Gestalttherapie in der klinischen Praxis -  - E-Book

Gestalttherapie in der klinischen Praxis E-Book

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Beschreibung

Das Handbuch stellt in mehrfacher Hinsicht ein Novum in der gestalttherapeutischen Literatur dar. Er vereinigt zum ersten Mal Spezialisten unterschiedlicher Generationen aus mehr als 20 Ländern, die den aktuellen Stand der internationalen Forschung repräsentieren und zahlreiche bisher bestehende Desiderate aus der Gestalttherapie füllen. Grundlegende theoretische Prinzipien für die klinische Praxis, besondere Sichtweisen, Therapie in bestimmten Lebenssituationen und klinische Anwendungen bei spezifischen Leidensformen werden in 33 Artikeln dargestellt, die jeweils durch den Kommentar eine anderen Autors ergänzt werden. Außerdem wird hier zum ersten Mal konsequent das Thema der Psychopathologie aus einer gestalttherapeutischen und beziehungsorientierten Perspektive betrachtet. Das Handbuch formuliert eine spezifisch gestalttherapeutische Sicht auf das Verständnis von Psychopathologie: Psychopathologie als ko-kreiertes Feldphänomen, das an der Kontaktgrenze entsteht und das im Kontaktprozess verwandelt werden kann. Die deutsche Version dieses internationalen Projekts ist speziell auf die Situation, die Forschung und die Literatur im deutschsprachigen Raum bearbeitet und ergänzt worden.

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EHP – Edition Humanistische Psychologie

Hg. Anna und Milan Sreckovic

Herausgeberin und Herausgeber

Gianni Francesetti, Gestalttherapeut, Facharzt für Psychiatrie, internationaler Trainer und Supervisor, Programm-Koordinator des Internationalen Trainings für einen gestalttherapeutischen Ansatz zur Psychopathologie, Präsident der EAGT und der italienischen NUO (FIAP, Italienischer Verband der Psychotherapie-Gesellschaften), früherer Präsident der SIPG (Società Italiana Psicoterapia Gestalt), Mitglied von EAP, NYIGT, SPR. Er hat zum gestalttherapeutischen Ansatz zur Psychopathologie viele Arbeiten und Kapitel geschrieben und Bücher herausgegeben.

Michela Gecele, Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapeutin, sie lehrt in den Gestalttherapie-Trainingsprogrammen des Istituto di Gestalt HCC. Sie arbeitet seit 19 Jahren in einer öffentlichen Einrichtung für psychische Gesundheit und koordiniert seit drei Jahren eine psychologische und psychiatrische Einrichtung für ImmigrantInnen. Sie hat Artikel und Bücher auf dem Gebiet der Psychiatrie, Psychotherapie und über transkulturelle Fragen geschrieben. Sie ist Mitglied des HR&SR Komitees der EAGT.

Jan Roubal, Doktor der Medizin, ist Psychotherapeut, Facharzt für Psychiatrie, Trainer und Supervisor. Er lehrt Psychotherapie und Psychiatrie an der Masaryk Universität in Brünn. Er hat in einem psychiatrischen Krankenhaus, vor allem mit depressiven PatientInnen gearbeitet. Derzeit ist er in einer Privatpraxis tätig. Er ist Mitglied von EAP, EAGT, SPR und leitet das Forschungskomitee der EAGT.

© EAGT und 2013 by Franco Angeli s.r.l., Milano, Italy u. d. Titel: Gestalt Therapy in Clinical Practice. From Psychopathology to the Aesthetics of Contact. (= Gestalt Therapy Book Series)

© für die deutsche Ausgabe 2016 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Gevelsberg www.ehp-verlag.de

In Zusammenarbeit mit der European Association for Gestalt Therapy EAGT herausgegeben von Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie DVG e.V. und Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie ÖVG e.V.

Die Übersetzung wurde finanziert von:

Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie DVG e.V.,

Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie ÖVG e.V.,

Fachsektion für Integrative Gestalttherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik

Aus dem Englischen von Anna Jell Bearbeitung und Lektorat: Rita Kloosterziel

Redaktion: Nina Andres, Dieter Bongers, Victor Chu, Kathleen Höll, Veronica Klingemann, Andreas Kohlhage, Manuela Manderfeld, Inge Matthies, Friedhelm Matthies, Thomas Maurer, Christiane Molkenbuhr, Bertram Müller, Christian Rabanus, Peter Schulthess, Achim Votsmeier-Röhr, Beatrix Wimmer, Deidre Winter, Rosemarie Wulf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich

Umschlagentwurf: Gerd Struwe, Uwe Giese

– unter Verwendung eines Bildes von Imke Pitro-Riedel: »o. T.« –

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin Gedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

print-ISBN 978-3-89797-085-4epub-ISBN 978-3-89797-590-3pdf-ISBN 978-3-89797-591-0

Für Isadore From

Inhalt

Vorwort zur englischen Ausgabe(Leslie Greenberg)

Einleitung der Herausgeber(Gianni Francesetti, Michela Gecele, Jan Roubal)

Vorwort zur deutschen Ausgabe(Veronica Klingemann und Beatrix Wimmer)

Vorwort: Klinische Gestalttherapie und die gesundheitspolitische Situation in Deutschland(Lotte Hartmann-Kottek)

Teil I:Grundlegende Prinzipien der Gestalttherapie in der Klinischen Praxis

1. Grundlagen und Entwicklung der Gestalttherapie im Kontext der Gegenwart (Margherita Spagnuolo Lobb)

Kommentar von Gordon Wheeler

2. Psychopathologie: Ein Gestalttherapeutischer Ansatz (Gianni Francesetti, Michela Gecele und Jan Roubal)

Kommentar von Peter Philippson

3. Diagnostik: Ein Gestalttherapeutischer Ansatz (Jan Roubal, Michela Gecele und Gianni Francesetti)

Kommentar, von Antonio Sichera

4. Entwicklungsperspektive in der Gestalttherapie: Die polyphone Entwicklung von Bereichen (Margherita Spagnuolo Lobb)

Kommentar von Ruella Frank

5. Situative Ethik und die ethische Welt der Gestalttherapie (Dan Bloom)

Kommentar von Richard E. Lompa

6. Forschung und Gestalttherapie (Ken Evans)

Kommentar von Leslie Greenberg

7. Die Kombination von Gestalttherapie und psychiatrischer Behandlung (Jan Roubal und Elena Křivková)

Kommentar von Brigitte Lapeyronnie-Robine

Teil II:Spezifische Kontexte und fokussierende Betrachtungen

8. Sozialer Kontext und Psychotherapie (Giovanni Salonia)

Kommentar von Philip Lichtenberg

9. Die politische Dimension der Gestalttherapie (Stefan Blankertz)

Kommentar von Lee Zevy

10. Multikulturelle Kontexte leben (Michela Gecele)

Kommentar von Talia Bar-Yospeh Levine

11. Gestalttherapie und Entwicklungstheorien (Giovanni Salonia)

Kommentar von Peter Mortola

12. Scham (Jean-Marie Robine)

Kommentar von Ken Evans

Teil III:Spezifische Lebenssituationen

13. Der goldene Käfig der kreativen Anpassung: Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen – ein gestalttherapeutischer Ansatz (Nurith Levi)

Kommentar von Neil Harris

14. Das Risiko der Psychopathologie im Alter (Frans Meulmeester)

Kommentar von Martine Bleeker

15. Verlust und Trauer. Manchmal lässt die Abwesenheit eines einzigen Menschen die ganze Welt leer erscheinen (Carmen Vázquez Bandín)

Kommentar von Gonzague Masquelier

16. Die Macht des »Vorwärtsgehens«. Trauma-Behandlung – ein gestalttherapeutischer Ansatz (Ivana Vidakovic)

Kommentar von Willi Butollo

17. Einschätzung des Suizidrisikos (Dave Mann)

Kommentar von Jelena Zeleskov Djoric

Teil IV:Spezifische klinische Leiden

18. »Nach was sieht’s denn aus?« Demenz – ein gestalttherapeutischer Ansatz (Frans Meulmeester)

Kommentar, von Katerina Siampani

19. Abhängiges Verhalten (Philip Brownell und Peter Schulthess)

Kommentar von Nathalie Casabo

20. Jenseits der Säulen des Herakles. Psychotisches Erleben aus gestalttherapeutischer Perspektive (Gianni Francesetti und Margherita Spagnuolo-Lobb)

Kommentar von Gary Yontef

21. Ein gestalttherapeutischer Ansatz bei der Behandlung von Depressionen (Gianni Francesetti und Jan Roubal)

Kommentar von Joe Melnick

22. Bipolares Erleben (Michela Gecele)

Kommentar von Daan van Baalen

23. Angst in der Situation: Störungen der Gestaltkonstruktion (Jean-Marie Robine)

Kommentar von Myriam Muñoz Polit

24. Panikattacken – Eine gestalttherapeutische Perspektive (Gianni Francesetti)

Kommentar von Nancy Amendt-Lyon

25. Gestalttherapie bei phobisch-zwanghaften Beziehungsstilen (Giovanni Salonia)

Kommentar von Hans Peter Dreitzel

26. Anorexie, Bulimie und Hyperphagie: Dramatische Formen weiblicher Kreativität (Elisabetta Conte und Maria Mione)

Kommentar von Irina Lopatukhina

27. Psychosomatische Störungen – Ein gestalttherapeutischer Ansatz (Oleg Nemirinskiy)

Kommentar von Giuseppe Iaculo

28. Beziehungsorientierte sexuelle Themen: Liebe und Begierde im Kontext (Nancy Amendt-Lyon)

Kommentar von Marta Helliesen

29. Persönlichkeitsstörungen. Diagnostische und soziale Bemerkungen (Michela Gecele)

30. Borderline: Die Wunde der verletzten Grenze (Margherita Spagnuolo Lobb)

Kommentar von Christine Stevens

31. Von der Großartigkeit des Bildes zur Fülle des Kontakts. Gedanken zu Gestalttherapie und narzisstischem Erleben (Giovanni Salonia)

Kommentar von Bertram Müller

32. Hysterie: Formale Definition und neuer Ansatz zu einem phänomenologischen Verständnis. Eine psychopathologische Neubewertung (Sergio La Rosa)

Kommentar von Valeria Conte

33. Gewalttätiges Verhalten (Dieter Bongers)

Kommentar von Bernhard Thosold und Beatrix Wimmer

Literatur

Ergänzende Literatur zur deutschen Ausgabe

AutorInnen

Vorwort zur englischen Ausgabe

Ein gestalttherapeutisches Handbuch zur Psychopathologie, das einen beziehungsorientierten Ansatz zu diesem komplexen Thema fördert! Dies ist ein bahnbrechendes und revolutionäres Buch. Neue Wege zu beschreiten ist immer von Kontroversen begleitet, und ich bin sicher, das wird bei diesem Buch nicht anders sein unter GestalttherapeutInnen und unter PsychiaterInnen und PsychologInnen, die sich am traditionelleren medizinischen Modell der Psychopathologie orientieren. GestalttherapeutInnen der ersten Generation wären wahrscheinlich schockiert und überrascht zu sehen, dass die Gestalttherapie bei schweren Störungen und Diagnosen wie Borderline oder Narzissmus angewandt wird. AnhängerInnen des medizinischen Modells andererseits werden es schwierig finden, manche Konzepte und Gedanken zu integrieren, wie z. B. die Tatsache, dass die Psychopathologie an der Kontaktgrenze entsteht, oder die Idee einer prozessorientierten ästhetischen Diagnose. Doch diese revolutionären Ideen werden hoffentlich einen Einfluss auf bestehende Ansichten zu Behandlung und Psychopathologie haben und dabei helfen, der Gestalttherapie eine Stimme im allgemeinen Dialog zu schwereren Störungen verleihen.

Die Gestalttherapie beschäftigte sich ursprünglich damit, das Wachstum des Selbst und eine größere Autonomie bei neurotischen Persönlichkeiten zu fördern. Als Teil der Dritten Kraft der Humanistischen Psychotherapien war sie Teil einer neuen kulturellen Bewegung. Die Gestalttherapie förderte eine Unterstützung der Autonomie und Kreativität bei Individuen, die das Bedürfnis verspürten, sich vom erstickenden gesellschaftlichen »Sollte« und von Familienintrojekten zu befreien. Selbstausdruck, Wachstum und Persönlichkeitsentfaltung waren die therapeutischen Ziele.

Der gestalttherapeutische Ansatz entwickelte sich, ohne schwereren Formen des Leidens und der Psychopathologie große Beachtung zu schenken. Die Gestalttherapie wurde nicht entwickelt, um schwerere Störungen wie Psychose, Selbstverletzung oder schwere Traumata und Persönlichkeitsstörungen wie Borderline oder Narzissmus zu behandeln. Perls pries die Gestalttherapie als Therapie der Wahl für »neurotische« Individuen an, doch er war sich offenkundig darüber im Klaren, dass er Gestalt-Techniken nicht bei psychisch schwer kranken Individuen anwenden konnte.

Außerdem wurde die Gestalttherapie von vielen lediglich mit Techniken in Verbindung gebracht ohne den theoretischen Hintergrund, der ihre Praxis leitete. Sie verbreitete sich durch Workshops und Selbsterfahrung. Forschung und theoretische Entwicklung wurden mit Skepsis betrachtet, und die akademische Arbeit zur Gestalttherapie hat darunter gelitten. Das Bild der Gestalttherapie entwickelte sich dahingehend, dass sie als Wachstumstherapie und als auf schwere Störungen nicht anwendbar gesehen wurde.

Die Sicht auf die Gestalttherapie, die in diesem Buch geboten wird, ist erfrischend anders. Dieses Buch ist revolutionär in seinem Bemühen, das Thema der Psychopathologie aus einer gestalttherapeutischen beziehungsorientierten Perspektive zu betrachten, und es bietet eine spezifisch formulierte gestalttherapeutische Sicht auf das Verständnis von Psychopathologie. Es betrachtet die Psychopathologie als ko-kreiertes Feldphänomen, das an der Kontaktgrenze entsteht und das im Kontaktprozess verwandelt werden kann. Es handelt sich um einen lobenswerten Versuch, die Kernkonzepte einer gestalttherapeutischen Theorie der menschlichen Funktionsweise zu erweitern, um psychisch schwer kranke KlientInnen und psychotisches Verhalten zu verstehen.

Bis vor Kurzem gab es einen Mangel an theoretischer Entwicklung und Forschung in der Gestalttherapie, der die Anerkennung dessen, was die Gestalttherapie zu bieten hat, stark eingeschränkt hat. Als erfahrungsorientierte Therapie basierte die Ausbildung zum großen Teil darauf, die persönliche Erfahrung als eine Art des Lernens zu fördern. Dies führte zur Verunglimpfung intellektueller und wissenschaftlicher Zielsetzungen, zu einer Erhöhung des »Learning by doing« und dazu, dass nur das »Wissen durch Erfahrung« geschätzt wurde. Man musste es erleben, um es zu wissen. Dies stimmte mit der gestalttherapeutisch-phänomenologischen Theorie der Praxis überein, doch dieser Ansatz hatte so seine Probleme damit, Theorie und Forschung voranzutreiben. Dieser Ansatz setzte die Gestalttherapie der Gefahr aus, eine esoterische Praxis zu werden und jegliche Anerkennung als ernsthafter akademischer, professioneller und wissenschaftlich gültiger Ansatz zu verlieren. Der theoretische und klinische Ansatz, der in diesem Buch vertreten wird, ist ein Gegenmittel zu diesem Trend.

Mit dem Beginn des weltweiten Rufs nach evidenzbasierter Praxis fing die Gestalttherapie an, ihren Fokus zu verändern, und begann, theoretische Anstrengungen und Forschungsprojekte zu entwickeln und zu unterstützen. Eine anspruchsvolle Abhandlung der Psychopathologie, wie sie in diesen Kapiteln geboten wird, passt zu diesem neuen Weg und zeigt in eine neue Richtung. Meiner Ansicht nach kann es als Hilfe betrachtet werden, um neue Rahmenbedingungen für eine dritte Generation von GestalttherapeutInnen zu schaffen, einen Weg, der ganzheitlicher ist und theoretische Forschung und Praxis in einem phänomenologischen, beziehungsorientierten und empirischen Rahmen integriert.

Die Kapitel in diesem Buch konzentrieren sich auf viele klassische diagnostische Kategorien: Stimmung, Psychose, Persönlichkeit, Essstörungen und Psychosomatik, sexuelle Probleme, gewalttätiges Verhalten und Demenz. Obwohl sie klassische diagnostische Kategorien behandeln, versuchen die AutorInnen dieser Kapitel die Begegnung mit der KlientIn als zentrales Element zu betrachten, und bewahren die Bedeutung der Einzigartigkeit jedes Menschen und jeder Begegnung.

Außerdem denke ich, dass dieser Ansatz dazu beitragen wird, einen der wesentlichen Punkte zu fördern, den ich vertrete, nämlich die Bedeutung der von mir Prozessdiagnose genannten Diagnose, die die HerausgeberInnen in ihrem Konzept der intrinsischen oder ästhetischen Diagnose zusammenfassen. Aus dieser Perspektive umfasst die Diagnosestellung die Beobachtung von einem Moment zum nächsten. Auch das Nachspüren, wo sich die KlientIn befindet, gehört dazu, eine funktionale Diagnose, die den nächsten Moment der TherapeutIn leitet. Dabei handelt es sich um eine ko-konstruktive Form der Beteiligung, die im Herzen eine Form der Diagnose ist, die zu einer differenzierten Intervention führt. Dem Prozess zu folgen, ein zentrales Prinzip der Gestalttherapie, ist also kein mystischer oder esoterischer Prozess, wild und kreativ, jenseits von Beschreiben und Verstehen, sondern vielmehr eine disziplinierte Art und Weise, das Offensichtliche zu erkennen, eine Form der Wahrnehmungs-Differenzierung, ähnlich wie bei RadiologInnen, die Scans ablesen, um Phänomene zu entdecken, die darauf hinweisen, dass bestimmte Prozesse im Inneren passieren. Wir sind der Ansicht, dass die Therapie von der Identifizierung bestimmter Marker als Indikatoren innerer Zustände profitiert, die Möglichkeiten für bestimmte Arten von Handlungen seitens der TherapeutInnen aufzeigen, die diesen Zuständen am besten entsprechen. Diagnose und Intervention unter diesem Licht zu sehen, trägt dazu bei, dass die Kunst und Wissenschaft der Psychotherapie gemeinsam in der Ausübung qualifizierter Praxis zusammenkommen.

Ich gratuliere den HerausgeberInnen dazu, einen Band geschaffen zu haben, der zur Entwicklung der gestalttherapeutischen Theorie beiträgt und die Komplexität des gestalttherapeutischen Ansatzes zur klinischen Praxis mit komplexen Problemen behandelt.

Leslie GreenbergToronto, Dezember 2012

Einleitung der Herausgeber

Dieses Buch begann als Projekt in Athen im Jahr 2007, während der 9. EAGT-Konferenz, als wir davon träumten, ein solches Werk zu schaffen. Wir interessieren uns alle seit vielen Jahren für Psychopathologie und besonders für die spezifische gestalttherapeutische Perspektive zu diesem Thema (siehe z. B. Francesetti 2007; Roubal 2007; Francesetti und Gecele 2009). Wir sind GestalttherapeutInnen und PsychiaterInnen und jede(r) von uns hat einen Prozess durchlebt, um diese Hintergründe zu integrieren. Die Gestalttherapie hat unsere Art, ÄrztInnen zu sein, grundlegend beeinflusst: menschliches Leiden zu verstehen, uns mit der therapeutischen Beziehung zu befassen, unsere KlientInnen zu unterstützen, auf uns selbst als TherapeutInnen Acht zu geben. Außerdem hat unsere klinische Erfahrung uns sensibler für spezifische Aspekte des Gestaltansatzes gemacht. Wir waren begeistert von der Vorstellung, die Unterstützung, die uns die Gestalttherapie als ÄrztInnen geboten hat, mit unseren KollegInnen zu teilen und einen Dialog zur klinischen Anwendung unserer Therapieform zu beginnen.

Drei Elemente sind zugleich Hintergründe und Ziele in unserer Arbeit gewesen: Zuallererst gab (und gibt) es eine Lücke zwischen der reichen klinischen Erfahrung vieler GestalttherapeutInnen und der verfügbaren Literatur. Literatur zur gestalttherapeutischen klinischen Arbeit ist ein grundlegendes Werkzeug für Studierende in Ausbildungsprogrammen und bietet zusätzlich eine Unterstützung für den fortlaufenden Dialog über Psychopathologie und ihre Veränderungen im Laufe der Zeit. Diese Literatur ist auch relevant für den Ruf der Gestalttherapie bei KollegInnen anderer Therapieformen und stellt ein Mittel dar, einen Dialog mit ihnen zu führen: Nur allzu oft ist unser Ansatz ausschließlich mit Techniken identifiziert worden, ohne das Wissen um unseren reichen theoretischen Hintergrund, der unsere Praxis leitet. Dieses Buch ist also ein Versuch, auszudrücken und zu beschreiben, was GestalttherapeutInnen in ihrer klinischen Praxis machen und wie unser spezifisches Verständnis von Psychopathologie aussieht.

Ein zweites Element, das uns zu diesem Projekt animiert hat, waren die Vorbehalte, die GestalttherapeutInnen oft gegenüber der Psychopathologie hegen. Es ist aus epistemologischen, historischen und politischen Gründen keine einfache Beziehung. Dennoch gibt es ein spezifisches gestalttherapeutisches Verständnis von Psychopathologie: Jedes psychotherapeutische Modell verfügt darüber, explizit oder implizit. Wir denken, dass die Lehre der humanistischen Bewegungen – die Einzigartigkeit jedes Menschen und jeder Begegnung – immer wertvoll bleibt: Die gestalttherapeutische Psychopathologie ist ein Verstehen des menschlichen Leidens durch unsere Theorie. Sie ist nicht dazu da, unsere KlientInnen mit Bezeichnungen zu versehen. Dieser Prozess ist eine wertvolle Unterstützung in unserer klinischen Praxis. Tatsächlich denken wir, dass das der Gestalttherapie zugrundeliegende Buch von Perls, Hefferline und Goodman gesundes und neurotisches Erleben gut beschrieben hat, dass seine wesentlichen Konzepte jedoch noch ausgeweitet werden können: So kann z. B. die Theorie des menschlichen Erlebens die Basis sein, um psychisch schwer erkrankte KlientInnen und psychotische Funktionsweisen zu verstehen.

Der dritte Punkt, der uns motiviert hat, war unsere Leidenschaft, menschliches Leiden als ein Feldphänomen zu verstehen: Wir haben täglich bei der Arbeit und in unserem Alltag mit Leiden zu tun und werden immer wieder aufs Neue von Leiden herausgefordert. Wir glauben und wir haben erlebt, dass die Gestalttherapie einen Schlüssel bieten kann, um leidenden Menschen beizustehen und sie zu unterstützen und zu verstehen. Zusätzlich bietet uns die Betrachtung menschlichen Leidens als Feldphänomen die Möglichkeit, das individuelle und das soziale Feld besser zu begreifen.

Dies waren die Motivationen, die uns – gepaart mit einem guten Stück Unwissenheit, was den Arbeitsaufwand anging – dazu gebracht haben, mit diesem Buch anzufangen.

Da unser Verständnis von Psychopathologie in vielen Kapiteln angesprochen wird, wollen wir uns hier auf den Untertitel konzentrieren: Von der Psychopathologie zur Ästhetik des Kontakts. In dieser Zeile findet sich der Kern unserer Vision: Im Kontaktprozess kann das menschliche Leiden erreicht und verändert werden, und diese Verwandlung ist ästhetisch. Hier sind zwei Gedanken enthalten: Erstens, dass die Psychopathologie ein ko-kreatives Phänomen des Feldes ist, das an der Kontaktgrenze entsteht und im Kontaktprozess verändert werden kann. Zweitens, dass diese Verwandlung ästhetisch ist: Das heißt, dass sie mit unseren Sinnen wahrgenommen wird, mit ästhetischen intrinsischen Kriterien bewertet wird und sogar Schönheit erschaffen kann.1

Durch diese Mittel können wir die Psychopathologie ins Herz der gestalttherapeutischen Theorie bringen.

Wir wollen den LeserInnen verdeutlichen, dass die klinische Praxis nur eines der Felder ist, auf die die Gestalttherapie angewandt wird. Die gestalttherapeutische Theorie und Praxis können ein Arbeitsmodell für Organisationen, in der Kunst, der Bildung, in einer sozialen und politischen Dimension sein. Die Gestalttherapie kann als ein Weg gesehen werden, um die Gestaltung, den Prozess der Schaffung von Gestalten, die vereinte Gesamtheit der menschlichen Erfahrung zu unterstützen. Die Psychopathologie und die klinische Praxis sind also nur eines der Felder, in denen unsere Theorien nutzbringend angewandt werden können.

Dieses Buch ist in vier Abschnitte unterteilt.

Der erste Teil konzentriert sich auf die grundlegenden Prinzipien in Verbindung mit der Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Hier finden Sie ein paar grundlegende Themen, die vor oder während der klinischen Arbeit besprochen werden müssen: Kernkonzepte und modernisierte Konzepte der Gestalttherapie, die gestalttherapeutische Perspektive zur Psychopathologie, Diagnose und Entwicklung, Ethik, Forschung und die Beziehung zwischen Psychotherapie und Medikamenten.

Im zweiten Teil werden spezifische Kontexte und Fokusse besprochen: Dieser Abschnitt unterstützt die Feldperspektive des Leiden des Individuums und hilft der LeserIn, es im Rahmen sozialer, politischer und multikultureller Dimensionen zu betrachten. Sie finden hier auch zwei spezifische Fokusse, die besonders relevant für die klinische Praxis sind: Entwicklungstheorien und Scham.

Im dritten Abschnitt werden besondere Lebensumstände und Risikosituationen besprochen: Kindheit, Pubertät, Alter, Verlust und Trauer, Trauma und Suizidrisiko.

Im vierten Abschnitt werden verschiedene klinische Leiden aus einer gestalttherapeutischen Perspektive untersucht. Dieser Abschnitt bietet einen Überblick über klinische Erfahrungen und Forschungen zu den psychopathologischen Hauptthemen. Wir haben uns mit vielen klassischen diagnostischen Kategorien befasst: Demenz, abhängiges Verhalten, Psychosen, depressives und bipolares Erleben, Anorexie, Bulimie und Hyperphagie, Psychosomatik, sexuelle Probleme, Persönlichkeitsstörungen (Borderline, Narzissmus, Hysterie), gewalttätiges Verhalten. Wir haben uns für diese Kategorien entschieden, weil sie zum aktuellen psychopathologischen und diagnostischen Vokabular gehören. Wir hoffen, dass die LeserInnen ihren eigenen Weg finden, sich auf diese Kategorien zu beziehen und sie gleichzeitig zu dekonstruieren, wenn die Begegnung mit einer KlientIn die Einzigartigkeit jeder Begegnung zeigt. Wir haben uns bemüht, diese Reise in allen Teilen dieses Bandes zu unterstützen.

Am Ende unserer Arbeit haben wir bemerkt, dass sich die Struktur dieses Buches vom ursprünglichen Projekt unterscheidet: Wir hatten geplant, uns in einem Band auf spezifische klinische Leiden zu konzentrieren, und jetzt ist das der letzte Teil von vieren. Wir denken, dass diese Entwicklung ein wichtiges Thema hervorhebt: Beim Sprechen über Psychopathologie riskiert man immer, einem gewissen Reduktionismus anheimzufallen. Im Einklang mit unserer gestalttherapeutischen Perspektive haben wir daher die Notwendigkeit gesehen, den Grund des klinischen Leidens und der Arbeit zu nähren und zu beleuchten. Auf diese Weise hat dieses Buch – in gewisser Weise spontan – seine endgültige Form angenommen: Eine ziemlich lange und komplexe Reise in den Hintergrund, bevor man sich dem spezifischen individuellen Leiden widmet. Letztendlich spiegelt diese Form einen theoretischen Eckpfeiler dieses Buches: Das individuelle Leiden entsteht aus einem beziehungsbezogenen Grund, und dies gibt der Therapie eine Bedeutung und eine Richtung.

Auf jedes Kapitel folgt ein Kommentar, der von einer anderen AutorIn geschrieben wurde: Es war unser Ziel, eine zweite Meinung zu jedem Thema zu bieten, um es in einen breiteren kritischen Rahmen zu stellen, eine Art binokulare Perspektive, die eine dreidimensionale Betrachtung ermöglicht. Die LeserIn ist diesen unterschiedlichen Perspektiven ausgesetzt: ein komplexer Horizont, der die Komplexität des Feldes in diesem Moment aufzeigt. Das umfangreiche Literaturverzeichnis kann eine wertvolle Orientierung sein, die die meisten Teile der Literatur zur in der klinischen Praxis angewandten Gestalttherapie abdeckt. Wir haben ein paar sehr kritische Kommentare zu manchen Kapiteln erhalten: Wir denken, dass das ein Zeichen der Lebendigkeit ist, und ein Zeichen für ein sich entwickelndes Feld, in dem unterschiedliche Ansichten noch miteinander ringen und nach weiterer Diskussion verlangen.

Die Perspektiven in diesem Buch kommen von der verfügbaren Literatur und der spezifischen klinischen Erfahrung jeder AutorIn. Wir denken, dass dies ein wertvolles klinisches Kleinod ist, und hoffen, dass es zur Forschung auf diesen Gebieten anregt. Hypothetische klinische Konstruktionen zu haben, bietet tatsächlich einen guten Hintergrund für qualitative und quantitative Forschung.

Als HerausgeberInnen, die von einem gemeinsamen Hintergrund ausgegangen sind, haben wir während dieser Arbeit unsere Verschiedenheiten entdeckt und versucht, mit ihnen umzugehen. Und wir haben auch viele Unterschiede zwischen uns und den Autoren und den Autorinnen entdeckt. Wir haben in diesem Buch mehr als fünfzig Beitragende: Dies ist ein weiterer Grund für die Komplexität. Obwohl wir unser Bestes getan haben, um uns auf einen gemeinsamen Horizont hin zu orientieren, gibt es in allen Kapiteln und Kommentaren unterschiedliche Arten, Psychopathologie zu betrachten. Dieses Buch bietet ein Bild der Komplexität des gestalttherapeutischen Ansatzes, der in der klinischen Praxis angewandt wird. Die LeserInnen können die unterschiedlichen Ansätze mit der geographischen Herkunft der AutorInnen (sie kommen aus ungefähr zwanzig verschiedenen Ländern) und der Entwicklung der gestalttherapeutischen Theorie in Verbindung bringen. Eine reicher Grund und Zeuge eines wachsenden Feldes.

Abschließend hoffen wir, dass dieses Buch eine gute Form bekommen hat: Ein polyphoner Chor, in dem jede Stimme ihre eigenen Qualitäten hat und zu einem holistischen Ganzen beiträgt. Es ist jedenfalls die Form, die wir in diesen Zeiten fördern wollen und die unsere eigenen und die Ressourcen und Stärken des Feldes darstellt. Wir hoffen auch, dass dieser Band ein Ausgangspunkt für zukünftige Entwicklungen sein wird: ein Stimulus für TherapeutInnen und ForscherInnen, die Reichhaltigkeit der Gestalttherapie zu erweitern.

Wenn wir unsere oben beschriebenen Motivationen betrachten, können wir sagen, dass wir zufrieden sind: Wir denken, dass dieses Buch signifikante Literatur in einem breiten Feld darstellt und ein grundlegendes Werkzeug für die klinische Arbeit bieten kann.

Wir wollen dieses Buch Isadore From widmen: Seinen Anstrengungen, die Gestalttherapie zu einem kohärenten klinischen Ansatz bei der Behandlung von Psychopathologien zu machen.

Wir richten dieses Buch an unsere GestaltkollegInnen in der klinischen Praxis, an AusbildnerInnen und Auszubildende in ihrem lehrenden/lernenden Unterfangen. Aber auch an TherapeutInnen anderer Richtungen: Sie können hier einen neuen Weg entdecken, Psychopathologie zu behandeln, und in einer Zeit des Dialogs und der Integration hoffen wir, dass dieser Band eine Brücke zwischen unterschiedlichen Perspektiven bildet.

Gianni FrancesettiMichela GeceleJan Roubal

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch hat nicht nur einen imposanten Umfang, es zeichnet sich auch durch gleich vier Vorworte aus, ein Hinweis auf die Besonderheit der deutschsprachigen Ausgabe, die nicht nur eine Übersetzung, sondern Ergebnis eines umfassenden Transfer- und Aneignungsprozesses geworden ist.

Die Entstehung des Buches ist die Bildung einer Figur vor dem Hintergrund der kontemporären europäischen Gestalttherapie, in der Zusammenführung von Menschen und Ideen unterschiedlicher Herkunft, Kontexte und Erfahrungen. Die deutschsprachige Ausgabe entspricht der Differenzierung und Auswertung sowie der Einordnung in den deutschsprachigen Kontext.

Der Prozess der Entwicklung der deutschen Ausgabe war langfristig und kompliziert, immer mal wieder ins Stocken geratend und viele Ressourcen, finanziell, zeitlich und personell bindend. Der Beginn war trotz des erklärten Willens aller Beteiligten ein Kraftakt: Rahmenbedingungen, Handlungsspielräume, Ressourcen und Schnittstellen mussten definiert werden, um den Startschuss geben zu können.

»Passend machen« und »zerkauen statt introjizieren« sind für GestalttherapeutInnen vertraute Prozesse. Und so haben nach der fachkundigen Übersetzung von Anna Jell, GestalttherapeutInnen, die Lektorin Rita Kloosterziel und in einem weiteren Schritt erfahrene GestaltkollegInnen diesen Aneignungsprozess für die deutschsprachige Ausgabe gestaltet. Rosemarie Wulf und Deidre Winter haben mit Unterstützung von Achim Votsmeier-Röhr das Buch mit ergänzenden Literaturverweisen auf deutschsprachige Literatur versehen und geben damit den LeserInnen einen Eindruck des oft nicht sichtbaren Reichtums der deutschsprachigen Gestalttherapieliteratur. Die Literaturliste der Originalausgabe findet sich am Ende des Buches.

Das Erscheinen dieses Werks wurde möglich durch die unkomplizierte Absprache mit den HerausgeberInnen der Originalausgabe, insbesondere mit Gianni Francesetti, und dem erklärten Willen der DVG (Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie), ÖVG (Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie), und der FS IGT im ÖAGG (Fachsektion für Integrative Gestalttherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik), dieses Projekt zu stemmen. Die Vorstände und Mitglieder der Verbände, insbesondere der DVG, haben durch ihre Zustimmung die Bereitstellung der finanziellen Ressourcen ermöglicht. Ganz herzlichen Dank für diese weichenstellende Unterstützung. Dank und Anerkennung gebührt auch der Übersetzerin Anna Jell, die sich in beeindruckender Geschwindigkeit und Gründlichkeit durch das Werk arbeitete, vielen GestaltkollegInnen, die mit Rat und Tat zur Verfügung standen, insbesondere Christiane Molkenbuhr und Andreas Weichselbraun, der schon einen Vorabdruck im ersten Heft 2013 der Zeitschrift »Gestalttherapie – Forum für Gestaltperspektiven« auf den Weg brachte – und ganz besonders dem Verleger der deutschen Ausgabe Andreas Kohlhage, der kompetent und geduldig diesen Prozess begleitete.

In Hinblick auf eine gendersensible Schreibweise standen wir vor der Herausforderung, einen entsprechenden Ausdruck zu finden, ohne die Lesbarkeit der unterschiedlichen Kapitel zu beeinträchtigen. Auch dazu gab es kontroverse Standpunkte. Nachdem wir durch den bereits erwähnten deutschen Vorabdruck des Kapitels über Depressionen von Francesetti & Roubal Resonanzen von LeserInnen zur verwendeten Genderform berücksichtigen konnten, fiel es leichter, uns auf die nun verwendete Form zu einigen.

Allein im letzten Kapitel des Buches von Dieter Bongers wählen wir die geschlechtsneutrale Formulierung nur dann, wenn es der tatsächlichen Situation entspricht. Weitgehend wird hier die männliche Form verwendet, weil der Autor vorwiegend mit männlichen Straftätern (ge-)arbeitet (hat).

Nun noch einige wenige Worte zum Inhalt des Buches:

Die große Gruppe internationaler AutorInnen hat es geschafft, das schwer Fassbare fassbar zu machen.

Es ist gelungen, Brücken zu schlagen zwischen Sprache und Intuition – wie etwa im dritten Kapitel zum gestalttherapeutischen Ansatz in der Diagnosestellung deutlich wird – sowie eine Verbindung zwischen klinischer Diagnose und Gestaltansatz herzustellen. Mit Akribie und Genauigkeit werden die auf einem phänomenologischen Ansatz beruhenden komplexen Vorgänge einer auf der therapeutischen Beziehung gründenden Psychotherapie versprachlicht.

In seinem Kapitel zur situativen Ethik beschreibt Dan Bloom das Verständnis der Gestalttherapie zur Ästhetik des Kontaktes, und wir hoffen, dass diese Ästhetik auch beim Lesen der deutschen Ausgabe erfahrbar wird. Wie auch schon Leslie Greenberg im Vorwort zur Originalausgabe erwähnt, sind wir der festen Überzeugung, dass dieses Buch ein Meilenstein für die klinische Anerkennung und wissenschaftliche Verankerung der Gestalttherapie ist. Die Gestalttherapie wird mit ihrem reichen Schatz an theoretischen Grundlagen in ihren vielen Facetten und Anwendungsbereichen sichtbar.

Dazu gehört auch die Einordnung dieses Buches in den deutschsprachigen Kontext und die aktuelle Fachdiskussion zur Anerkennung der Gestalttherapie in Deutschland mit dem Geleitwort von Lotte Hartmann Kottek, die als gestalttherapeutische Psychiaterin und Psychotherapeutin seit Jahren die Berücksichtigung der Gestalttherapie in der psychotherapeutischen Versorgung einfordert.

Als GestalttherapeutInnen erachten wir es nicht nur als notwendig und unumgänglich, sondern auch als fruchtbar und förderlich, einen fachlichen Diskurs mit anderen Psychotherapiemethoden und verwandten Professionen zu führen. Dafür bietet dieses Werk einen soliden und sicheren Boden, verwurzelt in unserer eigenen Theoriebildung, um eine fundierte Auseinandersetzung auf dem Parkett der Psychotherapie führen zu können.

Ein Grundlagenwerk, das das Thema der Diagnostik psychischer Störungen im gestalttherapeutischen Verständnis von Beziehung und sozialem Feld verortet, ist von unschätzbarem Wert für die Weiterentwicklung der Gestalttherapie und in ihren Bestrebungen zur wissenschaftlichen Anerkennung.

Es gibt der Identität der Gestalttherapie Form und Figur und ist so im Dialog und Austausch mit anderen von großer Unterstützung.

Wir wünschen diesem Buch viele LeserInnen aus vielen Kontexten. Wir hoffen, dass Sie dieses Buch zerkauen, assimilieren und sowohl in klinisch praktischer Anwendung als auch in der Theoriebildung für sich nutzbar machen, dass es unterstützt, neue Perspektiven zu gewinnen und somit nicht zuletzt jene Menschen, mit denen wir arbeiten, davon profitieren.

Als Vertreterinnen unserer Nationalen Organisationen für Gestalttherapie – DVG und ÖVG – im General Board der EAGT (Europäischen Association for Gestalttherapy) haben wir dieses Projekt initiiert, und nun ist es uns eine große Freude, dass dieses Buch erscheint.

Veronica Klingemann,Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie, DVGBeatrix Wimmer,Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie, ÖVG

Vorwort: Klinische Gestalttherapie und die gesundheitspolitische Situation in Deutschland

Das nun auch in deutscher Sprache erschienene Werk über die weltweite gestalttherapeutische klinische Weiterentwicklung füllt eine gravierende Lücke. Es ist den drei Initiatoren zu verdanken – selbst engagierte und erfahrene gestalttherapeutische Psychiater –, dass das Werk das Erfahrungswissen speziell im Bereich der schwereren psychiatrisch-psychotherapeutischen Störungen erfasst. Dabei wird die vielfältige Behandlungserfahrung bei Patienten aller wesentlichen Problemfelder im Bereich der Psychotherapie, Psychiatrie, Psychosomatik einbezogen. Es beinhaltet auch Gesichtspunkte einer modernen kulturorientierten Soziotherapie mit Migrationsproblematik. Deutlich wird, wie wirksam die Beziehungsdimension gerade bei diesen schweren Krankheitsbildern ist, wenn sie im gestalttherapeutisch-humanistischen Sinn angemessen und im guten Sinne professionell eingesetzt wird. In der Beziehungsgestaltung liegt ein sehr großes Heilungspotenzial verborgen, das die konventionelle Medizin und speziell die Psychiatrie etc. verschenken. Ich kann das aus meiner Erfahrung voll bestätigen. (Ich leitete ab 1978 zehn Jahre lang in Deutschland die erste gestalttherapeutisch geführte Abteilung für Psychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik.)

Der Dank gebührt sowohl dem Idealismus der beteiligten Wissenschaftler und praktizierenden Fachvertreter als auch der EAGT (European Association for Gestalt Therapy), unter deren Schirm die Beiträge in englischer Sprache gesammelt worden sind – sowie schließlich der DVG (Deutsche Vereinigung Gestalttherapie), ÖVG (Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie) und der FS IGT im ÖAGG (Fachsektion für Integrative Gestalttherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik), die für die deutsche Übersetzung Sorge trugen.

In Verbeugung vor dem dialogischen Prinzip der Gestalttherapie und der Bedeutung seiner Kontaktgestaltung ist das Werk dialogisch konzipiert: Markante Vertreter antworten einander, teils verstärkend, teils kritisierend, teils ergänzend und potenzierend, und setzen so Impulse zur lebendigen Weiterentwicklung. So erweist sich die Gestalttherapie als geistiger Fluss mit bewährten relativierten und innovativen Strängen.

Der Untertitel »Von der Psychopathologie zur Ästhetik des Kontakts« mag manche Kollegin, manchen Kollegen verwundern. Hier taucht ein Gesichtspunkt auf, der im internationalen Mainstream der Fächer Psychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik nicht wahrgenommen wird: Es geht im Kontaktverhalten nach innen und außen auch um Phänomene der Stimmigkeit zwischen den verschiedenen Teil-Kompetenzen, die das Kontaktverhalten modulieren bzw. ihm Dissonanzen oder Konsonanzen verleihen.

Entgegen dem Vorurteil der eigenen ersten Generation konnte – vor allem dank der Forschergruppe um Leslie Greenberg aus Kanada – die gestalt-typische Vorgehensweise der schrittweisen Prozessorientierung schließlich doch für die Forschung zugänglich gemacht werden. Sie entspricht in der Psychotherapieforschung einem Quantensprung. Greenberg sieht durch die Prozess-Forschung für die dritte Generation das Potenzial, Theorie und Praxis der Gestalttherapie auf einem höheren Reflexionsniveau als bisher integrieren zu können.

Die Wirksamkeit von Psychotherapieverfahren wird heute in Effektstärken (ES) angegeben. Nach Cohen gilt 0.5 ES als mittlere, 0.8 ES als gute Wirksamkeit. Der Durchschnitt der amerikanischen Humanistischen Verfahrensgruppe (Gestalttherapie, Gesprächstherapie, Psychodrama, Emotion FocusedTherapy) liegt in der Metaanalyse von R. Elliott1 bei 0.93 ES, punktgleich mit der CBT/Verhaltenstherapie (cognitive behavioral therapy). Die psychodynamische Gruppe, die aus Psychoanalyse und Tiefenpsychologie besteht, liegt jetzt wie früher deutlich darunter.

Gestalttherapie ist heutzutage dasjenige Psychotherapie-Verfahren, das weltweit die höchsten Effektstärken aufweist. Phil Brownell2 berechnete für die Gestalttherapie eine ES zwischen 1.12 und 1.42 ES, je nach Diagnosegruppe.

Ausschließlich in Deutschland herrscht ein beschämender Sonderstatus: Hier wurden 1998 aufgrund einer berufspolitischen Verbandsinitiative der derzeitigen »Richtlinien-Verfahren« die humanistischen und systemischen Verfahren per Gesetz für die staatliche Patientenversorgung nicht zugelassen, obwohl (oder weil!) vor allem die humanistische Gruppe bessere Wirksamkeitsstudien vorlegen konnte als im Durchschnitt die (interessengeleitet) später gesetzlich zugelassenen. Fazit: Deutschen Patienten werden derzeit die wirksamsten Psychotherapien vorenthalten. Die Mehrkosten hat die Versichertengemeinschaft zu zahlen. Korrigierende öffentliche Aufklärungsinitiativen über diesen Missstand sind seit einiger Zeit im Gange.

Wir wünschen uns und unseren Patienten, dass in naher Zukunft auch in Deutschland Wissenschaft, Vernunft und Gerechtigkeit die Oberhand bekommen.

Lotte Hartmann-KottekJuli/August 2014

TEIL I

Grundlegende Prinzipien der Gestalttherapie in der Klinischen Praxis

1. Grundlagen und Entwicklung der Gestalttherapie im Kontext der Gegenwart1

Margherita Spagnuolo Lobb

Wenn wir uns ansehen, wie die wichtigsten Prinzipien der Gestalttherapie von ihren Anfängen bis zum heutigen Tag beschrieben wurden, wird deutlich, dass es keine einheitliche Darstellung der Grundwerte unseres Ansatzes gibt.2 Immer, wenn wir versuchen, unsere Theorie zu beschreiben, müssen wir diese Beschreibung in dem historischen Moment verankern, in dem wir leben, und sie den aktuellen Bedürfnissen der Gesellschaft anpassen.

Es mag aussehen, als hätten moderne Darstellungen kaum noch etwas mit den ursprünglichen Prinzipien gemeinsam. Sie sind jedoch das Ergebnis einer natürlichen und nachvollziehbaren Entwicklung, die sich in der Beziehung zwischen der Gesellschaft und der Psychotherapie vollzogen hat – ebenso wie zwischen der Gesellschaft und der Anthropologie, der Gesellschaft und der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Technologie usw. Unser Ansatz braucht Entwicklung, wie jeder andere Ansatz auch. Um sie zu fördern und mit ihr Schritt zu halten, ohne dabei unsere Wurzeln zu verlieren, bedarf es einer hermeneutischen Methode (Spagnuolo Lobb 2001c): Sie ermöglicht es, die ursprünglichen Prinzipien unseres Ansatzes in einen bestimmten sozio-kulturellen Kontext zu stellen, und betrachtet ihre Entwicklung parallel zur Entwicklung der Bedürfnisse von Gesellschaft und Kultur.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist es wichtig, die epistemologischen Prinzipien der Gestalttherapie zu definieren, die es zu respektieren gilt: Sie bestimmen die Grenzen, innerhalb derer Entwicklungen stattfinden können. Ein Beispiel: Bei der Arbeit mit der Technik des Leeren Stuhls, einer grundlegenden und sehr effektiven Technik, die den Kern unseres Ansatzes verkörpert, muss die veränderte Befindlichkeit der Gesellschaft in Betracht gezogen werden. Die Technik des Leeren Stuhls zielt darauf ab, dass sich die KlientIn auf ihr körperliches Erleben konzentriert und dadurch ihre Selbstregulierung unterstützt. Das wesentliche Element der Selbstregulierung entsteht beim Zusammenführen des physiologischen Erlebens (im Gegensatz zum geistigen) mit Systemen vorangegangener Kontakte (die Definition dessen, wer ich bin) und der Fähigkeit zu reflektieren. Diese grundlegende Technik wurde zu einer Zeit entwickelt, in der das Vertrauen in das eigene Potenzial einen wesentlichen Faktor bei dem Bemühen darstellte, Unabhängigkeit vom/von der Anderen zu erlangen. Auf den Leeren Stuhl werde ich an anderer Stelle detailliert eingehen; hier möchte ich jedoch einen Punkt hervorheben: Wenn wir heute mit der Technik des Leeren Stuhls arbeiten, müssen wir berücksichtigen, dass unsere moderne Gesellschaft nicht vorrangig nach Autonomie und der Lösung von Bindungen strebt. Wir haben vielmehr das Bedürfnis, Bindungen zu schaffen, in denen wir die Erfahrung machen können, vom/von der Anderen wahrgenommen und festgehalten zu werden. Die Technik gehört also nach wie vor zu unseren besten Methoden, doch wir müssen sie mit einem anderen Ziel einsetzen (und den Schwerpunkt entsprechend verlagern).

Diese hermeneutische Vorgehensweise ist für unser Modell von entscheidender Bedeutung, wenn es überleben und sich entwickeln soll.3 Gleichzeitig bewahrt sie uns vor einem naiven Einsatz von Konzepten und Techniken. Dies ist besonders wichtig, wenn wir schwere Störungen behandeln und uns im Bereich der Psychopathologie zurechtfinden wollen, die heutzutage überall anzutreffen ist. Das Überleben unseres Modells hängt davon ab, ob es uns gelingt, uns psychopathologischen Themen zuzuwenden (Francesetti 2005).

Uns ist allen bewusst, dass die Gestalttherapie nicht mit der Absicht entwickelt wurde, Psychosen oder schwere Störungen zu heilen. Zur Zeit ihrer Entstehung war jedoch die Psychotherapie im Allgemeinen nicht auf die Behandlung schwerer Störungen ausgerichtet. Die bi-univoke Beziehung zwischen Psychotherapie und Gesellschaft lenkte immer besondere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft durch einen Mangel an Beständigkeit geprägt ist, der zu einem bestimmten Zeitpunkt zutage tritt. In den Anfängen der Gestalttherapie wurde diese fehlende Beständigkeit zum Beispiel in solchen Fragen deutlich: »Wer ist im Besitz der Wahrheit? Die HeilerIn oder die, der geholfen wird? Wohnt menschlichem Beziehungsleiden Würde und eine potenzielle Autonomie inne oder geht es dabei einfach um mangelnde soziale Anpassung? Müssen soziale Minderheiten und ›andersartige‹ Gefühle und Lebensweisen gesteuert und ›normalisiert‹ werden oder sollten sie vielmehr als wichtige Ressource für die Selbstregulierung der Gesellschaft bestärkt werden?«

Damals war die Psychopathologie nicht von großem Interesse für die Psychotherapie: Schwere Störungen betrachtete man als etwas, das sich weitgehend fernab des alltäglichen Lebens abspielte. Verrückte lebten in psychiatrischen Einrichtungen und soziale Probleme hatten nichts damit zu tun.

Als die gesamte Gesellschaft im Lauf der Zeit immer öfter mit psychopathologischem Leiden konfrontiert wurde, war auch die Psychotherapie gezwungen, sich dafür zu interessieren. Seit den 80er-Jahren muss sich jedes Psychotherapiemodell, das überleben will, mit der Tatsache auseinandersetzen, dass schwere Störungen auf dem Vormarsch sind, und nach neuen Ideen und Techniken suchen, um ihnen vorzubeugen und sie zu behandeln. Der Begriff »schwere Störungen« bezieht sich meist auf das Erleben innerhalb menschlicher Beziehungen: unkontrollierbare Angst, das Empfinden, sich selbst zu verlieren, und die gefühlte Unfähigkeit, sein eigenes alltägliches Leben fortzuführen.

In diesem Kapitel schildere ich zunächst, wie sich die Befindlichkeit der Gesellschaft und die Psychotherapie in den letzten sechzig Jahren (seit den Anfängen der Gestalttherapie) entwickelt haben. Anschließend beschreibe ich die Prinzipien und die Grundwerte unseres Ansatzes aus der Perspektive der heutigen Gesellschaft. Dann wird das gestalttherapeutische Konzept von Psychopathologie und kreativer Anpassung erläutert und in der Gesellschaft der Gegenwart verortet. Abschließend möchte ich den notwendigen Wandel in der Gestalttherapie anregen, hin zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der »Psychopathologie«, der bis in die 80er-Jahre aus unserem Wortschatz verbannt war.

Ich werde versuchen, alle theoretischen Aussagen durch klinische oder auf Beziehungen bezogene Beispiele zu ergänzen, um dem pragmatischen Geist der Gestalttherapie gerecht zu werden.

1. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Befindlichkeit und der Psychotherapie

Fast alle psychotherapeutischen Ansätze entstanden um die 1950er-Jahre herum und erlangten in den folgenden zwanzig Jahren größere Bekanntheit. Seit damals haben sich unsere PatientInnen stark verändert, und so stehen wir vor der Herausforderung, unsere Formulierungen und unsere Methode zu modifizieren und dabei einerseits im Einklang mit der Epistemologie unseres Ansatzes zu bleiben und andererseits neue Instrumente zu schaffen, die geeignet sind, die heutigen Probleme zu lösen. Lassen Sie uns die klinische Entwicklung dieser sechzig Jahre näher betrachten:

• 1950 bis 1970:

Dies war die Zeit, in der die meisten psychotherapeutischen Methoden ihre weiteste Verbreitung fanden. In diesem Zeitabschnitt, in dem Soziologen von der »narzisstischen Gesellschaft« (Lasch 1978) sprachen, zielten alle neuen psychotherapeutischen Ansätze auf die Lösung eines Problems ab, das aus persönlichen Beziehungen und den sozialen Gegebenheiten erwuchs: Wie sollte man dem Potenzial des wirklichen Lebens mehr Würde verleihen, dem Freud in seinen letzten Formulierungen ein Schattendasein zugewiesen hatte, als er der Macht des Unbewussten größere Bedeutung einräumte? Freuds mehr oder weniger rebellische »Nachkommen« – Otto Rank mit seinem Konzept von Wille und Gegenwille (Rank 1941), Adler (1924) mit dem Konzept des Machtstrebens und Reich (1945) mit seinem absoluten Vertrauen in die Sexualität (siehe Spagnuolo Lobb 1996, 72 ff.) – hatten zu Beginn des Jahrhunderts einer veränderten psychosozialen Sichtweise auf menschliche Beziehungen Ausdruck verliehen: Das »Nein« der Kinder (und der PatientInnen) ist gesund, Machtgefühle sind »normal«, körperliche Energie und Sexualität kann man ganz ausleben, ohne in orgiastischem Chaos zu versinken.

Die philosophische Entsprechung dieses Wandels findet sich in den Gedanken Nietzsches.4 Im Bereich der Kunst spiegelten neue Ausdrucksformen, von Jazz bis zum Surrealismus (man denke nur an die fragmentierten Figuren Mirós), den Wunsch wider, neue subjektive Perspektiven zu manifestieren. Auf politischer Ebene zeugten Gesetze zum Schutz von Minderheiten als Reaktion auf diktatorische Regimes von dem Bestreben, allen erdenklichen menschlichen Lebensformen Würde zuzubilligen.

Allen psychotherapeutischen Strömungen, die in den zwanzig Jahren zwischen 1950 und 1970 aufkamen (wie auch manchen »Revisionen« der Psychoanalyse) war die Absicht gemein, dem individuellen Erleben, das man als fundamental bedeutsam für die Gesellschaft erachtete, mit mehr Respekt und Vertrauen zu begegnen. Das Ich wurde neu bewertet, ihm wurde eine kreative, unabhängige Kraft zugeschrieben: Das Kind musste aus der Unterdrückung durch den Vater und PatientInnen von sozialen Normenbefreit werden. Selbst das Verrückt-Sein wurde nicht länger als unwiederbringlicher Verlust des Realitätssinns betrachtet, als Beherrscht-Sein durch ein zerstörerisches Unbewusstes, sondern als Möglichkeit, einen ansonsten unerreichbaren Anteil zu verstehen, der zwar von der Norm abwich, zugleich aber als eine Quelle der Kreativität gesehen wurde: Ähnlich wie ein Bild der unstrukturierte Ausdruck von Emotionen sein kann, hat der Wortsalat der Schizophrenen eine eigene Wertigkeit, die die kreative, unabhängige Kraft des Menschen fördert, selbst wenn sie sich jenseits jeder Rationalität bewegt. Es kam das Bedürfnis auf, sich als wichtig, wenngleich von der Norm abweichend, aber nicht als dominant zu begreifen.

In diesem Kontext lehnte die Gestalttherapie dieses Bedürfnis ab und begründete eine Theorie des Selbst, mit deren Hilfe sich das Erleben beim Kontaktprozess des Organismus mit seiner Umwelt (im Gegensatz zu einem intrapsychischen Kontakt) erfassen ließ. Dabei tritt die Kreativität des Ich zutage, das zugleich Schöpfer und Erschaffenes ist. Der mittlere Modus, der untrennbar mit der Ästhetik der griechischen Kultur verbunden ist (von den europäischen Sprachen haben nur einige griechische Verben einen »mittleren Modus«5), charakterisiert auch die Definition des Selbst: Es »bildet sich« an der Grenze zwischen Organismus und Umwelt mittels eines ästhetischen Prozesses, eines Gewahrseins, einer Präsenz aller Sinne, die einen guten Kontakt ausmachen. Ein weiteres Konzept, mit dem die Gestalttherapie einen Beitrag zu den aufkommenden Bedürfnissen der Gesellschaft in den 1950er-Jahren leistete, widmet sich den positiven Aspekten von Konflikten in menschlichen Beziehungen: Der unterdrückte Konflikt führt entweder zu Stumpfsinn oder zum Krieg (Perls 1969, 7). Einen Konflikt auszutragen garantiert Lebendigkeit und echtes Wachstum.

Doch wie lauteten die typischen Sätze, was sagten die PatientInnen in den 1950ern? Im Mittelpunkt der Nachfrage nach Psychotherapie in diesen Jahren könnte stehen: »Ich will frei sein«, »Bindungen erdrücken mich: sie hindern mich daran, mein Potenzial zu leben«, »Ich brauche Hilfe, um mich aus den Bindungen zu befreien, die mich erdrücken«, »Ich würde gern von zu Hause ausziehen, aber ich schaffe es nicht«, »Ich ertrage es nicht, wenn mein Vater mir sagt, was ich tun soll«. Die klinische Evidenz der 1950er bis 1970er entstand rund um dieses Erleben. Es herrschte das Bedürfnis, das Ich auszuweiten, ihm größere Würde zu verleihen, ein Bedürfnis nach Unabhängigkeit.

Der Erlebenshintergrund, vor dem sich dieses Bedürfnis herausbildete, war solider, als er es in unseren Tagen ist: Zweierbeziehungen waren von längerer Dauer (wenngleich oft durch gesellschaftliche Normen zusammengehalten), und die Beziehungen innerhalb der Familie waren auf jeden Fall stabiler.

Die Antworten der TherapeutInnen lauteten: »Sie haben das Recht, frei zu sein, das Recht, Ihr Potenzial zu entwickeln«, »Ich bin ich und Sie sind Sie …«. Kurz gesagt, unterstützt wurden Selbstregulierung und das Lösen aus Bindungen, ohne sich darum zu kümmern, was an der Kontaktgrenze mit dem/der Anderen passierte.

• 1970 bis 1990:

Für diese Jahre war die »technologische Gesellschaft« kennzeichnend, wie Galimberti (1999) sie nannte, eben weil sie die Maschine auf einen Sockel hob. Gleichzeitig gab sich die Gesellschaft der Illusion hin, man könne die menschlichen Gefühle und vor allem den Schmerz kontrollieren. Die Beziehungen des oikòs6 betrachtete sie als »groben Fehler«, als Hemmnis für die Produktivität, die dagegen als einzig verlässlicher Wert angesehen wurde. Liebe und Schmerz, zwei Emotionen, die in Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden sind, galten in dieser Zeit als unvereinbar.

Wenn man sie als Produkt der »narzisstischen Gesellschaft« sieht, könnte man die »technologische Gesellschaft« als »borderline« definieren. Diese Generation stand einerseits unter dem großen Druck erfolgreicher Eltern, die wollten, dass ihre Kinder »Götter« waren wie sie selbst. Andererseits litt sie unter einem Mangel an Unterstützung für die eigenen Wünsche und ihre Versuche, in dieser Welt jemand zu sein. Das Kind von Göttern macht keine Fehler! Diese Generation, die einerseits mit der Illusion aufwuchs, etwas Besonderes zu sein, und die andererseits das Gefühl verstecken musste, dass sie nur bluffte, entwickelte eine borderlineartige Beziehungsmodalität: ambivalent, unzufrieden und unfähig, sich selbst abzugrenzen, um die eigenen Werte zu bekräftigen. Die Flucht der Jungen in »künstliche Paradiese«, ihr Ärger über ihre Eltern als Repräsentanten von Werten, die wenig mit ihrem Menschsein zu tun hatten, bereitete den Boden für die Verbreitung von Drogen, ermöglichte jedoch auch wichtige Gruppenerfahrungen. Es war kein Zufall, dass in diesen zwanzig Jahren in der Psychotherapie ein besonderes Interesse an Gruppen bestand: Die Gruppe wurde als ein mögliches (und manchmal als das einzig mögliche) Heilmittel betrachtet.

Die Sätze der Patienten und Patientinnen in den 1970ern und 1980ern könnten zum Beispiel lauten: »Ich habe mich in eine Kollegin verliebt, ich habe eine Affäre mit ihr, meine Frau weiß von nichts und ich bin mir nicht sicher, ob ich es ihr sagen soll oder nicht«, »Meine Eltern nörgeln immer an mir herum. Wenn ich in einer Gruppe bin, fühle ich mich freier. Einen Joint zu rauchen ist eine Befreiung von der täglichen Unterdrückung«, »Drogen (oder mein Beruf oder mein Geliebter/meine Geliebte) sind meine wichtigste Bindung, die Bindung zu meiner PartnerIn ist ein Extra.« Man war auf der Suche nach dem Selbst außerhalb intimer Bindungen – ein Versuch, die Schwierigkeiten des »Mitseins« durch illegale Substanzen oder durch Arbeit zu lösen. In den 1990ern, nur zehn Jahre später, trat das Bedürfnis, sich selbst in der Einsamkeit zu spüren, an die Stelle der Suche nach dem Ich: »Ich möchte mich spüren, mich finden. Es gibt Zeiten, in denen ich fasten muss, um mich selbst durch den Hunger zu spüren. Alle wollen etwas von mir und ich weiß nicht, wie ich herausfinden soll, wer ich bin« oder »Ich habe eine Beziehung mit einem Mann, der 600 Meilen von hier lebt. Ich weiß nicht viel über ihn. Zuerst war es nett, zusammen zu sein, wenn wir uns trafen. Doch jetzt ist es langweilig. Wir wissen einfach nicht, was wir machen sollen. Glauben Sie, das ist normal?«

Die Antworten der TherapeutIn waren: »Haben Sie Vertrauen in sich – kehren Sie zurück an den Ursprung Ihres Seins (phänomenologisch gesprochen) – finden Sie heraus, wer Sie sind, indem Sie sich konzentrieren.« Oder auch: »Sehen wir uns doch an, was zwischen uns beiden passiert.« In der Praxis widmeten sich zu dieser Zeit alle Methoden dem, was wir in der Gestalttherapie »Kontaktgrenze« nennen: eine neue Sichtweise auf Übertragung und Gegenübertragung. »Haben Sie Vertrauen in die Selbstregulierung, sowohl Ihrer Emotionen als auch des Raums zwischen uns beiden.« Perls’ Slogan »Verlier den Verstand und komm zu deinen Sinnen« wurde also zu »Folge deinem dir eigenen Mitgefühl« und »Ich erkenne mich selbst in deinem Blick«.

• 1990 bis 2010:

Was die Befindlichkeit der Gesellschaft anging, so führten das Interesse an Technologie (eine Ressource, die heute als selbstverständlich angesehen wird) und die Ambivalenz der eigenen Wertigkeit gegenüber zu einem »Gefühl der Flüchtigkeit« (sense of liquidity), wie Bauman (2000) es so treffend ausdrückt. Die Kinder der »Borderline-Gesellschaft« erlebten einen Mangel an vertrauten konstituierenden Beziehungen: Die Eltern waren nicht da, teilweise weil sie arbeiteten (schließlich war »Technologie« der von der Gesellschaft verbreitete Wert) und sich Sorgen wegen des drohenden sozialen Abstiegs machten, teilweise aber auch, weil sie auf der Beziehungsebene inkompetent waren (die Borderline-Ambiguität wird mit emotionaler Distanziertheit über dem Nachwuchs ausgeschüttet). Außerdem wuchs die Generation dieser zwanzig Jahre in einer Phase großer Migrationsbewegungen auf. Diese führten dazu, dass sich viele Menschen nicht mehr auf generationenübergreifende Traditionen stützen konnten, die ihnen ein Gefühl des Verwurzelt-Seins vermittelt hätten (Spagnuolo Lobb 2011b).

Viele Traditionen gehen verloren, die Dorfplätze sind durch die virtuellen »Plätze« der sozialen Netzwerke ersetzt worden. Das soziale Erleben der jungen Menschen von heute ist »flüchtig«: Unfähig, die Erregung über die Begegnung mit dem/der anderen für sich zu behalten, sind sie extrem offen gegenüber den Austauschmöglichkeiten, die die Globalisierung der kommunikativen Ströme bietet. Stellen Sie sich ein Kind vor, das Hausaufgaben macht: Wenn es Schwierigkeiten hat, muss es festgehalten werden und braucht Zuspruch, um das Problem mithilfe der Energie zu lösen, die es aufmuntert. Doch da ist kein Ansprechpartner zu Hause, niemand, der dem Kind als begrenzende Mauer helfen könnte zu verstehen, was es fühlt und was es will. Also geht es ins Internet, wo eine Suchmaschine die Lösung liefert.

Seine Erregung wird über die ganze Welt verbreitet und es findet jede erdenkliche Antwort, doch nicht das Containment einer Beziehung, keinen menschlichen Körper, sondern nur einen kalten Computer, der das Kind nicht umarmen kann. Aus der unbeschränkten Erregung wird Angst. Diese Angst ist verstörend, und um sie nicht spüren zu müssen, muss der Körper desensibilisiert werden. Aus diesem Grund haben wir es heute mit so vielen Angststörungen (wie Panikattacken7, PTBS etc.) zu tun, mit Schwierigkeiten, Bindungen einzugehen, mit Pathologien im Zusammenhang mit der virtuellen Welt, mit körperbezogener Desensibilisierung. Unsere PatientInnen, besonders die Jüngsten unter ihnen (wie jeder weiß, der mit Jugendlichen oder jungen Paaren arbeitet) sagen Dinge zu uns wie: »Ich hatte das erste Mal mit einem Jungen Sex, doch ich habe nichts dabei gefühlt«, »Online in einem Chat fühle ich mich frei, aber ich weiß nicht, worüber ich mit meiner Freundin reden soll«, »Niemand interessiert mich so wirklich« oder »In unseren Flitterwochen hat mir mein Ehemann gesagt, dass er schon lange mit einer anderen Frau zusammen ist.« Es treten Formen des Unwohlseins auf, die mit einer Gefühllosigkeit des Körpers im Zusammenhang stehen, wie sie in der Beziehung auftritt.

Die TherapeutIn reagiert darauf, indem sie den physiologischen Prozess des Kontaktes (das Es der Situation, wie Robine (2006a) es ausdrückt) fördert: »Atmen Sie und fühlen Sie, was an der Grenze passiert«. Außerdem unterstützt sie den Hintergrund des Erlebens: Sie findet heraus, wie (durch welche Kontaktmodalität) die PatientIn die Gestalt (oder das Problem) aufrechterhält. Mit anderen Worten: Die TherapeutIn konzentriert sich nun auf die Unterstützung des Kontaktprozesses, und zwar an dem Punkt, wo sie einst ihre Aufmerksamkeit auf die Unterstützung einer egoistischen Individualität richten musste, damit sie sich gegen andere Individualitäten durchsetzen konnte. Man könnte es auch so ausdrücken: Wenn gesund zu sein früher implizierte, herauszufinden, warum jemand gewinnt und siegreich aus dem Lebenskampf hervorgeht, so bedeutet es heute, die Wärme in intimen Beziehungen und die emotionale und körperliche Reaktion auf den/die Andere(n) zu erleben. In Gruppen unterstützt die TherapeutIn jene harmonische Selbstregulierung, die beim (Er)Leben eines horizontalen (gleichwertigen) Kontexts entsteht, in dem man atmen und sich gegenseitig Unterstützung bieten kann.

2. Entwicklung der Grundwerte: Die Bedeutung der Hermeneutischen Methode

Die Gestalttherapie hat ihre maximale Verbreitung also in einem kulturellen Moment erreicht, der als »postmoderner Zustand« definiert wird (Lyotard 1979). Ein charakteristisches Merkmal dieses Zustands der Bewertung der auf das Ego bezogenen Kreativität war die Kritik an a priori gesetzten Werten, die von Kriterien außerhalb des Erlebens des Individuums vorgegeben wurden, und das sich daraus ergebende Bedürfnis, sich von den traditionellen Bezugspunkten der Nachkriegskultur zu lösen (der »Fall der Götter«), und zwar auf Kosten eines »Sich-auf-die-Umwelt-Einlassens« oder auch »Sich-auf-emotionale-Bindungen-Einlassens«. Dies war zweifellos eine notwendige Phase, um angesichts einer sozialen Achse zwischen Autoritarismus einerseits und Abhängigkeit andererseits persönliche Autonomie zu erreichen.

In den 80er-Jahren herrschte reges Interesse an Beziehungen. Damals brachten einige Philosophen das »schwache Denken« (Vattimo / Rovatti 1983) ins Gespräch. Danach bietet die Freiheit von a priori bestimmten Paradigmen eine Möglichkeit, neue und völlig unabhängige Sicherheiten zu schaffen, die nicht von Werten belastet sind, die weitergegeben wurden und deshalb nicht die eigenen sind. Es war eine Frage des Glaubens an das Unsichere, der Bejahung des Wertes der »reinen« Beziehung, die neue Lösungen aus eben dieser Unsicherheit des flüchtigen Moments hervorbringen kann. Das schwache Denken formulierte den gestalttherapeutischen Glauben an das Jetzt und an die kreative Kraft des Selbst-in-Kontakts sehr treffend. Wie konnte man nicht von der Aussicht fasziniert sein, aus dem »Nichts«, aus der bloßen Beziehung, neue Lösungen für die PatientIn entstehen zu lassen? All die Erwartungen der GestalttherapeutInnen, durch ihre reine Anwesenheit und gemeinsam mit der PatientIn Lösungen zu finden, für die man keine Analyse der Vergangenheit brauchte, wurden hierdurch positiv konnotiert. Viele Gestalt-AutorInnen, ich selbst eingeschlossen, betonten die positive Bedeutung der Unsicherheit im Vergleich zur falschen Sicherheit, die durch schematische Systeme aufkam. Staemmler (1997a, 45) schreibt zum Beispiel, dass die Kultivierung der Unsicherheit ein Grundprinzip der GestalttherapeutIn sein sollte, und Miller (1990) hebt den Wert der Psychologie des Unbekannten hervor. Ich persönlich habe das Konzept der improvisierten Ko-Kreation geschaffen (Spagnuolo Lobb 2003b, 2010b), als Gegenstück zum Konzept des impliziten Beziehungwissens von Stern et al. (1998; 2003). Auch andere therapeutische Ansätze unterstreichen, wie wichtig es ist, sich nicht von der Macht verführen zu lassen, die diagnostische Sicherheiten in der Psychotherapie bietet (siehe zum Beispiel Amundson / Stewart / Valentine 1993).

Diese positive Sicht der post-modernen Unsicherheit wurde von der Gestalttherapie insofern geteilt, als man sich ganz auf das Hier und Jetzt des therapeutischen Kontaktes einließ. Sie passt nicht zum Erleben eines Notstands, das schnell zu einem traumatischen Erleben wird, wenn es an einem sicheren Beziehungshintergrund mangelt, wie ich ihn oben geschildert habe und wie er in Gestaltkreisen viel diskutiert worden ist (siehe zum Beispiel Cavaleri 2007; Francesetti 2008; Spagnuolo Lobb 2009c). Heutzutage ist die klinische Evidenz charakterisiert durch weit verbreitete Angst (Panikattacken, posttraumatische Belastungsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und Hyperaktivität bei Kindern), Desorientierung in Beziehungen (Störungen der sexuellen Identität, widersprüchliche Beziehungsentscheidungen, Schwierigkeiten, Paarbeziehungen oder intime Bindungen aufrechtzuerhalten), körperlicher Desensibilisierung (Mangel an sexuellem Verlangen, Selbstverletzung mit dem Ziel sich selbst zu spüren, Anhedonie oder Gefühllosigkeit).

Welche Wertigkeit kann die Gestalttherapie zum heutigen Panorama der Psychotherapien beitragen?

Unser hermeneutischer Blick verrät uns, dass die Begründer der Gestalttherapie beim Schreiben des Standardwerks vor allem auf die Auflösung der wichtigsten neurotischen Dichotomien abzielten (Körper und Geist, Selbst und äußere Welt, emotional und real, infantil und reif; biologisch und kulturell; Lyrik und Prosa; spontan und absichtlich; persönlich und sozial; Liebe und Aggression; unbewusst und bewusst).

Bei allen Weiterentwicklungen unserer Theorie müssen wir uns an diesem Ziel orientieren: Wie können wir PsychotherapeutInnen sein, die Menschen in ihrem Beziehungsleiden helfen, Dichotomien zu überwinden?

Die Kunst der GestalttherapeutIn ist deshalb sehr komplex: Sie anzuwenden ist ebenso schwierig wie sie weiterzugeben, weil die GestalttherapeutIn an einem Geist, an Prinzipien festhalten muss, ohne dabei die Kreativität zu verleugnen, die uns unsere Leidenschaft erlaubt.

Bis vor zwanzig Jahren war es schwierig, in einer Beziehung zu bleiben. Heute ist es schwierig, sich in einer Beziehung selbst zu spüren. Bisweilen betrifft dieses Sich-nicht-Spüren sogar das Sexualleben: Die klinische Evidenz reicht von Ambiguität bei der Partnerwahl (Spagnuolo Lobb 2005d; Iaculo 2002) bis zur Unfähigkeit, sexuelles Verlangen im Körper wahrzunehmen. Das gestalttherapeutische Verständnis der »flüchtigen Angst« (liquid fear) (Bauman 2006) bezieht sich auf ein Gefühl, bei dem aus der Erregung, die zum Kontakt führen sollte, eine undefinierte Energie wird: gegenseitiges Spiegeln und das Containment der Beziehung, das Spüren der Anwesenheit des/der Anderen, die »Abgrenzung«, die uns erlaubt zu fühlen, wer wir sind – all das fehlt.

Ich bin der Meinung, dass die Psychotherapie heute eine zweifache Aufgabe hat: den Körper zu re-sensiblisieren (Überwindung der Dichotomie virtuell/real) und Menschen Werkzeuge zur horizontalen Beziehungs-Unterstützung an die Hand zu geben, die ihnen dabei helfen, sich im Blick des/der gleichwertigen Anderen zu spüren (Überwindung der Dichotomie vertikal/horizontal in heilenden Kontakten).

3. Grundprinzipien der Gestalttherapie in der klinischen Praxis

Heutzutage scheinen bestimmte epistemologische Prinzipien der Gestalttherapie den Ansatz von anderen zu unterscheiden. Wenn mich heute jemand fragte, was an der Gestalttherapie besonders ist, würde ich Folgendes antworten.

3.1 Vom intra-psychischen Paradigma zum Paradigma der ko-kreierten Zwischenheit

Angesichts des heutigen kulturellen Trends mit seinem Fokus auf Beziehungen definiert die Gestalttherapie die ursprüngliche Eingebung der Begründer im Sinne der Ko-Kreation neu, die Erleben als ein Geschehen an der Kontaktgrenze, in der »Zwischenheit«, betrachtet, also zwischen dem Ich und dem Du (Spagnuolo Lobb 2003b).

Auf dem Gebiet der klinischen psychologischen Praxis hat sich die Gestalttherapie, vor allem dank des Beitrags von Isadore From, von der Betrachtung der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt, die auf die Befriedigung individueller Bedürfnisse abzielte (siehe Wheeler 2000a), hin zur Betrachtung des Organismus/Umwelt-Feldes entwickelt. Bei diesem Feld handelt es sich um ein ganzheitliches wahrnehmungsbezogenes Ereignis, aus dem Kontaktmodalitäten entstehen, die der/die PsychotherapeutIn begrüßt, um die klare Wahrnehmung und damit die Spontaneität des Selbst der PatientIn zu fördern.

Ein klinisches Beispiel hierfür ist der Fall eines Patienten, der zur TherapeutIn sagt: »Ich war letzte Nacht in einem fürchterlichen Zustand und habe nicht geschlafen.« Nach dem Verständnis der heutigen Gestalttherapie drückt er damit nicht nur ein Erleben aus, das zu ihm gehört (»Ich möchte meinen fürchterlichen Zustand besser verstehen«). Er drückt auch etwas aus, das zum aktuellen Kontakt mit der TherapeutIn gehört, denn die Erwähnung des erinnerten »fürchterlichen Zustands« ist eine Möglichkeit, vom aktuellen Zustand zu sprechen. Es ist eine Frage der Gestalt/Hintergrund-Dynamik: Der Patient pickt bestimmte Anteile aus dem Erlebenshintergrund des Kontaktes mit der TherapeutIn heraus und lässt andere Anteile links liegen, in dem Moment, den er in der aktuellen Sitzung mit der TherapeutIn erlebt. Vielleicht möchte er ihr über eine Angst berichten, die mit der letzten oder der gerade beginnenden Sitzung zu tun hat. Er könnte zum Beispiel sagen wollen: »In der letzten Sitzung ist etwas passiert, das mir Angst gemacht hat. Ich hoffe, Sie merken jetzt, welche Auswirkungen das auf mich gehabt hat und können mich heute vor den negativen Folgen schützen.« Diese beziehungsorientierte Interpretation (korrekter wäre es, hier von »situationsorientiert« zu sprechen) erlaubt es der TherapeutIn, aus der traditionellen intrapsychischen Perspektive herauszutreten, sich bei ihrer Arbeit auf den »fürchterlichen Zustand« zu beziehen und zu sehen, was entsteht. Die TherapeutIn kann die Behandlung als Prozess sehen, der mit der Bewusstheit des Patienten für die Befriedigung (oder das Sublimieren) von Bedürfnissen verbunden ist. Und sie kann die postmoderne Position einnehmen, nach der die Behandlung ein Raum ist, der vom Patienten und der TherapeutIn ko-kreiert wird und in dem neue Kontaktmuster entstehen, die die Spontaneität des Selbst freisetzen.

Die Wende vom intrapsychischen Paradigma hin zu dem der »Zwischenheit« impliziert, dass die TherapeutIn sich und die PatientIn nicht als separate Einheiten wahrnimmt, sondern als eine dialogische Gesamtheit –die PatientIn im Dialog mit der TherapeutIn / die TherapeutIn im Dialog mit der PatientIn (Yontef 2005). Jede Kommunikation seitens der PatientIn ist Teil der Gestalt der gegenseitigen Wahrnehmungen, durch die die beziehungsbezogene Intentionalität ausgedrückt wird, und erhält durch sie Bedeutung.

Ein Beispiel soll den Unterschied veranschaulichen. Ein Patient sagt: »Ich spüre eine Anspannung im Bauch, ich weiß auch nicht … es ist, als ob ich wütend wäre.« Wenn die TherapeutIn einen »intrapsychischen« Ansatz hat, wird sie versuchen zu verstehen, von welchen vergangenen Erlebnissen diese Wut stammt, auf wen oder was der Patient wütend ist usw. Vermutlich sagt sie: »Konzentrieren Sie sich auf Ihren Körper und spüren Sie nach, an was Sie dieses Gefühl erinnert.« Wenn sie stattdessen das »Zwischenheit-Paradigma« nutzt, wird sie ihre Aufmerksamkeit auf das richten, was in der »Zwischenheit« dazu geführt hat, dass die Figur der Anspannung und der Wut im Bauch hat aufkommen lassen. Sie wird fragen: »Wie lässt das Mit-mir-Sein Anspannung und Wut entstehen? Was an mir macht Sie wütend? Und was halten Sie mir gegenüber zurück, das Anspannung in ihrem Bauch verursacht?« Wahrscheinlich ist der Patient zunächst etwas irritiert. Die TherapeutIn fordert ihn auf, sich Zeit zu lassen und zu atmen. Dann antwortet der Patient: »Wenn ich dran denke, dass Sie mich eine Viertelstunde lang haben warten lassen, bevor Sie mich hereingebeten haben, werde ich wütend.« An diesem Punkt bricht etwas auf, das die Heilung eines zuvor gestörten Beziehungsmusters erlaubt. Der Patient kann der TherapeutIn gegenüber spontan sein und die Retroflexion auflösen, die als gewohnheitsmäßig gewähltes Beziehungsmuster Anspannung im Bauch verursachte.

Diese Art des therapeutischen Dialogs eröffnet dem Patienten die Möglichkeit, beziehungsbezogene Ängste zu überwinden, denen er durch eine Unterbrechung des Kontakts aus dem Weg gehen wollte (und die er dann vergessen hat). Wenn das aktuelle Beziehungsgeschehen erst einmal zurück an die Kontaktgrenze gebracht worden ist, kann die TherapeutIn eine ganze Reihe von gestalttherapeutischen Interventionen einsetzen, um die (inzwischen bewusste) Kontaktenergie zu unterstützen.

3.2 Die therapeutische Beziehung als realer »Fakt«: die Vorherrschaft der Erfahrung

Allgemein gesprochen betrachten psychotherapeutische Ansätze die therapeutische Beziehung als praktisches Werkzeug, mit deren Hilfe sich die realen Beziehungen im Leben der PatientIn verbessern lassen.8 Die Gestalttherapie hingegen misst der therapeutischen Beziehung den Charakter einer realen Erfahrung bei, die in dem Raum »zwischen« PatientIn und TherapeutIn geboren wird und ihre eigene Geschichte hat.

Die therapeutische Beziehung wird tatsächlich weder als Ergebnis von Projektionen von Beziehungsmustern gesehen, die Teil der Vergangenheit der PatientIn sind, noch lediglich als Versuchsstation für das reale Leben, in dem »Tests« mit Beziehungsmustern durchgeführt werden, die sich in der Welt draußen als effektiver erweisen würden. Zwischen PatientIn und TherapeutIn entsteht eine einzigartige, nicht reproduzierbare Beziehung, in der die beiderseitigen Wahrnehmungen verändert werden. Die Arbeit an Mustern der Vergangenheit hat zum Ziel, diese Beziehung zu verbessern, nicht vergangene Beziehungen. Das, was zwischen dieser bestimmten TherapeutIn und dieser bestimmten PatientIn geschieht, konstituiert die Behandlung als eine der vielen möglichen Erfahrungen von Behandlung. Dies impliziert, dass die GestalttherapeutIn sich ganz auf die Beziehung einlässt, dass sie ihr eigenes Selbst nutzt.

Die Behandlung baut tatsächlich auf zwei realen Menschen auf. Sie könnten zwar auch diverse Techniken anwenden, um sich einander zu öffnen, doch sie lassen sich mit all dem, was sie an Begrenztheiten mitbringen, spontan aufeinander ein, in eine Beziehung, die durch ihre komplementären Rollen klar definiert ist: Eine(r) gibt eine Behandlung und der/die Andere bekommt sie.

Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Situation, die Isadore From gerne schilderte: Ein Patient erzählte ihm von einen Traum und begann mit den Worten: »Ich hatte letzte Nacht einen kleinen Traum.« Isadore From war ziemlich klein gewachsen. Bei seinen PatientInnen rief diese Tatsache Reaktionen hervor, die sie meist nicht zeigten, »wohlerzogen« wie sie waren. From war sich seiner Beschränkung vollkommen bewusst, als er auf den einleitenden Satz des Patienten erwiderte: »Ja! Klein, so wie ich.« Den Patienten machte dieser kleine Scherz zunächst betroffen. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, unhöflich zu sein. Dann brach er in befreiendes Gelächter aus. Er atmete tiefer und konnte nun mit Gefühlen der Zärtlichkeit und des Vertrauens in den Kontakt mit seinem Therapeuten treten – Gefühle, die er vorher blockiert hatte. Es war diese Begegnung zwischen Therapeut und Patient, in der Menschlichkeit ihrer Beschränkungen,