Gesichter - Tove Ditlevsen - E-Book
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Gesichter E-Book

Тове Дитлевсен

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Beschreibung

Von der gefeierten Autorin der Kopenhagener-Trilogie – ein eindringlicher Roman über eine Frau am Abgrund, geschrieben mit der Lebendigkeit und Direktheit gelebter Erfahrung.

Kopenhagen, 1968: Lise Mundus, Autorin und Mutter dreier Kinder, entgleitet ihr Alltag. Sie meint, Stimmen zu hören und Gesichter zu sehen. Sie ist überzeugt, dass ihr Mann sie betrügt und verlassen wird. Vor allem aber hat sie Angst, dass sie nie wieder schreiben wird. Als sie in die Klinik geht und sich behandeln lässt, fragt sie sich, ob der Wahnsinn wirklich etwas ist, wovor sie sich fürchten muss –  oder ob er nicht auch eine Form von Freiheit für sie bereithält. In »Gesichter« macht Tove Ditlevsen die Verschiebungen in der Wahrnehmung einer Frau mit literarischen Mitteln meisterhaft erfahrbar.

»Die Zeit für dieses Buch ist jetzt reif.« The Guardian.

»Eine monumentale Autorin.« Patti Smith.

»Allein der Anfang! Ein Mann setzt isch ans Bett der Ehefrau und weint, denn seine Geliebte ist gestorben. Danach kommt, klar, das Irrenhaus für diese Frau. In Sätzen, die eigentlich Gemälde sind.« Anna Prizkau, FAS.

»Von atemberaubender Intensität und Schönheit. Aus dem Staub ihres Lebens leuchtet dieses Werk.« Elke Heidenreich.

»Die Autorin spielt auf dem Niveau von Sylvia Plaths ›Glasglocke‹, auch Nabokovs ›Lolita‹ klingt an. Es scheint an der Zeit, Ditlevsen in einem Atemzug mit solchen literarischen Schwergewichten zu nennen.« Literarische Welt.

»Ein monumentaler Pageturner.« Glamour.

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Seitenzahl: 188

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Über das Buch

Kopenhagen, 1968: Lise Mundus, Kinderbuchautorin und Mutter dreier Kinder, entgleitet ihr Alltag. Sie meint, Stimmen zu hören und Gesichter zu sehen. Sie ist überzeugt, dass ihr Mann, der extravagant untreu ist, sie betrügt und verlassen wird. Vor allem aber hat sie Angst, dass sie nie wieder schreiben wird. Als sie in die Klinik geht und sich behandeln lässt, fragt sie sich, ob der Wahnsinn wirklich etwas ist, wovor sie sich fürchten muss –  oder ob er nicht auch eine Form von Freiheit für sie bereithält. In »Gesichter« macht Tove Ditlevsen die Verschiebungen in der Wahrnehmung einer Frau, die seelisch erkrankt, meisterhaft erfahrbar.

Über Tove Ditlevsen

Tove Ditlevsen (1917–1976), geboren in Kopenhagen, galt lange Zeit als Schriftstellerin, die nicht in die literarischen Kreise ihrer Zeit passte. Heute gilt sie als eine der großen literarischen Stimmen Dänemarks und Vorläuferin von Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk. Ihre »Kopenhagen-Trilogie« mit den Bänden »Kindheit«, »Jugend« und »Abhängigkeit« wird international als literarische Wiederentdeckung gefeiert. Der Roman »Gesichter« wurde im dänischen Original 1968 veröffentlicht, ein Jahr, nachdem »Kindheit« und »Jugend« erschienen. 

Ursel Allenstein, 1978 geboren, studierte Skandinavistik und Germanistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u.a. Christina Hesselholdt, Sara Stridsbergund Johan Harstad. Für ihre Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung.

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Tove Ditlevsen

Gesichter

Roman

Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

Nachwort der Übersetzerin

Impressum

Wer von diesem Roman beeindruckt ist, liest auch ...

EINS

Abends war es wenig besser. Sie konnte es vorsichtig glätten und betrachten, in der Hoffnung, irgendwann doch einen Überblick darüber zu gewinnen, als wäre es ein unfertiger, vielfarbiger Gobelin, dessen Muster eines Tages zu erahnen war. Die Stimmen kehrten zu ihr zurück und ließen sich mit etwas Geduld voneinander trennen wie die Fäden eines verhedderten Wollknäuels. Sie konnte in Ruhe über die Worte nachdenken, ohne zu fürchten, dass neue hinzukamen, ehe die Nacht vorüberging. Die hielt in dieser Zeit ohnehin nur mühsam die Tage auseinander, und wenn man versehentlich ein Loch in die Dunkelheit hauchte wie auf eine vereiste Scheibe, stach einem der Morgen viele Stunden zu früh in die Augen.

Alle schliefen, bis auf Gert, der immer noch nicht nach Hause gekommen war, obwohl es auf Mitternacht zuging. Sie schliefen, und ihre Gesichter waren friedlich und fern und würden erst morgen wieder gebraucht. Vielleicht hatten sie ihre Gesichter sogar sorgfältig auf ihrer Kleidung abgelegt, denn Gesichter mussten sich ausruhen und waren beim Schlafen auch nicht dringend notwendig. Tagsüber veränderten sie sich unablässig wie Spiegelungen in aufgepeitschtem Wasser. Augen, Nase, Mund, wie konnte dieses schlichte Dreieck bloß so unendlich viele Variationen enthalten? Lise war schon lange nicht mehr auf die Straße gegangen, weil ihr die vielen Gesichter Angst einjagten. Sie wagte es nicht, sich neue aufzubürden, und fürchtete ein Wiedersehen mit den alten, die nicht mehr in ihre Erinnerung passten, wo sie sich zu den Toten gelegt hatten, vor denen man anders geschützt war. Wenn man Menschen begegnete, die man seit Jahren nicht gesehen hatte, waren deren Gesichter verändert; fremd, gealtert, ohne dass sie daran gehindert worden waren. Ihre Besitzer hatten nicht darauf achtgegeben, die Gesichter waren ihren schützenden Händen entglitten, die sie eigentlich über Wasser halten sollten wie Ertrinkende. Sie hatten, weil sie mit anderen Dingen beschäftigt waren, nicht auf dieses Gesicht aufgepasst, und so war es erst im letzten Moment durch ein neues ersetzt worden; gestohlen von einer Schlafenden oder Toten, die nun zusehen musste, wie sie ohne es zurechtkam. Dieses Gesicht war zu groß oder zu klein und trug die Spuren eines Lebens, das nicht das der neuen Besitzerin war. Wenn man sich daran gewöhnte, schimmerte bisweilen das ursprüngliche Gesicht darunter hervor, wie wenn sich eine alte Tapete löst und stellenweise die überklebte Schicht freigibt, die noch frisch und gut erhalten ist und voller Erinnerungen an die früheren Bewohner. Manch einer legte sich jedoch auch vor Ungeduld oder aus dem Drang, der herrschenden Mode zu folgen, ein neues Gesicht zu, bevor das alte aufgebraucht war, wie wenn man sich eine modernere Garderobe anschafft, obwohl die alte noch gut erhalten ist. Junge Mädchen machten das oft und kamen manchmal sogar auf die Idee, einzelne Gesichtszüge mit einer Freundin zu tauschen, wenn sie abends ausgingen und sich dann gern mit Augen schmückten, die größer oder klarer waren als ihre eigenen, oder mit einer schmaleren Nase. Zwar spannte die Haut, aber das fühlte sich nicht schlimmer an, als Schuhe zu tragen, die drückten, weil sie eine Nummer zu klein waren. Am meisten fiel es natürlich bei Kindern auf, die sich noch im Wachstum befanden. Man konnte sie nicht mit dem Blick einfangen, er kehrte leer zu einem zurück wie ein Spiegel, in den man zu lange hineingesehen hatte. Kinder trugen ihr Gesicht wie etwas, in das man hineinwachsen muss, und das einem erst Jahre später passt. Fast immer saß es zu hoch, und sie mussten sich auf die Zehenspitzen stellen, um in die Bilder hinter ihren Augenlidern hineinzusehen. Einige, vor allem Mädchen, mussten die Kindheit ihrer Mutter leben, während ihre eigene in einer geheimen Schublade verstaubte. Diese Mädchen hatten es am schwersten. Ihre Stimme brach aus ihnen hervor wie Eiter aus einer Wunde, und der Klang erschreckte sie derart, als hätten sie entdeckt, dass jemand in ihrem Tagebuch gelesen hatte, obwohl es weggesperrt gewesen war; zwischen Gerümpel und altem Spielzeug aus einer Zeit, als sie noch das verletzliche Gesicht einer Vierjährigen trugen. Mit seinem unschuldigen, erstaunten Glasblick starrte es zwischen Brummkreiseln und steifen Puppen zu ihnen auf. Der Schlaf dieser Mädchen war leicht und roch nach Angst. Jeden Abend, wenn sie ihr Zimmer aufräumten, mussten sie ihre Gedanken für die Nacht einfangen wie Vögel, die man in ihren Käfig lockt. Manchmal geriet ein Gedanke dazwischen, der gar nicht ihr eigener war, und dann wussten sie nicht, wohin damit. Voller Eile, denn sie waren immer müde, stopften sie ihn hinter einen Schrank oder steckten ihn zwischen zwei Bücher ins Regal. Doch wenn die Mädchen dann wieder erwachten, passten die Gedanken nicht mehr zu ihrem Gesicht, das sich im Schlaf aufgelöst hatte wie eine Faschingsmaske, deren steife Pappe gerissen und vom warmen Atem durchweicht war. Mühsam fügten sie sich ihrem neuen Gesicht wie einem Schicksal, und wenn sie auf ihre Füße hinabblickten, wurde ihnen schwindelig, so groß war der Abstand zu ihnen im Laufe der Nacht geworden.

Lise sah sich aus den Augenwinkeln um, ohne den Kopf zu bewegen. Es gab eine Frisierkommode, einen Nachttisch und zwei Stühle. Das Zimmer wirkte nüchtern wie eine Grabstätte ohne Stein oder Kreuz. Es erinnerte sie an die gemieteten Zimmer ihrer Jugend, in denen sie ihre ersten Bücher geschrieben hatte, und nur hier fand sie die zerbrechliche Geborgenheit, die ein Mangel an Veränderung bereithält. Sie lag rücklings auf dem Sofa, das sie schon für die Nacht hergerichtet hatte, und verschränkte die Hände unter dem Kopf. Jetzt kam es darauf an, ganz still zu halten und plötzliche Bewegungen zu vermeiden, damit das, was in den Einbauschränken lauerte, diesen beunruhigenden Hohlräumen, nicht gemeinsam mit der zusammengedrängten Angst ihrer ganzen Kindheit daraus hervorbrach.

Langsam streckte sie sich nach dem Glas mit den Schlaftabletten. Sie schüttelte zwei heraus und spülte sie mit Wasser herunter. Die Tabletten hatte sie von Gitte bekommen, die jedem von ihnen das gab, was er oder sie ihrer Meinung nach brauchte. Bei Gitte musste man vorsichtiger sein als bei den anderen. Man musste gewisse Wörter aufhalten, ehe sie ihr über die Lippen kamen, um jeden Preis, mit jedem Mittel. Es war ein Nachteil, dass sie sich inzwischen duzten, dachte Lise. Gert und sie hatten an einem der ersten Abende zusammen mit ihr getrunken, und da sie von ihrem Højskole-Aufenthalt eine gewisse Kultur mitbrachte, hatten sie das Gefühl gehabt, man könne sie nicht wie eine gewöhnliche Hausangestellte behandeln, deren Persönlichkeit die Familie nichts anging.

Gitte war eine Folge von Lises plötzlicher Berühmtheit, nachdem sie vor zwei Jahren den Kinderbuchpreis der dänischen Akademie für ein Buch erhalten hatte, das sie selbst nicht für besser oder schlechter hielt als ihre übrigen. Bis auf einen weitgehend unbeachteten Gedichtband hatte sie nie etwas anderes geschrieben als Kinderbücher. Auf den Damenseiten der Zeitungen waren sie anständig besprochen worden, hatten sich auch anständig verkauft und waren auf beruhigende Weise von jener Welt übersehen worden, die sich mit der Erwachsenenliteratur beschäftigte. Ihre Berühmtheit hatte brutal jenen Schleier weggerissen, der sie immer von der Wirklichkeit getrennt hatte. Sie hatte eine Dankesrede gehalten, die Gert für sie geschrieben hatte, und war währenddessen von der Angst ihrer Kindheit eingeholt worden, man könnte sie enttarnen und herausfinden, dass sie etwas zu sein vorgab, was sie nicht war. Diese Angst hatte sie seither im Grunde nicht mehr verlassen. Wenn sie interviewt wurde, gab sie Gerts oder Asgers Meinungen wieder, als hätte sie nie einen eigenständigen Gedanken gehabt. Als sich Asger vor zehn Jahren von ihr trennte, hinterließ er einen ganzen Vorrat an Wörtern und Haltungen und Denkweisen in ihr, wie einen vergessenen Koffer in einer Gepäckaufbewahrung. Nachdem sie alles verbraucht hatte, schöpfte sie aus Gerts Ansichten, die mit seinen Stimmungen wechselten. Nur wenn sie schrieb, drückte sie sich selbst aus, und ein anderes Talent besaß sie nicht. Gert hatte ihren Ruhm als persönliche Beleidigung aufgefasst. Er behauptete, er könne nicht mit einem Stück Literatur ins Bett gehen, betrog sie mit großem Eifer und berichtete ihr ausführlich von seinen Eroberungen. Es hatte sich angefühlt, als wäre sie in ein Eisloch gefallen, denn damals liebte sie ihn noch und war besessen von der Angst, auch ihn zu verlieren. Nadja, ihre beste Freundin, eine Kinderpsychologin, hatte sie zu einem Psychiater geschickt, der ihr erklärt hatte, sie ziehe Männer mit einem komplizierten Gefühlsleben an, selbstbezogene Charaktere voller Selbstzweifel. Sie war eine verständige Patientin und entdeckte gewisse Parallelen zwischen Asger und Gert. Nur war Asger, reichlich spät im Leben, von jenem Karrierestreben gepackt worden, das ein bedingungsloses und unermüdliches Mitwirken der Familie voraussetzte, und eine Frau, die etwas so Lächerliches machte wie Kinderbücher zu schreiben, war plötzlich eine Schwachstelle, eine Versehrtheit seiner selbst, die seine Feinde im passenden Moment gegen ihn verwenden konnten. Gerts Untreue hingegen werde niemals zur Scheidung führen, hatte Dr. Jørgensen ihr erklärt, denn sie finde in erster Linie zu ihren Ehren statt. Es handele sich lediglich um eine Trotzreaktion, als würde ein zweijähriges Kind mit dem Löffel in seinen Brei schlagen. Gert sei aufgrund seiner eigenen neurotischen Konflikte so sehr an sie gebunden, dass er seine Identität vermutlich kaum für etwas aufgeben werde, das auch nur annährend an Verliebtheit erinnere.

Die Schlaftabletten begannen zu wirken, und weil Lise unachtsam wurde, riss sich ein Gesicht von all den anderen los und glotzte sie mit dieser alten, unverhohlenen Bösartigkeit an. Es war das Gesicht eines Zwerges, dem sie als Kind hinterhergesehen hatte und der im selben Moment den Kopf umgewandt und sie angestarrt hatte. Dieses Gesicht würde sie bis ans Ende ihrer Tage in sich tragen wie eine alte Schuld, die keine Reue je sühnen kann.

Der Schlüssel wurde ins Schloss der Eingangstür gesteckt, und das Geräusch erreichte sie wie durch viele Wolldecken gedämpft. Gert kam nach Hause. Sie hörte ihn das Esszimmer durchqueren und dachte, er wollte in die Küche, um sich ein Bier zu holen, oder ins Dienstmädchenzimmer zu Gitte. Doch dann ging die Tür auf, und er stand auf der Schwelle zu ihrem Zimmer.

»Schläfst du?«, fragte er unsicher.

»Nein.«

Sie stützte sich auf die Ellbogen und blickte auf seine Schuhe. Sie kamen näher und wurden übertrieben groß, wie in einem absurden Drama, wo zwischen den Holzdielen Pilze emporwachsen und die einzig bedeutungsvolle Aufgabe auf der Welt darin zu bestehen scheint, sie täglich auszurupfen. Er kam näher, und sie dachte panisch, dass es zu viel war, mit einem ganzen Menschen auf einmal verheiratet zu sein.

Sie weckte einige der wenigen Wörter, die es noch zwischen ihnen gab, und sie streckten sich steif und benommen auf ihren Lippen wie Kinder, die man aus dem Schlaf gerissen hat.

»Setz dich«, sagte sie. »Ist etwas passiert?«

Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Nachttisch. Das Licht der Lampe fiel auf seine Hände, die sich nervös ballten und öffneten. Sein Gesicht lag im Dunkeln verborgen, und sie kramte es aus dem Gedächtnis hervor: edel und verbraucht, mit feinen, gleichmäßigen Zügen.

»Ja«, antwortete er. »Grete hat Suizid begangen.«

Sie spürte seinen Blick auf ihrem Gesicht und drehte es zur Wand. Ihr Herz schlug heftig. Was sollte man fühlen oder sagen, wenn sich die Geliebte des eigenen Mannes das Leben genommen hatte? Es gab keinen Präzedenzfall. Sie hatte sich daran gewöhnt, ihre alten, abgenutzten Gefühle für ihn zu verwenden, so wie sich Blinde mithilfe von immer ferneren Sinneseindrücken aus der Zeit vor ihrer Erblindung orientieren. Zu den Gefühlen gehörten auch bestimmte Wörter und Tonlagen, und diesen vertrauten Bereich zu verlassen war so gefährlich, als beträte man ein Minenfeld.

»Mein Beileid«, sagte sie mit idiotischer Höflichkeit, »aber hattest du nicht mit ihr schlussgemacht? Ich dachte, das hättest du mir erzählt.«

Plötzlich sahen die grünen Gardinen aus, als wären sie aus Krepppapier. Das musste an den Schlaftabletten liegen. Lise merkte, wie sie ihre Aufmerksamkeit dämpften.

Gert verschob die Lampe, um an die Zigaretten heranzukommen. Jetzt fiel das Licht auf sein Gesicht, aber sie durfte auf keinen Fall hinsehen.

»Doch«, sagte er müde. »Aber sie ist nicht im Büro erschienen, ohne sich vorher abzumelden. Und die anderen wussten, dass ich einen Schlüssel zu ihrer Wohnung besitze, vermutlich hatte sie es ihnen selbst erzählt. Josefsen hat mich gebeten, hinzugehen und nach ihr zu sehen. Und da lag sie auf dem Bett mit dem leeren Tablettenglas in der Hand. Ich bekam einen Schock. Nicht dass es meine Stellung in Gefahr bringen würde, aber es ist verdammt heikel, verstehst du? Sie haben mich angeglotzt, als hätte ich sie umgebracht.«

Seine Hände zitterten, als er sich eine Zigarette ansteckte.

»Ich wusste von Anfang an, dass es dumm war, eine Sekretärin zu nehmen. Noch dazu in dem Alter. Wenn unverheiratete Frauen Mitte dreißig werden, ist es riskant, ihnen gegenüber auch nur das kleinste bisschen Mitleid zu zeigen.«

»Ich bin vierzig«, sagte sie zerstreut und bereute es sofort. Es war Teil dieses ermüdenden Spiels, dass sie die Aufmerksamkeit niemals auf ihre eigene Person lenken durfte. Sie spürte seinen Blick auf sich wie einen gleißenden Scheinwerfer.

»Das ist etwas anderes«, erwiderte er irritiert. »Dich kann man als Menschen nur noch schwer ernst nehmen. Genau wie deinen Exmann, wenn er auf einer Liste der zehn bestgekleideten Männer des Landes auftaucht. Das findest du doch selbst lächerlich.«

»Gert«, sagte sie mit jener sanften Stimme, mit der man seinen Mangel an Liebe überspielt. »Es ist keineswegs sicher, dass sie es deinetwegen getan hat. Nadja sagt, es gibt Menschen mit einer niedrigen Selbstmordschwelle. Einmal hat sie mir von einem jungen Mädchen erzählt, das sich umbrachte, weil sein Fahrrad gestohlen worden war.«

»Das ist mir schon klar«, sagte er. »Ich neige nicht dazu, meine eigene Bedeutung zu überhöhen. Aber ich nehme meine Arbeit ernst. Und so etwas sorgt für Probleme.«

Zum ersten Mal während des Gesprächs sah sie in sein Gesicht. Es war verkehrt. All seine Züge schienen voneinander Abstand zu nehmen, wie Möbel aus verschiedenen Ehen. Unter seinen Augen hatten sich zwei kleine, runde Säcke gebildet, als würde er die bitteren Erinnerungen eines gescheiterten Lebens darin tragen. Etwas, das an Mitleid erinnerte, streifte Lise wie ein Leuchtfeuer auf fernen Wellen. Dann erblickte sie seine Ohren, die enorm groß und behaart waren und denen eines Tieres glichen. Das konnte nicht stimmen. Sie schloss die Augen und sank erneut auf das Kissen.

»In ein paar Tagen ist das alles vergessen«, sagte sie. »Und jetzt geh zu dir rüber, Gert, ich muss dringend schlafen.«

»Entschuldige«, sagte er beleidigt, »ich hatte für einen Moment vergessen, wie kostbar deine Zeit ist.«

Er erhob sich geräuschvoller als nötig und verließ das Zimmer, ohne ihr eine gute Nacht zu wünschen.

Sie löschte das Licht, aber die Dunkelheit spendete ihr keinen Trost. Was meinte er damit, dass ihre Zeit kostbar war? Nahm er an, ihr würde nicht mehr viel davon bleiben?

Jemand ließ in der Küche Wasser in ein Glas laufen, und ein grobes Jungenlachen drang zu ihr herein. Sie knipste das Licht wieder an. Es war Mogens. Er ahnte nicht, dass sie wusste, dass er mit Gitte ins Bett ging. Gitte ging auch mit Gert ins Bett, sie sagte, das würde wieder Schwung in die Ehe bringen, die sie gern retten wolle. Drüben an der Wand stand ein Paar von Hannes Schuhen, die Lise vorher nicht bemerkt hatte. Sie waren rot und spitz, Gert hatte sie ihr geschenkt. Gitte sagte, es sei traurig für die Jungen, dass Gert Hanne so sehr verwöhne. Lise hatte nie darüber nachgedacht, ehe sie von Gitte darauf aufmerksam gemacht worden war. Aus irgendeinem Grund störte sie der Anblick der Schuhe, und sie stand auf und stellte sie vor die Tür, bevor sie sich erneut hinlegte und das Licht löschte.

ZWEI

Das Tageslicht erfüllte das Zimmer mit einer arglosen Jungfräulichkeit, und für einen Moment schienen die Ereignisse der Nacht ferner als ein beliebiger Kindertag; tief in der Seele eingekapselt wie ein jahrtausendealtes Insekt in einem Bernstein.

Sie zog die Gardinen auf und blickte in den geschlossenen Hof. Es taute, und das schmierige Kopfsteinpflaster dampfte wie feuchte Spüllappen. In der blassen, kalten Februarsonne saß eine Katze auf einem Mülltonnendeckel und leckte sich die Pfoten. Aus dem Esszimmer drang beruhigendes Stimmengemurmel, Gitte frühstückte gerade mit den Kindern. Sie sorgte für Lises Arbeitsruhe, als wäre sie ein zweiter Goethe oder Shakespeare. Und das, obwohl sie seit über zwei Jahren keine einzige Zeile geschrieben hatte. Dieses mutterlose Heimkind, das alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte, um das Leben wildfremder Menschen zu ordnen, hatte etwas Rührendes, sagte Lise sich. So zu denken, dämpfte ihre Angst und erleichterte sie; wie ein Kind, das vorübergehend so tut, als würde es sich den Erwachsenen fügen.

Sie zog ihren Morgenmantel über und setzte sich möglichst lautlos an den Frisiertisch. Ihr Gesicht im Spiegel erschien ihr müde und abgetragen wie ein alter Handschuh. Der Mund wurde von zwei leichten, skizzenhaften Strichen eingeklammert, die kurz vor der Rundung des Kinns aufhörten, als wäre der unbekannte Künstler bei der Arbeit unterbrochen worden. Ihre Augen hatten den gleichen offenen, aufrichtigen Ausdruck wie die Augen von Kindern, die lügen. Drei feine Furchen legten sich um ihren Hals wie ein Perlencollier und würden sich jeden Tag tiefer in ihre Haut graben. Ob es ihre Zeit überdauern würde, dieses Gesicht, das die Spuren so vieler Dinge trug, von denen die Welt nichts wissen durfte? Wandte es sich feindselig gegen sie, wenn sie es nicht beobachtete? Und was würde sich darunter verbergen, wenn es eines Tages auseinanderfiel? Sie dachte an die viel zu großen Kleider und Schuhe, die sie als Kind getragen hatte; stets so gekauft, dass sie hineinwachsen sollte, stets so berechnet, dass sie ihr erst passten, wenn sie schon abgetragen waren. Wenn Hanne Bilder von ihr in der Zeitung sah, sagte sie: »Ach, bist du fotogen, Mama.« Søren sagte: »Keiner in meiner Klasse hat eine so schöne Mutter.« Mogens sagte nichts. Gitte sagte, es sei schwierig, eine berühmte Mutter zu haben. Sie zitierte Graham Greene: »Erfolg ist eine Verstümmelung des von der Natur geschaffenen Menschen.« Gitte benutzte die Weltliteratur und die Tagespresse wie Küchengeräte, die ihr die tägliche Arbeit erleichterten.

Die Tür ging auf, und Lise drehte sich ruckartig um, als wäre sie bei einem heimlichen Laster ertappt worden. Es war Søren, mit einem Milchbart über dem Mund und seinem Schulranzen auf dem Rücken.

»Auf Wiedersehen, Mama«, sagte er unsicher. »Gitte hat gemeint, ich darf ruhig reinkommen und nachsehen, ob du schläfst.«

»Ich schlafe nicht. Auf Wiedersehen, Søren. Bekomme ich keinen Kuss?«

Sie beugte sich herab und küsste ihn auf den Mund. Er legte die Arme um ihren Hals, und für einen kurzen Augenblick breitete sich ein Geruch von unterbrochenem Schlaf, Schulstaub und kindlicher Schuld über sie wie ein schützender Mantel, den jemand barmherzig über einen gefallenen Feind wirft. Sie fasste Søren an den Schultern und betrachtete voll dunklem Mitleid das mitgenommene kleine Gesicht.

»Deine Haare müssten mal wieder geschnitten werden«, bemerkte sie mit falscher Fröhlichkeit und strich ihm über das helle, seidige Haar.

»Nein«, protestierte er und entwand sich ihren Händen. »Gitte sagt, die langen Haare stehen mir. Die anderen lachen über mich, wenn ich beim Friseur war.«

»Verstehe.«

Lise richtete sich hastig auf, und im selben Moment trat Gitte ins Zimmer und stellte sich zwischen sie. Sie fasste den kleinen Jungen am Handgelenk: »Los mit dir«, sagte sie. »Es ist schon zwei Minuten vor.«

Mit der Miene eines Menschen, der ein Ziel im Leben hat, kam sie weiter ins Zimmer und stoppte abrupt wie ein Auto vor einer unerwarteten Straßensperre. Dann nahm sie das Glas mit den Schlaftabletten und betrachtete Lise mit einem Ausdruck moralischer Dringlichkeit in ihren kurzsichtigen Augen.

»Gert hat mich gebeten, sie aufzubewahren«, erklärte sie. »Die Sache mit Grete hat ihm einen Schock versetzt. Er möchte so etwas nie wieder erleben.«

»Ach«, sagte Lise und setzte sich mit dem Gefühl, durchsichtig zu sein, wie aus Papier ausgeschnitten, auf ihr Bett. »Das hat er dir erzählt?«

»Du bist selbst daran schuld.«

Nachlässig steckte Gitte das Glas in die Hose ihrer Jeans und setzte sich neben sie. Sie war faszinierend hässlich, und sie roch nach Schweiß. Lise lächelte angestrengt. Die Angst erfüllte den Raum wie eine Flüssigkeit. Die Uhr im Wohnzimmer schlug acht.

»Er kam gestern Abend zu dir, um sich trösten zu lassen. Er wollte alles wiedergutmachen, Lise. Er war bereit, zu dir zurückzukehren, er wollte jeden Gedanken daran aufgeben, dir untreu zu sein. Er wollte mit dir ins Bett. Aber du warst müde, du wolltest nur schlafen, du hast nichts verstanden.«

Ihre Stimme verstummte ungeduldig. Sie stützte sich mit den Ellbogen auf den Knien ab und legte ihr Gesicht in die Wiege ihrer Hände.

»Gitte«, sagte Lise, »bekomme ich heute keinen Kaffee?«

»Du liebe Güte, doch. Dann können wir uns dabei unterhalten.«