamino hat ein Glockenspiel, der «Neger» verschwindet tanzend, samt tanzenden Sklaven. Was sind das, Sklaven? Von ferne naht feierliche Musik, Pauken und Trompeten, Sarastro, ein steifer, merkwürdig gekleideter alter Mann tritt auf. Der «Neger» kommt zurück, schleppt Tamino herbei, der Pamina umarmt, die schon da ist. Der «Neger» – hier heisst er «Mohr» – trennt sie. Sarastro verurteilt ihn zu siebenundzwanzig Sohlenstreichen. Siebenundzwanzig, eine heilige Zahl. Und wofür wird er denn bestraft?

Pause.

Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nie ins Opernhaus kommen.(frei nach Matthäus 18,3)

Mit dem Gemeinplatz «Mozart hat die Zauberflöte gerettet» ist es schon gar nicht getan. In Bezug auf den ersten Akt könnte man ebenso gut sagen, Schikaneder habe die Zauberflöte gerettet.

Oder er habe jedenfalls Mozart gerettet. Mozart war, einige Wochen vor seinem Tod, nach den Turbulenzen mit dem Titus und all den privaten und finanziellen Querelen am Ende. Schikaneder hat ihn wieder aufgepäppelt, hat ihn kulinarisch verwöhnt und leider – es gibt keine konkreten Beweise, aber viele fiese Andeutungen – tüchtig mit ihm gezecht und hat damit einen seiner vielen Sargnägel eingeschlagen. Fest steht hingegen: Das Libretto machte Mozart Spass. Davon zeugen einige Briefe, das beweist vor allem seine Musik! Immer wieder muss er alles um sich herum vergessen haben, muss er glücklich gewesen sein.

Glücklich!

War er auch noch glücklich, als er den zweiten Aufzug komponierte? Sicher weniger. Und da kommen wir um die Freimaurerei nicht herum, die schon im Laufe des ersten Aktes aufscheint, aber da noch eher als ein weiteres Versatzstück. Jetzt beginnt sie zu überwuchern, sich breitzumachen wie ein Virus. Was war da los?

Mozart und Schikaneder, beide waren sie Freimaurer. Sehr verschiedene Freimaurer freilich. (Den Dritten, der im Bunde gewesen sein soll, Karl Ludwig Giesecke, der sogar Teile der Freimaurerpassagen selber geschrieben haben wollte, wenn nicht die ganze Freimaurerei überhaupt, blenden wir aus. Er tut nichts zur Sache, und im Libretto findet sich kein Hinweis auf einen Stilbruch.) Schikaneder war auch hier ein unzuverlässiger Geselle, Opportunist wie immer, der vor allem sein Publikum durch die maurerische Mitgliedschaft zu erweitern suchte. Mozart aber glaubte. Nach dem Tode des Vaters, seines geistigen Präzeptors und Ermahners, war ihm ein Bezug zu diesen Bezirken weggebrochen. Das hoffte er hier wiederzufinden, und so spielte er das Spiel mit. Aber ganz konnte er sich auch nicht identifizieren. Seinen Freimaurermusiken, auch denen ausserhalb der Zauberflöte, haftet bei allem Glanz der Bassethörner etwas Unfrohes an, sogar ein gewisser «Dienst nach Vorschrift». Mit einer Ausnahme, einem Wunder: die Maurerische Trauermusik KV 477. In diesen 69 Takten tut sich das Universum seiner Seele auf – und schliesst sich sogleich wieder. Er vermochte es niemals mehr zu öffnen. Schon gar nicht in der Zauberflöte.

Ist das ein Makel? Nein!! Wenn überhaupt etwas ein Makel ist, ist es das Verhalten der Rezipienten. Da gibt es die unheilbaren Nörgler, die Besserwisser, die Pedanten, denen die Gabe der Empathie abhandengekommen ist – und die Menge der verbohrten Mozartverehrer, die Mozart besser zu kennen meinen als alle andern. Mir scheint, Mozart kann man nicht anders begegnen als mit einer vorurteilslosen Bereitschaft für alles, was er macht – vorurteilslos heisst nicht kritiklos.

Und dann sind noch die Regisseure. Sie werden gerade durch ein so turbulentes Geschehen wie das in der Zauberflöte dazu verführt, ihren trivialen Fantasien freien Lauf zu lassen, Mozart auf die Schulter zu springen und zu rufen «Hoppla da bin ich!». Ist es denkbar, dass sogar Goethe einer analogen Verlockung unterlag, wenn auch auf einer höheren Etage? Glaubte er vielleicht, da passiere etwas Faustisches, als er, analog zum Faust zwei, sozusagen eine «Zauberflöte zwei» in Angriff nahm, ein Unterfangen, dessen Absurdität er bald einsah? Lange Zeit diente er den Zauberflötenbefürwortern als Kronzeuge, die, wie Wolfgang Hildesheimer anmerkte, ihre Artikel mit der Wendung «Selbst Goethe ...» einzuleiten pflegten. In einer Zeit des «Fack ju Göthe» hat auch diese Zauberformel an Autorität eingebüsst. Mozart hat da selbst Goethen nicht nötig.

In der Zauberflöte hat er die Sache am Schluss gut zurechtgebogen, und Schikaneder hat nach Kräften vorgespurt. Gewiss sind noch manche Fährnisse zu bestehen: Papageno sorgt mehrmals für komische Intermezzi, bis er seine Papapapapapagena bekommt, und der Fortsetzung der leidigen maurerischen Prüferei verdanken wir die Arie der Pamina, die edelste Variante der klassischen Wahnsinnsarie. Die Drei Knaben erweisen sich endlich als dramaturgisch unverzichtbar, und wenn man der Wirrungen und maurerischen Irrungen langsam müde wird, greifen Librettist und Komponist zu den alten Tricks des Theaters: Ein Unwetter erhebt sich, unter Blitz und Donner tauchen die Mächte der Finsternis ab. Verwandlung: Sarastros Sonnentempel erstrahlt in einer Lichtschau. Jubelchöre! Mozart hat bessere geschrieben. Neun Wochen später war er tot.

Kann man daraus etwas lernen? – Ich berufe mich auf Mozart: «In einer Opera muss die Poesie schlechterdings der Musik gehorsame Tochter sein.» Jedes Mal, wenn man sich irgendwo erdreistet, die Zauberflöte aufführen zu wollen, sollten sämtliche Ausführenden verpflichtet sein, dieses Zitat vor jeder Probe im Chor zu rezitieren, und der Dirigent wäre vertraglich gehalten, dieser Regel unerbittlich Nachachtung zu verschaffen. Aber welcher Dirigent könnte das überhaupt? Er müsste hochkompetent und zugleich demütig sein.

Gibt es das? – Josef Krips und Bruno Walter haben es in ihren Zauberflöten erfüllt. Mariss Jansons hätte dem Anforderungsprofil ideal entsprochen, aber er starb, bevor er seine exemplarische Zauberflöte hätte realisieren können. Unter den Jüngeren könnte ich mir Lorenzo Viotti vorstellen. Dass er Schweizer ist, wäre kein Nachteil.

Dieses Personal würde wohl von selber dafür sorgen, dass die Freimaurerei nicht unter dem lastenden, tragischen Gewicht erstickt. Es ist fast schon Tradition geworden, dass die maurerischen Passagen erst das «Eigentliche», die «Tiefe», das Numinose und das Metaphysische, kurz: das letzte Ziel bedeuten. Vergebliches Bemühen! Es führt zu nichts als zu langsamen Tempi, Pathos, dickem, nicht selten teigigem Klang; bei den Streichern zu einem aufgeregten Vibrato, «als ob sie das hitzige Fieber hätten», wie Vater Leopold in seiner Violinschule schrieb.

Weg damit! Das ideologisch überladene Schiff muss Fahrt aufnehmen, man muss die Segel hissen statt sich ins Schwitzen rudern, Rückenwind gewinnen und in einer geheimnisvollen Unverbindlichkeit entschwinden. Selbst über den einen oder den andern Strich darf man diskutieren, das rät einer, der sonst, zumal bei Schubert, nicht die geringste Verkürzung der göttlichen Längen befürwortet. Aber auch hier: Federführend sind die Musiker, nicht die Dramaturgen.

Giuseppe Verdi, der nächste ganz grosse Opernkomponist nach Mozart, ist exemplarisch: Am Schluss des Falstaff, seiner letzten Oper – vergessen wir nicht, auch die Zauberflöte ist Mozarts letztes Werk, nicht das Requiem – leistet er sich eine Fuge; sonst Inbegriff schwergewichtiger Gelehrsamkeit, bei ihm ein Wunder federleichter Grazie: Tutto nel mondo è burla ...

Und als Zugabe ein kleiner subversiver Vorschlag: Man entwende das Schloss, das Papageno den Mund verschliessen soll. Dem wird es nichts ausmachen; als geborener Stegreifschauspieler wird er die Szene auch ohne meistern. Alsdann montiere man es hinterrücks am Mundwerk des Regisseurs und werfe das Schlüsselchen in den tiefsten Abgrund.

Das ist bereits die halbe Miete für eine perfekte Aufführung.

Der verschlossene Rosengarten

Jetzt bin ich oben. Der steile Fussweg ist gesperrt, weil auch der Rosengarten, wie alle Pärke und Anlagen der Stadt, virushalber gesperrt ist. Aber der Hohlweg nebendran vaut le détour mit seinen Bäumen im Park der kanadischen Botschaft, in denen Vögel erwachen, Tauben girren und gurren.

Ich weiss nicht, wie sie alle heissen, die Vögel und die Bäume. Ahorn ist keiner dabei. Sollte es doch haben vor dem Sitz der Kanadier.

Jedenfalls stehe ich da, über und vor einem Panorama, das seinesgleichen sucht: unten der Fluss. Ungenau, ihn die «Biegung des Flusses» zu nennen, so literarisch das auch tönt. Ein vollendeter Bogen ist es, der die Stadt umfasst, liebevoll umfasst, wenn man von den zeitweiligen Überflutungen der Unterstadt absieht. Zuweilen vielleicht auch etwas erstickend, jedenfalls nach Ansicht der städtischen Verkehrsplaner. Da unten die Altstadt, noch ein Jahrhundert älter als das Vaterland, das teure! Gut erhalten, ständig umgebaut und dessen ungeachtet irgendwo stimmig. Viel Fassade, «doch wie’s da drinnen aussieht, geht niemand was an». Weltkulturerbe und immer noch heimelig.

Drei Kirchen: Direkt unter mir die Nydeggkirche. «Meine» Kirche, ich zahle da Kirchensteuer, zahle sie gern, obwohl ich die hundert Meter zwischen meiner Wohnung und ihr selten beschreite. Der Pfarrer ist gut, daran liegt es nicht. Er weiss den gewählten oder auferlegten Bibeltext von innen her aufzulichten, statt ihn mit Donnerstimme «auslegen» zu wollen. Ich bin einfach kein «praktizierender Christ», denn praktizierend darf man nur heissen, wenn man regelmässig den Gottesdienst besucht. Der Turm ist der eleganteste, am schlanksten aufragende nicht nur Berns. Ich sehe ihn von meinem Fenster aus auf gleicher Höhe. Letzte Nacht ist der erdnächste volle Mond hinter ihm fast beängstigend dunkelrot vorbeigezogen.

Dann das Münster, ein eindrucksvoller und einladender Bau, das letzte sakrale Zeugnis der Spätgotik. Den Bernern sagt man nach, sie seien langsam und immer etwas hintendrein; «die Letzten werden die Ersten sein» – das geht nicht immer auf, aber manchmal schon.