Gestalttherapeutische Kompetenzen für die Praxis - Phil Joyce - E-Book

Gestalttherapeutische Kompetenzen für die Praxis E-Book

Phil Joyce

0,0

Beschreibung

Mit diesem Standardwerk liegt eine praktisch orientierte Einführung in alle Anwendungen des Gestaltansatzes vor, die entlang des therapeutischen und beraterischen Prozesses mit zahlreichen Handreichungen als Lehrbuch für Psychotherapie, Beratung und Ausbildung dient. Sie liefert sowohl dem Einsteiger als auch dem erfahrenen Praktiker umfangreiches Material. Besonders stehen die Kompetenzen im Mittelpunkt, die aus der Theorie der Gestalttherapie und aus der therapeutischen Beziehung erwachsen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 592

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



IGW-Publikationen

Hg. Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW)

Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien)

Institut für Integrative Gestalttherapie Schweiz (IGWSchweiz)

Die Reihe wird gemeinsam vom Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW) und dem Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien) sowie dem Institut für Integrative Gestalttherapie Schweiz (IGWSchweiz) herausgegeben. Die Schwesterinstitute wollen damit im deutschen Sprachraum einen Beitrag leisten zum öffentlichen fachlichen Diskurs unter Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten sowie bei gegebenem Thema auch Personen, die andere Therapieansätze vertreten. Als Autorinnen und Autoren treten Lehrende und Graduierte der Institute auf, aber auch andere Kolleginnen und Kollegen.

Verantwortlich für die Reihe sind:

Peter Schulthess, Zürich (IGW), und Heide Anger, Wien (IGWien)

Die AutorInnen

Phil Joyce ist Senior Tutor am Metanoia Institute, London, einem der international führenden Gestalt-Ausbildungsinstitute; er arbeitet als Gestalttherapeut und Supervisor in freier Praxis.

Charlotte Sills ist Senior Tutor am Metanoia Institute, London, und Co-Direktorin der Coaching-for-Consultants-Kurse am Asgridge College; darüber hinaus arbeitet sie in in freier Praxis.

© 2015 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbachwww.ehp-koeln.com

© für die englische Ausgabe: Phil Joyce and Charlotte Sills 2010First edition published 2001; second edition published 2010Titel der Originalausgabe: Skills in Gestalt Counselling & Psychotherapy.2. überarbeitete Auflage, 2012, London, Sage

Aus dem Englischen von Luna Gertrud Steiner

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich

Umschlagentwurf: Uwe Giese

– unter Verwendung eines Bildes von Imke Pitro-Riedel (o.T.) –

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, BerlinGedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

ISBN 978-3-89797-907-9 (Print)ISBN 978-3-89797-588-0 (EPub)ISBN 978-3-89797-589-7 (PDF)

INHALT

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort zur zweiten englischen Ausgabe

Teil I: Gestalttherapie in der Praxis

1 Sich auf die Reise vorbereiten

2 Phänomenologie und Feldtheorie

3 Gewahrsein

4 Die therapeutische Beziehung

5 Beurteilung und Diagnose

6 Behandlungsüberlegungen

7 Die Stützung stärken

8 Scham

9 Experimentieren

10 Abstufungen des Kontakts: Die Beziehung regulieren

11 Unerledigte Geschäfte

12 Übertragung und Gegenübertragung

13 Der Prozess im Körper

14 Mit Träumen arbeiten

15 Supervision in Anspruch nehmen und Ihren Stil finden

16 Der reflektierende Praktiker

17 Das Ende der Reise

Teil II: Wie man schwierige Begegnungen managt 281

18 Das Risiko abschätzen und managen

19 Depression und Angst

Teil III: Gestaltpraxis im Kontext

20 Kurzzeittherapie

21 Diversität, Kultur und Ethik

22 Spirituelle Beratung

23 Gestalt und Coaching

Anhang

Literatur

Index

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Auf dieses Buch von Phil Joyce und Charlotte Sills sind wir Reihenherausgeber der IGW Schriftenreihe im Verlag EHP von einigen unserer Ausbilder aufmerksam gemacht worden, welche international lehren und deswegen auch englischsprachige Literatur verwenden.

Das Buch ist als Lehr- und Arbeitsbuch so praxisnah und umfassend gemacht, dass es unseres Erachtens unbedingt auch in deutscher Ausgabe zur Verfügung stehen soll, denn ein solch kompaktes Buch gibt es bisher im deutschen Sprachraum nicht.

Die Autoren bieten eine gekonnte und leicht verständliche Einführung in die Gestalttherapie auf dem heutigen Entwicklungsstand. Diese ist sehr praxisbezogen, mit Beispielen erläutert und Übungsvorschlägen versehen. Es werden alle Konzepte und Aspekte der Gestalttherapie vermittelt, die in der klinischen Praxis relevant sind. Auf die besondere Arbeitsweise mit Menschen mit einigen oft vorkommenden Störungsbildern wie Depression, Ängsten, Suizidalität, wird besonders eingegangen.

Mit der Breite der Themen, die hier besprochen werden, liegt ein Werk vor, das sich bestens eignet für die Ausbildung klinisch tätiger Gestalttherapeutinnen. Auch Personen aus anderen Therapierichtungen werden das Buch mit Gewinn lesen. Man kann nicht bloß »über die Schulter schauen«, wie die Autoren arbeiten, sondern es werden auch Aspekte besprochen wie die Forschung (mit Animierung zu einer eigenen Forschungstätigkeit ohne großen Aufwand), institutionelle Beschränkungen, kulturelle und ethische Fragen und auch die spirituelle Dimension der Psychotherapie.

Das Buch enthält auch einen Beitrag zum Gestaltcoaching, sodass es auch lesenswert ist für in der Beratung Tätige.

Der Natur eines aus einer anderen Sprache übersetzten Buches entsprechend enthält der Band seitens der Autoren englische Literaturverweise. Wir haben diese so belassen, aber durch deutsche ergänzt. Grundsätzlich verweisen wir auch auf die umfangreichen deutschsprachigen Handbücher und Sammelbände die zu allen Themen publizistische Hilfe anbieten.

Ich bin sicher, dass dieses Buch einen festen Platz in der Ausbildungsliteratur einnehmen wird.

Peter Schulthess

Vorwort zur zweiten englischen Ausgabe:

Skills in der Gestaltberatung – eine ganzheitliche Perspektive

Als 1999 die erste Ausgabe dieses Buchs in Vorbereitung war, schrieben wir:

»Unsere Erfahrung als Trainer und Supervisoren hat uns zur Kenntnis gebracht, wie viele wunderbare Bücher über Gestalt-Philosophie und Gestalt-Theorie und wie wenige über die tatsächliche klinische Praxis in Umlauf sind. Zwar gibt es Beschreibungen von Techniken und Fertigkeiten, aber die sind über die ganze Fachliteratur verstreut, und der Praktiker bekommt keinen umfassenden Überblick geboten. Anfänger wie fortgeschrittene Ausbildungskandidaten sind oft verdutzt und verloren ob der verschiedenen Wahlmöglichkeiten in den unterschiedlichen klinischen Situationen, besonders dann, wenn sie festhängen (was jedem von uns passieren kann).

Sie zeigen sich oft unsicher hinsichtlich wesentlicher Aspekte guter allgemeintherapeutischer Praxis, z. B. wenn sie das Risiko bei autodestruktiven, labilen Klientinnen einschätzen sollen, die Auswirkungen kultureller Unterschiede zu berücksichtigen sind, ethische Dilemmata und Probleme gelöst werden wollen oder ein kompetentes Therapieende herbeizuführen ist. Wir möchten hier möglichst viele dieser Schlüsselfragen sowie gestaltspezifische Gesichtspunkte thematisieren, z. B. wie man unerledigte Geschäfte abschließt, wie man mit Körperprozessen arbeitet, eine Retroflexion auflöst oder eine prozessuale Diagnose stellt. Natürlich ist uns die Gefahr bewusst, die ein skill-basierter Ansatz birgt. Ein gängiges Stereotyp in der Öffentlichkeit, aber auch in professionellen Zirkeln lautet, die Gestalttherapie sei bloß ein Sammelsurium an Techniken bzw. sie bestehe überhaupt nur aus zweien (›ein Polster kaputt zu machen und mit einem leeren Stuhl zu reden‹). Es ist uns daher ein Anliegen, unser Credo kundzutun, nämlich dass Gestaltberatung und -psychotherapie fest im Boden einer holistischen Lebensphilosophie und -praxis wurzeln, innerhalb derer es, in zweiter Linie, gewisse Techniken und Fertigkeiten gibt.«

Unserer Meinung nach besitzen diese Worte immer noch Gültigkeit, nun da die zweite Auflage in Vorbereitung ist.

In den letzten Jahren haben zahlreiche Entwicklungen auf dem allgemeinen Therapiesektor stattgefunden:

♦ Ein umfangreiches neurowissenschaftliches Befundkorpus, das nun auf physiologischer Ebene nachweist, was Gestalttherapeuten mitunter schon jahrzehntelang vermutet und klinisch beobachtet haben.

♦ Die zunehmende Hinwendung anderer Psychotherapierichtungen zur Intersubjektivität und der Nachdruck, den man auf die die ko-kreierte therapeutische Beziehung legt – ein Schwerpunkt, den die Gestalt schon seit Jahrzehnten setzt.

♦ Ein zunehmendes Anerkennen der Bewusstheit im Jetzt, was nun als Achtsamkeitstechnik firmiert bzw. als solche neu etikettiert wird (gegenwärtig ein Haupttrend der kognitiven Verhaltenstherapie).

♦ Ein neu entstandenes Interesse an der Erforschung des gesunden Lebens und des Gesundungsprozesses, die Wichtigkeit der Resilienz, der Dankbarkeit und des Optimismus’ in der als solcher bekannten ›positiven Psychologien‹.

♦ Ein zunehmendes Insistieren auf dem Erbringen wissenschaftlicher Nachweise therapeutischer Wirksamkeit, was aus dem Zug zu gesetzlicher bzw. staatlicher Regelung und aus den Ansprüchen kostenbewusster Behörden resultiert.

♦ Eine ungünstige Zunahme von Depressionen und Angststörungen, Kindheitstraumata und psychischen Krankheiten im Allgemeinen vor dem Hintergrund globaler Themen, was auch ökonomische Sorgen einschließt.

All diese Entwicklungen – auch solche, die seit Langem Kerngedanken der Gestalttheorie und -methodologie sind – zeitigten ihre Wirkungen auch in der Gestaltpraxis, indem sie neuen Sicht- und Denkweisen innerhalb der therapeutischen Bemühungen zur Entstehung verhalfen. Wir haben versucht, manche dieser Einflussgrößen in die zweite Ausgabe einzugliedern und Trends aufzugreifen, die das Denken über Ethik, Supervision und Coaching verändert haben.

Der erste Teil des Buches zeichnet die Phasen einer therapeutischen Reise von der ersten Kontaktaufnahme über die sich entfaltende therapeutische Arbeit bis zur Beendigung nach. Wir beleuchten die Fähigkeiten genauer, die in der jeweiligen Phase bedeutsam sind, und zwar die phasenspezifischen und diejenigen, die sich mit der Zeit verändern. Wir betonen, dass das Angebot eines besonderen relationalen Kontakts das Herzstück und die Seele der Gestalt ausmacht und die wichtigste ›Technik‹ ist, die man nur haben kann. In Teil zwei gehen wir den verschiedenen Möglichkeiten nach, wie man hochriskante Situationen adäquat einschätzen und bewältigen kann, und konzentrieren uns auf die Arbeit mit depressiven und ängstlichen Klientinnen. Im dritten Teil des Buches widmen wir uns einer Reihe von Kontexten und Sachverhalten, die besonderes Geschick und eine ebensolche Handhabung erfordern.

Wir nehmen einmal an, dass der Leser die Grundzüge der Gestalttheorie kennt und darin unterrichtet wurde, daher werden wir sie hier nicht im Detail wiedergeben. Wir werden nur ein Minimum an Theorie bringen, d. h. gerade so viel, dass die darauf folgenden Aussagen verständlich sind – und am Ende eines jeden Kapitels lesenswerte Fachliteratur empfehlen: Diese weiterführende Lektüre wird sich normalerweise auf Gestalttexte beschränken, es sei denn, das Thema wurde außerhalb der Gestalttherapie dienlich behandelt.

Ein Wort zur Sprache. Wir alternieren durchweg zwischen weiblichen und männlichen Formen, um das umständliche Binnen-I etc. zu vermeiden. In den Fallbeispielen geben wir um der Klarheit willen Berater und Klientin meist ein unterschiedliches Geschlecht. Ebenso alternieren wir zwischen ›Beratung‹ und ›Psychotherapie‹ sowie ›Beraterin‹ und ›Psychotherapeut‹, da die beschriebenen Fertigkeiten durchweg in jeder therapienahen Praxis gültig sind.

Beim Versuch, Ihnen diese Skills und Techniken anzubieten, schöpfen wir aus der jahrelangen Ausbildung und Anleitung vieler wunderbarer Gestaltpraktikerinnen, von denen die meisten in den folgenden Kapiteln zitiert werden. Im Zuge unserer eigenen Entwicklung (gemäß Gestalt-Tradition ist das die Assimilation, die auf guten Kontakt folgt) haben wir unweigerlich manchen Gedanken und so manche Technik in uns aufgenommen und einverleibt. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass wir manchmal einen Kunstgriff, einen Satz oder eine Idee bringen, die ursprünglich von einem anderen Gestalttherapeuten stammt. Wir ersuchen daher im Vorhinein, uns diese unvermeidliche Nachlässigkeit nachzusehen, dass wir die Praktiker, denen wir diese Anregungen verdanken, gelegentlich nicht anführen. Daher möchten wir an dieser Stelle unserer Dankbarkeit und Wertschätzung für alle gestalttherapeutischen Inspirationsquellen ausdrücken. Wir schulden vielen Menschen Dank, besonders den Kolleginnen und Kollegen, die uns ihre hilfreichen Kommentare und Anregungen zu einzelnen Kapiteln dieser Ausgabe großzügig haben zukommen lassen: Dinah Ashcroft, Maggie Davidge, Billy Desmond, Simon Cavicchia, Sally Denham Vaughan, Lawrence Hegan, Brigid Proctor, Heike Schaefer, Christine Stevens – Ihnen allen herzlichen Dank! Wertschätzung und Dank gebührt auch den Lehrerinnen und Kollegen, welche uns inspiriert haben, und denjenigen, die uns bei der ersten Auflage unterstützt haben, nämlich Alice Oven und das Team bei Sage, Francesca Inskipp, die Herausgeberin dieser Serie, und natürlich all unseren Ausbildungskandidatinnen, Supervisanden und Klientinnen, die uns durch ihre Herausforderungen, ihre freimütigen Selbstoffenbarungen und durch ihr Ringen viel gelehrt haben.

Phil Joyce und Charlotte Sills

TEIL I

GESTALTTHERAPIE IN DER PRAXIS

1

SICH AUF DIE REISE VORBEREITEN

Nach unserem Dafürhalten trägt eine gute Gestaltpraxis folgende fünf Merkmale:

Konzentration auf Erfahrungen, die hier und jetzt gemacht werden (über Achtsamkeit, den phänomenologischen Zugang und das paradoxe Prinzip der Veränderung).

Das Sich-Einlassen auf eine miteinander zu gestaltende Beziehungsperspektive

Die Therapeutin bietet eine dialogische Beziehung an.

Der Blickwinkel der Feldtheorie und Ganzheitlichkeit

Eine kreative, experimentierfreudige Einstellung zum therapeutischen Prozess.

Das gesamte Buch dreht sich um die Erkundung dieser fünf Praxisaspekte. Wir gehen davon aus, dass der Leser über theoretische Vorkenntnisse verfügt, und wir werden sie nur so weit streifen, dass die darzulegenden Ausführungen verständlich werden. Wer sich einen Überblick über die Gestalttheorie verschaffen möchte, dem seien die ausgezeichneten Darstellungen von Yontef und Jacobs (2007) sowie Woldt und Toman (2005) ans Herz gelegt.

Wir haben uns entschieden, ganz vorne anzufangen, d. h. von Dingen zu reden, die jeglichem ernsthaften Entschluss, eine Beratung oder Psychotherapie aufzusuchen, vorausgehen, also die ersten Schritte, bevor es überhaupt zu einer gestalttherapeutischen Beratung oder Therapie kommt. Das erste Kapitel ist vorwiegend an den Praktizierenden in Ausbildung gerichtet und deckt folgende Bereiche ab:

♦ Den Therapieraum und sich selbst vorbereiten.

♦ Die erste Begegnung mit der Klientin.

♦ Ein Aufnahmeformular benutzen.

♦ Erklären, wie Gestalttherapie vonstatten geht.

♦ Einen Vertrag abschließen.

♦ Entscheiden, wer sich für Ihre Praxis nicht eignet.

♦ Ein Protokoll über die Sitzungen führen.

DEN THERAPIERAUM UND SICH SELBST VORBEREITEN

Die Art und Weise, wie Sie Ihren Arbeitsraum gestalten und arrangieren, ist ein Statement an den Klienten. Nicht minder wird Ihr Kleidungsstil, sei er nun formell oder leger, den Eindruck der Klientin mitprägen, den Sie und die Beratung machen. Diese Details sagen eine Menge über Sie als Person und Therapeutin aus, desgleichen darüber, wie Sie mit Ihrer Klientin in Beziehung treten werden. Wir werden in diesem Buch immer wieder betonen, dass die therapeutische Erfahrung kokonstruiert wird – das heißt, dass Ihre Art des Umgangs mit dem Klienten dessen Verhalten Ihnen gegenüber mitbestimmt und vice versa.

Anregung: Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Klient, der zu Ihnen in die Praxis kommt. Imaginieren Sie alles, was Sie sehen, die Geräusche, die Sie erleben würden, bevor Sie zur Tür hereinkommen. Gehen Sie in Ihr Beratungszimmer, als wären Sie der Klient, achten Sie darauf, was Sie sehen und welchen Eindruck der Raum auf Sie macht. Stellen Sie sich vor, Sie lernen sich gerade als Therapeutin kennen. Wie kommen Sie rüber? Wie wirken Sie auf den Klienten? Was sind Ihre Reaktionen auf Sie, wenn Sie Klient sind?

Ein nicht minder wichtiger Faktor ist, wie präsent und wie offen und zugänglich Sie im jeweiligen Augenblick sind, wenn Sie Ihren neuen Klienten anhören. Viele Berater werden die Erfahrung kennen, bedrückt und sorgenvoll in die Sitzung zu kommen, was einen hindert, ganz für die Klientin da zu sein. Während manche eigenen Reaktionen klarerweise für die Therapie relevant sein mögen, müssen andere ausgeklammert werden, weil sie wahrscheinlich nicht zur Sache gehören. Es mag daher hilfreich sein, sich zu einer Grounding-Übung wie die folgende anzuhalten, bevor der Klient kommt.

Anregung: Spüren Sie Ihr Gewicht im Sessel, spüren Sie Ihre Füße auf dem Boden. Machen Sie sich Ihre Atmung bewusst, achten Sie darauf, ob Sie schnell oder langsam, oberflächlich oder tief ist. Erlauben Sie sich, die Spannungen in Ihrem Körper zu spüren und überprüfen Sie, ob Ihre Aufmerksamkeit frei fließt oder ob Sie von Sorgen über die Vergangenheit in Anspruch genommen sind oder ob Sie an die Zukunft denken. Achten Sie darauf, ob sie in erster Linie fühlen, wahrnehmen oder denken. Erkennen Sie, welche Ihrer Probleme oder Sorgen im Hinblick auf die bevorstehende Sitzung nebensächlich sind, und versuchen Sie, sie für einen Moment loszulassen. Benennen Sie, was in Ihnen vorgeht, und lassen Sie es dann los. Konzentrieren Sie sich auf das Sichtbare und auf die Geräusche in Ihrer Umgebung, auf Ihre körperliche Selbstwahrnehmung, während Sie genau jetzt leben und atmen. Konzentrieren Sie sich auf die Rhythmik Ihres Brustkorbs beim Aus- und Einatmen. Kommen Sie ganz im gegenwärtigen Augenblick an, diesem einmaligen Zeitpunkt.

Und wenn Sie die Klientin schon öfter gesehen haben:

♦ Überprüfen Sie Ihre Notizen vom letzten Mal und rufen Sie sich eventuell brisante Punkte in Erinnerung.

♦ Gehen Sie alles durch, was Sie sich merken müssen, z. B. einen anstehenden Urlaub, ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal, das es zu berücksichtigen gilt, oder die Art der Beziehung, die Sie zueinander haben.

♦ Denken Sie an einen wichtigen Punkt oder an bestimmte Vorhaben, die Sie sich eventuell für diese Sitzung vorgenommen haben.

♦ Dann machen Sie Ihren Geist von all diesen Gedanken frei und kommen Sie wieder im gegenwärtigen Augenblick an, um Ihrer Klientin zu begegnen.

WENN SIE EINEN KLIENTEN ZUM ERSTEN MAL SEHEN

Als Beraterin haben Sie eine Reihe wichtiger Aufgaben zu meistern, wenn Sie einen Klienten zum ersten Mal sehen, deren vordringlichste darin besteht, eine Verbindung zu knüpfen und einen Rapport herzustellen. Wir werden uns in Kapitel 4 eingehend mit dieser wichtigen Aufgabe befassen. Die weiteren Obliegenheiten der ersten Sitzung werden wir daher vorerst nur zusammenfassen.

Bedenken Sie, mit welchen Erwartungen die Klientin möglicherweise kommt. Sie haben vielleicht vorher am Telefon mit ihr gesprochen, als Sie den Termin vereinbarten, und bereits beide einen Eindruck voneinander gewannen.

Wir betonen vor der Klientin gerne, dass die Erstsitzung einer wechselseitigen Einschätzung dient, damit beide Seiten eine Entscheidungshilfe bekommen, ob Therapie nützen kann bzw. ob Sie der richtige Therapeut für die Bedürfnisse der Klientin sind. Bitten Sie sie um ihr Einverständnis, dass Sie sich Notizen zu biografischen Details, wichtigen anamnestischen Daten und zur gegenwärtigen Lebenssituation usw. machen dürfen. Eine Gegenposition in dieser Angelegenheit lautet, die Erhebung einer Anamnese vertrage sich mit der Arbeitsweise eines Gestaltpraktizierenden nicht, und die wahre Gestalt befasse sich lediglich mit dem ›was die Klientin aufs Tapet bringt‹ oder mit dem, ›was an die Oberfläche kommt‹. Auf diese Debatte werden wir in diesem Buch näher zu sprechen kommen. Wir sind jedoch der Ansicht, dass es für einen Praktiker wichtig ist, zu wissen, wie man ein vorliegendes Problem einzuschätzen hat, und Überlegungen anzustellen, ob die Therapie, die wir bieten, nutzbringend ist oder eventuell ein anderer professioneller Ansatz vonnöten ist. Wir glauben auch, dass man bestimmte Fragen unbedingt stellen muss, damit man sich ein Bild von der potenziellen Gefährdung machen kann. Das erscheint uns vor allem deshalb wichtig, weil das Aufdecken bestimmter Bereiche in der Therapie und die Anwendung wirkungsvoller Interventionen die Stabilität eines Klienten erschüttern kann und unter Umständen Schaden anrichtet (siehe Kapitel 18). Die Erhebung einer Anamnese ist unumgänglich, um derlei Einschätzungen vornehmen und die Eignung und Sicherheit eines Therapieansatzes gewährleisten zu können.

DIE VERWENDUNG EINES AUFNAHMEFORMULARS

Auf der folgenden Seite finden Sie das Muster eines Aufnahmeformulars. Die Blätter 1 und 2 enthalten die wichtigsten Fragen, deren Beantwortung unseres Erachtens erforderlich ist, bevor man jemanden in eine fortlaufende Therapie übernimmt. Sie stellen einen Leitfaden zur Anamneseerhebung dar und decken die Bereiche ab, in denen Informationsgewinn wichtig ist. Dazu gehören persönliche Daten, ein Überblick über die wichtigsten Lebensereignisse, eine allfällige psychiatrische Anamnese und so fort.

Denken Sie daran, Namen, Adresse und Telefonnummer ihrer Klientin getrennt von anamnestischem Material aufzubewahren.

Sie werden zu entscheiden haben, wie sehr Sie die Erstsitzung strukturieren, um der Klientin genügend Zeit zu geben, ihre Geschichte zu erzählen und eine Verbindung zu ihnen zu knüpfen, und damit Zeit für Sie beide bleibt, zu entscheiden, ob es sinnvoll ist, weitere Sitzungen zu vereinbaren. Sie müssen auch die Bedingungen der Verschwiegenheitspflicht, Ihre Absageregelung u. a. erläutern.

KLIENTENDATEN I

Name:

Geburtsdatum:

Alter:

Adresse:

Telefon, privat und mobil:

Büro:

E-Mail:

Hausarzt/Hausärztin:              Adresse / Telefonnummer:

Erstgespräch am:                   Überwiesen von:

Dieses Formular ist getrennt von der Fallbeschreibung aufzubewahren.

KLIENTINNENAUFNAHMEFORMULAR 2

Vorname oder Code:

Therapiebeginn:

Beruf:

ethnische und kulturelle Zugehörigkeit/Konfession u. Ä.:

Familienstand:             Kinder:

Eltern:

Geschwister:

Medizinische/psychiatrische Vorgeschichte:

Alkohol-/Drogenkonsum/Suizidversuche/Selbstverletzungen:

Aktuelles Funktions- und Stressniveau:

Prägende lebensgeschichtliche Erfahrungen bzw. Erlebnisse:

Therapie/Beratungs-Vorerfahrung:

Aktuelle Thematik/Problematik:

Erwartungen und erwünschte Therapieergebnisse:

Kontrakt, Frequenz und voraussichtliche Therapiedauer:

Sitzungshonorar:

Vergewissern Sie sich, dass sich Ihre Klientin zu folgenden Punkten einverstanden erklärt:

1) Die Grenzen der Vertraulichkeit in Bezug auf a) Supervision b) wenn die Klientin gefährdet ist.

2) Therapiebeendigungsfrist

3) Absage- und Terminversäumnisregelung

4) Einverständnis zu Video-/Tonbandaufzeichnungen und zur Verwendung der schriftlichen Unterlagen in der Supervision und zu anderen berufsbezogenen Zwecken.

Vielen Klientinnen gibt die Strukturierung der Sitzung Sicherheit und Halt, während sie sich an Ihnen und der Situation orientieren. Je nach Eindruck, den Sie von Ihrem Klienten gewonnen haben, könnten Sie etwas Folgendes sagen:

»Ich würde den ersten Teil der Sitzung gerne dafür verwenden, mir einige biografische Notizen über Sie zu machen, dann würde ich gerne von Ihnen hören, warum Sie zu mir gekommen sind, und danach könnten wir ungefähr zehn Minuten vor Sitzungsende zusammenfassen und einen Plan machen. Ist das in Ordnung für Sie?«

Alternativ könnten Sie vorschlagen, sich zunächst die Geschichte der Klientin anzuhören, etwa so:

»Sagen Sie mir als erstes, was Sie zu mir geführt hat. Ab etwa der Hälfte unserer Sitzung werden wir besprechen, welche Möglichkeiten ich für Sie sehe und über welche Details wir uns noch unterhalten müssen, bevor wir eine Entscheidung über alles Weitere treffen.«

Während der Sitzung werden Sie, so wie Sie sich einen allgemeinen Eindruck Ihres Klienten verschaffen werden, auch zu einer Einschätzung kommen, ob sich Gestalttherapie für diese Person eignet. Sie können ein paar Probeinterventionen anbieten, damit Sie sehen, wie die Klientin auf diesen speziellen Ansatz reagiert, z. B.:

♦ Mir fällt auf, dass Ihre Atmung sehr schnell/unregelmäßig/flach ist. Wie fühlen Sie sich?

♦ Wie ist es für Sie, hier bei mir zu sitzen und mir eine schwierige Geschichte zu erzählen?

♦ Glauben Sie, dass Sie in der Situation Soundso irgendeine Rolle gespielt haben?

♦ Ich bin traurig/berührt, wenn ich Ihnen beim Erzählen Ihrer Geschichte zuhöre.

Es geht darum herausfinden, ob unsere Zugangsweise beim Klienten Interesse erweckt bzw. ob sie für ihn geeignet ist. Unsere Probeinterventionen geben uns eine Idee davon, ob die Klientin auf Einladungen eingeht, ihre Bewusstheit auszudehnen, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, ob sie auf unsere Selbstenthüllungen positiv reagiert oder ein Gespür für die aufkeimende Beziehung hat. Eine scheinbar brüske Reaktion wie »Wen kümmert’s, wie ich mich nach dem Tod meiner Mutter fühle? Ich will ihn möglichst vergessen und glücklich sein« zeigt oft, dass ein Impasse im Anzug ist, was im günstigen Fall zu einer Besprechung führt, wie Therapie Ihrer Meinung nach dem Klienten helfen könnte.

Diese Einschätzungsphase nimmt oft mehr als eine Sitzung in Anspruch. Das gilt vor allem für komplexe und fordernde Klienten. Deshalb empfehlen wir Ihnen, sich nötigenfalls zwei oder drei Sitzungen Zeit zu lassen, bevor Sie einem Vertrag über eine fortlaufende Therapie zustimmen bzw. weiter verweisen. Sie könnten Folgendes sagen:

»Vielen Dank, dass Sie mir all das anvertraut haben. Ich muss jedoch in einigen Bereichen mehr Klarheit gewinnen/einige Folgen, die Therapie haben kann, mit Ihnen besprechen. Erst dann können wir entscheiden, unter welchen Umständen Therapie Ihnen auch hilft. Ich schlage daher vor, dass wir eine zweite Sitzung vereinbaren.«

ERKLÄREN, WIE GESTALTTHERAPIE FUNKTIONIERT

Viele Klientinnen kommen mit unrealistischen Erwartungen und Forderungen zur Therapie. Sie erwarten, dass Sie sie heilen oder ihnen zumindest sagen, was sie tun sollen. Manche wünschen sich, dass Sie die Expertin sind und begeben sich ganz in Ihre Hände und verhalten sich passiv. Es ist moralisch vertretbar, den Klienten anzukündigen, was sie erwarten dürfen, da die Forschung gezeigt hat, dass es im Wesentlichen zum Arbeitsbündnis dazugehört, eine gemeinsame Auffassung davon zu haben, was die Aufgaben einer Therapie sind. Klientinnen wollen oft wissen, worin Gestalttherapie besteht. Sie in aller Kürze zu erklären, ist mitunter schwierig, und vielleicht tun Sie sich leichter, wenn Sie eine Erläuterung parat haben, welche die Grundzüge Ihres spezifischen Ansatzes zusammenfasst.

Anregung: Stellen Sie sich vor, Ihr Klient hat Sie soeben gefragt ›Was ist eigentlich Gestaltberatung – und wie funktioniert sie?‹ Was geben Sie zur Antwort und weshalb?

Hier einige Beispiele als Anregung:

♦ Gestalttherapeuten sind überzeugt, dass Menschen über das notwendige Potenzial verfügen, ihre Probleme zu lösen bzw. ihre Schwierigkeiten zu bewältigen. Doch stehen sie manchmal an und benötigen Beihilfe. Ich sehe meine Aufgabe als Therapeutin darin, Sie klarer erkennen zu lassen, in welcher Lage Sie sind. Sie werden erkennen, wie Sie daran beteiligt sind, und Sie werden mit neuen Lösungen und Lösungswegen experimentieren, um mit der Schwierigkeit fertig zu werden.

♦ Gestalt ist eine humanistische/existenzielle Therapie, die davon ausgeht, dass Menschen mit den nötigen Ressourcen und Fähigkeiten ausgestattet sind, lohnenden Kontakt mit ihren Mitmenschen zu unterhalten und ein befriedigendes, schöpferisches Leben zu führen. Dennoch gibt es oft etwas in Ihrer Kindheit oder aber später, was diesen Prozess unterbricht, und Sie finden sich in festgefahrenen Mustern und Glaubenssätzen in Bezug auf sich wieder, welche Ihnen hinderlich sind. Gestalt geht dem nach und versucht zu ergründen, wie diese Muster weiterwirken und Ihr Leben in der Gegenwart beeinträchtigen. Ich hoffe, Sie bei der Entdeckung neuer und kreativerer Wege zu unterstützen, damit Sie die Probleme bzw. die Krise überwinden können, in der Sie sich befinden.

♦ Was ich praktiziere, nennt man mitunter ›relationale Gestalt‹. Das heißt, dass die Muster, die in unseren Beziehungen zutage treten – sei es mit Freunden, Familie, Kolleginnen und auch mit uns selbst, meines Erachtens ausschlaggebend dafür sind, wer wir sind und wie wir uns fühlen. Dazu gehört auch unsere Beziehung hier, vielleicht sogar noch mehr, da wir hier tiefgründige Themen und Gefühle besprechen. Sie werden sehen, dass ich oft darauf Bezug nehme, was zwischen uns ist, und ich lade Sie ein, dasselbe zu tun.

Manche Klienten sind bereits desillusioniert und verzagt. Sie haben tatsächlich aufgegeben, und jegliches Bewusstsein dafür, dass sie wählen können, verloren. Für viele ist Therapie das erste Mal, dass man ihnen wirklich zuhört, und zwar ohne Druck und Bewertung. Das kann der Auftakt zu ›therapeutischen Flitterwochen‹ sein, die allerdings nur kurz währen! Ein Klient, der nicht mit solch schmerzhaften Phasen des Feststeckens rechnet, ist möglicherweise enttäuscht, wenn sich der Anfangseffekt freudiger Erregtheit verliert. Daher ist in Ihrer einleitenden Erläuterung des Therapieprozesses der Hinweis vonnöten, dass die therapeutische Reise Arbeit und Engagement von Seiten des Klienten erfordert, und dass sich sein Leidensdruck womöglich zunächst verschlimmert.

EINEN VERTRAG ABSCHLIESSEN

In der Gestalttherapie wird idealerweise das erkundet, ›was ist‹; eine Reise ins Unbekannte ist sie allemal. Klientinnen suchen jedoch üblicherweise Hilfe, wenn sie unter psychischem Leidensdruck stehen. Klarerweise möchten sie, dass sich etwas ändert. Darüber hinaus hat die psychotherapeutische Ergebnisforschung eindeutig festgestellt, wie wichtig es für den Therapieerfolg ist, dieselbe Auffassung zu haben wie der Klient, was ein erwünschtes Therapieergebnis sei. Es empfiehlt sich daher, sich darüber einig zu werden, was Therapieerfolg für den Klienten bedeutet, vor allem auch deshalb, weil Sie dadurch einen Beurteilungsmaßstab des ›Erfolges‹ erhalten. Manche Klienten haben eine klare Vorstellung davon, welche Veränderungen sie unternehmen wollen, während manch andere sich lediglich ihrer Schwierigkeiten bewusst sind und ihre Bedürfnisse nur sehr allgemein artikulieren können. Trotzdem kann man sich auf einen gemeinsamen Fokus mithilfe eines als ›weich‹ bekannten Therapiekontrakts einigen; anders gesagt geht es dabei um den Prozess bzw. die subjektive Erfahrung, und nicht um eine bestimmte Verhaltensänderung bzw. ein bestimmtes Ergebnis wie bei einem ›harten‹ Therapievertrag. Jim hat zum Beispiel am Ende der ersten Sitzung bekräftigt, er wolle verstehen lernen, wieso seine Beziehungen zu Frauen immer in Ablehnung enden. Darin lag zwar der Wunsch, bessere Beziehungen eingehen zu können. Wie er dazu käme, wollte er aber nicht wissen (›weicher‹ Kontrakt).

Selbstverständlich ändern sich Therapieausrichtung und deren Zweck laufend, indem ständig neues Material an die Oberfläche kommt. Das Kontraktschließen ist daher ein fortlaufender Prozess (der sich manchmal innerhalb ein- und derselben Sitzung ändert) – ›Wofür möchten Sie die heutige Stunde nützen?‹ oder ›Was ist Ihnen jetzt gerade wichtig?‹ Dies kann und sollte regelmäßig fein abgestimmt werden, besonders dann, wenn sich der Fokus der Therapie verschoben hat oder eine Angelegenheit erledigt ist. Vom Standpunkt einer kompetenten Berufspraxis aus sind regelmäßige Bestandsaufnahmen wertvoll, z. B. alle drei Monate, damit wir sicher gehen können, dass die Klientin ihren Fortschritt auch registriert. »Es ist nun zehn Wochen seit unserer ersten Begegnung vergangen. Sie sagten, Sie wollten begreifen, warum ihre Partnerbeziehungen schiefgingen. Haben Sie nun Ihrer Meinung nach mehr Klarheit?« Kapitel 15 enthält einige Tipps, wie man so einen Rückblick in die Wege leiten kann.

Der administrative Vertrag

Sie benötigen zusätzlich einen administrativen Vertrag. Er enthält die Vereinbarung zwischen Praktizierendem und Klient über geschäftliche Details wie Sitzungstermine, Ort, Frequenz, Honorar (falls zutreffend), Absageregelung und Grenzen der Vertraulichkeit. Wenn Sie in einer Institution arbeiten oder ein Praktikum in einer Beratungsstelle machen, enthält der Vertrag die Regeln und Erfordernisse, die die Institution vorgibt. Vereinbarungen zwischen Ihnen, Ihrem Klienten und der Institution müssen für alle Beteiligten transparent sein. Viele Berater und Therapeuten händigen ihren Klientinnen ein Informationsblatt aus, das den administrativen Vertrag erläutert, um Klarheit zwischen den ›Vertragsparteien‹ zu schaffen und um der Eventualität vorzubeugen, dass sich ein neuer Klient aus lauter Ängstlichkeit die bloß mündlich gegebene Information nicht merkt. Manche Institutionen oder Ausbildungsinstitute werden einen schriftlichen Vertrag verlangen, den der Klient unterschreibt. Er enthält die Erlaubnis zur Aufzeichnung der Sitzungen, zur Klientenbesprechung in der Supervision und zur allfälligen Verwendung des Materials, um Ihre Zulassungserfordernisse zu erfüllen. Ein Beispiel eines solchen administrativen Vertrages ist unten angeführt.

INFORMATIONSBLATT

Name des Beraters/der Therapeutin/der Institution:

Adresse:

Kontakttelefonnummer:                       Datum:

Email:

♦ Mein Honorar beträgt … pro 50-Minuten-Einheit und wird jährlich angepasst.

♦ Absageregelung: bis … vorher. Wird die Sitzung nicht eingehalten, werde ich, wenn möglich, einen Ersatztermin in derselben Woche zur Verfügung stellen, der beiden Seiten entgegenkommt; andernfalls ist das Honorar fällig und/oder die Sitzung verfällt.

♦ Ich mache mir Notizen zu den einzelnen Sitzungen. Sie sind nicht mit Ihrem Namen versehen und werden verschlossen aufbewahrt.

♦ Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung, die Sitzungen zur eingehenden Reflexion dessen, was wir in der Sitzung besprechen, aufnehmen zu dürfen. Sie können Ihre Zustimmung jederzeit widerrufen, und ich werde die Aufzeichnung löschen.

♦ Ich unterliege dem Berufskodex von … (z. B. des UKCP1). Eine Kopie ist auf Anfrage einsehbar.

♦ Die Sitzungen werden vollkommen vertraulich gehandhabt außer unter folgenden drei Umständen:

a) Fallweise werde ich meine Arbeit mit einem klinischen Supervisor diskutieren. Das gehört zum Standard eines praktizierenden Therapeuten und gewährleistet bestmögliche Qualität. Meine Selbstreflexion ist an dieselben ethischen Richtlinien und an die Verschwiegenheit gebunden wie ich selbst.

b) Wenn ich den Eindruck habe, dass sie selbst- oder fremdgefährdet sind, behalte ich mir das Recht vor, von der Verschwiegenheitspflicht abzugehen, um größeren Schaden zu vermeiden. Ich würde dies jedoch nur unter extremen Umständen tun und nicht ohne den Versuch der Absprache mit Ihnen, bevor ich irgendwelche Schritte setze.

c) Wenn eine gerichtliche Zeugenaussage (z. B. in einem Strafprozess) ansteht.

♦ Zum Zweck weiterer Akkreditierung und beruflichen Fortkommens werde ich eventuell ausgewähltes schriftliches oder anderswie aufgezeichnetes Material zur Beurteilung einreichen. Ihre Identität wird darin nicht preisgegeben. Es wird nur von Klinikern durchgesehen, die an einen vergleichbaren Verhaltenskodex gebunden sind.

♦ Erstreckt sich unsere Arbeit über mehr als acht Wochen, empfehle ich eine dreiwöchige Kündigungsfrist (Minimum), damit wir zu einem geordneten Abschluss kommen können

In manchen Settings, z. B. in der Erstversorgung, gibt es ein Kontingent an genehmigten Sitzungen. Die Klientin bekommt einen fixen Vertrag über etwa sechs, zwölf oder zwanzig Sitzungen. Wenn nicht genau festgelegt ist, für wie viele Sitzungen sich der Klient verpflichtet, finden wir es günstig, einen anfänglichen Kurzzeitvertrag von zirka vier Sitzungen abzuschließen, damit die Klienten einen Vorgeschmack bekommen, wie Gestalttherapie abläuft, und eine ›Kostprobe‹ erhalten, die ihnen eine Ahnung gibt, ob sie ihnen helfen könnte oder nicht. Wir sagen dem Klienten auch, dass wir dadurch ihre Situation besser verstehen lernen und dann in etwa vorhersagen können, wie lange ihre Therapie dauern wird. Gestalttherapie findet üblicherweise wöchentlich statt, da dies für Klienten und Therapeuten einen gangbaren Ausgleich zwischen Beziehungskontinuität und der Zeitspanne darstellt, in der das Erarbeitete assimiliert und integriert werden kann. Es mögen jedoch mitunter Gründe für eine flexiblere Handhabung vorliegen. Bei manchen Klientinnen empfiehlt sich eine höhere Frequenz, andere wiederum brauchen größere oder aber unregelmäßige Abstände. Sollten Sie eine Abänderung des Kontrakts ins Auge fassen, diskutieren Sie dies eingehend mit Ihrem Supervisor, um sicher zu gehen, dass Sie es nicht mit einem Vermeidungsverhalten zu tun haben.

In Summe kann der Vertrag das Einverständnis über die Richtung, in die die Therapie gehen soll, fördern und als Richtlinie fungieren, die die enge Zusammenarbeit zwischen Klient und Therapeutin gewährleistet. Er stellt eine Grundlage und eine Vereinbarung über die Therapieaufnahme dar. Desgleichen steckt er Ihre Grenzen und Begrenzungen ab, damit der Klient weiß, wann Sie zur Verfügung stehen und was Sie anbieten und nicht anbieten. Zu guter Letzt stellt er einen Maßstab bereit, den Sie anlegen können, wenn Sie über Ihre Arbeit Bilanz ziehen.

Ein Wort zu den Honoraren

Wenn Sie in einer Privatpraxis oder in einer Institution tätig sind, die vom Berater erwartet, dass er das Honorar selbst aushandelt, werden Sie klare Vereinbarungen über die zu entrichtenden Honorare treffen müssen. So ein Gespräch bereitet Beratern oft Schwierigkeiten. Sie haben Mühe, ihr Angebot mit einem monetären Wert zu belegen. In der Privatpraxis erweist es sich möglicherweise als nützlich, sich mit Kollegen abzusprechen und sich zu erkundigen, was die durchschnittliche Honorarstuktur für Ihr Erfahrungsniveau ist. Auch ist mitzubedenken, dass das Erheben eines Honorars wesentlich zur Beratungsbeziehung dazugehört. Es ist der Beitrag der Klientin zum Geschäft, der sie berechtigt, in den Genuss Ihres Interesses, Ihres Engagements, Ihrer Zeit und Ihrer Kompetenz zu kommen. Ohne diesen selbst geleisteten Beitrag könnte die Klientin womöglich auf die Idee kommen, sich an Sie anzupassen oder sich um Ihre Bedürfnisse zu kümmern (wie in einer Freundschaftsbeziehung üblich). Wenn Sie in einer Institution arbeiten, die keine Gebühren erhebt, müssen Sie der Klientin gegenüber betonen, dass sie mit ihrem Zeitaufwand und ihrem Engagement, ja, und mit ihren Steuern, zum Prozess »hinzuzahlt«.

Nennen Sie Ihren üblichen Stundensatz am Telefon oder beim Erstgespräch. Wenn Sie sich entscheiden, Ihre Preise zu staffeln oder eine bestimmte Anzahl an kostengünstigen Plätzen zur Verfügung zu stellen, könnten Sie etwa sagen: »Wenn Sie dieses Honorar nicht leisten können, bin ich gerne bereit, darüber zu verhandeln. Das können wir besprechen, wenn Sie zu mir kommen.« Oder: »Ich biete ein Gleithonorar zwischen … und … € an.« Oder: »Mein Standard-Honorar beträgt …., und ich biete ein paar kostengünstige Plätze um … € an. Sollten Sie eine Sitzung vereinbaren und diese Angelegenheit persönlich diskutieren, sollten Sie sich vorab im Klaren über Ihre eigenen Kriterien sein, unter denen Sie einen kostengünstigen Platz offerieren, damit es Ihnen später nicht leid tut, einen vergeben zu haben.«

ENTSCHEIDEN, WER NICHT ZU IHNEN PASST

Es zeichnet einen kompetenten Therapeuten aus, wenn er um die Grenzen seines Könnens weiß. Es ist wichtig, ein klares Bild zu haben, wer außerhalb der Bandbreite Ihrer Möglichkeiten, Ihrer Erfahrung und Ihres Ausbildungsstandes liegt. Darunter können Menschen mit einer Psychose (florid oder gegenwärtig remittiert) fallen, selbstmordgefährdete, sich selbst verletzende Patientinnen oder solche mit bestimmten Problemen wie Essstörungen oder Süchten. Das ist einer der Gründe, warum man sich schon zu Anfang der Sitzung biografische Details notiert. Vielleicht ist es Ihnen auch lieber, nicht mit Menschen zu arbeiten, deren Probleme sich zu sehr mit den Ihren decken. Wenn Sie beispielsweise kürzlich einen Trauerfall erlitten haben oder gerade Ihren eigenen Missbrauch als Kind durcharbeiten, möchten Sie möglicherweise nichts mit Klientinnen mit derselben Thematik zu tun haben, bevor Sie Ihre eigene durchgearbeitet haben.

Fragen der Grenzziehung sind nicht minder wichtig. Sie sollten nie mit einem Verwandten, Freund, ja nicht einmal dem Freund eines Freundes arbeiten, wenn Sie einem Grenz-, Rollen- oder Interessenskonflikt entgehen wollen (das gilt auch für den Verwandten oder guten Freund eines aktuellen Klienten). Kalkulieren Sie ein, wie wahrscheinlich es ist, der Klientin oder einem ihrer Familienangehörigen zufällig im Alltag zu begegnen. Auf eine Klientin oder ein Mitglied aus ihrem Kreis außerhalb der Therapiesettings zu treffen, könnte Ihnen etwas eröffnen, was sie Ihnen nicht selbst erzählt hat. Sie könnte sich überfahren oder bloßgestellt fühlen. Wenn Sie zu dem Schluss kommen, dass das Risiko, die Klientin außerhalb des Beratungszimmers (z. B. im Supermarkt, in der Kirche oder bei einem Kongress) zu treffen, gering aber handhabbar ist, so können Sie miteinander ausmachen, wie Sie so eine Situation handhaben würden.

Wenn man sich gegen einen Klienten entscheidet

Es kann gut sein, dass Sie beim Erstgespräch zur Einsicht kommen, den Klienten besser nicht in Therapie zu übernehmen. In den Augen der meisten Beraterinnen ist das eine heikle Angelegenheit. Es passt nicht ins Bild, das wir von uns haben, wenn wir unser Kompetenz- oder Ressourcendefizit eingestehen müssen und wir nicht allzeit und überall helfen können! Gleichwohl müssen wir uns von unserem Allmachtsanspruch verabschieden und abwägen, was für die Klientin und für uns das Beste ist. Dies verdeutlicht erneut, wie nutzbringend einer eher tentative Haltung zu Beginn der Einschätzungsphase (oder beim telefonischen Erstkontakt) ist. Sie können ein Statement abgeben, etwa dass die Sitzung Klient wie Therapeut die Gelegenheit bietet, zu entscheiden, welche Hilfe vonnöten ist. Wir empfehlen Worte wie:

»Ich empfehle, dass Sie zu einem Erstgespräch kommen. Das gibt uns Gelegenheit, einander kennen zu lernen und miteinander zu entscheiden, was Sie in einer Therapie brauchen und ob ich für diese Hilfe die Richtige bin.«

Nicht nur ist es schwierig, uns unsere Grenzen einzugestehen, es ist auch für den Klienten unangenehm, abgelehnt zu werden, zumal viele ohnehin befürchten, zu überwältigend, zu uninteressant oder zu gestört zu sein. Daher sind die richtigen Worte beim Abweisen wichtig. Wir empfehlen, etwa so zu beginnen:

»Ich glaube ganz gut erfasst zu haben, worum es bei Ihnen geht, und es ist mir bewusst, wie nahe Ihnen das Problem geht. Therapie könnte Ihnen sicherlich helfen, aber ich halte mich nicht für die richtige Person, diese Therapie durchzuführen.«

Wir könnten dann dazu überleiten, dass sie jemanden bräuchten, der auf Problematik des Klienten spezialisiert ist oder, was üblich, dass wir ein persönliches Problem haben oder eines, das die Grenze zwischen uns betrifft, und dass wir deshalb nicht die richtige Therapeutin für ihn sind (normalerweise verrechnen wir für diese Sitzung nichts).

Beispiele:

»Der Leidensdruck, unter dem Sie stehen, ist so groß, dass Ihnen eine allgemeine Beratungstätigkeit meines Erachtens derzeit nicht hilft. Ich empfehle Ihnen, zunächst Ihren Hausarzt aufzusuchen und ihn zu fragen, was er von einer Überweisung zu einer Fachärztin hält.«

Oder:

»Ein Punkt, den Sie besprochen haben, geht mir persönlich sehr nahe. Auch ich habe letztes Jahr ein Kind (einen Elternteil/Partner/etc.) verloren, und meine Gefühle sind natürlich noch sehr frisch. Es freut mich, Sie kennen gelernt zu haben, aber Sie brauchen eine Beraterin, die ganz für Sie da sein kann und mit dem Kopf nicht bei ihren eigenen Angelegenheiten ist. Ich glaube, es ist besser, wenn ich Sie zu einer Kollegin überweise. Ich werde Ihnen den Namen von einer Person geben, von der ich glaube, dass sie Ihnen weiterhelfen kann.«

In unseren Beispielen sprechen wir die Bereitstellung eines passenderen Therapeuten für die Klientin an. Es ist praktisch immer vorteilhafter, der Klientin eine Überweisung anzubieten, statt sie einfach wegzuschicken. Wir laden damit auch eine Verantwortung auf uns und wir müssen informiert sein, welch andere Ressourcen in unserem Umfeld verfügbar sind. Dazu gehören Kolleginnen mit Spezialgebieten oder Institutionen, medizinische und psychiatrische Einrichtungen, erschwingliche Klinikangebote und so fort.

Anregung: Die Klientin kommt mit dem Überwiesenwerden besser zurecht, wenn der Berater dabei selbst ein gutes Gefühl hat und seine Entscheidung selbstbewusst vertritt. Stellen Sie sich vor, Sie wurden von Ihrem letzten Therapeuten abgewiesen, weil er nicht in der Lage war, Ihnen zu helfen. Welche Reaktionen und Resonanz hätten Sie vermutlich dabei gespürt? Was hätte es Ihnen leichter gemacht, diese Tatsache zu akzeptieren?

SITZUNGSPROTOKOLLE FÜHREN

Protokolle sind aus ethischen und professionellen Gründen nötig, wenngleich es keine Regeln gibt, welche Notizen man sich machen sollte. Wichtig ist, dass sie nützen und nicht bloß Pflichtübung sind. Manche Therapeutinnen sind auf das Niederschreiben ihrer Gedanken angewiesen, damit sie sich wichtige Themen merken, denen es nachzugehen gilt; andere arbeiten lieber mit dem je in den Vordergrund drängenden Prozess. Auf der einen Seite der Palette könnten die Notizen also ein schriftliches Festhalten von Datum und Zeit Ihrer therapeutischen Sitzungen sein; das andere Extrem wäre eine detaillierte schriftliche Auseinandersetzung mit Inhalts- und Prozessangaben. Denken Sie daran, dass Ihr Klient Sie womöglich darum bittet, Ihre Notizen einsehen zu dürfen, und im Regelfall hat er dazu auch das Recht. Daher ist es eine Frage des Bedachts, des Takts und der Ethik, Ihre Notizen in genau so respektvollem Ton zu führen, wie Sie ihn in den Therapiesitzungen pflegen. Sie könnten schriftliche Notizen z. B. vom besprochenen Inhalt, von den auftauchenden Themen, den versäumten Sitzungen, dem beglichenen Honorar usw. machen, ja, von allen Details, derer sich der Klient voll bewusst ist und sie lesen könnte, ohne davon brüskiert zu sein. Im unwahrscheinlichen Fall, dass Sie die Notizen bei einer Gerichtsverhandlung vorweisen müssen, können Sie diese als wahrheitsgetreuen Bericht der Therapiegeschichte vorlegen.

Es ist ohne Weiteres vertretbar, zugleich Aufzeichnungen über Ihre privaten Überlegungen und Eindrücke, Ihre Gegenübertragung usw. zu führen. Solang sie die Identität eines Klienten nicht preisgeben, zählen sie nicht als ›Notizen‹ im professionellen oder rechtlichen Sinn und sind Ihr Privateigentum bzw. Ihr persönliches Tagebuch. Darin können flüchtige Eindrücke, diagnostische Spekulationen und Fragen Ihr Leben und Ihre Profession betreffend sein, die als Ihr rein persönliches Erleben niedergeschrieben sind. Dieses Tagebuch kann dazu genützt werden, sich Fragen zu stellen, die Sie eventuell in die Supervision mitbringen. Denken Sie jedoch daran, dass das Gericht, wenn es will, in jegliche schriftliche Aufzeichnungen Einsicht verlangen kann, welche im Besitz des Therapeuten sind. Wenn Ihr Tagebuch Namen oder irgendeine Angabe enthielte, die den Klienten identifizierbar machte, würde man auch dieses Material heranziehen.

Ihre formellen Notizen sollten an einem sicheren, für andere unzugänglichen Ort verstaut werden und lediglich mit einem Code oder dem Vornamen versehen sein. Den vollen Namen, Adresse und Telefonnummer sollte man anderswo speichern. Man sollte sie, je nach Berufskodex, eine Zeit lang aufheben (üblicherweise werden sechs Jahre gefordert), und zwar sowohl aus rechtlichen Erwägungen und für den Fall, dass der Klient zurückkommen sollte. Danach können die Aufzeichnungen vernichtet werden. Sie sollten auch für den unwahrscheinlichen Fall, dass Krankheit oder Tod Ihrer Berufsausübung ein vorzeitiges Ende setzen, eine Kollegin als ›Nachlassverwalterin‹ bestellen. Diese Nachlassverwalterin sollte informiert sein, wo sie die Klientendaten findet, damit sie alte Notizen vernichten und die Unterstützung und Weiterverweisung aktueller Klienten in die Wege leiten kann. Dafür wählt man besser eine entferntere Kollegin aus, da Ihre engen Freundinnen zu sehr mit der Trauer um Sie beschäftigt wären. Sie können in Ihrem Testament verfügen, dass die klinische Nachlassverwalterin für ihren Zeitaufwand entschädigt wird.

EMPOHLENE LITERATUR

Bongers, D. / Schulthess, P. / Strümpfel, U. / Leuenberger, A. (2005): Gestalttherapie und Integrative Therapie. Eine Einführung. Bergisch Gladbach: EHP

Browman, C. (1996): Definitions of Gestalt therapy. In: Gestalt Review 2(2), 97–107

Jenkins, P. (2007): Counselling, Psychotherapy and the Law. London: Sage

Mackewn, J. (1997): Developing Gestalt Counselling. London: Sage (s. Kap. 1)

McMahon, G. / Palmer, S. / Wilding, C. (2005): The Essential Skills for Setting up a Counselling and Psychotherapy Practice. East Sussex: Routledge

Melnick, J. (1978): Starting therapy – assumptions and expectations. In: Gestalt Journal 1 (1), 74–82

Sills, C. (2006): Contracts and contract making. In: C. Sills (Hg.): Contracts in Councelling and Psychotherapy, 2. Aufl. London: Sage, 9–26

Staemmler, F.-M. (2009): Was ist eigentlich Gestalttherapie? Eine Einführung für Neugierige. Hg. Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie. Vorwort S. Engelmann. Bergisch Gladbach: EHP

Woldt, A. L. / Toman, S. M. (2005): Gestalt Therapy – History, Theory and Practice. Thousand Oaks, CA: Sage

Yontef, G. / Jacobs, L. (2007): Introduction to Gestalt therapy. In: R. Corsini / D. Wedding (Hg.): Current Psychotherapy. Pacific Grove, CA: Brooks Cole. Zum freien Download dieses Kapitels als PDF besuchen Sie die Website des Pacific Gestalt Institute unter http://www.gestalttherapy.org/faculty-publications.asp

2

PHÄNOMENOLOGIE UND FELDTHEORIE

Schauplatz:   

In einem Restaurant. Die Autoren machen gerade eine Schreibpause.

Charlotte:

Die Phänomenologie ist ein außergewöhnlicher und hochinteressanter Begriff, und doch kommt er schwerfällig und langweilig rüber, wenn man ihn zu beschreiben sucht. Hast du eine Idee, wie man ihn lebendiger machen könnte?

Phil:

Nun – was tut sich bei dir gerade? Was erlebst du im Moment?

Charlotte:

[sieht sich im Raum um]

Ich sehe eine weiße Kerze dort drüben, die das Bild dahinter erhellt, sodass sie zum Bild zu gehören scheint.

Phil:

Und wie fühlst du dich?

Charlotte:

Ich bin fasziniert und glücklich.

Phil:

Also siehst du dich gerade in deiner Welt um und freust dich, dass die Dinge miteinander harmonieren.

Charlotte:

[lacht]

So bin ich – ich bin sehr darauf aus, die Dinge in Harmonie zu sehen.

Phil:

Als ich einen Blick auf jene Kerze warf, bemerkte ich, dass sie auf den Tisch tropfte und ich überlegte, ob ich etwas dagegen tun sollte. Deine Phänomenologie besteht also darin, dass du rundum Harmonie erblickst, meine darin, dass ich Probleme wahrnehme, welche ich lösen kann. Du hast übrigens Brösel auf deiner Bluse.

DIE PHÄNOMENOLOGISCHE BEFRAGUNGSMETHODE

Der phänomenologische Ansatz besteht darin, so nahe wie möglich an der Erfahrung des Klienten daranzubleiben, im Hier und Jetzt zu sein und, anstatt das Verhalten des Klienten zu deuten, ihm beim Explorieren und Bewusstmachen zu helfen, wie er seiner Welt Sinn verleiht. Mit anderen Worten hilft der Ansatz dem Klienten, herauszufinden, wer er ist und wie er ist. Die phänomenologische Methode ist in der Tat nicht minder Haltung als sie Technik ist. Sie bedeutet, dass man sich dem Klienten mit offenem Herzen und echter Neugier widmet, und nichts zählt als das Entdecken des eigenen Erlebens. Währenddessen konzentriert und schärft sich das Bewusstsein des Klienten hin auf seinen eigenen Prozess und auf seine Entscheidungsfindung.

Die phänomenologische Methode wurde von Husserl (1931) als eine Vorgangsweise entwickelt, dem Wesen der Existenz auf den Grund zu gehen; später wurde sie von Existenzphilosophen wie Heidegger und Merleau-Ponty weiterentwickelt. Eine essenzielle phänomenologische Anschauung lautet, die Menschen verliehen ihrer Welt ständig aktiv Sinn (was man Intentionalität nennt), ergo hat der Klient stets aktiv daran Anteil, was er erlebt und wie er erlebt, sein gegenwärtiges Problem mit eingeschlossen.

Die phänomenologische Erkundung ist für therapeutische Zwecke adaptiert worden, um sie dafür geeignet zu machen, der subjektiven Bedeutung und Erfahrung der Welt des Klienten und seiner selbst darin nachzuspüren. Es gibt drei Hauptkomponenten. Die erste ist das Einklammern (Bracketing), wobei der Berater seine Überzeugungen, Annahmen und Urteile vorübergehend auf Eis legt oder ihnen zumindest keine besondere Bedeutung schenkt, damit er den Klienten innerhalb seiner Situation so wahrnimmt, als wäre es das erste Mal. Das zweite ist die Beschreibung, bei welcher das Phänomen des Klienten, der vor Ihnen sitzt, anhand des unmittelbar Sinnfälligen beschrieben wird. Das dritte ist der Horizontalismus, bei dem sämtliche Facetten des Verhaltens, der äußeren Erscheinung und der Ausdrucksweise möglichst dieselbe Wichtigkeit erhalten.

Obwohl es bereits in der Natur des phänomenologischen Ansatzes liegt, meinen wir, dass es der Mühe wert ist, ein viertes Prinzip anzuführen, nämlich aktive Neugierde, denn gerade sie bringt Leben in die anderen drei.

Mit der phänomenologischen Methode erlaubt man sich, den Klienten neu zu erleben, indem Sie Ihre Wertungen und Vorannahmen nicht so wichtig nehmen und ihm in offener Haltung begegnen. Es ist wie ein erster Urlaubstag in einem neuen Land mit unbekannter Kultur, in dem Sie offen für das Neue, Andersartige an Ihre Erfahrungen herangehen und Sie das Unbekannte ganz in sich hinein nehmen möchten und Verstehen wie von selbst entsteht.

Natürlich ist es unmöglich, die Brille der Subjektivität ganz abzulegen und Ihre spezielle Art und Weise zu vergessen, mit der Sie der Welt und den Menschen ihre Bedeutung geben. Darüber hinaus wird sich Ihre phänomenologische Erkundung – die Fragen, die Sie stellen, das, was Ihnen ins Auge springt, was Ihr Interesse erweckt – unvermeidlich nach der Rolle richten, die Sie als Therapeutin einnehmen. Wir kennen jedoch alle den Unterschied zwischen einer rigiden, stereotypen und engstirnigen Haltung und einer, die für neue Bedeutungszuschreibungen, neue Eindrücke und neue Auffassungen offen und empfänglich ist.

Wie wir im ganzen Buch klarzumachen versuchen, meinen wir, dass es bei jeder Interaktion zu einer Ko-Konstruktion von Sinn kommt. In diesem Licht besehen ist es nicht möglich, wirklich objektiv zu sein: Sie können sich selbst nicht aus der Beziehung herausnehmen oder sich von ihren Bedeutungsgebungen lösen. Diese Methode ist streng genommen nur ein Versuch, sich Ihre Bewertungen und Ihre Reaktionen auf die Klientin (und die Beziehung zu ihr) bewusst zu machen, um einen klaren Blick und ein besseres Verständnis zu gewinnen.

DAS EINKLAMMERN (BRACKETING)

Der erste Schritt phänomenologischer Erkundung ist der Versuch, Vorannahmen, Wertungen und Haltungen, die die Beraterin unvermeidlich in die therapeutische Beziehung mitbringt, zu erkennen und anzuerkennen. Während dieses Bracketings versucht der Berater, jene so gut wie möglich zur Seite zu stellen und ganz für diese einzigartige Klientin in diesem einzigartigen Augenblick da zu sein. Vielleicht haben Sie das schon einmal erlebt, nämlich dass Sie einen vertrauten Menschen in einem anderen Licht sehen (etwa nach langer Abwesenheit), und es ist, als sähen Sie ihn zum ersten Mal. So ein Erlebnis wird oft von einem Gefühl der Erstmaligkeit, Wertschätzung und Verwunderung begleitet, die Sie für diese einmalige Person empfinden, welche sie vorher als selbstverständlich hingenommen haben. In der Realität ist es natürlich unmöglich, diese Form des Einklammerns länger als für einige Augenblicke durchzuhalten, und tatsächlich würden wir ohne unsere Annahmen und Haltungen schlecht zurechtkommen. Menschen suchen von Natur aus Sinn, und unser Leben wäre reichlich sinn-los, lernten wir nichts aus unserer Erfahrung, zögen wir keine Schlüsse, bildeten uns keine Urteile und nähmen wir keine Haltungen ein. Menschen neigen allerdings auch zur Erstarrung und zu Stereotypen, sie sehen, was sie sehen wollen, sie gleichen ihre Wahrnehmung ihren Erwartungen an und verlieren den Sinn für das Neue und für ungewohnte Alternativen. Wir müssen nicht sehr weit blicken, um die Konsequenzen solch stereotyper Einstellungen gegenüber Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität und Geisteskrankheit zu bemerken. Bracketing heißt aber nicht, von vorgefassten Meinungen, Haltungen und Reaktionen frei sein zu wollen. Es stellt indes den Versuch dar, so nahe wie möglich an der jeweiligen Neuheit des Hier und Jetzt daran zu sein und das Risiko vorschneller und vorzeitiger Bewertungen und Sinnzuschreibungen des jeweils einmaligen Erlebnisses eines Klienten zu vermeiden.

Anregung: Stellen Sie sich folgende Situation vor:

a) Jim erzählt Ihnen, seine Mutter sei gerade an Krebs gestorben.

b) Kathryn sagt, sie sei auf einen Posten mit mehr Verantwortung befördert worden.

c) Miles erzählt Ihnen, er habe seine siebenjährige Tochter geschlagen.

d) Keiko verkündet, dass sie eine arrangierte Ehe mit einem Mann eingehen werde, den sie noch nie gesehen hat.

Stellen Sie sich vor, Sie hörten jede dieser Aussagen jeweils von einem Ihrer Klienten. Was ist Ihre unmittelbare Reaktion, Ihre Emotion oder wie lautet Ihr Urteil, wenn Sie das hören? Bereits bei dieser minimalen Information werden Sie spüren, wie schnell Sie sich eine Meinung bilden. Oft haben wir mit Überraschung registriert, wie verschieden ein und dasselbe Erlebnis von Therapeut und Klientin wahrgenommen werden kann: ein Verlust, der eher Erleichterung bzw. Zorn statt Trauer auslöst, ein anscheinend erwünschtes Ereignis, das den Klienten geängstigt hat, ein Missbrauch, der als Notwendigkeit gerechtfertigt wird oder eine verblüffend andere Bedeutungszuschreibung an ein scheinbares Allerweltsereignis.

Es ist schwierig zu beschreiben, wie man das Einklammern praktiziert, aber vielleicht sind ja die bewusste Einstellung, dass Ihre Meinungen und Urteile fehlerverdächtig oder vorschnell sein könnten, und die Einsicht, dass Sie sich mit Ihren Schlussfolgerungen lieber Zeit lassen sollten, hilfreich. Das Mindeste ist, sich Ihrer vorgefassten Meinungen bewusst zu sein, ihnen keine besondere Beachtung zu schenken und bereit zu sein, sie angesichts neuen Belegmaterials zu verändern oder abzuwandeln. Vielleicht helfen Ihnen die Grounding- und einfache Gewahrseins-Übungen, die in späteren Kapiteln ausgeführt werden, mit dem Herzen und dem Körper zu hören und nicht mit dem Verstand!

BEISPIEL

James: Ich habe gerade erfahren, dass meine Partnerin schwanger ist, und sie freut sich so.

(Reaktion der Beraterin: spürt sofort eine positive Resonanz, hält sich aber zurück.)

Antwort der Beraterin: Und wie ist das für Sie? (Sie klammert ihre eigenen Werte und ihre Reaktion ein.)

James: Ich weiß nicht recht. Natürlich freue ich mich.

Antwort der Beraterin: Sie sind sich anscheinend nicht ganz sicher.

James: Ja, wahrscheinlich. Es ist ein neues Leben. Einen Säugling in die Welt zu setzen.

(Innere Resonanz der Beraterin: fühlt etwas, was sich nicht wie Freude anfühlt – Besorgnis oder Beunruhigung vielleicht.)

Antwort der Beraterin: Ist da vielleicht noch ein anderes Gefühl oder eine Besorgnis, weil sie ein Baby bekommen? (Sie klammert das sich in ihr bildende Urteil ein und geht dem nach, was möglicherweise nicht ausgesprochen wird.)

James: Ist schon okay. Ich mache mir aber Sorgen, in Zeiten wie diesen ein Kind aufzuziehen.

Und so fort …

Das anfängliche Zögern der Beraterin macht es möglich, dass sich ein komplexerer Sinn herauskristallisiert, der möglicherweise verfehlt worden wäre, wäre die Reaktion zu positiv ausgefallen (z. B. »Ich gratuliere!«).

Die Haltung des Einklammerns ist, als würde man ein Geheimnis ergründen. Sie versuchen, den Sinn einer bestimmten Situation herauszufinden, Fragen zu stellen und Antworten zu eruieren, »Wie geht es Ihnen damit?« oder »Was bedeutet das für Sie?« »Welchen Sinn geben Sie der Angelegenheit?« »Wie kam es dazu?«, jedoch nicht in Erwartung einer bestimmten Antwort (zumindest nicht sofort). Sie versuchen, den Sinn einer Situation von selbst entstehen zu lassen, und für den Anfang ist die Haltung des Einklammerns oder der Offenheit das Beste.

Anregung: Denken Sie an einen Klienten (oder an einen Freund), den Sie eine Zeit lang regelmäßig gesehen haben. Beschreiben Sie ihn (vor sich) in Kategorien wie etwa seinem Beruf, seinem Geschlecht, seiner sozioökonomischen Zugehörigkeit, seiner Persönlichkeit, wie er Sie sieht, was er gefälligst tun sollte, damit er mit sich zurecht kommt (!) und so weiter. (Machen Sie das eine Minute lang.)

Stellen Sie das nun alles zur Seite und malen Sie sich aus, wie Sie ihm vorurteilsfrei und ohne ihm eine Bedeutung geben zu wollen, gegenüber zu sitzen. Was fällt Ihnen da an ihm auf? Wie sitzt er? Wie ist seine Körperhaltung? Wie seine Frisur, sein Teint, seine Atmung? Was für einen Gesichtsausdruck hat er? Welche Bilder und Gefühle kommen Ihnen dabei?

Sie werden sehen, wie unterschiedlich die Eindrücke sind, die Sie aus den beiden Erkenntnisweisen gewinnen.

Die Fertigkeit des Einklammerns ist auch beim Praktizieren schöpferischer Indifferenz und der Inklusion überaus entscheidend, welche wir in späteren Kapiteln erörtern werden, da sie beide einer bestimmten Form des Einklammerns bedürfen.

BESCHREIBUNG

Die zweite Fertigkeit, die der phänomenologischen Erkundung bedarf, ist die Beschreibung. Dazu gehört, dass Sie an der Bewusstheit (Awareness) des unmittelbar Augenfälligen daran bleiben und Schritt für Schritt wiedergeben, was Sie wahrnehmen. Indem die Beraterin ihre eigenen Annahmen und Werte zur Seite stellt, beschränkt sie sich auf die Beschreibung des Wahrgenommenen (Gesehenen, Gehörten, Gefühlten usw.) – kurz dessen, was sie am Klienten bemerkt, d. h. was er sagt und was er tut, und dessen was sie selbst dabei erlebt (ohne zu interpretieren).

Eine typische Intervention sieht etwa so aus:

Mir fällt auf … (z. B. »dass sich Ihre Atmung beschleunigt hat«). Anscheinend sagen Sie damit … (z. B. »dass Ihnen das sehr wichtig ist«). Sie wirken … (z. B. »bekümmert«).

Mir ist nicht entgangen, dass … (z. B. »dass Sie heute zehn Minuten zu spät kamen«).

Die Beraterin muss Schritt für Schritt mit der Information mitgehen, die sie aus ihren Kontaktfunktionen und ihren körperlichen Reaktionen gewinnt. Währenddessen werden einzelne Interessen figural werden – die Körperhaltung des Klienten, seine Stimmlage, sein Atemtempo oder ein Thema, das sich wiederholt. Sie wird auch auf ihre eigene Phänomenologie achten, das kann ein emotionales Echo, eine körperliche Anspannung oder aufkommende Langeweile sein. Damit beschreibt sie (manchmal laut, manchmal nur für sich) die auftauchenden Figuren und Themen des Klienten. Man nennt ein solches Vorgehen auf Seiten des Beraters auch Tracking – das ist das schrittweise Mitverfolgen des sich entfaltenden Prozesses.

BEISPIEL

Kess kommt zu spät und lässt sich langsam nieder, die Augen zu Boden gerichtet, bewegt sich kaum und ist still. Als der Berater anmerkt, wie regungslos ihr Körper und wie intensiv ihr Schweigen sei, blickt sie langsam auf und sagt, dass ihr bewusst sei, wie viel Traurigkeit sie in sich festhalte. Der Berater sagt, er nehme auch winzige rastlose Bewegungen in ihren zu Fäusten geballten Händen wahr. Kess wird lebendiger und äußert ihren Kummer nach und nach. Später fällt dem Berater auf, dass Kess’ Stimme leiser wird und dass sie wieder bewegungslos wird. Er teilt ihr seine Beobachtung mit, und Kess antwortet, sie befürchte, dass ihre Bedrängnis mit dem Reden noch schlimmer werden könne, deshalb zögere sie.

Es ist faszinierend, wie wirkungsvoll diese Technik ist, wenn es darum geht, eine Klientin in Berührung mit ihrer Erfahrung zu bringen und das aufzudecken, was ihr dabei im Wege steht. Beschreibung bietet Aufmerksamkeit, Stützung und Interesse für auftauchende Figuren, die ansonsten abgelenkt würden. Der Berater hilft der Klientin auch, ihre eigenen Deutungen, Überzeugungen und ihre Bedeutungsgebung ans Licht zu bringen und ihren Gefühlen sowie ihrem Erleben volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Eine Warnung sei jedoch ausgesprochen. Oft sind das, was die Therapeutin wahrnimmt, Phänomene bzw. Reaktionen, die außerhalb der Bewusstseinssphäre des Klienten liegen. Manche Klienten fühlen sich bloßgestellt, ja sogar beschämt dadurch, dass jemand ihre körperlichen Regungen, Anspannungen, Stimmlage, Wortwahl und so fort wahrnimmt. Es ist daher überaus wichtig, dass die Kommentare einfühlsam und zum Thema gehörig dargeboten werden. Die Klientin darf nicht den Eindruck bekommen, dass sie durchleuchtet wird. Auf diese Kompetenz werden wir später zurückkommen.

HORIZONTALISMUS

Jedes Geschehen ist potenziell ebenso wichtig (horizontal) wie jedes andere. Dieser Grundsatz führt uns zur dritten Fertigkeit unserer phänomenologischen Erkundung. Die Beraterin nimmt in ihrer Wahrnehmung und in ihren Reaktionen keine Überlegenheitspose ein. Eine körperliche Bewegung des Klienten ist vielleicht genauso wichtig wie das, worüber er spricht. Hier handelt es sich freilich um eine sehr subtil zu handhabende Technik. Es wäre beispielsweise unangebracht, den Fluss des Klienten grob zu unterbrechen, nur um die Aufmerksamkeit auf eine unwesentliche Bagatelle zu lenken. Stattdessen erinnern wir uns des Perls’schen Merkspruchs, Gestalt sei die ›Therapie des Offenkundigen‹ sowie der Prinzipien der Feldtheorie. Horizontalismus lässt sich sehr natürlich bewerkstelligen, wenn wir erfolgreich einklammern und unsere Interventionen auf die Beschreibung dessen, ›was ist‹, beschränken. Damit verlassen wir uns auf unsere geschärfte Wahrnehmung, mögliche Zusammenhänge und Anomalien zu bemerken und benennen zu können. Natürlich kann das, was im Hintergrund abwesend ist oder fehlt, ebenso wichtig sein wie etwa die geringe emotionale Beteiligung bei einem Klienten, der über seine bevorstehende Scheidung spricht.

BEISPIEL

Beraterin:   Mir fällt auf, dass Sie oft zum Fenster hinaussahen, während Sie über Ihre Frau sprachen. [Die Beraterin schenkt dem Aus-dem-Fenster-Blicken ebenso viel Aufmerksamkeit wie seinen Worten.]Klient:Tatsächlich? Ja, stimmt wahrscheinlich. Ich sehe die Baumkrone dieser riesigen Buche, und die scheint so hoch oben, und das ist irgendwie tröstlich.Beraterin:In welcher Weise tröstet es Sie?Klient:Ich will nicht darüber reden – über meine Ehe, meine ich. Ich will Ihnen nicht davon erzählen und es damit real machen, und Sie schauen mich dann so mitfühlend an. Ich bin irgendwie – ich weiß, wie blöd das ist – wütend auf Sie. Sie bringen mich dazu, darüber zu reden. Sie bewirken, dass ich erkenne, was wirklich los ist, und das will ich nicht.Beraterin:Also sind Sie wütend auf mich. Da konzentrieren Sie sich lieber auf die Baumkronen.Klient:Genau. Es ist, als könnten Sie mich dort nicht erreichen, und niemand kann mich dazu bringen, über schmerzliche Dinge zu reden.Beraterin:Kommt Ihnen das bekannt vor, abzutauchen, um sich in Sicherheit bringen?

In diesem Fallbeispiel hat die Beraterin dem Phänomen des aus dem Fenster Blickens ebenso viel Gewicht beigemessen wie dem Inhalt seiner Worte und dabei unverhofft eine Passage relationaler Kommunikation entstehen lassen.

AKTIVE NEUGIERDE

»Eine der Hauptvoraussetzungen bei der Ausübung von Therapie ist die Fähigkeit, sich vom Patienten faszinieren zu lassen.« (Polster 1985: 9)

Obwohl aktive Neugierde formal gesehen nicht zur phänomenologischen Methode gehört, meinen wir, dass sie zur Beraterrolle in der Gestalt wesentlich dazugehört. Um die Welt der Klientin zu verstehen, muss man sich dafür interessieren, wie es zu einer Situation kommt, welchen Sinn die Klientin ihm verleiht, wie dieses mit jenem zusammenpasst, und welche Bedeutung es im größeren Zusammenhang hat. Sie helfen den Klientinnen dadurch, ihre eigene Verstehensweise zu erkunden und zu klären. Alles, was Sie dazu brauchen, ist Neugierde auf alles, was die Klientin erlebt.

Ihre Neugierde wird Sie mitunter veranlassen, viel zu fragen. Die goldene Regel lautet, nur solche Fragen zu stellen, die zur phänomenologischen Erkundung gehören und nicht zu einem Verhör. Der Klient sollte keinesfalls den Eindruck bekommen, die spanische Inquisition wäre hinter ihm her. Oder als gäbe es eine richtige Antwort auf das, worauf Sie hinauswollen. Vermeiden Sie geschlossene Fragen, die die Antworten einengen und Maßstäbe aufstellen. Vergleichen Sie beispielsweise folgende geschlossene Fragen: »War das schwer?«, »Haben Sie gut geschlafen?«, »Waren Sie traurig?« mit deren offener Alternative: »Wie war es?«, »Wie haben Sie geschlafen?«, »Wie haben Sie sich gefühlt?«› »Was haben Sie erlebt?«

Hüten Sie sich auch vor Warum-Fragen, welche die Form von Neugierde, die wir hier propagieren, zunichtemachen. Eine Warum-Frage lädt üblicherweise zum Nachdenken und zur Rationalisierung ein, und oft impliziert sie Kritik, z. B.: »Warum sind Sie zur Sitzung zu spät gekommen …?« Es bringt mehr, mit offenen Fragen ans Werk zu gehen, wie zum Beispiel »Wie kam es dazu, dass Sie zu spät dran sind?« und »Wie ist es für Sie, zu spät zu kommen?« – das sind Fragen, die auf den Prozess des Klienten abzielen und nicht so sehr auf den Inhalt.

Des Weiteren empfehlen wir zwei bestimmte Frage-Modi. Erstens den, welchen wir ›Erkundung eines Mikroprozesses‹ nennen. Laden Sie den Klienten ein, seine Aufmerksamkeit einige Sekunden lang punktgenau auf sein Erleben zu richten, damit er gewahr wird, wie komplex seine Reaktion ist. Wenn eine Klientin beispielsweise verwirrt aussieht oder ungewohnt auf eine Aussage Ihrerseits reagiert, vergessen Sie das ›Warum‹ und vergessen Sie auch das ›Wie‹ dieses Ereignisses und das ›Was-genau-ist-dann-und-dann-passiert?‹ oder das ›Was-geht-jetzt-gerade-vor-sich?‹

BEISPIEL

Beraterin:   Was war jetzt eben? Als ich redete, veränderte sich Ihr Gesichtsausdruck und Sie sahen zu Boden. Als ich Sie höflich unterbrach, baten Sie mich ebenso höflich um eine Erklärung, was ich meinte. Ich möchte zu gerne wissen, was sich in den Sekunden dazwischen bei Ihnen abspielte.Reg:Nun ja, Sie haben mir viele Fragen gestellt, da bin ich nicht mitgekommen. Da war ich erst einmal verwirrt.Beraterin:Und dann?Reg:Dann bin ich mir blöd vorgekommen.Beraterin:Und dann?Reg: