Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel - E-Book

Geschmackssache oder Warum wir kochen E-Book

Günther Henzel

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Beschreibung

Spätestens mit der Entstehung der Sprache vor etwa 100 000 Jahren gehörten vermutlich Nahrungsmangel und Krankheiten zu den zentralen Themen menschlicher Kommunikation. Daran hat sich bis heute fast nichts geändert. Das Attribut »gesund« im Zusammenhang mit Ernährung impliziert, dass es auch »ungesunde« Ernährungsformen gibt und stellt einen qualitativen Zusammenhang zwischen den Merkmalen unserer Nahrung und ihrer Wirkung auf unseren Organismus her. Bedenkt man, dass sich Homo sapiens seit Beginn seiner Existenz von Rohstoffen ernährt, die er entweder gejagt, gefischt oder gesammelt hat, dann kann sich gesund oder ungesund nur auf Inhaltsstoffe beziehen - wenn nicht direkt Gifte oder Verdorbenes gemeint sind. Die Diskussion darüber, wie viel Obst, Gemüse und Fleisch gut oder schlecht sind, hat heute eine gedankliche Dynamik entwickelt, die sich jeder empirisch abgesicherten Beweisbarkeit entzieht und sich von der Versorgungswirklichkeit und den tatsächlichen Gesundheitsrisiken so weit entfernt, dass sie den Charakter einer virtuellen Ernährungswahrheit angenommen hat. Um in dieser Frage eine Orientierung zu erlangen, ist es notwendig, sich wieder auf die natürlichen Prinzipien der Nahrungswahl und traditionellen Techniken des Kochens zu besinnen. Dank Millionen Jahre währender Evolution sind für Homo sapiens Aromen (Duft und Geschmack) die verlässlichsten sensorischen »Informationen« zur Unterscheidung von 'guter' und 'schlechter' Nahrung. Rezeptorreize der Nase und Zunge werden jedoch ohne kognitives Zutun erlebt - sie sind biologische 'Ratgeber' bei der Wahl und Zubereitung von Rohstoffen. Der Verstand lässt uns vorteilhafte Rohstoffe und deren Bearbeitungen erinnern. Dieses Buch untersucht Aspekte der Sensorik aus evolutionsbiologischer Sicht und fragt, woher die Sinne "wissen", was dem Organismus guttut, warum uns schmeckt, was uns schmeckt. Dazu werden für den Unterricht in Köcheklassen erprobte lehr-/lerntheoretische Ansätze vorgestellt.

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Seitenzahl: 624

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Impressum:

© 2020 Günther Henzel

Titelbild und Grafiken: Laura Münch Grafikdesign; www.laura-muench.de

Satz & Umschlagfertigstellung: Angelika Fleckenstein; Spotsrock

ISBN:

978-3-347-08866-5 (Paperback)

978-3-347-08867-2 (Hardcover)

978-3-347-08868-9 (e-Book)

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40–44

22359 Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

GÜNTHER HENZEL

GESCHMACKSSACHEoderWARUM WIR KOCHEN

Von der Wärmestrahlung des Lagerfeuers zur Kochkunst

Inhaltsverzeichnis

Vorwort und Einleitung

Inhaltsschwerpunkte

Teil I Ursprung und Entwicklung der Gartechniken

1 Zu den Anfängen der Nahrungszubereitung

1.1 Warum wir kaum etwas darüber wissen

1.1.1 Feuerstellen belegen die Anwesenheit von Menschen

1.1.2 Geschichte der Menschheit – von Australopithecus afarensis bis Homo sapiens

1.2 Die Begriffe »Garen« und »Kochen«

1.3 Was haben unsere Vorfahren gegessen?

1.4 Feuer – Schrecken und Segen archaischer Naturgewalt

1.5 Der Organismus überwacht, was gegessen wird

1.6 Natürliche Grenzen für die Beweisbarkeit der Kochanfänge

1.7 Ohne Sensorium kein Wohlgeschmack

1.8 Unspezifische Nahrungsvorzüge

1.9 Der Faktor Verstand

2 Lernfähigkeit befördert die Rohstoffbearbeitung

2.1 Verstandesleistungen und Gartechniken

2.2 Sensorische Qualitäten und Lernfähigkeit

2.3 Zur »Abkehr« vom natürlichen Nahrungsvorrat

3 Der lange Weg zum Kochhandwerk

3.1 Am Anfang war die Beobachtung

3.2 Von der Beobachtung zur Handlung

3.3 Der Fellverlust zwang zum Aufenthalt am Lagerfeuer

3.4 Der Faktor Wasser

3.4.1 Wasser macht quellfähige Rohstoffe weich und saftig

3.4.2 Wasser entgiftet

3.4.3 Wasser als Suspensionsmedium

3.4.4 Wasser als Fermentationsmedium

3.5 Wasser – die Wiege feuchter Gartechniken

3.5.1 Enzyme zerlegen große Moleküle mithilfe von Wasser

3.5.2 Dominanz der Hydrolasen

3.6 Membranfunktionen im Spiegel der Evolution

3.7 Nachtrag: Flüssiges »Brot«

3.8 Der Faktor 'Trocknung'

4 Feuer – Auslöser und Motor der Ernährungs(r)evolution

4.1 Feuer – von der Wärmequelle zur Kochstelle

4.2 Zuerst war das Bedürfnis nach Wärme

4.3 Vermutungen zur Entstehung erster Feuergartechniken

4.3.1 Die »Inferno-Hypothese«

4.3.2 Die »Zufällig-ins-Feuer-gefallen«-Hypothese

4.3.3 Aussagekraft der genannten Entstehungs-Hypothesen

4.3.4 Wärmestrahlung als Auslöser für Garaktivitäten

4.3.5 Die »Wärmestrahlen-Hypothese«

4.4 Der gezielte Einsatz von Feuer als «energetisches Werkzeug«

4.4.1 Feuer und Lernfähigkeit

4.4.2 Viele Tiere mögen hitzedenaturierte Nahrung

4.5 Das Sammeln – Rohstoffe »kommen zum Feuer«

4.5.1 Die Energiewirkung des Feuers mindert Verdauungsarbeit

4.5.2 Gefühlsbegleitende Effekte bei der Nahrungsaufnahme

4.6 Feuerwirkung auf pflanzliche Bestandteile

5 Älteste Gartechniken und was von ihnen geblieben ist

5.1 Vom direkten Feuergaren zum Garen in Gefäßen

5.2 Gefäße ermöglichen das Garen in Wasser

5.3 Von der Beobachtung zur Zubereitung – Übersicht

6 Nahrungszubereitung – Wiege der sprachlichen Kommunikation?

6.1 Allgemeines zur Sprachentwicklung

6.2 Faktoren sprachlicher Kommunikation

6.3 Zu möglichen Archetypen der Sprache

6.3.1 Ernährung und Sprachentwicklung – Versuch einer Beziehungsherleitung

6.3.2 Biologische Aspekte der Sprachentstehung

6.3.3 Sprachexperimente mit Schimpansen

6.4 Welcher »Ur-Impuls« war sprachauslösend?

6.4.1 Vom Laut zum Gemeinten

6.4.2 Motive zur Sprachbildung

6.4.3 Die Willensbekundung »Haben wollen«

6.5 Sprechen ordnet »Geben« und »Nehmen«

6.6 Naturvorgänge – sichtbare Zeichen eines unsichtbaren Akteurs

6.7 Resümee

Teil II Das Phänomen Wohlgeschmack

7 Betrachtungen über Sensorik und ihre evolutionären Hintergründe.

7.1 Zum Wohlgeschmack

7.2 Unsere Nahrung: Ein Kosmos chemischer Bausteine

7.3 Der Weg vom Groß- zum Mikromolekül

8 »Geschmack«: Ein archaisches Kontroll- und Erhaltungssystem

8.1 Zu den Anfängen der Reizerkennung durch Biomembranen

8.2 Weitere Überlegungen zu den Anfängen der Reizwahrnehmung

9 Die Veränderbarkeit der Rohstoffe ermöglicht Nahrungsvarianz und Schmackhaftigkeit

9.1 Grundlage allen Lebens: Essen und Trinken

9.2 Nahrungsmangel lässt den Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit erkennen

9.3 Woher »weiß« der Organismus, was 'gut' oder 'schlecht' für ihn ist?

9.4 Einordnung des bisher Betrachteten

10 Geschmackssache: Der »köstliche« Apfel

10.1 Geschmack und Düfte – nichts als Erregungsmuster im Gehirn?

10.2 Die Fähigkeit, die ‚richtige‘ Nahrung zu erkennen

10.2.1 »Nahrungswerte« – ein Spektrum von Empfindungen und Gefühlen

10.2.2 Ausgewählte »Akteure« und Mechanismen der Reizverarbeitung

10.2.3 Nahrungsbeschaffung setzt körperliche Aktivitäten voraus

11 Beispiele sensorischer und emotionaler Wirkungen von Nahrungskomponenten

11.1 Nahrungskomponenten, die auf unser Belohnungssystem wirken

11.2 Weitere Rohstoffbeispiele, die unser Belohnungssystem aktivieren

11.3 »Verweile doch! du bist so schön!« Die Wirkung von MAO-Hemmern

11.4 Beispiele für Rohstoffe und Verfahrenstechniken, die MAO-Hemmer enthalten oder erzeugen

Teil III Vom Rohstoff zur Speise

12 Rohstoffe – die Basis unserer Ernährung

12.1 Nahrungsrohstoffe im Spannungsfeld von Genuss, Ge- und Verboten, von Gesundem und Ungesundem

12.2 Die unbewusste »Suche nach dem noch besseren Geschmack«

12.3 Der Faktor »Verstand«

12.4 Die Attraktivität regionaler Zubereitungen

13 »Kochen« – das ubiquitäre Synonym für Nahrungszubereitung

13.1 Zum Begriff »Kochen« – semantische und technologische Bezüge

13.2 Nährwertaspekte

14 Das Zubereitungskorrektiv »schonend«

14.1 Was ist »schonend«?

14.2 Feuchte thermische Garverfahren

14.3 Trockenes thermisches Garen

14.4 Was bleibt vom »schonenden« Garen?

15 Die »Zubereitung« – das Kombinieren und Garen von Rohstoffen

15.1 Struktureigenschaften der Primärstoffe

15.2 Funktionen/Aufgaben der Sekundärstoffe

15.3 Quantitativer Ergänzungsbedarf der Primärstoffe

15.4 Pharmakologische Aspekte der Sekundärstoffe

15.5 Molekülgrößen und deren Erkennbarkeit auf der Zunge

15.5.1 Wahrnehmung von Geschmacksmolekülen

15.5.2 Der Zusammenhang von Sinneseindruck und Nährwert

16 Garziele

16.1 Beispiel eines feuchten Verfahrens

16.2 Trockenes Garen

17 Der Einfluss klimatischer und regionaler Bedingungen auf die Zubereitung

18 Die Geschmacksmodulatoren – Herzkammer der Kochkunst

18.1 Niedermolekulare Zucker – Komponenten des Wohlgeschmacks

18.2 Das Verlangen nach Süßem

18.3 Zucker

18.4 Salz

18.4.1 Weshalb Salz unseren Speisen ‚Fülle‘ gibt

18.4.2 Weitere Gründe des Nachsalzens

18.5 Säure

18.6 Bitter

18.7 Fett

18.8 »Umami« – das Geschmacks-Tandem aus Glutamat und Kernbausteinen

19 Vom Rohstoff zur Speise – handwerkliche Aspekte

19.1 Oberflächenvergrößerung

19.2 Beispiele aromatischer Optimierung durch Rohstoffkombinationen

19.2.1 Tatarzubereitung

19.2.2 Das sensorische »Ergänzungsparadox« am Beispiel der Rotkohlzubereitung

19.2.3 Sekundäranteile der Rotkohlzubereitung

19.2.4 Ablöschen

20 Die Soße – eine verkannte Speise

20.1 Variation, Verwendung und Funktion der Soßen

20.2 Die Mehlbindung »Roux« und »Beurre manie«

21 Die Fleischdominanz in der Menüplanung

21.1 Abhängen

21.2 Reifungsvorgänge am Beispiel von Rindfleisch

21.3 Der optimale Reifepunkt

22 Der süße ‚Nachtisch‘ – das feine Dessert

23 Welche Rohstoffe ‚eignen‘ sich zur Süßspeisenherstellung?

Teil IV Nahrungszubereitung als Unterrichtsgegenstand

24 »Primär-/Sekundärstoff(e)« – lehr-/lerntheoretische Kategorien der Nahrungszubereitung

24.1 Aspekte der »Verstehenstiefen« von Sachthemen – Unterrichtsbeispiele

24.2 Didaktische Aspekte der »Primär-Sekundärstoff-Hierarchie«

24.3 Biologische Aspekte der Sekundäranteile am Beispiel der Blattsalatzubereitung

24.4 ‚Erkenntnisförmiger‘ Unterricht am Beispiel einer Rotkohlzubereitung

24.4.1 Unterrichtsvoraussetzungen

24.4.2 Unterrichtsverlauf – Einstieg

24.4.3 Unterrichtsverlauf Phase II

24.4.4 Unterrichtsverlauf Phase III

24.4.5 Weitere Beispiele für die aromatische »Passung« bzw. »Nichtpassung« von Sekundäranteilen

24.4.6 Natürliche Antipoden: »Lockstoffe« versus »Kampfstoffe«

24.4.7 Regelabweichungen vom »Primär-/Sekundärsystem« am Beispiel Obstsalat

25 Einordnung des exemplarischen Unterrichts in die ‚Welt der Zubereitungen‘

25.1 Zubereitungsweisen auf anderen Kontinenten

25.2 Fazit und unterrichtliche Perspektiven

Nachtrag in eigener Sache

Danksagung

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Index

Vorwort und Einleitung

Nicht der Verstand entscheidet darüber, was uns schmeckt und unserem Organismus guttut, sondern unser Sensorium. Das, was wir als appetitlich und schmackhaft bezeichnen, sind die bewusst erlebten Wirkungen molekularer Bestandteile der Nahrung. Diese Geschmackseindrücke sind die gefühlten, sensorischen »Informationen« über die Qualität des Essens. Sie werden in der Regel erinnert. Diese Fähigkeit, den »Nahrungswert« bereits im Mundraum zu erkennen, ist das Ergebnis einer evolutionären Entwicklung, die vor Milliarden Jahren mit der Reizerkennung an den Membranen einzelliger Organismen begann. An der Wahrnehmung vorteilhafter Nahrung – wenn wir schmecken und fühlen – ist der Verstand nicht beteiligt.

In der Regel verzehren wir Nahrungsrohstoffe nicht naturbelassen, sondern zubereitet. Diese von uns selbst hergestellten Produkte sind physiologische Rohstofftransformationen, die unserem Organismus Ernährungsvorteile bringen. Dabei steuern und verstärken die im 'Nahrungsgedächtnis' abgelegten sensorischen Werte für »gute molekulare Zusammensetzungen« unsere Handlungsziele. Bei der Herstellung dieser Geschmacksqualitäten hat der Verstand lediglich die Funktion eines 'Erfüllungsgehilfen', der die Anteile und Prozessschritte kennt und in Handlungen umsetzt. Was wir als »Kochen« bezeichnen, ist damit eine »Teamleistung« von Sinn und Verstand – von sensorischer Kontrolle und Anwendung erlernter Fertigkeiten (die Kenntnisse voraussetzen). Die Genusswerte einer Zubereitung sind daher die Leistung dieses Tandems. Ihr breites sensorisches Spektrum belegt sowohl unseren Bedarf an Nahrungsvielfalt als auch die Varianz genetisch begründeter Geschmacksvorlieben.

Mit dem Einsatz von Feuer als Garwerkzeug vor etwa 2 Millionen Jahren setzten die Vorfahren des modernen Menschen eine Ernährungs(r)evolution in Gang, die Rohstoffe durch Gar- und Kombinationstechniken entgiftete, leichter verdaulich, bekömmlicher und schmackhafter machte. Diese physiologischen Hintergründe, die das Zubereitungssystem Kochen begründen, sollten Fachleuten, den Köchen, bekannt sein. Deshalb gehörten diese evolutionären und sinnesphysiologischen Inhalte auch in den Unterricht von Kochauszubildenden. Sie sind Teil der theoretischen Grundlagen für einen fachlich mündigen Experten der Nahrungszubereitung. Letzteres wird in Kapitel III an verschiedenen Zubereitungsbeispielen betrachtet, die exemplarisch für das »innere System« der Rohstoffkombination stehen.

Will man die Bedingungen für den vor etwa zwei Millionen Jahren begonnenen Ernährungswandel unserer homininen Vorfahren rekonstruieren, kommen derzeit nur zwei Wissensbereiche in Frage, denen wir hierzu brauchbare Angaben entnehmen könnten: Zum einen sind das neuere Erkenntnisse zur prähistorischen Entwicklung des Menschen (seiner Urgeschichte) und zum anderen die Ernährungsweisen heute lebender indigener Populationen. Letztere garen Rohstoffe z. B. mit erhitzten Steinen in Erdmulden – eine Technik, die uns einen Blick weit zurück in die Anfänge des Garens und Zubereitens erlaubt. Da man Zubereitetes (gezielt kombinierte Nahrungskomponenten) aus Zeiten, in denen Homo erectus lebte, nicht mehr ausgraben und analysieren kann (GOREN-INBAR 2014),1 bleiben für die Rekonstruktion dieser Aktivitäten im Wesentlichen nur Hypothesen und plausible Deutungen.

Auch lässt sich nicht mehr im Nachhinein erforschen, wann und warum die Vorläufer von Homo sapiens angefangen haben, Rohstoffe am Lagerfeuer zu rösten, und neue sensorische Präferenzen entwickelten. Ebenso wenig wissen wir etwas über ihre mentalen Fähigkeiten und Motive, dies zu tun. Hinzu kommt, dass solche gravierenden Nahrungsmanipulationen nicht auf isolierte, monokausale »Ursache-Wirkung-Sachverhalte« zurückgeführt werden können: Sie sind das Resultat sich wechselseitig bedingender molekularbiologischer, sensorischer, epigenetischer, klimatischer und kognitiver Faktoren. Offen bleibt in diesem komplexen synergistischen Geschehen, was Ursache und was Folge war. Auch besteht bei der Rekonstruktion von zeitlich weit zurückliegenden Ereignissen die Gefahr des Präsentismus – des Hineinlesens der Gegenwart in die Vergangenheit, um dann wiederum aus der Vergangenheit die Gegenwart zu erklären.

Schließlich wird es in Kapitel IV um die unterrichtliche Umsetzung dieser Inhalte nach lehr-/lerntheoretischen Gesichtspunkten gehen. Die Schüler sollen nicht nur wissen, sondern auch verstehen, warum sie Rohstoffe so bearbeiten, wie sie es tun. Erst diese grundlegenden Einsichten lassen Schüler jene Faktoren erkennen, die zur größten kulturellen Errungenschaft der Menschheit geführt haben: zur Kochkunst.

Inhaltsschwerpunkte

Zu Teil I

Obwohl sich die anthropologische Forschung auch mit Ernährungsaspekten im Laufe der menschlichen Stammesgeschichte (Hominisation) befasst,2 wird die Frage, warum die Vorläufer des modernen Menschen zum Coctivor,3 »den kochenden Menschen«, wurden, nicht untersucht (POLLMER 2007). Die Anfänge und Entwicklungen von Zubereitungsverfahren, die unsere modernen Kochtechniken begründen, liegen nach wie vor im Dunkeln. Für das, was unsere Urahnen gegessen haben, gibt es zwar Hinweise (HART 2015), (HIRSCHBERG 2013), (STRÖHLE 2008), nicht aber für die Auslöser ('den inneren Impuls') ihrer Ernährungsumstellung. Selbst indigene Kulturen, die ihr Essen in Glut, auf heißen Steinen (in Erd-/Garmulden), in heißem Sand und heißer Asche garen, verfügen bereits über diese Gartechniken. Was sie antrieb, ihre Nahrung auf diese Weise zu bearbeiten, wissen wir nicht. Zwischen der Entwicklung erster Steinwerkzeuge (Altsteinzeit)4 und der 'Garmuldentechnik' besteht eine unbekannte Entwicklungsphase von mehr als einer Million Jahren.

Vieles spricht dafür, dass die Vor- und Frühmenschen (Australopithecinen / Homo erectus) parallel zur Steinwerkzeug-Entwicklung Rohstoffe gezielt bearbeitet haben. Homo heidelbergensis, der vor etwa 600 000 Jahren gelebt hat, kannte vermutlich bereits Feuergartechniken, die der archaische Homo sapiens (vor etwa 200 000 Jahren) mit seiner größeren Verstandesleistung weiter verfeinerte. Komplexe Kochtechniken, in denen verschiedene Rohstoffe gleichzeitig (und dosiert) gegart wurden, hat vermutlich erst der moderne Mensch erfunden – Homo sapiens, der vor etwa 70 000–40 000 Jahren Europa besiedelte. Im Zuge der Sesshaftwerdung (im fruchtbaren Halbmond vor etwa 10 000 Jahren)5 erlangten Gartechniken jene Kulturstufe, die wir heute als »Kochen« bezeichnen. Ackerbau und Viehzucht, neue Nutzpflanzen und Lagertechniken und die Verfügbarkeit von Rohstoffen im Wechsel der Jahreszeiten führten schrittweise zu einer Kultur der Nahrungszubereitung, deren Existenz uns heute als etwas Selbstverständliches, als »schon-immer-zum-Menschen-Gehörendes« erscheint.

Die Anfänge der Gartechniken gehen weit in die Entwicklungsgeschichte der Frühmenschen zurück (beginnend vermutlich bei Homo erectus / Homo ergaster) (HOFFMANN 2014)6 und stehen auch mit Verstandesleistungen in Zusammenhang, die diese zur Herstellung von Werkzeugen und Erhaltung von Feuerstellen befähigten. Obwohl unsere nächsten Verwandten, Schimpansen und Gorillas, vielfältige Rohstoffbearbeitungen kennen, haben sie keine Gartechniken entwickelt. Das tat nur jene Tribus,7 (LEWIN 1995) die hin zu Homo sapiens führt (die Hominini). Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer davon liegt vermutlich auch in der Handanatomie des Menschen: Dieser kann seinen Daumen zu den anderen Fingern in Opposition bringen (Opponierbarkeit), Menschenaffen können das nicht. Dieser anatomische Vorteil ermöglichte einen präziseren Einsatz der Finger (Pinzettengriff), förderte die Entwicklung von Fertigungsgeschick und trug u. a. auch zur Entwicklung des Gehirns bei, da jede Handleistung eine neuronale Verschaltungsstruktur voraussetzt. Auch

Zielgerichtetes Vor- und Zubereiten setzt geistige Leistungen voraus, da komplexere Arbeitsschritte eine zeitliche Abfolge haben, die entsprechend (vor)bedacht sein muss – ebenso muss das Garziel bekannt sein. Da kognitive Leistungen auch im Verhältnis vom Gehirnvolumen zur Körpergröße stehen, hatte Homo erectus mit seinen anfänglichen 650 cm3 (später bis 1250 cm3) im Verhältnis zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, deutlich mehr Hirnmasse (ROTH 2010). Deren Gehirn wiegt nur etwa 400 Gramm.9 Die Zunahme der Gehirngröße bei Homo erectus wird vor allem mit dem vermehrten Verzehr von Fleisch und gekochter Nahrung begründet (WRANGHAM 2009), wodurch insbesondere mehr Energie und Baustoffe (HOFFMANN 2014)10 u. a. für das Gehirnwachstum im Mutterleib zur Verfügung standen. Auch benötigt das große Gehirn von Homo erectus (neben Eiweiß und Fetten) mehr Energie (etwa 20 bis 25 % bereits im Ruhemodus), die bei roher Pflanzen- und Früchtenahrung nur durch beständiges Essen gedeckt werden kann (WRANGHAM 2009). fördern feinmotorische Herausforderungen und Übungen das Nervenwachstum im Hippocampus (ROTH 2010),8 da hierbei stets mehrere Sinne (neben dem Tastsinn u. a. auch der Seh- und Gehörsinn) involviert sind.

Die Anfänge der Rohstoffbearbeitungen: Mittels Steinwerkzeugen (Oldowan) (LEAKEY; LEWIN 1986)11 werden Schädelkalotten und Röhrenknochen geöffnet und Fleisch von Knochen abgetrennt – Tätigkeiten, die der Nahrungsbeschaffung dienen. Die ersten gezielten Rohstoffbearbeitungen entwickelten sich vermutlich aus Beobachtungen im Umgang mit Wasser, wozu vor allem Reinigungseffekte (Entfernung von Erdanhaftungen) und Quellvorgänge gehörten. Umgekehrt führte die Abwesenheit von Wasser auch zu bedeutsamen Veränderungen: Rohstoffe, die bei Lagerung nicht verdarben, wurden trocken und fest und bekamen ein intensiveres Aroma. Legte man solche getrockneten Teile ins Wasser, gingen durch Auslaugung Aromakomponenten in das Wasser über. Insbesondere getrocknete Pflanzen oder Pflanzenteile (vermutlich die Vorläufer der Gewürze) bewirkten eine Wasseraromatisierung – ein für den frühen Menschen völlig neues Geschmacksphänomen. Allerdings setzte diese Technik die Verwendung von Wasserbehältnissen (natürliche Hohlgefäße, Holztröge) voraus. Die (viel) später (im »Präkeramischen Neolithikum«) erfundenen Lehm-/Tongefäße (Töpferware) vor etwa 12 000 Jahren wurden zu den ersten Hauptgerätschaften der Küche.

Die Fähigkeit, Feuer, Glut und heiße Steine zum Rösten und Hitzegaren einzusetzen, wurde zum Fundament, zur Wiege der Garverfahren. Zunächst waren Lagerfeuer (die nach dem Fellverlust als Wärmequellen in kalten Nächten dienten) der Ort abendlicher Zusammenkünfte. Die Wärmestrahlung wirkte auf am Feuer gelagerte (enthäutete) Jagdbeute umso stärker, je dichter diese an der Glut lag. Auf diese Weise denaturierte und röstete das Fleisch an der dem Feuer zugewandten Seite (ein 'Kollateralschaden' des Lagerfeuers). Offenbar schmeckten diese Teile besser, sodass vermutlich große Fleischstücke gezielt näher an die Glut platziert wurden. Damit wurde das Rösten zum ersten thermischen Verfahren. Das zweite (das Garen in Gefäßen – Garen in Wasser) ist entwicklungsgeschichtlich viel später hinzugekommen. Beide Techniken gehören heute zu unseren Standardverfahren (Basistechniken) (MICHAILOVA 2019 u. MILICA 2017).12 Gleichzeitig entstand mit der Feuergartechnik auch die Möglichkeit, neue, unbekannte sensorische Qualitäten zu erzeugen, sobald verschiedene Rohstoffe gleichzeitig in der Glut garten (z.B. in Blättern eingerollt, mit Lehm oder Ton umhüllt oder mit wasserhaltigen aromatischen Krautgewächsen bedeckt, dazu auch Wikipedia: Erdofen)

Mit der Entdeckungmedizinisch wirksamerRohstoffe (Heilpflanzen) wurde das tägliche Essen zugleich auch zur Heilnahrung, mit der Erkrankungen oder körperliche Beschwerden beseitigt bzw. gelindert werden konnten. Eine Mahlzeit sollte nicht nur satt machen, sondern auch die Gesundheit bewahren und das allgemeine Lebensgefühl verbessern. Damit war und ist jede Nahrung immer auch Medizin (Ansatz der traditionellen chinesischen Medizin 'TMC'). Aus ihrem Erfahrungswissen über die Wirkung der Rohstoffe auf den Organismus entwickelten die Menschen Zubereitungsregeln, die sorgsam gehütet und mündlich von Generation zu Generation als »Mixturen zur Gesunderhaltung« weitergegeben wurden. Sie sind die Vorläufer der Rezepte, die in älteren Kochbüchern mit der Aufforderung beginnen: »Man nehme« (von lat. recipe), das den ursprünglichen »heilenden« Hintergrund (später die Anweisung des Arztes an den Apotheker) noch erkennen lässt.

Zur Sprach- und Kochentwicklung: Beide Entwicklungen verbinden vermutlich Sachverhalte, die sich wechselseitig befördert haben. Die unterschiedlichen »Wirkungen« der Rohstoffe (das, was sie im/am Körper tun) und die genaue Beachtung der Verfahrensschritte wären ohne Sprache – ein in Lautsymbolen überführtes Erfahrungswissen – nicht memorierfähig. Sicher können Tätigkeiten auch durch Nachahmung (Emulation, Imitation) 'erlernt' werden – dazu bedürfte es keiner sprachlichen Memorierung. Spätestens aber, wenn es um ein Fertigungssystem geht, dessen Prozessschritte und Ingredienzien bekannt sein müssen (Verfahren, die sich erst durch unzählige trial and error-Erfahrungen als zweckmäßig erwiesen haben), lässt sich dieses Wissen nur durch ein Wortsystem bewahren und weitergeben. Vieles deutet darauf hin, dass unser Wortschatz mit der Erweiterung des Rohstoffspektrums und der Entwicklung von Zubereitungstechniken erst seinen entscheidenden Schub erhielt.

Zu Teil II

Das Phänomen Wohlgeschmack setzt komplexe neurobiologische Prozesse und Gehirnleistungen voraus, die auf elementare Reizverarbeitungen archaischer Einzellermembranen zurückgehen. Im Urmeer entwickelten kleinste Biosysteme (Pro- und Eukaryoten) erste physikalische und chemische Kontaktstellen, mit denen sie 'Informationen' über ihre Umgebung erlangten, die so für sie 'erkennbar' wurde. Nahrungsmoleküle wurden (und werden) an Membranrezeptoren nach einem 'Schloss-Schlüssel-Prinzip' erkannt, das sich im Laufe der Evolution von reinen Ionenkanälen zu komplexen Andockstellen (G-Protein-gekoppelte Rezeptoren) entwickelt hat. Sobald hier ein passgenaues Molekül andockt, werden komplexe Reizweiterleitungskaskaden ausgelöst (Signaltransduktionen, Bildung sekundärer Botenstoffe), die im Biosystem zu spezifischen Reizantworten führen. Große Organismen verarbeiten diese Rezeptor-Informationen in einem Gehirn. Vermutlich deshalb, weil sich dort in zig Millionen Jahren Evolution ein neuronales Netzwerk gebildet hat, in dem alle relevanten physikalischen und chemischen Energieformen der Außenwelt (Schall, elektromagnetische Wellen, Ionen u. a.) als aktivierbare, biologisch äquivalente (im 'Ruhemodus' befindliche) Erregungsmuster präsent sind. Sie liegen in spezifischen Kerngebieten (die mit anderen Hirnarealen verbunden sind), in denen entsprechende Erregungszustände ausgelöst werden, sobald sie Rezeptorsignale erreichen. Nach diesem (vermuteten) Modell funktioniert das Gehirn wie ein »Energiewert-Erkennungssystem«, das die im Außenreiz liegenden kinetischen und physikalisch-chemischen 'Informationen' (Energiezustände) in biologisch adäquate Erregungen überführt. Diese Fähigkeit, Außenwelteigenschaften in ein neuronalen Netzwerk einzubetten – als biologisch adäquate Energiezustände – hat in Milliarden Jahren jenes Reizverarbeitungsorgan hervorgebracht, das wir Gehirn nennen. Deshalb können wir Reize mit den sie auslösenden Ursachen (Energieformen) identifizieren. Da alle äußeren Reize mit Empfindungen, Gefühlen und Emotionen gekoppelt sind, verfügt der Organismus über eine weitere Orientierung (ein Bewertungssystem), die unser Meiden und Wollen begründet. Bezogen auf die sensorische Qualität der Nahrung bedeutet das: Der Organismus 'weiß bereits', was er isst und was ihm bekommt.

Der Geschmack des Essens wird individuell erfahren. Er ist vom Klima, der Region und dem Kulturkreis geprägt. Nördlichere Erdregionen erfordern Nahrung mit höherer Energiedichte, und dort geerntete Produkte unterscheiden sich deutlich von landwirtschaftlichen Erzeugnissen Afrikas oder Asiens, weil Böden und Wetterverhältnisse anders sind. U. a. deshalb enthalten vergleichbare Rohstoffe unterschiedliche Inhaltsstoffe und sind geschmacklich verschieden. Die Prägung auf diesen Nahrungsvorrat, die bereits im Mutterleib beginnt, führt zu individuellen Geschmacksvorlieben.

Die Möglichkeit, aus einzelnen, geschmacklich überwiegend unattraktiven Rohstoffen – und das trifft auf die meisten Nahrungskomponenten zu – durch Kombination und Gartechniken schmackhaftes Essen herzustellen, erweist sich für den Menschen als Glücksfall. Tierische und pflanzliche Großmoleküle sind u.a. hitzelabil und lassen sich sensorisch gezielt verändern. Damit ist die 'Zunge' die alles entscheidende Instanz – und nicht der »Kochtopf«! Er aber ist die notwendige Voraussetzung zur Herstellung dieser von uns (vom Organismus) gemochten Zubereitungen.

Heute wissen wir, dass das 'Erfolgserleben', das Gefühl, ein Ziel erreicht zu haben, über neuronale Schaltkreise mit dem Belohnungszentrum im Gehirn (Nucleus accumbens)13 gekoppelt ist. Offenbar war (und ist) die Möglichkeit, den Genusswert von Rohstoffen zu verbessern, ein starkes intrinsisches Motiv, Zeit und Arbeit zu investieren. Da weltweit und in allen Kulturen gekocht wird, muss das mit verbesserten Ernährungswerten und weiteren physiologischen Vorteilen verbunden sein, sonst hätten sich diese Verfahren nicht durchgesetzt und bewahrt. Genuss- und Nährwert sind daher weder beziehungslos, noch zufällig, sondern gekoppelte Sachverhalte, die der Organismuserfahren und erinnern kann. Vermutlich ist aus diesem »Körperwissen« das immerwährende Suchen nach Wohlgeschmack erwachsen, das die nahezu unbegrenzte Vielfalt der Nahrungszubereitung – die Kochkunst – begründet.

Zu Teil III

Vom Rohstoff zur Speise betrachtet das »innere System der Zubereitung«, das jede Rohstoffkombination und Gartechnik begründet. Es ordnet Verfahrensschritte und Zubereitungsoptionen in Abhängigkeit von Rohstoffmerkmalen und -anteilen. Die Technik, Nahrungskomponenten bereits 'außerhalb des Magens' zu kombinieren, ermöglicht, auch jene Anteile in relevanten Mengen zu verzehren, die allein eher ungenießbar wären (z. B. Essig, Salz, Schmalz, Talg, Kräuter und Gewürze). Diese Komponenten verbessern nicht nur den Nährwert, sondern erfüllen vielfältige verdauungsfördernde und pharmakologische Aufgaben (WATZL 1995).

Neben technologischen Aspekten werden auch Techniken der Genusswerthebung betrachtet, die (bisher) allgemein auf das fachliche Können des Kochs zurückgeführt werden. Doch wer oder was befähigt den Koch, mit unterschiedlichen Rohstoffen (allesamt Produkte der Fotosynthese und/oder im Tiermetabolismus entstandene Biosubstanzen) sensorische Qualitäten zu erzeugen, die die einzelnen Rohstoffe alleine nicht haben? Offenbar lassen sich organische Stoffe wie Elemente eines Baukastensystems nahezu beliebig kombinieren. Bei 'richtiger' Dosierung und gekonnter Zubereitung regen diese Kreationen unsere Sinne an und lassen uns genussvolle Momente erleben. Dieser Sachverhalt weist auf die Bedeutung des menschlichen Sensoriums für Zubereitungsziele hin.

Zu Teil IV

Die Begriffe Primär- und Sekundärstoffe sind lehr-/lerntheoretisch begründet. Sie sollen Schülern ermöglichen, das »System der Zubereitung« – seine Regeln und Bedingungen im Umgang mit Rohstoffen – auch theoretisch zu erfassen und zu begründen. Die Begriffe kategorisieren und ordnen Rohstoffe jeweils nach ihren »Funktionen« innerhalb einer Speisenherstellung – der gezielten Kombination verschiedener Komponenten. Der in klassischen Rezeptvorgaben gebräuchliche Begriff »Zutaten« verblindet den Kerngehalt der Zubereitung: die Vermischung von tierischen und pflanzlichen Rohstoffen (= Biomolekülen), die in der Regel durch Kochsalz Geschmacksfülle erhalten. Des Weiteren ist theoretisch bedeutsam, dass (meist) aromatisch wenig ansprechende Rohstoffe mit geschmacklich ebenfalls unattraktiven Rohstoffen kombiniert werden und in dieser neuen Einheit 'wie von Zauberhand' unseren Genusswünschen entsprechen. Ein »aromatisches Paradox« oder »sensorisch inverses« Phänomen, das Schüler erst realisieren müssen.

Die vielfältigen Funktionen der Rohstoffe innerhalb einer Zubereitung (Anteile und Mengen) ergeben sich aus ihren stofflichen und aromatischen Eigenschaften. Dabei geht es im Kern um die Herstellung einer »vom Organismus gewollten« sensorischen Qualität – einem biologischen Mosaik aus evolutionären, genetischen, kulturellen und individuellen Komponenten. Schon deshalb ist die Kombination von Primärstoff und Sekundäranteilen nicht beliebig, sondern gehorcht Regeln der sensorischen 'Passung' und weiteren pharmakologischen und ernährungsphysiologischen Zwecken, die auch einen jahreszeitlichen Bezug haben. Beispielsweise müssen Sekundäranteile eine stofflich-aromatische Nähe zum Primärstoff haben, wenn sie sensorisch 'passen', seinen Eigengeschmack betonen und verbessern sollen. Die Ergänzung eines Obstsalates mit einer Fruchtsäure- und Zuckerkomponente hat u. a. hier ihre sensorische Begründung. Dieser übergreifende Sachverhalt lässt sich im Unterricht theoretisch betrachten und bewerten. Vor diesem Hintergrund wird Zubereitung zum theoretischen und praktischen Experimentierfeld, das den menschlichen Organismus mit seinen individuellen Bedürfnissen, Empfindungen und Gefühlen in den Mittelpunkt stellt.

Auch lassen sich die in der Speisekarte genannten Angebote anhand der Primär- und Sekundärstoff-Systematik definieren, die von der kleinsten Einheit der Zubereitung (der Speise) ausgeht. Alle weiteren gastronomischen Produkte, wie Gericht, Menü etc. sind danach systematisierte Speisenkombinationen.

1 In Gesher Benot Ya'aqov (Israel) – übersetzt: „Brücke der Töchter Jakobs“ – wurden 790 000 Jahre alte verbrannte essbare Pflanzen, wie Oliven, wilde Gerste und wilde Trauben gefunden; dazu: GOREN-INBAR. M.: Die acheulische Stätte von Gesher Benot Ya'aqov, Israel: Umwelt, Homininkultur, Lebensunterhalt und Anpassung am Ufer des Paläo-Hula-Sees

2 Paläoanthropologen können anhand der Fossilgeschichte die Herkunft des Menschen zurückverfolgen und Entwicklungsverläufe hin zum aufrechten Gang, der Vergrößerung des Gehirns und der Verkleinerung des Kauapparates erklären. Ihre Annahmen stützen sich weitestgehend auf Indizien und Vermutungen, die nicht selten durch neue Funde und immer öfter auch aufgrund genetischer Erkenntnisse korrigiert werden müssen. Ernährung wird nur im Hinblick auf Rohstoffe, nicht aber deren Garerzeugnisse betrachtet. Aktuell werden Fragen einer »Paleo-Ernährung« (Steinzeit-Diät) unter dem Aspekt präventiv medizinischer Relevanz diskutiert.

3 Von lat. coctum: das Gekochte; abgeleitet von coquere: kochen, sieden, backen, braten, fermentieren, zubereiten; dazu auch coquus: Koch. Das deutsche Wort leitet sich ebenso davon ab wie das englische »to cook«: a. a. O.

4 Der Begriff Altsteinzeit ist an den Beginn der ersten Steinwerkzeuge gekoppelt, die in Afrika vor etwa 2,5 Millionen Jahre begann.

5 Das 'mondsichelförmige' Winterregengebiet zwischen Israel und Iran

6Homo erectus, »aufgerichteter Mensch«, lebte sowohl in Afrika (1,9 Mio. bis 500 000 Jahre) als auch in Asien (1,9 Mio. bis 27 000 / 12 000 Jahre). Aufgrund morphologischer Unterschiede bezeichnen Paläoanthropolgen den frühen afrikanischen Homo erectus als Homo ergaster (»Handwerker«); die asiatische und die europäische Form wird weiterhin als Homo erectus bezeichnet; im Folgenden wird die Bezeichnung Homo erectus gewählt

7 Der Zweig der Hominini (Unterfamilie der Hominiden), der zum modernen Mensch führt

8 Zählt zu den evolutionär ältesten kortikalen Strukturen des Gehirns, in denen Informationen verschiedener sensorischer Systeme zusammenfließen; Vergrößerungen im Hippocampus sind vielfach nachgewiesen, u.a. aufgrund sensomotorische Übungen / Erfahrungen (etwa beim Klavierspielen); ebenso zwischen bestehenden Nervenzellen (synaptische Plastizität), was den Erwerb neuer Gedächtnisinhalte befördert

9 Da Hirn etwa die Dichte von Wasser hat, entspricht das Volumen ungefähr der Masse in Gramm

10»Ein wachsendes Denkorgan muss ausreichend mit bestimmten 'Schlüsselfettsäuren' versorgt werden, damit überhaupt neues Gehirngewebe entstehen kann:(…) langkettige, vielfach ungesättigte Verbindungen: Docosahexaen- und Arachidonsäure (DHA und AA). Der Säugetier-Organismus kann sie nur begrenzt durch Umbau aus anderen Substanzen herstellen – also muss er sie über die Nahrung aufnehmen«; L. CORDAIN; in: HOFFMANN 2014, S. 162,163

11 Mit der Oldowan-Kultur wird die archäologisch älteste Steinwerkzeugkultur bezeichnet, die vor etwa 2,5 Millionen Jahren begann. Der Name ist von den Funden aus der Olduvai-Schlucht (Ostafrika) abgeleitet

12 Erste aufwändige Zubereitungen und Rezepturen mit vielfältigen Rohstoff- und Gewürzanteilen sind aus Persien überliefert – einige Tausend Jahre vor der christlichen Zeitrechnung

13 Der Nucleus accumbens, eine Kernstruktur im unteren (basalen) Vorderhirn, spielt eine zentrale Rolle im mesolimbischen System, dem »Belohnungssystem« des Gehirns, sowie bei der Entstehung von Sucht (ROTH 2014; S. 73, 75)