Geschwistergift - Eleonore Christiansen - E-Book

Geschwistergift E-Book

Eleonore Christiansen

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Beschreibung

Aus dem Urlaub zurück bemerkt die älteste Tochter im Telefongespräch das schlechte Befinden ihrer Mutter in Norddeutschland. Der Bruder und die jüngere Halbschwester helfen ihr vor Ort, die ältere Schwester hält den telefonischen Kontakt von Bayern aus. Eines Tages bricht ihr Telefonkontakt zur Mutter völlig unerwartet ab. Das Testament und die Patientenverfügung der Mutter werden dem Bruder und der Halbschwester vor Ort offenbart. Ein Wendepunkt. Scheinheilig erfüllen sie der hilflosen Mutter jeden Wunsch. Langsam erkennt die ältere Schwester die Spur der Erbschleicherei. Wie kann sie ihren Kontakt zur Mutter wieder herstellen? Hat die Sterbenskranke ein neues Testament verfasst? Aus der Ferne fasst sie einen beherzten Entschluss. Es bleibt wenig Zeit, diese Verwicklungen aufzuklären, denn der Gesundheitszustand der geliebten Mutter wird von Tag zu Tag schlechter...

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Eleonore Christiansen

Geschwistergift

Wer Unrecht sät

Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf Faktizität, obwohl realistische Abläufe beschrieben werden, die es so oder so

ähnlich geben könnte.

Impressum

Juni 2019

Copyright © Eleonore Christiansen

c/o Impressum-Service, Dr. Lutz Kreutzer, Hauptstraße 8

83395 Freilassing, [email protected]

Druck: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Lektorat: Dr. phil. Barbara Raschig

Coverdesign: Annabella Weiß, Maison Misch Masch

Foto: Jonathan Willis, Unsplash

Für Jutta

Das Fest der Liebe

Wieder einmal steht Weihnachten vor der Tür. Und wieder überlegt natürlich alle Welt, was wer plant und wie das perfekte Weihnachtsfest aussehen soll. Ich erinnere mich an einen Werbespot, der vor einiger Zeit im Fernsehen gesendet wurde: Ein älterer Herr verschickt zu Weihnachten seine eigene Todesanzeige und lädt zum Leichenschmaus ein. Tatsächlich versammelt sich daraufhin die ganze Familie im Hause des sonst alleinlebenden und einsamen Seniors, völlig überrascht, dass er gar nicht gestorben ist. Er hatte diesen Trick angewandt, um sicher zu sein, dass sich seine ganze Familie mit Enkeln zum Fest der Liebe bei ihm einfinden würde …

Bei meiner Mutter verhält es sich so: Ihr Sohn lebt mit Kindern ungefähr zwei Minuten Autofahrt von ihr entfernt. Seine Einladungen zum Fest lehnt sie stets freundlich ab, mit der Begründung, es sei ihr zu laut, wenn so viele durcheinandersprechen. Sie hat etwas zu kämpfen mit ihrer Schwerhörigkeit, daher ist es in den vergangenen Jahren immer schon ein Problem gewesen, wenn viele Personen in einem größeren Zimmer gleichzeitig reden. Das Weihnachtsprogramm ihrer jüngeren Tochter – meiner Halbschwester – steht auch schon seit langem fest. Dieses Jahr ist eine Reise in ein 5-Sterne-Traumhotel in eine von Wolkenkratzern geprägte Stadt an der Ostküste der USA gebucht – ein lange gehegter Wunsch, den sie sich nun endlich erfüllen kann, da ihr recht vermögender Vater im vorletzten Jahr verstorben ist und sie ihr Erbe angetreten hat. Also kümmern meine Tochter und ich uns wie eigentlich jedes Jahr um Mami und besuchen sie an Weihnachten in der beschaulichen Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Die beiden Jahre zuvor hatte sie es sogar geschafft, für die Festtage zu uns nach München zu reisen. Diesmal aber sei sie zu schwach und wolle lieber in ihrem Zuhause feiern – ein Wunsch, den meine Tochter und ich ihr gerne erfüllen. Somit steht also auch unser Plan: Meine Tochter und ich reisen zum Fest zu Mutter und Oma. Es soll ein gemütlicher und lukullischer Heiligabend werden, wir haben Fisch und Austern eingekauft, und wir wollen es uns gut gehen lassen. Natürlich habe ich dafür gesorgt, dass es viele kleine Geschenke zum Auspacken gibt, und jede von uns eine kleine Freude hat. Nur ich bekomme diesmal nichts von meiner Mutter geschenkt. Das irritiert mich, und ich finde zunächst keine Erklärung dafür. Aber das Festmahl schmeckt vorzüglich, und meine Mutter sitzt entspannt und zufrieden in ihrem Sessel, überglücklich, dieses Fest mit uns feiern zu können. Für mich bedeutet dies die größte Freude des Weihnachtsfestes.

Erst am späteren Abend traue ich mich, sie zu fragen, warum sie denn nicht einmal eine Kleinigkeit, wie sonst eigentlich jedes Jahr, für mich vorbereitet habe, und sie entgegnet: „Du hast schon meinen ganzen Schmuck bekommen!“

Ich bin perplex über diese Bemerkung. Auch meine Tochter ist erstaunt, die diese Worte nebenbei mitbekommen hat. Ich erwidere etwas irritiert, dass ich überhaupt keinen Schmuck von ihr bekommen hätte, sie irre sich. Ich gebe zu, nach all dem, was ich vorbereitet hatte für diesen besonderen Abend, ist das schon eine ziemliche Ohrfeige. Ich kann mir das einfach nicht erklären. Was ist denn bloß los mit ihr? Auch meiner Tochter fällt ihre aggressive Art auf, die wir beide von ihr bisher nicht kannten und uns auch nicht erklären konnten.

Es war am Vormittag schon losgegangen, als wir den Weihnachtsbaum aufstellen wollten, was ich immer gerne übernahm. Dieses Jahr fiel es mir besonders schwer, da ich erkältet war. Das war aber noch nicht das Schlimmste. Vielmehr wunderten wir uns über die Diskussionen, die wir aushielten, wo – um den Baum aufstellen zu können – welcher Schrank und Stuhl nun umgeräumt werden sollte. Entsetzliche Keiferei der Mutter und die störrische Art, darauf zu bestehen, wie etwas genau zu geschehen habe, sonst mache sie es alleine …

Und zuvor, am Vormittag des 24.12., kam noch ein Fleurop-Bote in den Garten – in dem Moment, als der Weihnachtsbaumstumpf beschlagen werden sollte, stand er im Vorgarten. Er brachte ein üppiges Weihnachtsstrauß-Bouquet aus Tannenzweigen und winterlichen Blumen mit riesigen Weihnachtskugeln. Freudestrahlend hielt mir die Mutter diesen Strauß vor die Nase und zeigte mir, wie sehr sie sich gerade freute. Auf mich wirkte das, als sei ihr der Weihnachtskugelstrauß wichtiger als ihr Weihnachtsbesuch, also meine Tochter und ich, die wir uns gerade mit dem Weihnachtbaum quälten. Der Weihnachtstrauß kam von der Halbschwester, die schon im Hotel in den USA weilte. Ich schmiss das Hackebeil auf den Rasen und machte kurzentschlossen erst einmal Pause, ging herein und schnupfte mir meine triefende Nase. Dann kam die Mutter an und fragte, ob der Nachbar den Rest erledigen solle? Ich stimmte dankbar zu, mir war launig. Am ersten Weihnachtstag verabschiedet sich meine Tochter wegen eines beruflichen Engagements wie geplant. Nach dem gemeinsamen Frühstück bringe ich sie zum Bahnhof. Die folgenden Festtage verbringen meine Mutter und ich allein, am Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertages hat sich mein Bruder mit Familie zum Tee angesagt. Ich bereite alles vor für die Teegesellschaft, den selbstgebackenen Kuchen meiner Mutter, die Kekse, alles ist fertig für den gemütlichen Nachmittag. Zwei Stunden sind sie zu fünft da. Wie immer enthält sich meine Mutter der Konversation, sie sitzt eigentlich nur da und schaut zu.

Wahrscheinlich versteht sie wieder nichts, dachte ich bei mir. Ein Hörgerät will sie nicht, das scheitert an ihrer Eitelkeit. Dann lieber vereinsamen und allein leben, so muss man auch mit niemanden reden. Meine Mutter trägt ein gewisses Maß an Eitelkeit in sich. Und über Hörgeräte, die man überhaupt nicht sieht im Ohr, will sie schon gar nie etwas wissen, sie kann richtig bockig werden, sobald dieses Thema angeschnitten wird.

Nach zwei Stunden wird der Nachmittagstee aufgehoben, die Geschenke sind ausgepackt, und alle verschwinden wieder.

Meiner Mutter hat der Weihnachtstee sehr gut gefallen, das ist die Hauptsache. Der familiäre Teil des Festes ist somit abgeschlossen.

Ich reise drei Tage später wieder nach München, da ich Silvester zusammen mit meiner Tochter auf einer Party in München verbringen will.

Bis zu meiner Abreise in den Urlaub telefoniere ich täglich mit meiner Mutter, wie gewöhnlich rufen wir uns zur Teezeit an, meist ist es 17 Uhr. Diese Angewohnheit hat sie sich in den vielen Jahren ihres Lebens in England angeeignet, und diese – zurück in der Heimat – auch so beibehalten. Die Gespräche sind ein wichtiger Bestandteil ihres Tages. Sonst hat sie kaum noch Kontakt zu Bekannten, Freunden oder der Familie meines Bruders vor Ort. Sehr viel zu reden gibt es nicht bei den täglichen Klönstunden, aber sie beobachtet die Vögel vor ihrem Wintergarten und erzählt über eine Besuchskatze, die täglich Futter von ihr einfordere. Im Lauf ihres Lebens sind drei ihrer eigenen Katzen an Altersschwäche gestorben , da ist so eine Besuchskatze schon etwas Auflockerndes im Tagesablauf einer älteren Dame.

Als ich nach den anderen frage, also dem Rest der Familie, meinem Bruder und seiner Frau und deren drei Kindern sowie meiner Halbschwester, sagt sie mir: „Seit dem Weihnachtstee habe ich nichts mehr von denen gehört.“

Sie erzählt mir von einem Unfall. Jemand sei ihr vor der Arztpraxis in ihr Auto gefahren, obwohl sie noch auf dem Parkplatz stand. Die Polizei wäre dagewesen, doch sie hätte auf eine Anzeige verzichtet, da die Unfallverursacherin sofort ihre Schuld eingestanden hätte. Gut, denke ich mir, dann wird die Sache schon ihren Lauf nehmen. In den kommenden Wochen sollte sich noch herausstellen, wie überfordert die Mutter mit der Erledigung dieses Versicherungsfalls bereits zu diesem Zeitpunkt war.

Ich realisiere allmählich, dass ich im Januar in die Sommersonne fliegen würde und hoffe, meine Geschwister vor Ort würden sich in den kommenden drei Wochen bei meiner Mutter melden, damit sie nicht so allein sein würde.

Mein Urlaub – am 10. Januar ist es so weit. Das Abschalten und die Wärme der Tropen tun mir gut, und acht Tage nach meinem Abflug habe ich das unbedingte Verlangen, mal wieder mit meiner Mutter zu telefonieren.

Ich muss wissen, wie es ihr geht.

Also rufe ich sie von meiner Urlaubsinsel Mauritius aus an. Inzwischen habe ich mich auch von den Strapazen des Weihnachtsfestes erholt, die aggressive Art meiner Mutter immer wieder versucht zu hinterfragen, die Sache mit dem Schmuck, den ich bekommen haben sollte, aber faktisch nicht bekommen hatte. Das Verhalten meiner Mutter habe ich nun schon etwas verdrängt und Abstand gewonnen. Ich habe es genau acht Tage ausgehalten, sie nicht anzurufen. Aber nun meldet sich mein schlechtes Gewissen, und ich rufe sie unter einer raschelnden Palme auf einem Sonnenstuhl liegend und gegen den tiefblauen Himmel schauend an.

Nach meinem „Hallo Mami, wie geht’s denn so?“, höre ich, wie glücklich sie sei, dass sie von mir höre.

Es gehe ihr so weit gut, sie tue nicht viel, der Januar sei kalt, und die Katze komme täglich vorbei und hole sich ihr Futter ab.

Ich schildere ihr einige Urlaubseindrücke und lasse sie wissen, wann ich wieder zurück sein würde – in circa zehn Tagen gegen Ende Januar. Ich versichere ihr, ich würde mich dann sofort bei ihr melden. Sonst habe sie von niemandem gehört. Wie traurig, dachte ich mir ... Weder in der Adventszeit noch nach Weihnachten kommt jemand auf die Idee, einfach mal bei der kränkelnden Omi und Mutter auf eine Tasse Tee und eine kleine Unterhaltung vorbeizuschauen. So viel Ignoranz macht mich wütend.

29. Januar

Ich lande wieder im kalten und verschneiten München. Noch in der S-Bahn auf dem Weg nach Hause rufe ich meine Mutter an. Sie ist so unglaublich erleichtert zu wissen, dass ich wieder zurück bin. Ab nun kann sie sich sicher sein, dass sie jemanden zum Reden hat, jemanden, der sie aus ihrer Einsamkeit für die Dauer des Telefongesprächs erlöst.

Wir schmieden Pläne für einen Besuch in ihrem Heimatort, ich organisiere eine Übernachtung in einer Pension dort, und sie freut sich, etwas unternehmen zu können. Von nun an rufe ich sie wieder täglich an und unterhalte sie zur Teestunde.

Nach ungefähr einer Woche höre ich es schon an ihrer Stimme: Es geht ihr schlecht. Sie klagt über Benommenheit, Übelkeit, den Kreislauf, der nicht mitspielt, Appetitlosigkeit. Bei meinem letzten Besuch zu Weihnachten hatte ich schon bemerkt, dass sie kaum mehr aß und sie sich auch mit dem Kochen für sich selbst nicht mehr bemühte. Sie aß einfach nichts oder nur sehr wenig. Immer wieder plagten sie Durchfall und Darmprobleme.

Ihr Arzt kann ihr auch nicht helfen. Spreche ich sie darauf an, versichert sie mir, sie esse gesund und koche sich auch etwas. Ich weiß, dass es nicht so sein kann, da reichte an Weihnachten ein Blick in ihren Kühlschrank.

Am folgenden Tag geht es ihr immer noch schlecht. Ich bin rund 600 Kilometer von ihr entfernt und in Alarmbereitschaft. Meinen Tipp, es doch mal mit einem Magen- und Darmmedikament, von dem ich wusste, dass sie es zu Hause hatte, zu versuchen, nimmt sie dankend an. Am nächsten Tag geht es ihr auch wieder etwas besser, sagt sie, doch in den darauffolgenden Tagen klingt sie malade und spricht auch mit sehr schwacher Stimme am Telefon. Meine Geschwister haben sich immer noch nicht bei ihr gemeldet, geschweige denn sie besucht.

Ich muss handeln.

 

Patientin wider Willen

 

10. Februar

Bei einem unserer täglich zelebrierten Telefongespräche sage ich ihr, dass ich ihren Hausarzt anrufen und einen Besuch bei ihr zu Hause veranlassen werde.

Daraufhin geht alles sehr schnell. Da meine Schwägerin in der Hausarztpraxis arbeitet, kann diese nach meinem alarmierenden Anruf gleich eine Einweisung ins Krankenhaus bei ihrem Chef veranlassen.

Kaum zehn Tage nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub wird die Mutter ins Krankenhaus eingeliefert. Hätte ich diese Entwicklung nicht aus der Ferne wahrgenommen, hätte es wohl noch einige Zeit dauern können, bis eines ihrer dort lebenden Kinder oder Enkel nach ihr geschaut hätten. Nun ist aber mein Bruder doch zur Stelle und fährt sie ins Krankenhaus, packt vorher noch einige Utensilien für sie zusammen, denn unsere Mutter ist nicht mehr in der Lage, dies zu tun.

Wie nur musste die Arme sich die letzten Tage in ihrer Wohnung herumgeschleppt haben? Wahrscheinlich hat sie apathisch in ihrem Lieblingssessel gesessen und den Vögeln beim Fressen zugeschaut. Niemand war da, um mal nach ihr zu schauen. Ja, der Nachbar von oben kam mal und fragte. Es gab eine Vereinbarung zwischen meiner Mutter und den Bewohnern der Wohnung, die über ihrer Wohnung lag. Sollte man bis 9:45 Uhr nichts von ihr hören (Toilettenspülung, Öffnen der schleifenden Wintergartentüre etc.), dann würden die Nachbarn von oben mal nach unten gehen und nach ihr schauen. Aus diesem Grund steckte der Schlüssel ständig von außen an ihrer Wohnungstür, was mir schon immer ein Dorn im Auge war. Außerdem konnten die Nachbarn ja auch nicht immer schauen, sie musste ja ab und zu auch Besorgungen machen ... Aber es sollte noch mehr Anlass zur Unruhe geben.

 

Am Tag der Einlieferung ins Klinikum durch meinen auf den Plan gerufenen Bruder arbeite ich, und es ist aufgrund meines Urlaubs einiges liegen geblieben. Daher werde ich je nach Auskunft des Arztes entscheiden, wann ich zu Besuch zu meiner Mutter in die 600 Kilometer weiter nördlich gelegene Klinik fahren werde. Fürs Erste ist sie versorgt, ein Telefon am Krankenbett ist auch schnell installiert.

Es stehe ein operativer Eingriff an, so viel sei klar, danach könne man mehr sagen, lassen mir die Ärzte der Klinik ausrichten. Ich warte ungeduldig bis zum nächsten Nachmittag, um endlich mit dem behandelnden Arzt sprechen zu können. Schließlich erreiche ich den diensthabenden Arzt telefonisch. Doch entgegen meiner Erwartung bekomme ich dann nichts Konkretes zu hören, es sollten am nächsten Tag erst noch genauere Untersuchungen folgen. Definitiv habe es mit der Galle zu tun, dies wäre schon an ihrer gelben Hautfarbe zu erkennen, lautet die erste Diagnose. Man müsse den Eingriff am nächsten Tag abwarten. Nun hieß es noch mal warten, und das wieder bis zum Nachmittag – quälende Stunden die zu überbrücken waren, die Mutter und sich selbst bei Laune haltend.

Ich hole über das Internet alle erdenkliche Information ein. Was tun wenn nun doch nicht alles in Ordnung ist, was tun, wenn es irgendwie doch ein schlimmster anzunehmender Fall ist? Was tun, wenn es ein Tumor, ein bösartiger Krebs ist?

 

Spontan entscheide ich mich, zu ihr zu fahren, allerdings mit der Bahn. Die Entfernung im Winter bei Eis und Glätte und mit den Sorgen um die Gesundheit der Mutter im Kopf sind keine guten Reisebegleiter. Ich will kein Risiko eingehen.

 

Ich kam am Dienstag an – drei Tage später wollten wir unsere kleine Reise in ihr Heimatdorf antreten, so ist es geplant.

Wie traurig mich das alles macht.

Vom Bahnhof geht es direkt in Krankenhaus. Ich besorge noch einen kleinen Blumenstrauß und eile dann von der Auskunft des Klinikums direkt in ihr Krankenzimmer. Einerseits freue ich mich, sie zu sehen, andererseits bin ich erschüttert über ihr Aussehen, sie ist abgemagert, eingefallen und extrem gelb im Gesicht! Erschreckend – vor nur rund sechs Wochen an Weihnachten sah sie noch wesentlich besser aus. Wie ich sie da sehe, ist mir sofort klar, dass ich unsere gemeinsame Reise in ihren Heimatort definitiv absagen muss. Ihr Gesundheitszustand lässt das nicht zu. Daraus würde nichts – wie schade, sie und auch ich, wir beide hatten uns so darauf gefreut.

Ich umarme und herze sie. Sie fühlt sich genau so abgemagert an, wie sie aussieht. Traurig dieser Anblick – ich muss mit den Tränen kämpfen, will sie nicht zulassen. „Mami, was machst du denn für Sachen“, kommt es verlegen aus mir heraus. „Ach ja, erwidert sie, es geht mir schon besser als vor einigen Tagen. Die päppeln mich hier schon wieder auf.“ Kein Klagen und kein Meckern, ich denke, sie ist einfach froh, versorgt zu sein. Dennoch bemerkt meine Mutter die sich rötenden Augen bei mir, sie kennt mich gut genug. Wir erzählen über dies und das, ich kündige ihr an, dass auch mein Bruder gleich zu Besuch kommen werde, was sie sehr freut. Sie berichtet mir von diversen Besuchen, unter anderem vom Nachbarn und von ihrem Mieter, der die Wohnung über ihr bewohnt und ihr die Tageszeitung gebracht hat. Soweit fühlt sie sich recht gut versorgt, und mittlerweile ist ihr schon nicht mehr ganz so übel. Das beruhigt sie einigermaßen.

So vergeht der Nachmittag. Später kommt mein Bruder wie angekündigt, und nachdem sie mittlerweile einen recht müden Eindruck macht, fahren wir gemeinsam zu meinem Bruder nach Hause.

Wir sind beide sehr besorgt um sie und können uns in die neue Situation noch gar nicht so recht einfinden. Unsere Mutter ist möglicherweise sterbenskrank – so das schlimmste Szenario –, und wir sind mitten drin in der Diskussion, was passiert, wenn sie wirklich einen Tumor hat? Wenn sie ein Pflegefall wird?

„Was kommt da alles auf uns Geschwister zu?“, denke ich laut nach.

„Was kommt alles auf uns beide zu?“, korrigiert mein Bruder mich.

„Warum?“, frage ich ihn verwundert. „Wir sind doch zu dritt?“

„Nein“, entgegnet er, „unsere Schwester ist raus aus der Sache.“

„Aber wieso denkst du das denn?“, frage ich wie aus der Pistole geschossen.

„Na die hat doch da ein Arrangement mit Mutter getroffen, danach informierte sie mich, dass die Pflege unserer Mutter nur dich und mich betrifft.“

„Das wüsste ich aber – wieso sollte das denn so sein?“

Das kommt mir befremdlich vor, dennoch hätte ich meiner Halbschwester derartige Gedanken schon zugetraut.

 

Sie hatte immer nur das Ziel, mit dem Tag des Ablebens der Mutter und der erforderlichen Sorge davor möglichst nichts zu tun haben zu müssen, daher auch der Vertrag, den sie mit der Mutter abgeschlossen hat. Möglicherweise hatte sie von der Mutter wenig Liebe oder Beachtung in ihren Kindertagen bekommen, aus welchen Gründen auch immer ... Natürlich kann sich so etwas in späteren Jahren auswirken – etwa nach dem Motto: Du hast dich nicht um mich gekümmert, als ich klein war und dich so dringend gebraucht hätte, jetzt habe ich auch keine Zeit für dich. Mich beschleicht der Gedanke, dass an dieser Kausalität etwas dran sein könnte. Das würde auch das Handeln meiner Schwester zu den Weihnachtsfesten der letzten Jahre erklären: Meine Mutter war abwesend, als ich sie gebraucht hätte, jetzt bin ich es auch. So oder so ähnlich.

Doch nach meinem Empfinden trifft das nicht zu, unsere Mutter hat sich gerade um die Halbschwester sehr intensiv gekümmert und gesorgt, als es bitter nötig war – damals, als unsere Mutter nach ihrer dritten Scheidung Hals über Kopf Deutschland den Rücken kehrte und nach England auswanderte. Meinen Bruder hatte es damals schon beruflich in eine andere Stadt gezogen, ich war dabei, mich in Süddeutschland zu etablieren. Zurück blieb ihre jüngste Tochter; gerade Anfang zwanzig, ohne Schulabschluss oder Ausbildung und – mittelos und zerstritten mit ihrem Vater.

Der innige Kontakt zu meiner Halbschwester war schon seit den letzten fünf Jahren abgebrochen. Keiner aus der Familie konnte mir klar sagen, warum. Nicht einmal meine Mutter, die sich doch auch gern schon das eine oder andere Mal entweder absichtlich oder unabsichtlich verquatschte. Angeblich sei sie neidisch auf mich, hörte ich hier und da mal. Worauf denn?, denke ich mir. Auf meine Ehe, die ich beendete? Meinen stressigen Job? Oder meine Selbstständigkeit? Oder meine hübsche und talentierte deutschafrikanische Tochter? Was meiner Ansicht der einzige in Frage kommende Grund hätte sein können. Mitleid bekommst du geschenkt, Neid muss man sich erarbeiten ... Ich fand nicht, dass man auf mich neidisch sein kann, und somit war diese Argumentation für mich nicht nachvollziehbar. Alles Unsinn, beendete ich diesen Gedankengang. Wahrscheinlich sind da andere Dinge im Spiel. Doch welche?, fragte ich mich oft genug, denn der Zustand machte mich bald traurig, nachdem die erste Verletzung über den Abbruch des Kontakts meiner Halbschwester zu mir bei mir abgeklungen war.

Ich bedauere, dass wir als Geschwister keinen guten Kontakt zueinander haben. Dies wirkt sich auch auf unsere Mutter aus. Sie ist wirklich betrübt darüber. Wenn wir uns zu ihren Geburtstagen treffen und meine Halbschwester anrollt, mache ich immer einen großen Bogen um sie. Ich will nicht im gleichen Raum sein wie sie. Ich will diese negative Energie, die nach meinem Empfinden an ihr haftet, nicht empfangen. Sie ist mir mit den Jahren so fremd geworden, dass ich mich selbst wundere, über wen meine Mutter da manchmal erzählt, wenn sie von ihrer anderen Tochter spricht, was mich generell auch nicht interessiert, aber das interessiert wiederum meine Mutter nicht. Im Übrigen war es ja meine Halbschwester, die den Kontakt zu mir schon seit Jahren abgebrochen hatte, sie wird sicherlich ihre Gründe gehabt haben, die mir aber seit jeher verborgen geblieben sind.

Nach dem lieben Empfang im Hause meines Bruders und der Einladung meiner kränkelnden Schwägerin auf eine Tasse Tee, gehe ich anschließend ein paar Straßen weiter zum Haus der Mutter. Zu Fuß mit meinem Rollköfferchen dauert das circa zwölf Minuten. Mein Bruder hätte mich auch gefahren, aber mir tut ein Spaziergang gut, auch wenn es kalt ist und der Wind mir meine Haare um die Ohren weht.

Was mir weniger gut tut, ist die Ankunft in der Wohnung meiner Mutter, ohne dass sie anwesend ist. Mich überkommt ein mulmiges Gefühl. Ich bekomme Angst. Sie wirkte ziemlich kraftlos in ihrem Bett im Krankenhaus. Was nur, wenn es ihr schlechter ginge? Was nur, wenn sie länger im Krankenhaus bleiben müsste? Ich versuche mich abzulenken, indem ich mit meinen ehemaligen und langjährigen Schulfreundinnen telefoniere. Aber allein und ohne meine Mutter in ihrer Wohnung zu übernachten, ist schon ein sehr beklemmendes Gefühl. Ich habe keinen Appetit, eine Tasse Tee zum Abend reicht mir als Abendessen.

Nachdem ich in dieser ersten Nacht kaum ein Auge zugetan habe, rufe ich gleich morgens in der Früh im Krankenhaus an, um zu erfahren, wann ich den behandelnden Arzt sprechen könne. Am späten Vormittag, heißt es, also packe ich gleich einige Dinge ein, die meine Mutter in der Klinik braucht, zum Beispiel das Nachthemd, was ich ihr zum vorletzten Weihnachtsfest geschenkt habe, und leihe mir für die weiteren Fahrten ihr kleines Auto aus. So mache ich das immer, wenn ich mit der Bahn zu ihr zu Besuch komme.

 

Heute geht es ihr etwas besser, stelle ich unmittelbar nach dem Eintreten in ihr Zimmer fest. Ihre Gesichtsfarbe ist weniger gelb, und sie spricht etwas flüssiger als am Tag zuvor. Endlich, nach einer Stunde Besuchszeit kommt auch der behandelnde Arzt. Er steht links neben dem Krankenbett am Fußende, ich auf der gegenüberliegenden Seite ihres Bettes, und wir hören nun, was er nach den erfolgten Eingriffen und den ihr gelegten Stands versucht, uns mitzuteilen:

„Wir haben die Gallengänge ihrer Mutter mit Hilfe der eingesetzten Stands wieder freilegen können, und ihrer Mutter geht es auch schon wieder etwas besser deswegen. Allerdings werden wir das wiederholen müssen, etwa alle drei Monate. Leider hat sich auch noch ein anderer Verdacht bestätigt. Der Grund, warum die Gallengänge so verengt waren, ist ein Tumor.“

Er spricht gleich weiter, aber bei mir löst dieses Wort einen inneren Aufschrei aus, den ich nicht herausschreien kann, da ich schon wieder weiter zuhören muss, denn es folgt noch mehr.