Geständnisse - Kanae Minato - E-Book
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Kanae Minato

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Beschreibung

Die Polizei hält es für einen tragischen Unfall, dass Yuko Moriguchis 4-jährige Tochter im Schulschwimmbecken ertrank. Doch Yuko, Lehrerin an der Schule, weiß, dass zwei ihrer Schüler für Manamis Tod verantwortlich sind, und sie will die Mörder nicht ungeschoren davonkommen lassen. Am Tag vor den Ferien eröffnet sie ihrer Klasse, dass sie ihnen noch eine letzte Lektion erteilen will … Doch der perfide ausgeheckte Racheplan entgleitet ihrer Kontrolle – und sie setzt ein tödliches Drama in Gang, aus dem niemand unbeschadet entkommen wird.

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Seitenzahl: 323

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Kanae Minato

GESTÄNDNISSE

Roman

Deutsch von Sabine Lohmann

C. Bertelsmann

Das Buch:

»Ich verstehe, warum Mord als Verbrechen angesehen wird. Dagegen verstehe ich nicht unbedingt, warum Mord an und für sich schon als böse gilt. Der Mensch ist doch nur eine von unendlich vielen Arten, die auf der Erde existieren. Wenn ein Wesen Nutzen daraus ziehen kann, dass es ein anderes vernichtet, dann war es wohl so vorgesehen.«

Die kleine Tochter der alleinerziehenden Lehrerin Yūko Moriguchi ist im Schulschwimmbecken ertrunken, die Polizei geht von einem Unfall aus. Einige Wochen später kündigt Moriguchi den Schuldienst, zum Abschied konfrontiert sie ihre Schüler mit einem erschütternden Geständnis. Daraufhin nimmt ein tödliches Drama seinen Lauf, an dessen Ende keiner – weder Jugendlicher noch Erwachsener – ungeschoren davonkommt.

Kanae Minatos packender Roman, in Japan ein Millionenseller, ist eine Geschichte um verblendete Liebe und erdrückende Fürsorge, um Gleichgültigkeit und Misshandlung; um Kinder, die an einer auf Leistung und Erfolg ausgerichteten Gesellschaft zerbrechen, die jeglichen Sinn für Gut und Böse verloren haben und die in ihrer verzweifelten Suche nach Zuneigung und Anerkennung alle menschlichen Grenzen überschreiten.

»Geständnisse ist eine schwindelerregende Geschichte über Moral und Gerechtigkeit, mit unerwarteten Wendungen, die sprachlos machen.« Los Angeles Times

Die Autorin:

Kanae Minato, geboren 1973 in Japan, begann ihre Karriere als Schriftstellerin mit dem Bestseller »Geständnisse«, der erfolgreich verfilmt wurde. Ihre Romane und Kurzgeschichten wurden vielfach ausgezeichnet.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Kokuhaku« im Verlag Futabasha, Tokyo. Die deutsche Übersetzung folgt der englischsprachigen Fassung, die unter dem Titel »Confessions« in der Übersetzung von Stephen Snyder bei Mulholland Books, New York, erschien.

1. Auflage

Copyright © 2008 by Kanae Minato

Original Japanese edition published by Futabasha Publishers Ltd.

German language edition published by arrangement with Futabasha Publishers Ltd.

through The English Agency (Japan) Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 beim Verlag C. Bertelsmann, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18321-9V002

www.cbertelsmann.de

1

Der Heilige

Wenn ihr eure Milch ausgetrunken habt, gebt den Karton bitte zurück in den Kasten. Achtet darauf, dass ihr ihn in das mit eurer Nummer gekennzeichnete Fach stellt, und geht dann wieder an euren Platz. Wie es aussieht, seid ihr schon fast alle fertig. Und da heute der letzte Schultag ist, sind wir jetzt am Ende der »Milchzeit« angelangt. Ich danke euch allen für eure Teilnahme. Wie ich höre, fragen sich manche von euch, ob das Programm nächstes Jahr fortgesetzt wird, aber meines Wissens ist das nicht vorgesehen. Wir sind dieses Jahr als repräsentative Mittelschule für die Kampagne des Gesundheitsministeriums zur Förderung von Milchprodukten ausgewählt worden. Wir wurden angewiesen, jeden von euch täglich eine bestimmte Menge Milch trinken zu lassen, und nun sind wir alle gespannt auf die Schuluntersuchung im April, bei der sich herausstellen wird, ob euer Wachstum und eure Knochendichte über dem landesweiten Durchschnitt liegen.

Ja, vermutlich könnte man sagen, dass wir euch als Versuchskaninchen benutzt haben, und sicher war dieses Jahr nicht sehr angenehm für diejenigen unter euch, die keine Laktose vertragen oder einfach keine Milch mögen. Aber die Schule wurde nach dem Zufallsprinzip für das Programm ausgewählt, und jede Klasse wurde täglich mit den Milchkartons beliefert, in einem Kasten mit nummerierten Fächern, um jeden Schüler anhand seiner Platznummer zu identifizieren. So konnten wir genau verfolgen, wer die Milch getrunken hat und wer nicht. Aber warum macht ihr jetzt alle so ein finsteres Gesicht, wo ihr eben noch ganz zufrieden eure Milch getrunken habt? Was kann verkehrt daran sein, wenn man gebeten wird, jeden Tag ein bisschen Milch zu trinken? Ihr steht an der Schwelle zur Pubertät. Eure Körper werden wachsen und sich verändern, und ihr wisst, dass Milchtrinken gut für den Knochenaufbau ist. Aber wie viele von euch trinken zu Hause Milch? Und das Kalzium stärkt nicht nur die Knochen, ihr braucht es auch für die Entwicklung eures Nervensystems. Kalziummangel kann euch nervös und zappelig machen.

Es sind nicht nur eure Körper, die sich entwickeln. Ich weiß, was ihr so anstellt. Mir wird vieles zugetragen. Sie zum Beispiel, Herr Watanabe, Sie kommen aus einer Familie, die ein Elektronikgeschäft besitzt, und ich weiß, dass Sie ausgetüftelt haben, wie man einen Großteil der Verpixelung in Filmen für Erwachsene auflösen kann. Sie haben die Filme an andere Jungen weitergeleitet. Tja, ihr werdet allmählich erwachsen. Eure Interessen wandeln sich zugleich mit euren Körpern. Ich weiß, das war jetzt nicht gerade das beste Beispiel, aber ich meine damit, ihr kommt langsam in die »rebellische Phase«, wie wir das nennen. In dieser Phase sind Jungen und Mädchen oft sehr empfindlich, fühlen sich wegenjeder Kleinigkeit gekränkt und sind leicht durch andere beeinflussbar. Ihr werdet anfangen, allem und jedem nachzueifern, während ihr herauszufinden sucht, wer ihr seid. Und ehrlicherweise müsst ihr wohl zugeben, dass viele von euch diese Veränderungen schon an sich selbst bemerken. Gerade habt ihr ein gutes Beispiel dafür gesehen: Bis vor Kurzem haben die meisten von euch die Gratismilch als willkommene Dreingabe angesehen. Aber seit ich euch gesagt habe, dass es ein Experiment war, denkt ihr plötzlich anders darüber, nicht wahr?

Allerdings ist das nicht weiter verwunderlich – es entspricht der menschlichen Natur, seine Meinung zu ändern, und nicht nur in der Pubertät. Tatsächlich bestätigen mir die anderen Lehrer übereinstimmend, dass eure Klasse jetzt ruhiger und umgänglicher ist als die restlichen aus eurer Altersgruppe. Vielleicht haben wir das ja der Milch zu verdanken.

Aber ich habe euch heute noch etwas Wichtigeres mitzuteilen. Ich wollte euch ankündigen, dass ich die Schule zum Monatsende verlassen werde. Nicht, um an eine andere Schule zu wechseln, nein, ich ziehe mich aus dem Lehrerberuf zurück. Ihr seid also die letzten Schüler, die ich je unterrichten werde, und ich werde mich für den Rest meines Lebens an euch erinnern.

Jetzt beruhigt euch mal wieder. Ich weiß eure Reaktion zu schätzen – manche von euch klingen wahrhaftig so, als täte es ihnen leid, dass ich gehe. Wie bitte? Ob mein Rückzug etwas mit dem zu tun hat, was hier kürzlich passiert ist? Ja, ich denke schon, und ich würde mir heute gern ein wenig Zeit nehmen, um mit euch darüber zu sprechen.

Nun, da ich gehen werde, habe ich noch mal darüber nachgedacht, was es für mich bedeutet, Lehrerin zu sein.

Ich habe den Beruf aus keinem der üblichen Gründe ergriffen – weil ich selbst eine fabelhafte Lehrerin gehabt hätte, die mein Leben verändert hat, oder so etwas in der Art. Ich glaube, ich bin nur Lehrerin geworden, weil ich aus einer sehr armen Familie stamme. Von klein auf habe ich von meinen Eltern zu hören bekommen, sie könnten es sich nicht leisten, mich studieren zu lassen – zumal es bei einem Mädchen ohnehin verschwendetes Geld wäre –, aber genau das hat mich angespornt, unbedingt studieren zu wollen. Ich bin gern zur Schule gegangen und war eine gute Schülerin. Schließlich erhielt ich ein Stipendium – vielleicht nur, weil ich so arm war – und schrieb mich an der staatlichen Universität in meiner Heimatstadt ein. Ich studierte Naturwissenschaften und begann sogar noch vor dem Examen, in einer Paukschule zu unterrichten. Ja, ich weiß, wie ihr euch alle über die Paukschule beklagt, dass ihr euch nach der regulären Schule immer so mit dem Mittagessen beeilen müsst, nur um dann zu den Nachhilfestunden zu hetzen, die bis zum Abend dauern. Aber ich fand immer, ihr habt unglaubliches Glück, dass eure Eltern sich genügend kümmern, um euch diese Chance auf den besten Start ins Leben zu geben.

Jedenfalls verzichtete ich nach dem Examen auf ein Graduiertenstudium, das meine erste Wahl hätte sein können, und beschloss, Lehrerin zu werden. Die Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz mit geregeltem Einkommen gefiel mir, vor allem aber hätte ich das Stipendium zurückzahlen müssen, wenn ich nicht Lehrerin geworden wäre. Also unterzog ich mich kurz entschlossen dem Test, um die Zulassung zu erhalten. Einige von euch werden sich nun wohl fragen, ob das wirklich die richtigen Motive für den Lehrerberuf waren, aber ich kann euch versichern, ich habe immer versucht, bei der Arbeit mein Bestes zu geben. Viele Leute vergeuden ihr Leben mit Klagen, dass sie nie ihre wahre Berufung gefunden haben. Wahrscheinlich aber haben die meisten von uns gar keine. Warum also nicht einfach das wählen, was sich einem anbietet, und sich dann von ganzem Herzen dafür einsetzen? Das habe ich getan, und ich bereue es nicht.

Nun, manche von euch wundern sich vielleicht, dass ich mich für die Mittelschule entschieden habe und nicht für die Oberschule. Ich nehme an, man könnte sagen, ich wollte mich an vorderster Front bewähren. Ich wollte Schüler unterrichten, die noch der Schulpflicht unterliegen. Von der Oberschule kann man abgehen, da ist die Aufmerksamkeit der Schüler oft schon von anderem in Anspruch genommen. Ich wollte mit Schülern arbeiten, die sich noch ganz und gar dem Lernen widmen, die keine andere Wahl haben – das kam meiner Vorstellung von Berufung schon sehr nah. Vielleicht ist es schwer zu glauben, doch es gab eine Zeit, da habe ich meinen Beruf mit Leidenschaft ausgeübt.

Herr Tanaka und Herr Ogawa – ich wüsste nicht, was daran so besonders komisch sein sollte.

1998 wurde ich Lehrerin, und meine erste Stelle – noch in der praktischen Ausbildung – war an der Mittelschule von M. Dort war ich drei Jahre, dann setzte ich ein Jahr aus, worauf ich hierher kam, an die Mittelschule von S. Ich fand es angenehm, so weit entfernt von den großen Städten der Präfektur zu sein, es war eine ruhige, entspannte Arbeitsatmosphäre. Ich bin jetzt vier Jahre hier, also war ich insgesamt nur sieben Jahre als Lehrerin tätig.

Ich weiß, dass die Mittelschule von M. eure Neugier weckt. Es ist die Schule von Masayoshi Sakuranomi, und ihr habt ihn bestimmt kürzlich noch im Fernsehen gesehen … Jetzt beruhigt euch, bitte. Ist er denn so berühmt? Ob ich ihn kenne? Nun, wir waren drei Jahre lang Kollegen, also sollte ich ihn wohl kennen, aber damals war er noch keine solche Berühmtheit. Man hat ihn ja förmlich zum Superstar hochgejubelt, und er ist in den Medien so allgegenwärtig, dass ihr sicher viel mehr über ihn wisst als ich.

Was? Sie haben die Geschichte nicht mitbekommen, Herr Maekawa? Sehen Sie denn nicht fern? Na gut, ich werde sie Ihnen erzählen. Sakuranomi war als Schüler der Anführer einer Gang, und als er in seinem zweiten Jahr in der Oberschule war, ist er auf einen Lehrer losgegangen. Er wurde der Schule verwiesen und verließ das Land, und die nächsten Jahre trieb er sich offenbar in der Welt herum und setzte sich allen möglichen Gefahren aus, geriet immer wieder in Schwierigkeiten. Er wurde Zeuge von Kriegen und blutigen Konflikten, und er lebte unter Menschen, die in bitterster Armut ausharren mussten. Aus all diesen Erfahrungen lernte er zu begreifen, wie falsch er sich bis dahin verhalten hatte, und bereute seine gewalttätige Vergangenheit. Er kehrte nach Japan zurück, holte seinen Schulabschluss nach und schrieb sich an einer renommierten Universität ein. Nach dem Examen wurde er Englischlehrer an einer Mittelschule. Wie erzählt wird, wollte er den Schülern helfen, die Art von Fehlern zu vermeiden, die er in ihrem Alter gemacht hatte. Vor einigen Jahren fing er an, abends die Videospielhallen aufzusuchen, in denen die Jugendlichen nach der Schule herumhängen und Unsinn treiben. Mit jedem von ihnen suchte er das Gespräch, sprach mit ihnen über Selbstachtung und bot ihnen eine Chance auf einen Neubeginn an. Seine Hartnäckigkeit trug ihm den Spitznamen »Mr. Zweite Chance« ein, und sie drehten auch einen Dokumentarfilm fürs Fernsehen über ihn. Er veröffentlichte Bücher, um noch mehr Jugendliche mit seiner Botschaft zu erreichen – wie bitte? Ihr habt das alles letzte Woche schon im Fernsehen gehört? Gut, dann entschuldige ich mich bei denen von euch, die die Geschichte schon kennen … Wie bitte? Ihr habt recht, ich habe einen wichtigen Punkt ausgelassen. Ende letzten Jahres, als Sakuranomi gerade erst dreiunddreißig war, verkündete ihm sein Arzt, dass er nur noch wenige Monate zu leben habe. Doch anstatt in Selbstmitleid zu versinken, beschloss er, die ihm verbleibende Zeit seinen Schülern zu widmen. So haben sie ihm denn einen neuen Namen gegeben: der Heilige. Sie scheinen alles darüber zu wissen, Herr Abe. Wie bitte? Ob ich Sakuranomi bewundere? Ob ich so sein möchte wie er? Das sind heikle Fragen. Ich glaube, man könnte sagen, ich möchte eine Lehre aus seinem Leben ziehen – jedenfalls aus der zweiten Hälfte.

Aber ich kann sehen, was für einen Eindruck er auf viele von euch gemacht hat, und daraus schlussfolgere ich, dass ich als Lehrerin in mancher Hinsicht unzulänglich war, vor allem verglichen mit jemandem, der sich seinem Beruf mit solcher Hingabe widmet. Wie ich schon sagte, als ich Lehrerin wurde, wollte ich meine Sache so gut machen, wie ich nur konnte. Wenn einer meiner Schüler ein Problem hatte, setzte ich mich über meinen Unterrichtsplan hinweg und hielt die Klasse an, eine gemeinsame Lösung zu finden. Wenn ein Schüler aus dem Klassenzimmer lief, ging ich ihm nach, sogar mitten in der Stunde. Aber irgendwann wurde mir klar, dass niemand vollkommen ist – ich am wenigsten von allen. Wenn man einem Jugendlichen etwas mit der vollen Autorität eines Lehrers sagt, riskiert man sogar, das Problem noch zu verschlimmern. Ich hatte allmählich den Eindruck, dass es nichts Selbstgefälligeres und Alberneres gab, als den Schülern meine Ansichten aufzuzwingen. Am Ende machte ich mir Sorgen, ich würde genau die Menschen, denen ich Respekt und Unterstützung schuldete, einfach nur bevormunden. Als ich hier an der Schule anfing, habe ich ein paar neue Grundregeln für mich festgelegt: Erstens, dass ich meine Schüler immer siezen und mit Herr und Fräulein anreden würde, und zweitens, dass ich sie als Gleichberechtigte behandeln würde. Das scheinen rein formale Details zu sein, aber ihr würdet euch wundern, wie viele Schüler es sofort bemerken.

Was bemerken, fragt ihr? Ich nehme an, sie merken, wie es sich anfühlt, mit Respekt behandelt zu werden. Man hört so viel von Gewalt und Missbrauch, dass man glauben könnte, alle Kinder würden zu Hause schlecht behandelt. Aber die Wahrheit ist, dass viel mehr Kinder heutzutage verhätschelt und verwöhnt werden. Ihre Eltern katzbuckelnvor ihnen und flehen sie an zu lernen, zu essen und was nicht noch alles. Was vielleicht der Grund dafür ist, dass die Kinder so wenig Respekt zeigen und mit Erwachsenen reden wie mit ihresgleichen. Und viele Lehrer bestärken sie noch darin – halten es gar für eine besondere Auszeichnung, Spitznamen verpasst zu kriegen und in salopper Weise von ihren Schülern angeredet zu werden.

Das ist es ja schließlich, was sie im Fernsehen gezeigt bekommen, in all diesen Filmen über beliebte Lehrer, die kumpelhaft mit ihren Schülern umgehen. Ihr wisst schon, die Art von Story, wo ein beliebter Lehrer Schwierigkeiten mit einer bestimmten Klasse hat und sich dann aus dem Konflikt ein tiefes Vertrauen zwischen ihnen entwickelt. Und beim Abspann kommen die anderen Schüler dieses Lehrers schon gar nicht mehr vor, als ob er überhaupt nur für diese eine Problemklasse dagewesen sei. Selbst im Unterricht redet der Fernsehlehrer über sein Privatleben und taucht tief in die Gefühlsverwirrungen seiner Problemschüler ein. Wollt ihr den Rest eigentlich auch noch hören? O ja, na gut. Dann fasst also ein ernsthafter Schüler Mut und fragt ihn nach dem Sinn des Lebens … und so weiter und so fort. In der letzten Szene entschuldigt sich der ernsthafte Schüler bei dem notorischen Unruhestifter dafür, dass er so unsensibel war … Was im Fernsehen vielleicht gut ankommt – aber im wirklichen Leben? Hatte einer von euch jemals ein so dringliches persönliches Problem, dass er im Unterricht darüber reden wollte? Es wird zu viel Wesens um die verirrten Schafe gemacht. Mir persönlich imponiert der ernsthafte Schüler, der sich gar nicht erst zu irgendwelchem Unsinn hat hinreißen lassen. Aber solche Jugendlichen kriegen nie die Hauptrolle, weder im Film noch im wirklichen Leben. Das führt am Ende nur dazu, dass der ernsthafte Schüler daran zweifelt, ob sein Fleiß sich überhaupt auszahlt.

Es ist immer viel die Rede von dem Vertrauensverhältnis, das sich zwischen Lehrer und Schülern entwickelt. Als meine Schüler ihre ersten Handys bekamen, erhielt ich so manche Nachrichten, in denen es hieß: »Ich will sterben« oder »Das Leben hat keinen Sinn«. Hilferufe, nicht wahr? Sie kamen oft mitten in der Nacht – so gegen zwei, drei Uhr morgens –, und ich muss zugeben, am liebsten hätte ich sie ignoriert. Aber das ging natürlich nicht. Das hätte ja unser »Vertrauensverhältnis« beschädigt.

Natürlich erhielten die Lehrer teilweise auch richtig bösartige Botschaften, wie jener junge Lehrer, den per SMS ein Hilferuf ereilte. Die Absenderin schrieb, ihre Freundin sei in Schwierigkeiten, und bat ihn, zum Eingang eines zwielichtigen Hotels im Stadtzentrum zu kommen. Nun denkt ihr vielleicht, er hätte ein bisschen vorsichtiger sein sollen, aber er war jung und ernsthaft bemüht, Hilfe zu leisten – nur um dann mit dem Mädchen in kompromittierender Umgebung fotografiert zu werden. Am nächsten Tag tauchten ihre Eltern in der Schule auf, die Polizei wurde eingeschaltet, und das Ganze artete in einen ziemlichen Skandal aus. Die anderen Lehrer wussten natürlich, dass der arme Kerl nur reingelegt worden war. Er hatte uns nämlich anvertraut, dass er ein Transsexueller war – als Mann zur Welt gekommen, aber eigentlich eine Frau. Aber auch unter diesen Umständen sahen wir keinen Grund, die Wahrheit publik zu machen. Der junge Mann dagegen wollte unbedingt seine Ehre als Lehrer verteidigen, und so offenbarte er sein Geheimnis sowohl den Schülern als auch den Eltern. Dabei hatte die ganze Tragödie – und ihr katastrophaler Ausgang für den Lehrer – mit einer banalen Kleinigkeit angefangen. Eine Schülerin fühlte sich gekränkt, weil man sie wegen Schwätzens im Unterricht ermahnt hatte.

Was? Ob die Schülerin bestraft worden ist? Natürlich nicht. Im Gegenteil, dem Lehrer und der Schule wurden Vorwürfe gemacht. Wie man Jugendliche in leicht beeinflussbarem Alter einem sexuell Abartigen aussetzen könne … oder Schwulen … oder unverheirateten Müttern wie mir? Die Eltern ignorierten komplett, was ihre eigene Tochter getan hatte, und klagten die Schule an, und schließlich haben sie gewonnen – obwohl ich mir nicht sicher bin, ob man in so einer Situation überhaupt von Gewinnern und Verlierern sprechen kann. Der Lehrer? Er wurde letztes Jahr versetzt und unterrichtet jetzt an einer anderen Schule, als Frau.

Ich weiß, es ist ein extremes Beispiel, aber diese Art von Beschuldigungen sind an Schulen gang und gäbe, und für die Lehrer sind sie sehr schwer zu widerlegen. Seit jenem Vorfall haben wir es uns zur Regel gemacht, eine Lehrerin zu schicken, wann immer ein Lehrer eine Schülerin treffen soll. Darum haben wir auch zwei Lehrer und zwei Lehrerinnen für jede Jahrgangsstufe. Falls einer von euch Jungen mich bitten sollte, ihn irgendwo zu treffen, würde ich mich sofort an Tokura-sensei von der Klasse A wenden, damit er an meiner Stelle geht; und wenn irgendwas mit einem Mädchen aus der Klasse A sein sollte, würde Tokura-sensei mich anrufen. Hattet ihr das noch nicht bemerkt? Es wurde zwar nie bekannt gegeben, aber wir dachten, ihr hättet es von selbst rausgefunden.

Also fragt ihr Jungen euch jetzt wohl, ob es überhaupt sinnvoll ist, mich im Fall eines Falles zu kontaktieren, wenn dann doch nur Tokura-sensei auftaucht? Wie bitte, Herr Hasegawa? Ja, ich erinnere mich noch an das Problem, das Sie im Sportunterricht hatten. Sie fanden es schlimm, doch alles in allem war es nicht sonderlich schwerwiegend. Ich glaube, eigentlich kommt es nur wenige Male im Jahr vor, dass einer von euch mich wirklich braucht. Wenn ihr mir per Mail mitteilt, dass ihr sterben wollt, denkt ihr in dem Moment wohl tatsächlich, »das Leben ist total sinnlos«, wie ihr alle so oft und gern sagt. Und sicher kommt es euch in eurer ichbezogenen Sichtweise so vor, als wärt ihr ganz allein auf der großen weiten Welt – als wären eure Probleme absolut überwältigend. Ich für meinen Teil fühle mich weniger für eure jugendlichen Seelenzustände verantwortlich und mehr dafür, dass ihr euch eines Tages zu Menschen entwickelt, die Rücksicht auf die Gefühle anderer nehmen – zum Beispiel auf die Gefühle der Person, die mitten in der Nacht so eine gedankenlose Nachricht erhält. Ehrlich gesagt glaube ich kaum, dass jemand, der wirklich so verzweifelt ist, dass er eine so drastische Tat in Betracht zieht, seine Lehrerin per Mail davon in Kenntnis setzen würde.

Ihr habt mittlerweile wohl gemerkt, dass ich nie die Art von Lehrerin war, die vierundzwanzig Stunden am Tag nur an ihre Schüler denkt. Es hat immer jemanden gegeben, der mir wichtiger war – meine Tochter Manami. Wir ihr wisst, war ich eine alleinerziehende Mutter. Kurz bevor Manamis Vater und ich unsere Hochzeit planen wollten, erfuhr ich, dass ich schwanger war. Wir waren zwar ein bisschen enttäuscht, dass es nun eine »Blitzhochzeit« werden sollte, wie man sagt, vor allem aber waren wir beglückt von der Aussicht, ein Baby zu bekommen. Ich ging regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen, und wir beschlossen, dass es sinnvoll wäre, wenn mein Verlobter sich auch einmal durchchecken lassen würde. Völlig unvermutet stellte sich heraus, dass er an einer schrecklichen Krankheit litt, und von einer Hochzeit war von da an keine Rede mehr. Wegen seiner Krankheit? Natürlich war das der Grund. Ob es ihm schwerfiel, das zu akzeptieren? Sicherlich, Fräulein Isaka. Und sicher lassen sich manche Paare trotzdem trauen, selbst wenn einer von beiden krank ist. Sie entscheiden sich dafür, das Problem gemeinsam anzugehen. Was würdet ihr in so einer Lage machen? Was würdet ihr machen, wenn euer Freund oder eure Freundin mit HIV infiziert wäre? HIV – das menschliche Immunschwäche-Virus, besser bekannt als Aids. Aber die meisten von euch wissen ja schon alles darüber aus dem Roman, den ihr für die Projektwoche im Sommer gelesen habt. So viele von euch haben in ihrem Aufsatz über das Buch geschrieben, sie hätten am Ende geweint, dass ich beschloss, es selbst zu lesen. Für die, die ein anderes Buch gewählt haben, sei kurz zusammengefasst, dass es darin um ein Mädchen geht, das sich bei der Arbeit als Prostituierte mit HIV angesteckt hat und schließlich Aids bekommt und stirbt.

Was? Ihr findet, so simpel gestrickt ist die Geschichte nicht? Ihr habt die Heldin des Romans sympathischer gefunden, als ich sie jetzt klingen lasse? Das kann ich verstehen, aber wenn ihr Mitgefühl mit dem Mädchen in dem Buch hattet, warum sind dann so viele von euch mit den Stühlen abgerückt, als ich erzählt habe, was meinem Verlobten passiert ist? Wenn ihr Mitgefühl mit Aidskranken aufbringen könnt, warum seid ihr dann zurückgewichen, als ihr erfahren habt, dass die Lehrerin, die vor euch steht, Sex mit einem HIV-Infizierten hatte?

Sie schauen besonders unbehaglich drein, hier in der ersten Reihe, Fräulein Hamazaki, aber Sie müssen nicht die Luft anhalten. HIV wird nicht durch die Luft übertragen. Tatsächlich kann man sich durch die meisten Arten von Körperkontakt nicht mit Aids anstecken – weder durch Händeschütteln noch durch Husten oder Niesen, auch nicht im Schwimmbad oder durch gemeinsame Geschirrbenutzung oder durch Mückenstiche oder Haustiere. In der Regel noch nicht mal durch Küssen. Auch wenn man in engem Kontakt mit einer infizierten Person lebt, kann man sich dadurch nicht anstecken, und keiner hat sich jemals das Virus eingefangen, nur weil er in derselben Klasse wie eine infizierte Person saß – auch wenn das Buch all das nicht erwähnt. Und ich entschuldige mich, euch im Unklaren gelassen zu haben – ich selbst bin auch nicht infiziert. Jetzt schaut nicht so geschockt. Zwar kann das Virus durch Geschlechtsverkehr übertragen werden, aber nicht jeder Geschlechtsakt hat zwangsläufig eine Infektion zur Folge.

Ich habe den Test in der Schwangerschaft gemacht, und er ist negativ ausgefallen. Weil das so unwahrscheinlich war, habe ich ihn noch mehrmals wiederholt. Erst als ich von der tatsächlichen Infektionsrate durch Geschlechtsverkehr erfahren habe, ist mir begreiflich geworden, wieso ich verschont geblieben bin. Die genaue Zahl werde ich euch aber nicht nennen, denn ich weiß, wie leicht ihr durch Statistik zu beeinflussen seid. Wenn ihr es wissen wollt, könnt ihr es ja selbst nachschauen.

Mein Verlobter hatte sich im Ausland angesteckt, in einer abenteuerlichen Phase seines Lebens, als er sich nicht besonders drum scherte, was ihm alles zustoßen konnte. Ich gestehe, es fiel mir schwer, diesen Teil seines Vorlebens zu akzeptieren. Es war ein entsetzlicher Schock für mich, dass der Mann, den ich heiraten wollte, HIV-positiv war, und trotz der Tests wurde ich die Sorge nicht los, dass ich auch infiziert sein könnte. Selbst als ich sicher war, dass ich nichts mehr zu befürchten hatte, lag ich nachts wach und machte mir Sorgen um das Baby in meinem Bauch. Auch wenn ich nie die Achtung vor meinem Geliebten verlor, muss ich doch sagen, dass ich ihn manchmal gehasst habe für das, was er getan hat. Und irgendwie hat er das wohl gespürt. Er hat mich wiederholt um Verzeihung gebeten und mir immer zugeredet, das Baby zu bekommen, obwohl es mir sowieso nie eingefallen wäre, die Schwangerschaft zu beenden. Ob ungesetzlich oder nicht, es wäre mir wie Mord vorgekommen.

Ich sollte euch auch noch sagen, dass mein Verlobter nicht in Selbstmitleid zerflossen ist, als er erfuhr, dass er Aids hat. Im Gegenteil, er schien das Gefühl zu haben, dass er nun einfach die Konsequenzen seines Tuns zu tragen hatte, und er hat immer sehr klar zwischen seiner Situation und der von Blutern und anderen unterschieden, die sich das Virus ohne eigenes Verschulden zugezogen haben. Und dennoch entzieht es sich meiner Vorstellung, wie unendlich verzweifelt er gewesen sein muss.

Schließlich habe ich eingesehen, dass ich im Unrecht war – vor allem, weil ich mir so sehr wünschte, dass mein Baby einen Vater hätte –, und so schlug ich ihm vor, doch lieber zu heiraten. Wenn wir die Situation im Blick behielten, würden wir schon irgendwie mit dem Problem fertigwerden. Aber er lehnte kategorisch ab. Er hatte einen starken Willen, und das Glück des Kindes ging ihm über alles. Die Vorurteile gegen Menschen mit HIV sind in Japan furchtbar ausgeprägt – denkt nur mal dran, wie ihr alle eben noch die Luft angehalten habt, als ihr dachtet, dass ich infiziert sein könnte. Selbst wenn das Kind sich als HIV-negativ erweisen sollte, wie würde man mit ihm umgehen, wenn herauskam, dass sein Vater Aids hatte? Würden die Eltern seiner Freunde ihnen verbieten, mit ihm zu spielen? Wenn das Kind alt genug war, um zur Schule zu gehen, würden die anderen Kinder – und sogar die Lehrer – es schikanieren und es aus der Cafeteria oder dem Sport oder sonstigen Veranstaltungen ausschließen, aus Angst, das etwas passieren könnte? Natürlich stößt ein Kind ohne Vater ebenfalls auf Vorurteile, aber doch nicht ganz so schwerwiegende, und es hat viel bessere Chancen, schließlich doch in seinem Umfeld akzeptiert zu werden. Schließlich beschlossen wir, die Hochzeit sein zu lassen, und mir blieb nur noch, unsere Tochter allein aufzuziehen.

Nach ihrer Geburt wurde Manami getestet, sie war ebenfalls HIV-negativ. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich war. Ich nahm mir fest vor, mich so gut um sie zu kümmern, wie eine Mutter es nur irgend kann, sie um jeden Preis zu behüten, und ich gab ihr all meine Liebe. Hättet ihr mich gefragt, was mir wichtiger war, meine Schüler oder meine Tochter, so hätte ich ohne Zögern geantwortet, dass meine Tochter mir weit wichtiger sei. Das ist ja auch ganz natürlich.

Manami hat mich nur einmal nach ihrem Vater gefragt. Ich sagte ihr, dass er sehr schwer arbeite, so schwer, dass er sie nicht besuchen kommen könne. Was tatsächlich stimmte. Nachdem er das Recht aufgegeben hatte, sich Manamis Vater zu nennen, hatte er sich in die Arbeit gestürzt, als ob der Rest seines Lebens davon abhinge. Aber am Ende ist sein Opfer doch sinnlos gewesen.

Manami ist nicht mehr unter uns.

Als Manami ein Jahr alt war, brachte ich sie in einer Tagesstätte unter und begann wieder zu unterrichten. In der Stadt betreuen Tagesstätten die Kinder bis spät in den Abend, aber hier auf dem Land geht die Betreuung höchstens bis sechs Uhr. So konsultierte ich eine Arbeitsvermittlung für Senioren und fand Frau Takenaka. Sie wohnt direkt hinter dem Schulschwimmbad. Ja, genau, das Haus mit dem großen schwarzen Hund namens Muku. Bestimmt haben manche von euch Muku schon mal durch den Zaun mit Resten von ihrem Schulproviant gefüttert.

Um vier Uhr, wenn die Tagesstätte schloss, holte Frau Takenaka Manami ab und hütete sie, bis ich von der Arbeit kam. Die beiden waren bald unzertrennlich. Manami liebte Frau Takenaka und nannte sie Omi, und Muku liebte sie auch. Sie war sehr stolz darauf, dass sie oft mit der Aufgabe betraut wurde, ihn zu füttern. Dieses Arrangement dauerte drei Jahre an, aber zu Beginn dieses Jahres wurde Frau Takenaka krank und musste in die Klinik.

Wegen unserer freundschaftlichen Verbundenheit war es mir unangenehm, nach einer Vertretung zu suchen, nur weil sie ein paar Wochen ausfiel, also beschloss ich, Manami selbst von der Tagesstätte abzuholen, bis Frau Takenaka wieder gesund war. Normalerweise klappte das ganz gut, da sie bereit waren, Manami bis sechs Uhr dazubehalten, und bis dahin schaffte ich es meistens, meine Arbeit an der Schule abzuschließen. Nur mittwochs zog unsere Lehrerkonferenz sich oft länger hin, deshalb holte ich sie da schon um vier Uhr ab und ließ sie derweil in der Krankenstation. Fräulein Naitō und Fräulein Matsukawa, Sie haben oft mit ihr gespielt, wenn sie dort wartete, nicht wahr? Dafür bin ich Ihnen dankbar. Sie hat diese Nachmittage so sehr genossen. Sie erzählte mir, ihr Mädchen hättet ihr gesagt, sie sehe aus wie das Kuschelhäschen, ihre liebste Zeichentrickfigur. Nichts hätte ihr größere Freude bereiten können.

Bitte nicht weinen. Das sind schöne Erinnerungen.

Manami liebte Hasen, sie liebte alles, was weich und flauschig war. Also war sie natürlich ganz vernarrt in das Kuschelhäschen, nicht anders als die meisten Mädchen in Japan, selbst die in der Oberschule. Praktisch alle ihre Sachen – ihr Rucksack, ihre Taschentücher, ihre Schuhe, selbst ihre Söckchen – waren mit dem putzigen Hasengesicht verziert. Jeden Morgen kletterte sie mir mit ihren kleinen Kuschelhasen-Zopfbändern auf den Schoß und bat mich, sie wie das Häschen zu frisieren. Und wenn wir am Wochenende zusammen einkaufen gingen, entdeckte sie immer irgendein neues Kuschelhasen-Produkt, das ihre Augen aufleuchten ließ.

Etwa eine Woche, bevor Manami starb, waren wir in einem Shoppingcenter. Da gab es ein riesiges Sortiment von Süßigkeiten zum Valentinstag, auch eine Auswahl von hübsch eingewickelten Päckchen, die sich wahrscheinlich eher die Mädchen gegenseitig schenken, anstatt den Jungs. Manami war magisch davon angezogen und erspähte augenblicklich einen weißen Schokohasen in einem flauschigen Kuschelhasen-Täschchen. Natürlich wollte sie ihn unbedingt haben, aber wir hatten ausgemacht, dass sie bei jedem unserer Einkaufsbummel nur eine Sache bekam, und ich hatte ihr an dem Tag schon ein Kuschelhäschen-Sweatshirt gekauft – das rosafarbene, das sie an dem Tag trug, als sie starb. Ich vertröstete sie auf das nächste Mal und begann, sie von den Süßigkeiten wegzulotsen.

Normalerweise wäre sie mir auch brav gefolgt, aber aus irgendeinem Grund war an dem Tag alles anders. Sie setzte sich mitten im Laden auf den Boden und fing an zu heulen, sie wolle das Sweatshirt gar nicht haben, ich solle ihr den Schokohasen kaufen. Aber abgemacht ist abgemacht, und ich hatte nicht vor, ihr so ein Betragen durchgehen zu lassen. Das Häschen konnte ich ihr ja ein andermal kaufen, wenn ich allein unterwegs war, und es ihr zum Valentinstag schenken. Ich erinnerte sie an unsere Abmachung und sagte ihr, sie solle sich nicht so aufführen. Als Mutter hatte ich gelernt, dass es eine klare Trennlinie gibt zwischen der Liebe zu seinem Kind und der Versuchung, es zu verhätscheln. Aber genau in dem Moment tauchte plötzlich Herr Shitamura von irgendwoher auf. Sie hatten das Ganze wohl beobachtet, da Sie auf mich zukamen und sich ungefragt dazu äußerten. Sie waren offenbar der Ansicht, dass es unangemessen von mir sei, Manami etwas zu verweigern, das nur 700 Yen kostete. Zum Glück genierte sich Manami, bei ihrem Wutanfall ertappt worden zu sein, beruhigte sich sofort und stand vom Boden auf. »Also gut«, sagte sie und blies ihre kleinen Bäckchen auf, »aber nächstes Mal kriege ich ihn bestimmt.« Dann hat sie Sie angelächelt und Ihnen zum Abschied zugewinkt.

Nun, da Manami von uns ging, noch ehe der Valentinstag gekommen war, bereue ich es natürlich jeden Tag, dass ich ihr den Schokohasen nicht gekauft habe.

An jenem Tag endete die Lehrerkonferenz kurz vor sechs. Die Schulkrankenschwestern nahmen auch daran teil, sodass die Krankenstation leer war. Doch einige von euch Mädchen waren so freundlich, sich um Manami zu kümmern, bis die Schule um sechs Uhr aus war, darum hat sie sich nie gelangweilt oder einsam gefühlt, und sie hat immer geduldig auf mich gewartet, bis ich aus der Konferenz kam. An jenem Tag aber war sie nicht im Schwesternzimmer. Ich sah im Waschraum nach, aber da war sie auch nicht. Mir fiel ein, dass sie vielleicht losgezogen sein könnte, um euch Mädchen in euren Clubräumen aufzusuchen, und so lief ich durch die Schule und hielt überall nach ihr Ausschau, vorerst noch nicht besonders besorgt. Ich traf auf Fräulein Naitō und Fräulein Matsukawa, und Sie sagten mir, dass Sie gegen fünf zur Krankenstation gegangen seien, um mit Manami zu spielen, sie sei aber nicht da gewesen. Sie hätten gedacht, Manami sei an dem Tag nicht in die Schule gekommen. Dann halfen Sie mir, nach ihr zu suchen.

Inzwischen war es dunkel geworden, aber es waren noch Leute in der Schule, und sie haben sich alle an der Suche beteiligt. Herr Hoshino, Sie waren es, der sie gefunden hat – nachdem Sie mit dem Baseballtraining fertig waren. Sie sagten, Sie hätten sie an dem Tag nicht gesehen, aber dann erinnerten Sie sich, dass Sie sie einmal aus der Richtung des Schwimmbads kommen sahen, und dort gingen Sie sie mit mir suchen. Das Tor war den Winter über abgesperrt, also mussten wir drüberklettern, aber die Kette war so locker, dass jemand so Kleines wie Manami leicht hindurchschlüpfen konnte. Das Schwimmbecken war noch gefüllt, obwohl dort keine Schwimmkurse mehr stattfanden. Das Wasser war trübe und dunkel – es war nicht abgelassen worden, für den Fall, dass in der Schule ein Feuer ausbrach.

Wir fanden Manami an der Oberfläche treibend. Wir zogen sie so schnell heraus, wie wir konnten, aber ihr Körper war eisig, und ihr Herz schlug nicht mehr. Dennoch rief ich immer wieder ihren Namen und versuchte es mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Trotz des Schocks ging Herr Hoshino sofort die anderen Lehrer holen. Manami wurde ins Krankenhaus gebracht, wo sie für tot erklärt wurde. Als Todesursache wurde Ertrinken festgestellt. Da keine Verletzungen zu sehen waren und keine Anzeichen von Gewalteinwirkung, kam die Polizei zu dem Ergebnis, dass sie versehentlich hineingefallen war.

Es war schon dunkel, als wir Manami fanden, und ich war völlig aufgelöst, darum gibt es eigentlich keinen Grund, weshalb ich es bemerkt haben sollte, doch ich erinnerte mich, dass ich Mukus Schnauze durch den Zaun ragen sah, der Frau Takenakas Garten von dem Schwimmbadgelände trennt. Die Polizei fand dort Brotkrümel am Boden, von der gleichen Brotsorte, die in Manamis Tagesstätte ausgeteilt wurde. Mehrere Schüler konnten bezeugen, dass sie Manami in der Nähe des Schwimmbads gesehen hatten, und es zeigte sich, dass sie es gewohnt gewesen war, da jede Woche hinzugehen. Die Nachbarn kümmerten sich um Muku, während Frau Takenaka in der Klinik war, aber das konnte Manami nicht wissen, und sie dachte vielleicht, der Hund würde verhungern, wenn sie ihm kein Brot brachte. Sie hatte wohl Angst, ausgeschimpft zu werden, falls ich es herausfand, darum ging sie immer allein und versuchte, unbemerkt zu bleiben. Den Schülern zufolge, denen diese kleinen Ausflüge aufgefallen waren, ist sie nie länger als zehn Minuten weg gewesen.

Ich hatte natürlich keine Ahnung von alldem. Wenn ich sie fragte, was sie denn so machte, während sie auf mich wartete, warf sie mir einen verschmitzten Blick zu und sagte, sie habe mit ein paar von euch Mädchen gespielt. Ich hätte merken müssen, dass sie mir etwas verheimlichte, ich hätte genauer nachfragen müssen. Vielleicht wäre sie dann nie zu dem Schwimmbad gegangen.

Manami ist gestorben, weil ich auf sie hätte aufpassen sollen und nicht achtsam genug war. Ich bedauere es auch aufrichtig, dass es so ein Schock für euch alle hier war. Es ist jetzt mehr als einen Monat her, und noch immer strecke ich jeden Morgen den Arm auf dem Futon aus und erwarte, Manami eingekuschelt neben mir vorzufinden. Wenn wir uns abends schlafen legten, schmiegte sie sich immer an mich, und wenn ich ein bisschen abrückte, um sie zu necken, ließ sie nicht locker, bis ich nachgab und ihre Hand nahm; dann entspannte sie sich und schlief ein. Jetzt muss ich jeden Morgen weinen, wenn ich die Hand nach ihr ausstrecke und begreife, dass ich nie wieder ihre flaumigen Bäckchen oder ihr weiches Haar streicheln werde.

Als ich dem Direktor meine Kündigung mitteilte, wollte er wissen, ob es wegen dem sei, was mit Manami passiert ist – wie Sie sich das vorhin auch schon gefragt haben, Fräulein Kitahara. Und es stimmt, dass mein Ausscheiden aus dem Lehrberuf mit Manamis Tod zu tun hat. Aber es stimmt auch, dass ich unter anderen Umständen wahrscheinlich weiter unterrichtet hätte, um meine Schuld abzubüßen und mich von meiner Trauer abzulenken. Warum also habe ich beschlossen zu kündigen?

Weil Manamis Tod kein Unfall war. Sie wurde ermordet, und zwar von Schülern aus dieser Klasse.

Ich frage mich, wie viel ihr von den Altersgrenzen wisst, mit denen die Gesellschaft manche Dinge einschränkt, und wie ihr darüber denkt. Zum Beispiel: Wie alt müsst ihr sein, um Alkohol und Tabak zu kaufen? Herr Nishio? Richtig, zwanzig Jahre alt. Ich bin froh, dass Sie diese Regeln kennen. Ab zwanzig gilt man vor dem Gesetz als erwachsen, und jedes Jahr zeigen die Fernsehnachrichten, wie die frischgebackenen mündigen Bürger in der Neujahrsnacht ihre Volljährigkeit feiern, indem sie sich betrinken und über die Stränge schlagen.

Nun mag es seltsam erscheinen, dass diese jungen Leute alle wie auf Knopfdruck in diesem einen Moment ihres Lebens in Maßlosigkeit verfallen, und die Fernsehkameras, die sie dabei filmen, stacheln sie natürlich noch an. Aber es würde wahrscheinlich gar nicht erst zu solchen Exzessen kommen, wenn es den Leuten nicht verboten wäre zu trinken, bis sie zwanzig werden. Dass die Gesellschaft den Konsum von Alkohol ab zwanzig erlaubt, heißt nicht, dass sie ihre Mitglieder ausdrücklich ermuntert zu trinken – oder gar, sich zu betrinken. Doch die gesetzliche Altersgrenze für das Trinken spielt sicher eine wichtige Rolle dabei, dass man gemeinhin glaubt, man verpasse etwas, wenn man nicht