Gestalten des Bösen - Eugen Drewermann - E-Book

Gestalten des Bösen E-Book

Eugen Drewermann

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Beschreibung

Der Teufel scheint gerade sein Comeback zu feiern: Ein Drittel der in Deutschland lebenden Menschen glaubt laut einer Umfrage an den leibhaftigen Teufel als Verkörperung des Bösen. Doch was ist der Ursprung der Teufelsgestalt? Und wie begegnen wir diesen Ängsten? Scharfsinnig und kenntnisreich zeichnet Eugen Drewermann im Gespräch mit Jörg-Dieter Kogel die Geschichte und Ursprünge der Gestalt des Teufels nach: Seine fulminante und erstaunliche Analyse führt ihn von der persischen Mythologie über das Alte Testament, den Koran, die Hexenverfolgungen bis hin zu Shakespeares Macbeth und dem 11. September. Mit seinem Buch will er jedoch nicht nur aufklären, sondern auch befreien, denn Eugen Drewermann ist überzeugt: Wenn wir die Erlösungsbotschaft ernst nehmen, brauchen wir keine Höllendrohung und keinen Teufel mehr.

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Eugen Drewermann
Gestalten des Bösen
Der Teufel – ein theologisches Relikt
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Wenn nicht anders angegeben, so sind die Bibeltexte entnommen aus:
Die Bibel. Die Heilige Schrift
Des Alten und Neuen Bundes.
Vollständige deutsche Ausgabe
© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand
Umschlagmotiv: Pacher, Michael: Sankt Augustinus und der Teufel, 1471/75, Öl auf Holz, Bayerische Staatsgemäldesammlung, Alte Pinakothek, München
E-Book-Konvertierung: de·te·pe, Aalen
Inhaltsverzeichnis
Gestalten des Bösen
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Gewalt, Leid und »das Böse«
1. Geschichte und Gewalt – Annäherungen an das Böse
2. Die Ambivalenz der Natur und die verunendlichte Angst
3. Leid, das Leiden schafft
4. Der Begriff des Bösen
II. Woher kommt der Teufel?
1. Die Gestalt des Teufels als negative Seite der Natur
2. Der persische Dualismus: Ahriman und Ahura Mazda
3. Vom Wahn, das Böse auszurotten
4. Der Teufel in der Bibel und sein mythischer Hintergrund
Das Buch Job
5. Die Götter von einst als die Teufel von heute
6. Der Teufel als Teil unserer Triebwelt
Rausch und Orgasmus: Dionysos, Aphrodite, Ares und Pan
Hochmut und Stolz in Babylon und Griechenland: Kingu und Prometheus
7. Der Mensch als Umgestalter der Natur – am Anfang war das Feuer
8. Der Teufel im Koran
9. Die Welt als Gottes unwürdig zerstören
10. Gott und die Übel der Welt – die Frage der Theodizee
11. Gesetzlichkeit und Strafe gegen Verstehen und Vergeben
III. Der Teufel und seine Geschichte
1. Psychoanalytische Erklärungsversuche
Unterdrückung und Abspaltung natürlicher Triebbedürfnisse
Heilung durch Zuwendung
2. Ein Beispiel kirchlich bedingter Teufelei: Der Spuk im Kloster von Loudun
3. Vom Ursprung der Kultur
4. Der Teufel und die Triebangst – der Hexenhammer
5. Der Pakt mit dem Teufel
6. Das kirchliche Dogma und seine Wirkung
7. Denunziation und Folter – die Hexenjagd in Salem
8. Eine Selbstkorrektur: Friedrich von Spee
9. Besessenheit und Exorzismus
10. Das Unheimliche in der Dichtung
11. Gefangen in der Angst
Zwangsneurotische Prozesse
Schizoid-paranoische Prozesse
Depressive Prozesse
12. Dostojewskis »Großinquisitor« und Schuld und Sühne
Teuflische Gedanken: Die Versuchung Jesu
Eine Kindheitserinnerung
Vom Ringstrom der Psyche
IV. Die Botschaft der Befreiung
1. Von einem christlichen Umgang mit dem »Teufel«: das Böse überlieben
2. Das Buch Tobit: Von Dämonie und Heilung in der Liebe und von der Zwie­spältigkeit des Moralisch-Gesetzlichen
3. Das Böse als ein Rest der Aggression in der Evolution
Selektion und Artenvielfalt
Gruppenbildung und Aggression: Opferbereitschaft und Krieg
4. Das Böse als Verwaltungsakt
5. Jesus – der Skandal der Güte jenseits des Gesetzes
6. Militärische Umerziehung in die Parallel­welt von Zerstörung und Gehorsam
7. Die fatale Spaltung in Gut und Böse – das Gefängnisexperiment
8. Versöhnung statt Feindbilder – Russland zum Beispiel
9. Die jahwistische Urgeschichte: der biblische Mythos von der Herkunft des Bösen
Die Sündenfallerzählung – ein Wesensbild, kein historischer Bericht
Die Erkenntnis von Gut und Böse als Existenzbestimmung vor Gott
Das einzige Verbot, das Gott erlassen musste
Die Schlange – ein Symbol des Nichtseins
Wie Gott sein wollen – die Tragödie der Gottesferne
Die List der Versuchung und die Dynamik der Angst
Die Entdeckung der Nacktheit
Das Missverständnis der »Erbsünde«
Zwei dogmatische Fehler: die Schlange als Teufel und Maria als Erlöserin
Sünde ist nicht Stolz und Ungehorsam
Die Erzählung von Kain und Abel
Die Zweideutigkeit des Opfers
Die Rechtfertigung der Existenz durch Vorleistung und die tödliche Konkurrenz
Der verderbliche Zuspruch der Moral: Beherrsche dich
Erlösung für den Mörder Kain
Der Turmbau zu Babel und die Verwirrung der Sprache
10. Das Grundproblem: die Kontingenz der Existenz
11. Die Drohung mit der Hölle – es gibt sie nicht
Judas zum Beispiel
12. Der Himmel – ein Reifen in Liebe unter Gottes Augen
Bücher im Hintergrund des Gesprächs
Abbildungsverzeichnis
Über die Autoren
Vorwort
Dieses Buch ist die verschriftlichte Fassung eines Gesprächs, das Jörg-Dieter Kogel und ich Ende Januar 2018 in Bremen geführt haben. Wir kennen uns seit vielen Jahren aus der fast schon legendärenRedefreiheit, einer dreistündigen Sendung im Nordwestradio, die zwischen 2008 und 2015 alle vier Wochen von Herrn Kogel als Programmleiter eingerichtet und moderiert wurde, um Menschen mit ihren Fragen anzusprechen und zu Wort kommen zu lassen. Das gleiche Konzept liegt auch diesem Gespräch zugrunde, indem Herr Kogel die Anliegen aufgreift, einfügt, weiterdenkt und zum Problem stellt, die er, ganz wie ich auch, als Hindernisse auf dem Weg zu Gott und zu sich selbst bei vielen herausgespürt hat. Aus einem Gespräch über das Böse und die Vielfalt seiner Vorstellungen und Erscheinungsformen wird so ein Nachsinnen über Angst und Aggression, Verzweiflung und Glauben, Ausgesetztheit und Negiertheit, Kontingenz und Suche nach Berechtigung im Dasein, über Biologie, Sozialpsychologie und Psychoanalyse, über die theologische Lehre von Erbsünde und Erlösung, über die kirchliche Drohung mit der Hölle und die christliche Hoffnung auf den Himmel. Wir haben dieses Gespräch – in Schrägdruck die Stimme von Herrn Kogel, in normaler Type die Versuche einer Antwort – möglichst in Abfolge und Stilform bis in den Satzbau hinein beibehalten, in der Erwartung, den Leser auf diese Weise unmittelbar ansprechen und begleiten zu können. Dass da, wo Angst wohnt, das Vertrauen wächst, bis dass kein »Teufel« ist und Gott allein in unsere Seele Einzug hält,  ist Ziel und Sinn dieses Gesprächs.
I. Gewalt, Leid und »das Böse«
1. Geschichte und Gewalt – Annäherungen an das Böse
Gewaltorgien des Menschengeschlechts sind so alt wie das Menschengeschlecht selbst. Wenn eines verlässlich ist, seit es Menschen auf der Welt gibt, dann sind es Mord und Totschlag sowie ein rücksichtsloser Umgang mit der Natur durch die Menschen. Es wird gemordet, gefoltert, unterdrückt, geraubt und gequält. Über die Jahrhunderte ist die Barbarei perfektioniert worden. Anders gesagt: Das Böse im Menschen scheint für unsere Gattung konstitutionell zu sein. Ebenfalls zu allen Zeiten haben sich die Menschen grundlegend gefragt, woher das Böse kommt. Wer davon redet, denkt meist auch gleich an eine dunkle Macht. Die Neigung zur Personalisierung ist stark ausgeprägt. Für das Böse gibt es eine Figur: den Teufel. Eine Umfrage ergab kürzlich, dass in Deutschland ein Drittel der befragten Menschen an den leibhaftigen Teufel als Verkörperung des Bösen glaubt. Die Vorstellung vom Satan ist bekanntlich nach wie vor Bestandteil der offiziellen Lehre der römisch-katholischen Kirche, doch nicht nur Katholiken, sondern auch viele andere Christen und auch Anhänger des Islams glauben an seine Existenz. In den rauchenden Trümmern des in sich zusammenbrechenden World Trade Centers – 9/11 – soll sich sogar die Fratze des Teufels gezeigt haben, einige glaubten, Osama bin Laden gesehen zu haben. Die Kette terroristischer Anschläge, insbesondere solcher, die im Namen Allahs oder des Korans begangen werden, ist seither nicht abgerissen. Man kann sich sicher sein, dass, wer heute fragt, was »das Böse« oder wer »die Bösen« seien, zur Antwort bekommt: der Islamische Staat und die islamistischen Terroristen.
Was Sie da malen, ist erschreckende und eindrucksvolle Wirklichkeit für jeden Zeitungsleser und Fernsehzuschauer. Wenn wir vom Bösen sprechen, meinen wir eine übermenschliche Macht, die wir im Teufel gegenwärtig finden, eine Gestalt, die fähig ist, uns Menschen gegen den eigenen Willen zu äußerster Destruktion zu treiben, die besten Absichten in ihr Gegenteil zu verkehren, etwas Unheimliches, nicht Durchschaubares, Unbeherrschbares, im Letzten ein Gegenwille zu allem, was mit dem Leben, mit dem Dasein, mit der Schöpfung gemeint sein sollte, ein Wesen, das nur auf die Verneinung und die Destruktion sinnt und die Menschen zu Instrumenten dieses Planes macht. Wer in dieser Art vom Teufel spricht, ver­rät insgesamt die Kapitulation, das Phänomen des Bösen zu begreifen. Das Böse entzieht sich in seiner personalisierten Gestalt der Fassbarkeit. Es ist überwältigend, rasend, ungebärdig, anfallähnlich, im Menschen wirksam und trotzdem jenseits dessen, was Menschen sind und sein sollten. 
Entscheidend bleibt, dass wir mit dem Begriff des Bösen zunächst etwas Moralisches meinen, sonst würden wir es sicher nicht einem Willen zuschreiben, der personifiziert im Teufel vorgestellt wird. Es liegt darin moralisch eine fast exorzistische Abwehrhaltung: Wir dürfen uns darauf nicht einlassen. Wir müssen uns dagegen wehren, ohne freilich so recht zu wissen, wie wir das tun könnten. Dem Teufel abzuschwören, ist für einen Christen sogar im Taufversprechen schon des kleinen Kindes stellvertretend durch die Paten Pflicht: Widersagt ihr dem Teufel mit all seinem Gepränge? Die gleiche Frage wird später bei der Firmung des Kindes mit etwa 13 Jahren ein zweites Mal wiederholt. Wer vom Teufel redet, braucht eine quasi magische, apotropäische Form, ihn von sich selber fernzuhalten. Aber dann entdecken wir das Dämonische, das in uns selber steckt, ohne dass wir verstünden, wieso. Der IS etwa gilt uns als das Böse schlechthin. Osama bin Laden verkörpert den Satan. Wir könnten die Liste solcher Inkarnationen des Bösen endlos fortsetzen. Milošević auf dem Balkan war ein zweiter Hitler, Saddam Hussein der Wahnsinnige in Bagdad, auch er ein zweiter Hitler; undder muss politisch korrekt als die Verkörperung des Bösen an sich betrachtet werden, als eine Heimsuchung der Deutschen, die wie ein Meteorit vom Himmel gefallen ist.
Wenn wir so sprechen, reden wir von etwas Absolutem, das eigentlich keine Vor- und keine Nachgeschichte hat, das uns beherrscht, ohne dass wir damit einen anderen als abwehrenden oder selbstzerstörerischen Kontakt aufnehmen könnten. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang kein Satz verräterischer als die Bemerkung des sogenannten Friedensnobelpreisträgers Barack Obama im Jahr 2013: Diese – damit meinte er den islamistischen Terrorismus – verstehen nur die Sprache der Gewalt. Wenn es so steht, ist nicht nur die Begreifbarkeit dessen, was da geschieht, nicht länger mehr gegeben, es erlischt bereits der Versuch, im Gespräch den Standpunkt des anderen in irgendeiner Weise sich zugänglich zu machen. Es wäre eine unsinnige Mühewaltung, mit dem anderen, den man für das Böse oder den Bösen hält, sich noch weiter auseinanderzusetzen. Er ist identifiziert als die Verkörperung des absolut Schlechten, und deshalb muss er abgeschafft werden. »Die sprechen nur die Sprache der Gewalt« bedeutet: Wir müssen sie töten – alle. Egal wie wir sie numerisch einteilen, wie wir sie identifizieren als Träger des Bösen – wir müssen sie ausrotten. Es ist so viel, wie wenn unser Immunsystem im Körper einen bestimmten Virustyp als lebensgefährlichen Gegner erkannt hat und nicht ruhen darf, bis es das letzte Virus ausgeschaltet hat. Das Immunsystem merkt sich die Oberfläche des Virus, damit, wenn es je wiederkommt, schneller reagiert werden kann; ganz analog jetzt auch im politischen Raum: Das Programm der Ausschaltung des Lebensfeindlichen, des möglicherweise Tödlichen hat einen Kampf auf Leben und Tod zur Folge, bei dem das Bedrohliche bis zum letzten Rest annihiliert, füsiliert, beseitigt werden muss.
Das sind Begriffe aus der Immunbiologie und Physik …
Das Entsetzliche ist: Wir haben es bei diesem Denken mit Menschen zu tun, nicht mit Viren. Wir befinden uns auch nicht im Ersten Weltkrieg, wo wir ab 1915 planquadratweise Franzosen und Briten ausrotten konnten mit Giftgas, wie wenn wir eine Schädlingsbekämpfung durchführen würden. Wir merken in all dem nicht, dass wir alleine dadurch, dass wir Menschen als die Verkörperung des Bösen ins Absolute dämonisieren, uns selber zu Teufeln machen. Wir halluzinieren uns eine Welt, die von allem Bösen befreit wäre, wenn es uns nur gelingen würde, die richtigen Macht- und Zerstörungsmittel zu platzieren. Wir sehen nicht, wie wir die Welt selber in eine Hölle verwandeln. Alles ruft unter solchen Umständen nach einem Ausweg, den wir aus lauter Angst, in gewissem Sinne auch aus lauter Hilflosigkeit und Ohnmacht, uns selber und dem vermeintlichen Gegner kaum noch zutrauen. Wir müssten die Angst überwinden durch Dialog. Wir müssten vor allem die Vorgeschichte, die Herkunft der Phänomene, die wir als böse identifizieren im moralischen Sinne, uns verdeutlichen: Was geschieht eigentlich in Ländern, deren Kultur im Neokolonialismus oder vor 160 Jahren im Kolonialzeitalter über Jahrzehnte, über Jahrhunderte verwüstet wurden, die zerstört wur­den aus Wirtschaftsinteressen, in denen Demütigungen aller Art eine lange Tradition besaßen und in denen alle sittlichen und humanen Werte wie Freiheit, Fortschritt, Menschlichkeit und Wissen bis zur Lüge pervertiert wurden? Darüber nach­zudenken würde unsere Absolutsetzungen infrage stellen, es würde unsere Maßnahmen des sogenannten Antiterrorkrieges selber diskreditieren. Es wäre der einzige Weg, von der blutigen Gewalt, von der Sie sprechen, endlich loszukommen.
Man kann die menschliche Geschichte als eine Orgie nicht endender Gewalt betrachten, ganz ohne Zweifel, aber umso mehr stellt sich die Frage: Was passiert, wenn Menschen dahin kommen, Gewalt als letztes Mittel zur Lösung ihrer Konflikte zu begreifen, und was meinen wir, wenn wir den Teufel als Erklärung für ein derartiges Verhalten einsetzen, ohne entfernt auch nur erklären zu können, was denn der Teufel eigentlich sei. Wir dämonisieren die moralisch verurteilten oder rätselhaften Anteile im Menschlichen, wir verabsolutieren sie und geben uns damit das Recht, in die Methoden, die wir eigentlich anklagen, selber einzutreten; um das Böse auszuschalten, werden wir davon selber infiziert und drehen uns auf endlose Weise im (buchstäblich jetzt:) »Teufelskreis« – eine Blutmühle ohne Ende, in der wir uns weigern, zu ver­stehen, in der wir uns weigern, uns aufzuschließen für die Gründe und Hintergründe des Beklagenswerten, und in der wir uns außerstande zeigen, im Dialog mit dem vermeint­lichen Gegner und einvernehmlich im eigenen Herzen eine Lösung vorzubereiten.
2. Die Ambivalenz der Natur und die verunendlichte Angst
Sie haben schon darauf hingewiesen: Das Böse ist weiß Gott keine Spezialität derer, die im Namen Allahs Terror, Angst und Schrecken verbreiten. Insbesondere die christliche Geschichte des Abendlandes ist ja reich an Beispielen auf diesem Gebiet. Reden wir also über die Spezies Mensch. Thomas Hobbes hat einmal gesagt: »Schlimmer als ein Wolf dem anderen ist der Mensch einem anderen Menschen.« Und ein Blick in die Vergangenheit und in die Gegenwart zeigt: Der Mensch ist der schlimmste aller Mörder geworden, und es hört nicht auf. Wir lassen uns von Wahnsinnigen regieren, maximale Mordkapazität als Sicherheit, mit Sophokles zu reden: »Nichts ist schauerlicher als der Mensch«, weil er buchstäblich zu allem fähig ist.
Das hat einen langen Hintergrund, der aber zunächst einmal nicht mit dem Teufel zu tun hat, sondern mit der Herkunft des Menschen selber und seiner schwierigen Beheimatung inmitten der Welt, die ihn hervorgebracht hat. Wir schauen uns um, und wir sehen in den Grundtatsachen der Evolution, des Lebens selber, einen Urwiderspruch. Abgesehen von den Archaebakterien, die in den Tiefen der Ozeane an den Black Smokers ihre Energie gewinnen, ist alles Leben auf der Erde angewiesen auf die Sonnenenergie, die in der Fotosynthese der Pflanzen in biochemische Energie umgewandelt wird und dann gespeichert von den Tieren angeeignet werden kann. Wir Menschen leben in einer Mischwelt. Wir leben von Pflanzen, wir leben auch von Tieren, in jedem Falle von anderem Leben, das wir zerstören müssen, um eine kurze Zeit selber am Leben zu bleiben. Wann auch immer es eingetreten ist: Recht bald werden unsere Vorfahren vor zwei Millionen, drei Millionen Jahren gelernt haben, Werkzeuge herzustellen und sie für Jagd auf Kleintiere einzusetzen, viel später weitertragende Waffen oder Wurfgeschosse einzusetzen, um auch größeres Wild zu erlegen. Man erfand die Jagd zum Zwecke des Nahrungs­erwerbs, auf Lebewesen, die uns anschauen, als hätten sie menschliche Gefühle, die mit ihren Lauten signalisieren können, dass sie zweifellos zu Gefühlen wie wir selber imstande sind. Biologen können uns verraten, dass unsere eigenen Ge­fühle im limbischen System im Gehirn das Ergebnis von über zweihundert Millionen Jahren der Säugetierevolution in sich tragen, sodass wir über gewaltige Zeiträume der Ge­schichte des Lebens miteinander verbunden sind. Jeder versteht den Anblick und die Lautkundgabe seiner Katze und seines Hundes, und die umgekehrt auch, wenn wir reden. Die Tiere verstehen nicht Deutsch oder Chinesisch, aber wie wir fühlen, verstehen sie sehr gut. Es ist deswegen nicht möglich, Tiere einfach zu töten, ohne dass uns Skrupel anfechten, ohne dass wir nicht irgendwie wüssten, dass wir etwas tun, was wir nicht tun sollten, aber das wir doch tun müssen, und das uns sogar Freude macht, wenn wir im Erfolgsfalle mit dem getö­teten Tier Nahrung für uns selber oder für die ganze Sippe zur Verfügung stellen können. Die Paläontologen glauben, dass vor allem die Männer darauf spezialisiert waren, über lange Zeiträume und in Gruppen auf die Jagd zu gehen. Die Hauptform des Jagens richtet sich natürlich auf Raubtiere, die dem Menschen selber gefährlich sind, doch der Übergang ins spezifisch Menschliche liegt auf der Hand: Wenn Tiere miteinander kämpfen, haben sie in aller Regel bestimmte Signale, um ohne tödliche Verletzungen, ohne Vernichtungskämpfe ge­wisse Rangstufen abzumessen, ihre Reviere abzustecken und damit die soziale Organisation der Gruppe zum Ausdruck zu bringen. Bei uns Menschen funktionieren die Signale aufgrund ihrer Zweideutigkeit viel weniger effizient. An der Stelle hat Hobbes unbedingt recht: Ein Tier, wenn es einem anderen im Kommentkampf, zum Beispiel um den Zugang zu einem Weibchen zu erstreiten, unterlegen ist, wird vom Felde gehen, ohne dass seine Niederlage für es selber weitere Folgen hat. Bei uns Menschen ist das anders. Wir wissen, dass der Besiegte nachdenken wird, warum er schwächer war in dem Moment der Auseinandersetzung. Ihm wachsen nicht wie ei­nem Hirsch naturgemäß weitere Enden des Geweihs. Er verfügt über Waffen, über Nachdenklichkeit, über Strategie; und all das kann er verbessern. Er ist bei seiner Niederlage unbedacht auf eine Lichtung gelockt worden, aber künftig kann er selber den An­griffs­punkt wählen, er kann den Überraschungsvorteil kalkulieren, er kann die Organisation der Auseinandersetzung mitbestimmen. Eines steht fest: Der andere, wenn er unterlegen ist, wird beim nächsten Mal gefährlicher zurückkommen, als er je war.
Diese Tatsache hat vor vielen Jahren schon Verhaltens­forscher wie Nikolaas Tinbergen sagen lassen, wir Menschen seien vermutlich die einzigen in der Evolution, die gelernt hätten, dass der Tod des Gegners eine endgültige Lösung einer Auseinandersetzung darstellen könnte. Wir können den Satz auch umkehren: Es ist in uns Menschen eine Angst gewachsen, wie kein Tier sie kennt. Tiere erleben Angst momentan, in Gefahrensituationen, und sie reagieren instinktiv darauf, wie es im Artdurchschnitt als überlebensgünstig sich erwiesen hat. Wir Menschen indessen können uns vorstellen, dass, weit überragend den Gefahrenaugenblick jetzt, in die Zukunft hinein projizierbar die gleichen Gefahren auftreten werden, unheimliche, vergrößerte, unbeherrschbare, wenn wir nicht im Vorlauf etwas dagegen tun. Nehmen wir als des Furchtbaren Beispiel nur das Grundmodell: Jemand ist unterlegen einzig deshalb, weil er in dem Waffensystem, das ihm zur Verfügung stand, schwächer war. Wir müssen nur zurückdenken an die Zeit des sogenannten Kalten Krieges und an die Bereitschaft, Atombomben, Wasserstoffbomben, Neutronenbomben einzusetzen in der Einbildung, dass, wenn wir die größte Waffe besäßen, die tödlichste, eine, die Hunderttausende von Menschen, die Millionen Menschen mit einem Schlage tötet, wir so uns etwas wie Sicherheit schüfen: »Balance of Power – Gleichgewicht des Schreckens«, das waren die Worte, die wir für Frieden genommen haben. Wenn wir derart vernichtende Tötungskapazitäten anhäufen, dass wir die Menschheit im Ganzen ausschalten könnten, dann wäre das die optimale Form von Sicherheit. So sehen wir etwa 1953 im amerikanischen Wahlkampf Harry S. Truman dabei, zu überlegen, wie er seine Wählbarkeit durch Machtentfaltung dem amerikanischen Publikum demonstrieren könnte, und wie er zu diesem Zweck überlegt, entsprechend den Einflüsterungen seiner Militärberater, wie viele Bomben man braucht, um die kommunistische Hydra zu enthaupten. Ungefähr so: drei Atombomben auf Sankt Petersburg, vier auf Moskau, fünf auf Magnitogorsk und so weiter. Wir haben die Bomben, wir können damit drohen, wir können im Notfall damit zuschlagen.
Und das wird dann auch noch Politik genannt.
Wenn das Politik ist, Sicherheit zu definieren durch maximierte Tötungskapazität, haben Sie die Aufgipfelung dessen, was Sie einleitend eben beschrieben haben: eine mörderische Geschichte. Aber wir schreiben sie jetzt nicht mehr dem Teufel zu, wir schreiben sie der Angst zu, die der eine Mensch vor dem anderen hat. Wir sind biblisch gesprochen in der Geschichte von Kain und Abel. Wir brauchen keinen Dämon, wir sind ausgeliefert einem Sicherungsbedürfnis, das wir ins Unendliche treiben, weil wir Verstand haben, uns aber gleichzeitig außerstande zeigen, mit dem Verstand diese verunendlichte Angst wieder zurückzurufen. Dazu bräuchten wir ein Vertrauen, das uns davor bewahrt, die Welt in die politisierte Paranoia hineingleiten zu lassen. Deshalb in gewissem Sinne scheint es in vielen Kulturen, in vielen theologischen Systemen ungleich viel einfacher, den Teufel ins Spiel zu bringen, denn dann haben wir die Durcharbeitung unserer eigenen Gefühle und Gedanken sowie unserer kulturgeschichtlichen Standards nicht nötig. Dann aber sind wir ausgeliefert uns selbst gegenüber, und wir können auf magische Formeln sinnen, die uns spukhaft das, was wir selber nicht beherrschen können, mit magischen Mitteln dennoch als beherrschbar erscheinen lassen.
Sie haben auf mein Zitat von Thomas Hobbes »Schlimmer als ein Wolf dem anderen ist der Mensch einem anderen Menschen« geantwortet mit einem Ausflug in die Evolutionsgeschichte des Menschen und versucht zu erklären, warum der Mensch so geworden ist, wie er ist, vor allen Dingen politisch handelnd. Ich möchte ein anderes Beispiel geben: Im März 2015 reißt ein an Depressionen leidender Kopilot hundertneunundvierzig unschuldige Menschen in den Tod, indem er sein Flugzeug in den Pyrenäen gegen einen Berg fliegt, darunter einige Schüler aus der Nähe Ihrer Heimatstadt, die auf Klassenfahrt waren. Da haben alle – ich gehöre auch dazu – gesagt: Das muss der Ausdruck des Bösen sein.
So werden wir sprechen, wenn wir eine Tat mit furchtbaren Folgen einer bewussten Entscheidung unterstellen und moralisch bewerten. Wenn wir hingegen schauen, wie Menschen dahin kommen, so zu handeln, wie es etwa in Ihrem Beispiel geschehen ist, haben wir etwas ganz Anderes vor uns. Ohne uns in die Psychologie dieses uns im Grunde unbekannten Piloten einzuarbeiten, muss und kann man doch denken, dass er ein hilfloser Mensch war, ein getriebener, überforderter, der sich zum Piloten vor allem hochgearbeitet hat, um irgendetwas in seinem Leben zu vollbringen, angesichts dessen er Respekt vor sich selber haben könnte und mit dem er auch den anderen beweisen könnte, dass er jemand ist, auf den man schaut, der wirklich zu etwas imstande ist. Wenn all das kollabiert, weil der Anspruch dieses Ideals viel zu hoch ist und weil die Nichtbeachtung umgekehrt ostentativ unerträglich wird, kann man darauf kommen, etwas Spektakuläres zu tun, etwas Unvergessliches, Großes, nun aber nicht mehr positiv, sondern destruktiv. Die ganze psychische Energie prallt gegen die gefühlte Mauer der Ablehnung, flutet zurück und katalysiert sich im Katastrophischen. In jedem Falle hat man vor sich schon im Tathergang, aber sicherlich auch in der zugrunde liegenden Psychologie einen Menschen, der die anderen durchaus nicht mehr wahrnimmt. Es ist ihm egal, ob an Bord Schüler sich befinden oder Erwachsene, ob da zwei Schüler sind oder hundertfünfzig Schüler – es ist völlig egal, was die Folge des selbstverursachten Absturzes sein wird. Sie haben jemanden vor sich, der im Innenraum seiner Seele wie in einem inneren Kerker eingeschlossen ist, ohne dass Licht von draußen noch hineinfiele, buchstäblich jemanden, der blind an den Wänden seiner Seele tastet mit einer Bombe in der Hand – einen Verzweifelten.
3.Leid, das Leiden schafft
Das wird natürlich die Anverwandten und Angehörigen derer, die unschuldig zu Tode gekommen sind, nicht im Mindesten trösten.
Von Trost ist jetzt auch noch gar nicht die Rede, nur von der Erfassung des Vorgangs. Trost spielt eine Rolle in der Beziehung eines Menschen, der den anderen lieb hatte, dem an ihm lag und der ihn durch ein unbegreifbares Schicksal verloren hat. Trost müsste einen Ausweg bieten, um über die Trauer hinweg zu reifen. Die Erklärung, das Unglück ist passiert durch jemanden, dem wir moralisch die Schuld an der Katastrophe geben können, tröstet auch nicht. Eine solche Erklärung kann allerdings Affekte von Wut und Zorn zusammenführen. Auch eine solche Reaktion ist archaisch genug.
Abb. 1: Gislebertus, Das Jüngste Gericht, Detail, Steinmetzarbeit, 1120–1135, Tympanon, Kathedrale Saint-Lazare in Autun, Frankreich © mauritius images/Alamy RF/Arthur Greenberg.
Das Hauptportal der Kathedrale von Autun zeigt die endgültige Auseinandersetzung zwischen Gott und Teufel. Doch ist eine so klare Trennung von Guten und Bösen möglich, wenn man die Menschen in einer solchen Hilflosigkeit wahrnimmt? Der Mensch: ein solches Wesen braucht Hilfe und Mitleid, nicht noch weitere Strafen und Vorwürfe.
Wenn wir eben von den Wölfen sprachen und dem Erbe der Säugetiere in unserem Gefühlshaushalt, passt dieses Erklärungsschema gerade auch hier: Eine Mutter, ein Vater werden es als ihre biologische Aufgabe begreifen, das Kind, das sie zur Welt gebracht haben, gegen jegliche Gefahr zu schützen. Wenn sie nun erleben, dass sie das nicht vermocht haben, werden sie überlegen, warum sie das nicht konnten, beziehungsweise was sie hätten tun müssen, um es zu erreichen. Das ­Paradoxe eines solchen Unglücks ist: Sie erleben Schuld­gefühle, sie haben die Pflicht versäumt, ihr Kind zu schützen gegen alle Gefahr. Objektiv haben sie das nicht vermocht. Und sie machen sich dafür Vorwürfe. Die Frage stellt sich deshalb: Wie hätten wir es denn trotz allem ge­konnt? Also bleibt ein Handlungsimpuls gegenwärtig, der die Vergangenheit unter allen Umständen korrigieren möchte. Und so entsteht die einfachste Antwort fast obsessiv: Wenn wir den Täter rechtzeitig hätten töten können, dann würden wir es geschafft haben, denn dann hätte es ihn ja gar nicht gegeben. Wir projektieren deshalb eine Strafe für den vermeintlich Schuldigen in die Zukunft, um ihn auszuschalten, sodass er in der Vergangenheit niemals das hätte tun können, was er getan hat. Es ist ein verdrehter Zeitspiegel: Rückwärts schauend sehen wir in eine Zukunft, die wir uns wünschen, um die verwunschene Vergangenheit zu tilgen – eine Unmöglichkeit, eine Erleichterung in Revanche- und Rachegefühlen, aber kein Trost. Im Gegenteil, nur wieder ein Ausdruck von Verzweiflung.
Auf diese Weise bekommen wir ein Beispiel, wie das sogenannte Böse, sagen wir jetzt vielleicht analytisch klarer: das Zerstörerische, Destruktive, Verzweifelte, sich selber fortzeugt aus Schmerz, aus Leid. Das Leid ist der Katalysator des Bösen, es ist die Vermittlungsgröße des Zerstörerischen, keinesfalls der böse Wille, wohl aber der Schmerz, wohl aber ­enttäuschte Liebe, wohl aber ins Leere greifende Pflichtgefühle und nachgeholte Handlungsimpulse, die wie ein Befehl aus dem archaischen Erbe unseres Säugetiergehirns Platz greifen mitten in der Kultur. Eine solche Reaktion des Leids ist etwas, das uns affektiv derartig heimsucht, dass wir unter dem Druck des Schmerzes um beliebig lange Zeiträume in der Ge­schichte des Lebens in archaische Handlungsgewohnheiten zurückfallen. Wir könnten den Mörder unserer Kinder ermorden.
4.Der Begriff des Bösen
Vielleicht sollten wir an dieser Stelle fernab von Trost und Psychologie uns einmal fragen, ob denn das überhaupt richtig sein kann, dass wir nur bei Menschen von Böse und im Umkehrschluss manchmal von Gut sprechen.
Gut und Böse sind moralische Begriffe, wie wir schon sagten, und sie rechtfertigen sich allein mit der Annahme, dass hinter unseren Taten ein freier Wille stünde, über den wir selber Entscheidungsmacht hätten und der sich ordnen ließe entlang bestimmter moralischer Wertsysteme und gewisser Regelwerke des richtigen Verhaltens. In Wirklichkeit liegen Gut und Böse, wie wir sehen, unserem Willen schon voraus, sie sind ganz sicher tiefer als alles, was wir als Menschen planen können. In der Natur selber liegen die Widersprüche.
Angedeutet haben wir das soeben schon: Um zu leben, muss man töten. Krasser ist der Widerspruch in unserer Existenz schon von den biologischen Grundlagen her gar nicht zu formulieren. Alles, was wir in der Natur feststellen, lebt oder existiert in den Ambivalenzen des Widerspruchs. Es schafft etwas, das uns, als förderlich für das Leben, im Gefüge des Lebens auch als sinnvoll erscheint, und doch kann es die gleiche Energie sein, die zerstörerisch wirkt. Was ist jetzt Gut und Böse?
Wenn wir zur Lösung der Frage den Teufel bemühen, sitzt er in der Natur selber und ist genau die Person, die in ihrer Freiheit und in ihrem Willen dafür sorgt, dass das Zerstörerische in jedem Fall auch passiert, indem sie unsere eigene Freiheit verführt und ausschaltet. Lassen wir den Teufel aber einmal fort, legt sich eine ganz nüchterne, ruhige, allerdings nicht weniger aufregende Betrachtung nahe: Wir sehen, dass zur Natur selber in ihrer Begrenztheit und in ihrer Endlichkeit die Widersprüche notwendig gehören. Wir können dann Gut und Böse auf eine einfache Weise definieren. Wir müssen sagen:Gutist das Erstrebenswerte. Das ist eine Definition, die in der Philosophie, sogar theologisch noch in der mittelalterlichen Scholastik, gefunden wurde. DasBöse ist umgekehrt dasjenige, das als zu Fliehendes, zu Meidendes empfunden wird. Mit Moral hat eine solche Definition zunächst noch gar nichts zu tun, obwohl sie sich dahin zwanglos zu verlängern scheint. Das Anzustrebende ist als allererstes gebunden an ein Signalsystem, an ein Reiz-Reflex-Schema, später dann an Affekte.
Die Signalsysteme in der Biologie waren, wenn wir das etwas näher betrachten, am frühesten vermutlich olfaktorisch: Man roch das, was man anzustreben hatte, so wie es die Insekten heute noch tun. Das geht bis dahin, dass manche Forscher inzwischen meinen, es folgten schon bei der Befruchtung die Samenzellen auf der Suche nach einer Eizelle olfaktorischen Signalen. Sie streben an, was in der Chemie von geruchsähnlichen Wahrnehmungen sich als Anzustrebendes vermittelt und kanalisiert: »Da musst du hin, das ist anzustreben, das ist gut.« Alle Bewegungen, alle Tätigkeiten gehen entsprechend einem solchen Signal in die angegebene Richtung. So elementar sogar für die Begründung des Lebens sind Systeme, die mit Gutem und Anzustrebendem zu tun haben.
Die taktilen Systeme sind ebenso geartet: Etwas ist weich, dann ist es angenehm, etwas ist hart, dann mag es unter Umständen von Nutzen sein, etwas ist scharf und beginnt weh zu tun, dann wird man die Hand zurückziehen, reflexartig, augenblicklich; und schon hat man das Gute in dem Sinne des Anzustrebenden, und man erhält das Böse in dem Sinne dessen, was man meiden sollte. Das sind die beiden ersten Orientierungssysteme überhaupt für Gut und Böse: das Anzustrebende und das zu Meidende. Erst wenn wir hinter dem Grundschema solcher Bestrebungen Werte, die wir dann als moralisch definieren, anzutreffen meinen, geraten wir von einer natürlichen Appetenz oder Vermeidungshaltung zu einem willentlich gelenkten Mögen und Ablehnen. Dann ist von Gut und Böse zum ersten Mal auf der Ebene des Moralischen überhaupt die Rede. Aber der Weg vom einen zum anderen ist so weit, dass wir die gesamte Psychologie, in ge­wissem Sinne die gesamte Kulturgeschichte und die ge­samte Geistesgeschichte, dazwischenschalten müssen, um von dem Urtümlichen, das in der Biologie jeder Mikrobe, jedem Insekt, jedem Lebewesen zeigt, was Gut und Böse ist, zu einem Verhalten von Menschen zu gelangen, bei dem wertbestimmt sogar unter Inkaufnahme von Schmerz und Leid eventuell etwas Gutes getan werden soll, weil es richtig ist, und umgekehrt etwas Böses entsteht unter den Reflexen von Leid aufgrund der Zerstörung bestimmter Werte.
II. Woher kommt der Teufel?
1.Die Gestalt des Teufels als negative Seite der Natur
Viele Menschen haben den Eindruck, dass das Böse zugenommen hat, dass es geradezu Konjunktur hat. Das Gleiche gilt übrigens auch für den Teufel. Ich habe eingangs eine Umfrage erwähnt, der zufolge dreißig Prozent der Menschen in Deutschland glauben, es gäbe den leibhaftigen Satan. Der Teufel feiert also ein grandioses Comeback. Welche Erklärungen haben Sie dafür?
Das eine ist: Wir sollten einmal überlegen, was mit dem Teufel gemeint war und ist. Er hat nicht heute wieder Konjunktur, ohne dass er eine lange Geschichte seiner Gefolgschaft schon gezeitigt hätte. Ein Moment, das uns den Teufel neuerdings vor allem in der Esoterik wieder nahebringt, scheint mir in der sonderbaren Vorstellung zu liegen, dass wir es durch die naturwissenschaftliche Forschung und durch technische Nutzung unserer Kenntnisse geschafft hätten, die Natur zu kontrollieren und die menschliche Geschichte so durchzurationalisieren, dass wir in klarer politischer Programmatik die Zukunft definieren könnten und buchstäblich Herr unserer Befindlichkeit wären, mit der Folge, dass jedes Malheur fast justiziabel einklagbar wird. Ein Arzt hat jemanden operiert, die Operation hat aber den gewünschten Erfolg nicht gezeitigt. Hat er also einen Fehler begangen? Besteht die Vermutung zu Recht, dass er in der Operation, die für meine Mutter entscheidend war, etwas falsch gemacht hat? Dann habe ich das Recht, beinahe die Pflicht, zum Rechtsanwalt zu gehen und den Halbgott in Weiß zu verklagen. Ein Fehler in der Be­handlung ist möglich, und man muss dem Anfangsverdacht nachgehen. Es hat in diesem Weltbild nicht zu passieren, dass uns irgendein Malheur unterläuft. Wohl, Menschen sind fehlbar, aber wir halluzinieren uns als Götter, die keine Fehler begehen dürfen. Wenn dann doch Unvorhergesehenes ge­schieht, ist der Schrecken darüber so gewaltig, dass wir denken, es müsse spuken, es gehe nicht mit rechten Dingen zu, es sei eine fremde Macht im Spiel, denn an uns kann es ja nicht liegen. Wir sind so richtig, auch ständig so kontrolliert, be­obachtet, beherrscht und beherrschbar, dass Desaströses, De­struktives, Tragisches nicht zu sein hat. Und doch: Wir wissen zum Beispiel, dass wir das Klima für das Jahr 2050 nicht im Voraus kontrollieren können, aber wir tun so, als ob wir das könnten. Dann sucht uns überraschend ein Hurrikan heim, und wir schieben es der eigenen Schuld zu: Es wird die Klimaerwärmung sein, es werden die Dieselabgase sein, irgend­etwas, das wir eigentlich doch hätten kontrollieren können. Wir tun es aber nicht. Wir haben einen Markt, der mit der Autoindustrie gar nicht so beherrschbar ist, wie wir ihn brauchen würden. Hinzu kommt: Es ist noch nicht mal wissenschaftlich vollkommen erwiesen, was es mit der Klimaerwärmung eigentlich auf sich hat. Es hat gewaltige Phasen von Erwärmungen und Eiszeitenbildung in der Geschichte immer wieder gegeben. Denken wir nur daran, dass gerade die Nordsee dabei ist, seit etwa achttausend Jahren aufzulaufen durch das Abschmelzen vor allem der fennoskandischen Gletscher. Das ist nicht Menschenwerk. Die Elbe floss einmal mit der Themse ungefähr auf der Höhe von London zusammen. Inzwischen ist die Nordsee vollgelaufen, weil wir im ganzen eine Erwärmungsphase, ein Interglazial, erleben, das uns seit zweitausend Jahren die Dünkirchen-Transgression beschert, wobei alle hundert Jahre um etwa zwei Zentimeter der Meeresspiegel ansteigt. Wir glauben uns gleichwohl definitorisch sicher: Wir sind die Ursache der Klimaerwärmung. Wohl: Dass es einen Treibhauseffekt gibt, der zu tun hat mit dem Ausstoß unserer CO2-Schadstoffe – Methangas lassen wir meistens außer Acht –, ist sicherlich plausibel. Aber in welchem Maße wir davon irgendetwas zurückrufen können, wie viel wir davon wirklich angerichtet haben, halte ich für schwer beschreibbar. Die Illusion jedenfalls, wir könnten die Zukunft bestimmen, wir sähen sie vorher, ist erweisbar derart unsinnig, dass allein schon zwischen Erwartung und potenzieller Enttäuschung eine Irrationalität sich auftut, die wir dann mit Dämonen zu füllen geneigt sind. Da ist irgendetwas nicht richtig, geheimnisvoll, rätselhaft, unheimlich.
Und schon sind wir bei der Beschreibung des Teufels, mit der wir vorhin begonnen haben.
Für manche Gemüter ist damit verbunden ein Rückgriff in ein Vorstellungssystem, das in vielen Religionen einmal geherrscht hat. Ein Beispiel: In Mexiko bebt die Erde. Wir können heute erklären warum: Wenn die Nazcaplatte auf die Atlantische Platte driftet und dadurch riesige Gebirgsketten sich auffalten: die Anden, die Kordilleren, und dazwischen das kleine Mexiko, oder wenn die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Platten im Andreasgraben genau unter dem Stadtgebiet von Los Angeles irgendwann durch die Reibungskräfte ein Erdbeben erzeugen werden, das eine Millionenstadt zusammenstürzen lassen könnte, so scheint mir eine solche Vorhersage sicherer, als dass wir das Klima in fünfzig Jahren kennen würden. Die mittelamerikanischen Indianer hatten für Erdbeben demgegenüber eine einfache Erklärung: Die Erde bebt, weil der Gott des Erdbebens Tepeyollotli von unten her mit Riesenmacht die Welt erschüttert. Ähnlich auf Hawaii: Dort kannte man die Göttin Pele. Ihre Geschichte enthielt sogar eine ökologische Warnung. Pele war zornig, wenn die Menschen eindrangen in ihr – wir würden sagen – Naturschutzgebiet, in die Heiligkeit einer intakten Welt, und sich darin benahmen auf eine Weise, die zerstörerisch ist, dann brachte die Vulkangöttin Pele auf Hawaii die Menschen durch Erdbeben und Vulkanausbrüche zur Räson. Die Geologen können uns das Phänomen heute weniger mythisch erklären: Es wandert die Erde über einen Hot Spot, und an den Brennpunkten entsteht eine ganze Kette von eruptiven Vulkanen. Die Naturwissenschaft braucht keine Göttin Pele und keinen Erdbebengott Tepeyollotli, aber was ist mit der bloßen naturwissenschaftlichen Auskunft an Weisheit gewonnen? Die Frage im Hintergrund bleibt: Wie leben wir in einer Welt, die ist, wie sie ist, sonst gäbe es keine Erdbeben, und die so sein muss, wie sie ist, inklusive all ihrer Katastrophen, denn sonst gäbe es uns nicht. Erdbeben etwa haben gewaltige Folgen in der Entstehung des Lebens. Wasser ist aus den Vulkanen mit an die Erdoberfläche gekommen, ebenso eine Fülle von kostbarsten Mineralien und Metallen. Die Erdwärme im Inneren ermöglicht zuallererst, dass die Oberfläche, die kleine, winzige Oberfläche der Erde, Leben tragen kann. Wäre die Erde so kalt, dass es keine Erdbeben gäbe, gäbe es auch kein Leben auf diesem Planeten. Wir brauchen also unter anderem die Erdbeben, um zu existieren. Bei jedem Erdbeben sehen wir auf das eindringlichste auch, dass wir für den Gang der Welt keine große Bedeutung haben. Es ist der Natur egal, ob ein Erdbeben in der Wüste Gobi ausbricht, wo kaum ein Mensch lebt, oder ob auf Los Angeles’ Boden Hunderttausende von Menschen leben. Die Geschicke der Geologie formen die Schichtungen der Erdrinde, aber sie nehmen keine Rücksicht auf die Gegebenheiten humaner Geschichte.
Die Ambivalenz des Welterlebens hört also nicht auf, sie nimmt auch naturwissenschaftlich eigentlich nur einen kla­reren, scheinbar rationaleren Ausdruck an. Dieser Eindruck wird uns nicht verlassen, auch und gerade in dem ganzen Gespräch über den Teufel. Die Kernfrage lautet: Wie leben wir in und mit einer Welt, die uns hervorbringt, aber nicht wirklich meint? Die zulässt, dass es uns gibt, aber in absoluter Gleichgültigkeit uns auch wieder zurücknimmt?