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Kanae Minato

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Beschreibung

Vier Freunde, ein tragisches Unglück und die Frage nach der Schuld

Fünf Studenten aus Tokio wollen in einem abgelegenen Dorf zusammen ein paar Ferientage verbringen. Einer von ihnen, Hirosawa, kommt bei einem Autounfall auf einer kurvenreichen Bergstraße ums Leben. Drei Jahre später holt das schreckliche Ereignis die ehemaligen Studienkollegen ein. Sie erhalten anonyme Briefe, in denen sie des Mordes an ihrem Freund beschuldigt werden. Raffiniert erzählt die japanische Erfolgsautorin Kanae Minato von den zahlreichen Verkettungen, die zu dem tödlichen Unfall geführt haben, lockt den Leser gekonnt auf falsche Fährten, bis schließlich die tragische Wahrheit ans Licht kommt.

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Seitenzahl: 350

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Kanae Minato

SCHULDIG

Roman

Aus dem Japanischen von Sabine Mangold

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Reverse«im Verlag Kodansha Ltd., Tokyo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. AuflageCopyright © 2017 Kanae Minato. All rights reserved.First published in 2017 in Japan by Kodansha Ltd., TokyoPublication rights for this German edition arranged through Kodansha Ltd., TokyoCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe beim Verlag C. Bertelsmann, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-23493-5V002www.cbertelsmann.de

1

Kazuhisa Fukase ist ein Mörder!

Vielleicht konnte ich diese schockierende Anschuldigung überhaupt nur aushalten, weil sich zuvor in einem entlegenen Winkel meines Bewusstseins bereits eine dunkle Ahnung geregt hatte, dass sich irgendwann alles zuspitzen würde.

* * *

Einzelne Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe. Kazuhisa Fukase bemerkte, wie sich einige münzgroße hellbraune Flecken bildeten, was darauf schließen ließ, dass die scheinbar klare Scheibe in Wirklichkeit mit einer Staubschicht überzogen war. Weitere Tropfen zeichneten ähnliche Muster, aber er hielt es für verfrüht, den Scheibenwischer einzuschalten. Wahrscheinlich komme ich auch so noch bis ans Ziel, überlegte er.

Als er an der Kreuzung der von Herrenkonfektionsläden und Restaurantketten gesäumten Hauptstraße auf die Landstraße abbog, kam nach einigen Hundert Metern das Schultor der Narasaki Highschool der Präfektur Kanagawa in Sicht. Die Schule war ein Stammkunde der Nishida Bürobedarf GmbH und gehörte zu Fukases Zuständigkeitsbereich. Er parkte den weißen Lieferwagen mit der blauen Firmenaufschrift auf dem Besucherparkplatz neben dem Hauptgebäude. Die Regentropfen bildeten nach wie vor lediglich Flecken auf der Frontscheibe. Fukase nahm seinen Firmenausweis von der Ablage, hängte ihn sich um den Hals, griff sich die flache Schachtel vom Beifahrersitz und lief damit zum Eingang.

Seit seiner Einstellung vor zweieinviertel Jahren besuchte er die Narasaki Highschool wöchentlich einmal, sodass er inzwischen mit einem knappen Nicken das Sekretariat passieren konnte. Er ging direkt zum Lehrerzimmer, das sich im selben Gebäude im Erdgeschoss befand. Vormittags um elf, während der dritten Unterrichtsstunde, kamen ihm weder Lehrer noch Schüler auf dem Korridor entgegen. Da im Juli die Klimaanlagen in Betrieb waren, hielt man sämtliche Türen geschlossen. An der Tür zum Lehrerzimmer klebte ein Zettel:

Während der Semesterabschlussprüfungen ist den Schülern der Zutritt untersagt.

Obwohl es einen berechtigten Grund für seinen Besuch gab, betätigte er verstohlen wie ein Eindringling den Knauf und hob die Tür leicht an, um sie sachte aufgleiten zu lassen. Er schlüpfte durch den schmalen Spalt und schloss geräuschlos die Tür. Auf dem hintersten Platz unter dem Schild Klasse 12 entdeckte er Kōsuke Asami, der auf der Tastatur seines Notebooks tippte, immer ein Auge auf ein Lehrbuch gerichtet. Asami war Sozialkundelehrer. Als Fukase hinter ihn trat und den Buchtitel »Weltgeschichte – die Zeit der Kreuzzüge« entzifferte, drehte sich Asami mit einem Ruck zu ihm um.

»Ach, Fukase! Sag doch was!«

»Ich wollte dich nicht stören.«

»Du bist echt ein geborener Leisetreter. Bringst du mir etwa schon die Mappen?«

Es war erst eine Stunde her, dass Fukase von ihm ein Fax erhalten hatte, in dem er zehn A4-Papphefter bestellt hatte.

»So eine geringe Menge hat die Firma immer auf Lager parat. Alle in Pink, ich hoffe, so wolltest du es haben.«

Fukase überreichte ihm den Karton, Asami öffnete ihn auf seinem Schoß.

»Die Farbe ist mir egal, sie sind für den Nachhilfeunterricht in den Sommerferien gedacht und müssen bloß von den anderen unterscheidbar sein. Vielen Dank, dass du wegen dieses Kleinkrams extra hergekommen bist.«

»Falls es nicht reichen sollte, melde dich einfach. Uns sind auch Bestellungen kleiner Mengen recht.«

Asami nahm die Rechnung aus dem Karton. Eine einzelne Mappe kostete 70 Yen, der Gesamtbetrag inklusive Steuern betrug 756 Yen. Wäre die Bestellung nicht eigens bei der Firma aufgegeben worden, was bei Lieferung eine dreiviertel Stunde Anfahrt erforderte, so hätte von hier aus ein zehnminütiger Fußmarsch zum nächsten Supermarkt ausgereicht, wo es die Dinger in der Schnäppchenecke gab – 3 Stück für 100 Yen. Oder falls der persönliche Einkauf zu umständlich wäre, hätte man die Mappen auch beim Billiganbieter für Bürobedarf online ordern können, und sie wären am Folgetag geliefert worden. Die Schule unternahm jedoch keine Anstrengungen, kostengünstiger einzukaufen.

Asami hatte ihm gegenüber einmal erwähnt, dass einige Eltern prinzipiell die Klüngelwirtschaft mit einem Einzelhändler oder einem Geschäft kritisiert hätten. Damals hatte Fukase nichts darauf zu erwidern gewusst. Er lieferte ganz einfach die bestellten Waren, obwohl er sich schon hin und wieder verwundert fragte, weshalb Asami immer noch bei ihm bestellte. Asami hatte dann weiter argumentiert: »Schnäppchenecken oder Ketten wie Uniqlo sind doch auf private Kunden ausgerichtet. Was soll dabei Klüngelei sein? Wenn jemand die angebliche Klüngelei mit Einzelhändlern kritisiert, dann zieht er nicht in Betracht, dass öffentliche Einrichtungen wie Verwaltungen und Schulen eine wichtige Rolle spielen, um ortsansässige Firmen und Läden zu unterstützen. Geben und Nehmen, Punktum!«

Ach, so läuft der Hase, ging es Fukase durch den Kopf. Beamte werden mit Steuergeldern gefüttert, aber mir wird als Angestellter einer kleinen Firma ebenso mit stillschweigendem Einverständnis der Gesellschaft der Lebensunterhalt finanziert.

»Also dann, bis bald wieder. Falls was anliegt, melde dich jederzeit!«

Just in diesem Moment schaltete sich der Bildschirmschoner auf dem Notebook ein.

»M-hm.«

Die Hand zum Gruß erhoben, stellte Asami den Karton am Boden ab und drehte sich wieder zum Schreibtisch.

»Ach ja«, rief er Fukase hinterher, der an der Tür zu ihm zurückblickte. »Hast du demnächst einmal Zeit? Murai will endlich mal wieder einen Umtrunk mit allen veranstalten. Dich würde er ebenfalls gern wiedersehen.«

»Ja«, versuchte Fukase lächelnd zu erwidern, aber er war sich nicht sicher, ob er einen Laut von sich gegeben hatte und tatsächlich lächelte.

Es war immer Murai, der den Vorschlag für ein Treffen machte. Aber der würde ihn doch garantiert nicht mit einbeziehen. Das letzte Treffen hatte vor einem Jahr stattgefunden. Es war kein erfreulicher Anlass für eine Begegnung gewesen. Wahrscheinlich hat Asami mich ins Gespräch gebracht, da er mir ab und zu an seinem Arbeitsplatz begegnet, und selbst er würde eine Einladung nicht aus vollem Herzen aussprechen, dachte er sich.

Fukase vertrug ohnehin keinen Tropfen Alkohol.

Als er auf den Korridor trat, bemerkte er, dass es inzwischen heftig regnete.

»Herr Nishida, Sie kommen gerade recht!«

Eine der Lehrerinnen steckte den Kopf aus dem Druckerraum neben dem Lehrerzimmer. Es war Mizuki Kida, die erst im April an dieser Schule ihre Stelle als neue Japanisch-Lehrerin angetreten hatte. Er hatte ihr schon mehrfach Mappen und Kalligrafie-Utensilien geliefert, aber sie redete Fukase nach wie vor mit dem Firmennamen an. Er hatte jedoch keine Lust mehr, sie zu korrigieren.

»Was gibt es?«

»Das Druckerdisplay zeigt so ein komisches Symbol.«

Fukase betrat den Raum mit dem Drucker und warf einen Blick auf die Anzeige, auf die Kida deutete. Das ist doch nichts Besonderes, dachte er und verkniff sich ein Stöhnen. Was soll daran komisch sein!

»Das ist die Anzeige für den Masteraustausch.«

»Master?«

»Die Masterrolle für den Druck.«

»Ach so! Muss ich die denn selbst auswechseln?«

»Schauen Sie mir zu, wie ich das mache. Es ist ganz einfach, es sich zu merken.«

Fukase holte aus dem kleinen Pappkarton neben dem Drucker eine neue Masterrolle. Er öffnete die Abdeckung des Druckers.

»Tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache.« Kida stand mit schuldbewusster Miene neben ihm und schaute zu, wie er am Gerät hantierte.

»Schon gut«, beschwichtigte Fukase sie mit einem Lächeln.

Heute hatte sie ihn jedoch nicht deshalb zu sich gerufen. Es kam gelegentlich vor, dass er auf ihren dringenden Anruf hin, er möge sofort kommen, weil der Drucker kaputt sei, herbeieilte, um die Masterrolle oder den Toner auszutauschen oder bloß einen Papierstau zu entfernen.

»Übrigens …«

Kida beugte sich zu ihm vor und warf Fukase, der noch am Drucker hantierte, einen vielsagenden Blick zu. Er brauchte sich keine Hoffnungen zu machen, dass sie ihm etwas zu gestehen beabsichtigte. Derart optimistischen Illusionen gab er sich schon seit den Anfängen seiner Teenagerzeit nicht mehr hin.

»Herr Nishida, sind Sie mit Herrn Asami befreundet?«

War ja klar! Den Blick auf die Hände gesenkt, erwiderte er: »Wir sind ehemalige Kommilitonen. Wir haben dasselbe Seminar besucht.«

»Aha …«

Den unausgesprochenen Rest versuchte er sich vorzustellen: Trotz Abschluss an einer angesehenen Universität arbeiten Sie für eine so popelige Firma? Doch Kida setzte nur ein selbstgefälliges Lächeln auf und rückte ihm noch einen Schritt näher auf die Pelle.

»Glauben Sie, dass Herr Asami eine Freundin hat?«

Als er zu ihr aufblickte, sah er, dass sie rot anlief.

»Na ja … wissen Sie«, fuhr sie fort, »unter den Schülern wird nämlich gemunkelt, dass man ihn zusammen mit einer Frau gesehen hätte. Einer der Schüler hat ihn direkt danach gefragt und wohl zur Antwort bekommen, es sei nur eine Bekannte. Aber … äh … hm … ob das stimmt?«

Den Blick von Kida abgewandt, klappte Fukase demonstrativ die Abdeckung des Druckers zu. Das wär’s, wollte er damit sagen. Dann leerte er das Fach für verbrauchte Masterrollen und prüfte den Füllstand des Toners. Der Vorrat reichte noch.

»Genaues weiß ich auch nicht. Von ihm habe ich jedenfalls nichts in der Richtung gehört. Er denkt nur an seine Arbeit. Er wollte immer schon Lehrer werden und hat sich mit Leib und Seele seinem Beruf verschrieben.«

»Das merkt man. Er hat nämlich eine ganz andere Einstellung zur Arbeit als seine Kollegen. Ach herrje, da habe ich wohl Blödsinn geredet. Aber Sie können das beurteilen, weil Sie Freunde sind.«

Wir sind keine Freunde!, hätte er am liebsten erwidert. Als Studenten im gleichen Semester haben wir im letzten Studienjahr lediglich ein paar Seminare gemeinsam besucht. Trotz des gleichen Studienfachs hatten wir bis dahin so gut wie nie miteinander gesprochen. Er hat wahrscheinlich nicht einmal meinen Namen gekannt.

»Also dann bis zum nächsten Mal. Falls was sein sollte, melden Sie sich!«

Er drehte Kida, die offenbar noch etwas sagen wollte, den Rücken zu und verließ eiligen Schritts den Druckerraum. In dem Augenblick trat Asami aus dem Lehrerzimmer. Er hielt einen Stoß leere A4-Blätter in der Hand, vermutlich Testbögen oder Unterrichtsmaterial, das er vorbereitet hatte.

»He, du bist ja noch da!«

»Der Drucker. Bin aber gerade am Gehen.«

Er brauchte zwar kein schlechtes Gewissen zu haben, trotzdem fühlte er sich peinlich berührt, weil er in Asamis Abwesenheit über ihre Studienzeit gesprochen hatte. Sein Blick ging zum Fenster hinaus. Es goss in Strömen. Auch Asami schaute nach draußen.

»Pass auf dich auf!«

Ihre Blicke trafen sich. Asami, der einen Papierstoß in einer Hand hielt, ließ die andere auf dem Türknauf ruhen.

»Der Taifun kommt näher.«

»Danke. Ach ja, und grüße Murai von mir. Am Wochenende habe ich immer Zeit«, erwiderte Fukase.

Diesmal brachte er eine vernünftige Erwiderung zustande. Falls Asami beim Anblick des Regens das Gleiche dachte wie er, dann waren sie Freunde – oder besser gesagt: Kameraden. Und ebenso Murai, der das Treffen der ehemaligen Kommilitonen vorgeschlagen hatte.

Die dunkle Wolkenfront rückte immer näher und tauchte die Stadt in düsteres Grau. Im Autoradio wurde aber noch nichts über ein Unwetter gemeldet. Und selbst bei einer Sturmwarnung würde er seine Arbeit nicht unterbrechen. Zur Sondersendung zum Thema Sommerferien lief beschwingte Hintergrundmusik, ganz im Kontrast zum Anblick des Schauspiels draußen. Die Scheibenwischer arbeiteten zwar auf Hochtouren, schafften aber keine klare Sicht. Fukase hielt das Steuer krampfhaft umfasst, was ihn jedoch nicht davon abhielt, sich auszumalen, wie überrascht Kida wohl gewesen sein mochte, als Asami gleich nach ihm den Druckerraum betrat.

Hat Asami womöglich doch eine Freundin?, fragte er sich.

Er hatte Asamis Handynummer und seine E-Mail-Adresse, machte jedoch davon keinen Gebrauch. Manchmal, wenn er bestellte Waren bei ihm ablieferte und Asami zufällig gerade Pause hatte, lud dieser ihn auf einen Kaffee ein, worauf sie sich im Besuchersprechzimmer kurz austauschten, aber eine Freundin hatte er bisher nie erwähnt.

Asami ließ sich meistens nur über berufliche Dinge aus, was vielleicht daran lag, dass die Begegnungen während der Arbeitszeit stattfanden. Schon der Start als Junglehrer an der Narasaki Highschool war schwierig gewesen, als er eine zehnte Klasse übernehmen musste. Daran hatte sich inzwischen, wo Asami für die zwölfte Klasse zuständig war, kaum etwas geändert. Er bot sogar freiwillig Nachhilfeunterricht in den Sommerferien an.

Es waren keine Gespräche im herkömmlichen Sinn. Asami ordnete praktisch beim Reden seine Gedanken. Auf diese Weise lieferte er auch gleich die passenden Antworten auf mögliche Fragen, die sich aus dem Gesagten ergaben. Fukases Rolle als Gesprächspartner war also in gewissem Sinne austauschbar. Vermutlich unterhielt sich Asami nur mit ihm, weil er sonst niemanden hatte, dem er seine beruflichen Sorgen anvertrauen konnte.

Demnach hatte er wohl eher keine Freundin. Aber offenbar auch keinen Kumpel.

Was bilde ich mir da nur ein?, wies er sich selbst zurecht. Meiner Meinung nach braucht man nur einen einzigen Vertrauten, der einem zuhört. Fukase schüttelte leicht den Kopf. Ich kann doch nicht im Ernst annehmen, dass er mich dafür auserkoren hat. Ein Mensch wie Asami, der, ohne groß auf andere zuzugehen, immer von irgendwelchen Leuten umringt ist, kann bestimmt jederzeit einem x-beliebigen Gegenüber ohne Vorbehalte einen Teil seines Innenlebens offenbaren, wenn ihm danach ist.

So war es damals auch an der Uni gewesen, als Fukase, der lediglich dasselbe Seminar wie Asami besucht hatte, von dessen leidenschaftlicher Begeisterung für den Lehrerberuf erfahren hatte. An der Meikyō-Universität, Fakultät Wirtschaftswissenschaften, waren sie im Fach Betriebswirtschaft zu fünft im Seminar von Professor Yamamoto gewesen. Anders als in den Naturwissenschaften brauchte man hier nicht täglich anwesend zu sein. Auch auf das Forschungsthema bereitete man sich individuell vor. Mal hatte man nebenbei einen Job, mal standen Bewerbungsgespräche an, vom Semesterbeginn an gab es also kaum einen Tag, wo alle gemeinsam zusammentrafen. Am Anfang der Goldenen Woche im Mai fanden sich zufällig nur Fukase und Asami zu zweit im Seminarraum ein. Jeder saß an seinem Platz ins Notebook vertieft, und es war Asami gewesen, der das Gespräch begann.

»Du bist offenbar sehr diszipliniert, Fukase, wenn du dich sogar an den Tagen hier blicken lässt, wo der Professor nicht anwesend ist.«

»Gleichfalls, Asami!«

»Ja, aber nur weil nächste Woche mein Schulpraktikum beginnt.«

Als sie alle mal zusammensaßen, hatten sie bereits von ihm erfahren, dass er zwei Wochen lang ein Praktikum in seiner ehemaligen Oberschule absolvieren würde.

»Ach ja, stimmt! Das heißt, du bewirbst dich also bei keiner Firma, Asami?«

Fukase konnte sich diese Frage vor dem Hintergrund erlauben, dass er den ersten Prüfungsdurchlauf bei allen drei Stadtbanken bestanden hatte. Rückblickend war es eine ganz neue Erfahrung in seinem Leben gewesen, so von Selbstvertrauen erfüllt zu sein.

»Ich konzentriere mich ganz auf das Lehramt«, gab Asami ohne Umschweife zurück.

Für Fukase bestand die Fünfer-Seminargruppe aus drei extrovertierten und zwei zurückhaltenden Persönlichkeiten. Er rechnete Asami zwar zu der ersteren Gruppe, aber von den dreien war er noch der Ruhigste. Er wirkte eher wie ein verlässlicher älterer Kumpel, fand aber durchaus seinen Spaß daran, dass die beiden anderen immer zu Klamauk aufgelegt waren. Doch diesmal vertraute er dem zurückhaltenden Fukase unaufgefordert an, weshalb er unbedingt Lehrer werden wollte.

Asamis Vater war Oberschullehrer von Beruf gewesen, und als Kind hatte er keinerlei Lust verspürt, ihm nachzueifern. Ganz im Gegenteil, er wollte alles andere als Lehrer werden. Nicht nur, dass sein Vater jeden Abend erst spät vom Unterricht nach Hause kam, er verbrachte seine gesamte Freizeit im Koshien-Stadion, wo er mit Feuereifer die Schulmannschaft im Baseball trainierte, auch wenn die noch lange nicht zur Spitze gehörte. Selbst wenn er an raren Feiertagen wie zum Ahnenfest oder zu Neujahr eine Reise mit der Familie unternahm, kam es nicht selten vor, dass er plötzlich seine Angehörigen im Stich ließ. Oft erhielt er einen Anruf und kehrte frühzeitig heim, nur um Schülern aus der Patsche zu helfen, wenn beispielsweise einer von ihnen beim Ladendiebstahl erwischt wurde.

Es gab mitunter Zeiten, wo er seinen Vater dafür hasste, weil er seine eigene Familie vernachlässigte und fremde Kinder vorzog, mit denen er allenfalls eine kurze Zeitspanne in seinem Leben zu tun hatte.

»Ich habe meinen Vater zeit seines Lebens kein einziges Mal bewundert. Und dennoch …«

Sein Vater war im Herbst des Jahres, als Asami sein Studium begann, gestorben. Obwohl die Bestattung an einem gewöhnlichen Werktag stattgefunden hatte, sollen die Kondolierenden so zahlreich gewesen sein, dass nicht einmal annähernd alle in der Trauerhalle Platz fanden, fast ausnahmslos ehemalige Schüler von Asamis Vater. Jeder hatte Asami und seiner Mutter gegenüber warme Worte über seinen verehrten Lehrer gefunden.

»Obwohl ich von all dem gar nichts wusste, konnte ich ihn mir in all den Erzählungen lebhaft vorstellen. Ich glaube, dass man erst nach dem Tod eines Menschen beurteilen kann, ob derjenige ein gutes oder ein schlechtes Leben geführt hat. Ich frage mich, ob der Sinn und der Wert, auf die Welt zu kommen, nicht gerade darin liegt, wie viele Menschen sich an denjenigen erinnern und sich glücklich schätzen, ihn gekannt zu haben. Deshalb möchte ich viele Menschen um mich haben. Wie mein Vater möchte ich ein echter Pädagoge sein und anderen jederzeit nach Kräften beistehen, als Beweis, rechtschaffen gelebt zu haben.«

Fukase erinnerte sich, dass ihm daraufhin keine passende Antwort eingefallen war, er hatte lediglich ein fades »M-hm« als Zeichen seiner Zustimmung hervorgebracht. Asamis Worte hatten ihn tief bewegt.

»Ach, was soll’s …«, sagte Asami und lächelte verlegen. »Ich fülle gerade die Rubrik ›Motivation‹ in meinem Protokollheft fürs Referendariat aus. Deshalb schwinge ich hier so pathetische Reden«, erklärte er mit einem Achselzucken.

Da es Fukase peinlich war, keine feinsinnige Erwiderung parat zu haben, und Asami selbst seine Worte abtat, stand er auf und sagte: »Ich mache uns noch etwas Kaffee.«

In der Teeküche des Seminarraums standen ein Wasserkocher und eine Kaffeemaschine sowie eine Reihe von Trinkbechern, die die Studenten und Mitarbeiter dort deponiert hatten.

»Es sind zwar die gleichen Kaffeebohnen und die gleiche Maschine, aber wenn du ihn zubereitest, schmeckt er besonders gut.«

Fukase brachten Komplimente grundsätzlich in Verlegenheit, außer wenn das Lob seine Art des Kaffeezubereitens betraf. Vor sich hin summend brühte er Kaffee, und anschließend plauderten die beiden noch ein wenig, ohne erneut auf das Thema ihrer beruflichen Zukunft zurückzukommen.

Damals … Fukase verstärkte den Griff um das Lenkrad.

Er fühlte sich beklommen und merkte, dass er noch den Firmenausweis um den Hals baumeln hatte. Bei den Wartungsarbeiten im Druckerraum hatte sich die Schnur komplett verheddert. Aber ihm war durchaus bewusst, dass das beengende Gefühl nicht allein daher rührte. Was mache ich eigentlich hier?, fragte er sich. Mit einem unverhältnismäßigen Aufwand zehn Hefter liefern und die Masterrolle auswechseln … Eine Arbeit, die jeder andere auch übernehmen könnte … Für eine Firma, die nur noch durch das Mitleid der Kunden existiert.

Hätte er doch damals mit Asami auch über seine eigene Zukunft gesprochen! Zwar hegte er für den Beruf des Bankers keine vergleichbar brennende Leidenschaft wie Asami mit seinem Traum vom Lehrersein, aber vielleicht hätte ihm das gemeinsame Gespräch geholfen, seinen eher verschwommenen Lebensentwurf zu konkretisieren. Es wäre sicher hilfreich gewesen, das anstehende Vorstellungsgespräch vorher zu proben. Dann hätte er eventuell zumindest eine inoffizielle Stellenzusage erhalten.

Hätte … hätte … hätte …

Obwohl er in seinem eher ziellosen Leben wenigstens diesen einen Entschluss gefasst hatte, keine unnötige Energie auf derart vergebliche Tagträume zu verschwenden, schwirrten ihm die Worte unablässig im Kopf herum.

Mist, verdammter! Als er an der roten Ampel zum Stehen kam, nahm er die Schachtel mit den Pfefferminzdrops von der Ablage, klappte sie auf und schüttete sich kurzerhand den gesamten Inhalt in den Mund. Er zerkaute die Dragees zu einem dicken Kloß.

Es lag bestimmt am Regen, dass er in dieses negative Grübeln verfiel. Reiß dich zusammen!, schalt er sich.

Mir geht es doch eigentlich gar nicht so schlecht. Oder bin ich ein Pechvogel und schlechter dran als andere?

Er drehte das Radio lauter, um den prasselnden Regen zu übertönen. Es lief gerade Yuzus »Die Farbe des Sommers«. Gute-Laune-Musik, und ich blase hier Trübsal! Er zermalmte den Bonbonklumpen im Rhythmus des Songs, und dann sah er plötzlich Mihokos Gesicht vor sich aufscheinen – wie die Sonne, die durch die Wolkendecke hervorbricht. Soll ich für die Ferientage um das Ahnenfest eine gemeinsame Reise vorschlagen? Wir sind seit drei Monaten zusammen, da wäre es doch an der Zeit, sich näherzukommen. Wo könnte man hinfahren? Nach Okinawa? Oder nach Hokkaido? Hawaii wäre wohl zu kostspielig …

»Und nun ein Popsong, der absolute Sommer-Hit!«

Es erklang ein oft gespieltes Stück, aber ihm fiel weder der Name der Band noch der Titel ein. Er war generell nicht so bewandert in internationalem Pop, aber den Song hatte er schon häufiger gehört. Immer im Auto.

»An jenem Tag« … So lautete der erste Titel auf der Minidisc, die Tanihara mitgebracht und deren Playlist er wie immer selbst zusammengestellt hatte. Es folgte ein internationaler Popsong.

»Taniharas Special. Der Sommerhit!«

»Hör auf!«, beschwerte sich Asami, der am Steuer saß, bei Tanihara auf dem Beifahrersitz.

»Was denn! Ich sorg hier für Stimmung, damit du nicht einschläfst. Na los, alle Mann mitsingen!«

Tanihara drehte sich zur Rückbank um.

»Echt nervig, oder?«, wandte sich Fukase grummelnd an Hirosawa.

»Wieso, ist doch klasse!«, entgegnete Hirosawa wider Erwarten und verriet ihm den Interpreten und den Titel. Er habe den Song mal im Englischunterricht gehört.

Es waren die Beach Boys mit »Surfin’ U.S.A.«.

Die Nishida GmbH, Fukases Arbeitgeber, vertrieb hauptsächlich Büromaschinen und -möbel, bot als Service deren Verleih und Wartung an und handelte außerdem mit Büroartikeln. Als er in die Firma zurückkehrte, schaute der Abteilungschef Koyama von seiner Buchhaltung auf und empfing ihn mit den Worten: »Endlich sind Sie da!«

Fukase sah es Koyama oder seinen Kollegen sofort an, wenn sie ihn in einer speziellen Angelegenheit ansprachen. Von der achtzehnköpfigen Belegschaft hatte nur der Abteilungschef ein eigenes Zimmer, alle anderen saßen an Tischreihen im Großraumbüro. Auch nach fast drei Jahren in der Firma war Fukase immer noch der Grünschnabel, und es gab eigentlich nur eins, was die anderen Kollegen von ihm erwarteten: ihnen Kaffee zu kochen.

Dazu brauchte er keine besondere Vorrichtung. Fukase hatte im Jahr seines Firmeneintritts für weniger als 5000 Yen eine preiswerte Kaffeemaschine bei einem Elektrohändler erstanden, die nun in der Teeküche thronte. Die Kaffeebohnen brachte er allerdings immer selbst mit. Die gerösteten Bohnen mahlte er direkt vor der Zubereitung mit seiner eigenen Kaffeemühle per Hand. Zuerst hatte er immer nur für sich eine Tasse gebrüht, aber da die Füllmenge der Maschine für maximal zehn Tassen gedacht war und eine größere Menge Kaffee aromatischer schmeckte als nur eine einzige Tasse, hatte er schließlich den anderen auch davon angeboten, sodass sie nun alle sehnsüchtig auf sein Gebräu warteten. Inzwischen herrschte ein stillschweigendes Einverständnis, dass Fukase einmal am Tag für seine Kollegen eine Kanne Kaffee kochte.

Hochgerechnet kostete eine Tasse 100 Yen. Da er von dem Erlös die Bohnen kaufte, bot er den Kollegen außerdem an, sich gern auch selbst davon einen Kaffee zu kochen, aber die Art des Mahlens änderte sich je nach Bohnensorte und Röstgrad, sodass die meisten auf der Meinung beharrten, es sei eine Verschwendung der kostspieligen Bohnen, wenn ein Laie damit herumpfusche. Somit hatte man sich darauf geeinigt, irgendeine Billigmarke Kaffee aus dem Supermarkt zu verwenden, wenn Fukase nicht da war.

Deshalb wurde er stets nach seinem morgendlichen Außendienst bei seiner Rückkehr in die Firma aufs Wärmste empfangen.

Er ging unverzüglich zu seinem Schreibtisch, wo er die Kaffeetüte und die Mühle aus dem Schubfach nahm und die Bohnen mahlte. Im Nu duftete es auf der gesamten Etage nach frisch gemahlenem Kaffee.

»Ich trinke diese Woche zum ersten Mal davon. Was sind das für Bohnen?«, rief ihm Koyama von seinem Raum aus zu.

»Die erste Runde steht bereit!«, verkündete Fukase und fügte erklärend hinzu: »Aus Kenia, mit einem Aroma von Orange und Bitterschokolade. Die Bohnen sind dunkler geröstet als sonst und schmecken dementsprechend bitterer.«

»Oh, das schmeckt mir.«

»Ich fand den vorigen gut. Was war das für eine Sorte?«, sprach ihn seine Kollegin von gegenüber an.

»Aus Guatemala«, verkündete prompt die andere Kollegin neben ihm, bevor er den Mund aufmachen konnte.

»Das intensive Pfirsicharoma duftet herrlich, nicht wahr, Herr Fukase?«

Diese Momente waren die einzigen in seinem Leben, wo sich alles um ihn drehte.

Neben der Maschine stand ein Kästchen für die Kaffeekasse, in die jeder seinen Unkostenbeitrag gab. Fukase machte damit weder Gewinn, noch variierte er den Preis je nach Kaffeesorte.

Im Schnitt deckte es seine Ausgaben, obwohl die verschiedenen Mischungen zwar nicht die höchste Qualität ausmachten, aber immer noch edler waren als die Kaffeesorten im Supermarkt. So kaufte er jede Woche eine andere Mischung, womit er, und sei es auch nur für ein paar Minuten, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte. Obwohl er den älteren Kollegen den Vortritt anbot, freute es ihn, wenn sich alle in einer Reihe anstellten, um sich erst nach ihm die eigenen Tassen zu füllen.

Zwar war es kein aufsehenerregendes Talent, aber immerhin verschaffte es ihm ein gewisses Ansehen in der Firma. So hatte er in seinem jetzigen Umfeld wenigstens etwas, was ihm Anerkennung einbrachte.

Auch vor seinem Berufsleben hatte es zumindest eine Handvoll Leute gegeben, denen er damit eine Freude gemacht hatte. Der Professor und die Studenten im Seminar priesen seine Kunst, und einer seiner Kommilitonen bedachte Fukase sogar mit einem besonderen Kompliment: Er habe noch nie in seinem ganzen Leben einen derart köstlichen Kaffee getrunken.

Welche Erleichterung wäre es doch, wenn ich das alles komplett vergessen könnte! Die Erinnerung an das schreckliche Ereignis, die Fukase in zahllosen Nächten im Kopf herumspukte, suchte ihn immer wieder ganz unvermittelt heim, nur das Kaffeetrinken verschaffte ihm einen kleinen Trost. Zugleich aber überfiel ihn auch ein Gefühl von Ohnmacht: Mehr hatte er damals nicht ausrichten können.

Hätte ich ihm doch wenigstens einen Kaffee aus edleren Bohnen zubereiten können!

In die Apartmentanlage Pearl Heights war Fukase zeitgleich mit seinem Arbeitsbeginn bei der Nishida GmbH gezogen. Für das Ein-Zimmer-Apartment mit Bad zahlte er monatlich 60 000 Yen. Die Studentenbude, in der er zuvor gewohnt hatte, war eigentlich günstiger – von ähnlicher Art wie die jetzige Wohnung, bei einer Miete von nur 40 000 Yen. Außerdem hätte er von dort seine Arbeitsstelle direkt mit der U-Bahn erreichen können, ohne umsteigen zu müssen. Aber er wollte mit dem Umzug einen deutlich sichtbaren Schlussstrich unter seine Uni-Zeit ziehen, auch wenn er weiterhin das Mobiliar sowie den Kühlschrank und die anderen Haushaltsgeräte aus der alten Wohnung benutzte. Dennoch versuchte er sich einzureden, dass er mit jener Phase seines Lebens abgeschlossen hatte.

Er konnte nun zwar die Privatbahn nehmen, die ebenfalls direkt bis zur Firma fuhr, aber bis zur Station war es ein zwanzigminütiger Fußweg. Zumindest an Tagen, wo es regnete, musste er laufen, während er sonst die Strecke mit dem Fahrrad, einem Vehikel aus seiner Schulzeit, zurücklegte.

Das Café Clover hatte er etwa ein Vierteljahr später entdeckt. An jenem Tag regnete es unaufhörlich. Obwohl der Wetterbericht vorausgesagt hatte, dass es zum frühen Abend hin aufhören sollte, schüttete es nach wie vor, als er aus dem Bahnhofsgebäude trat.

Nachdem er in der Imbisskette Yoshinoya am Bahnhofsvorplatz zu Abend gegessen hatte, ließ der Regen endlich nach. Fukase lief ohne Schirm durch die Einkaufspassage weiter zum Wohnviertel mit der Sackgasse, in der sein Apartment lag. Kurz vor seinem Ziel spürte er erneut Regentropfen im Gesicht.

Er überlegte, ob er seinen Schirm noch einmal aufspannen sollte, und blieb kurz stehen. Da entdeckte er zufällig das kleine Holzschild am Ende der kurzen Seitenstraße, auf dem mit Katakana-Silben der Name Café Clover stand. Darunter konnte er trotz schummriger Außenbeleuchtung in kleinerer Schrift den Zusatz Spezialshop für Kaffeebohnen erkennen.

Dass es so einen Laden gab! Fukase steuerte wie magisch davon angezogen darauf zu. Obwohl er sich etwas auf seine Kunst der Kaffeezubereitung einbildete und nur edle Bohnen dafür verwenden wollte, kaufte er diese mit Rücksicht auf seinen Geldbeutel doch größtenteils in Supermärkten. Aber nun schien er zum ersten Mal ein Spezialgeschäft für Kaffeebohnen entdeckt zu haben …

Der Laden hatte eine Glasfront und befand sich im Erdgeschoss eines gewöhnlichen Wohnhauses. Wäre das Schild nicht gewesen, hätte man ihn für eine normale Privatwohnung mit gepflegtem Vorgarten halten können.

War das hier wirklich das Café? Fukase schaute sich zweifelnd um, ob es sich nicht eher in einem der anderen Häuser in der Nähe befand. Als Student hätte er sich vermutlich nicht hineingetraut, aber nun, wo er im Außendienst zu tun hatte, kostete es ihn keine große Überwindung mehr.

Es bimmelte, als er die Holztür öffnete, und eine heiter beschwingte Stimme begrüßte ihn: »Willkommen!«

Eine Frau im Alter etwa zwischen ihm und seinen Eltern stand hinter der Theke im Eingangsbereich.

Das Interieur war im Gegensatz zu dem lockeren Willkommensgruß sehr gediegen im Landhausstil gehalten. In einem offenbar selbst gezimmerten Regal standen mächtige Glasbehälter, insgesamt zwölf, jeweils drei pro Brett, allesamt mit gerösteten Kaffeebohnen gefüllt. Dazwischen entdeckte er kleine Figuren, Männer in Ponchos und Esel – Andenken, die an Zentral- und Südamerika erinnerten, was dem Laden das Flair eines Kolonialwarenladens verlieh.

Neben den Glasbehältern standen handgeschriebene Schilder, einige priesen Spezialmischungen wie Clover Blend, Italian Blend, Ice Coffee Blend an. Aus dem Supermarkt kannte er Sorten wie Kilimandscharo, Mokka, Blue Mountain, aber hier entdeckte er keine einzige gängige Sorte. Stattdessen las er Namen zentral- und südamerikanischer Herkunftsgebiete wie Guatemala, Nicaragua, Costa Rica, El Salvador, Brasilien, Honduras, Peru. Vertreten waren auch Mischungen aus anderen Regionen wie Kenia und Indonesien. Mit Erstaunen bemerkte er auf den Etiketten mit den verschiedenen Provenienzen die jeweilige Geschmacksnote, die als Beschreibung hinzugefügt war: Aroma von tropischen Blüten & Pfirsich … Melone & Mango … dunklen Kirschen & Himbeer.

Was haben denn Blumen- und Fruchtaromen in Kaffeesorten zu bedeuten?, hätte er die Inhaberin fragen können, aber das brachte er nicht so einfach über sich. Sein Leben würde gewiss bequemer verlaufen, wenn er sich schlichtweg danach erkundigen würde, was er nicht wusste, oder ablehnen würde, Dinge zu tun, die ihm nicht lagen. So weit reichte seine Selbsteinschätzung immerhin.

Er überlegte, ob er sich eine solche Mischung kaufen sollte.

»Ah, Sie sind wohl zum ersten Mal hier bei uns? Wollen Sie nicht nach hinten gehen und eine Kostprobe genießen?«, lud die Wirtin ihn ein und wies zum Ende des Regals, wo sich ein Durchgang befand. Es war allerdings nicht klar erkennbar, ob der Laden dort weiterführte oder bereits der Privatbereich anfing. Fukase blieb unschlüssig stehen, worauf die Frau hinter der Theke hervortrat und ihn nach hinten geleitete.

Der Gang führte in einen Raum, in dem ein Röster und riesige Jutesäcke standen. Daneben gab es eine Sitzgelegenheit zum Kaffeetrinken – ein schmaler Bereich mit einer Holztheke und sechs Barhockern davor. Hinter der Theke stand ein Mann im etwa gleichen Alter wie die Frau. Von ihr erfuhr Fukase, dass er der Inhaber sei und sie seine Ehefrau, die für Service und Verkauf im Laden zuständig sei. Ihr Mann hatte in diesem Frühjahr seinen Job als Angestellter aufgegeben, um gemeinsam mit ihr das Geschäft zu eröffnen.

»Ich habe auch in diesem Frühjahr zu arbeiten angefangen und bin deshalb in diese Gegend gezogen.«

Fukase fasste Zutrauen zu den beiden und konnte relativ ungezwungen über sich erzählen.

»Ach, dann hatten wir also zur gleichen Zeit unser Debüt. O je, das klingt ja, als wären wir Popstars.«

»Haben Sie eine Bohnensorte entdeckt, die Sie besonders interessiert?«

Der Wirt, der stockend und nur halb so schnell wie seine eloquente Frau sprach, war ihm sehr sympathisch. Er berichtete, dass er für den Einkauf zu den Anbauregionen in aller Herren Länder reiste.

»Was als Liebhaberei begann, ist mittlerweile eine ausgewachsene Obsession«, gestand er und kratzte sich verlegen am Kopf, doch Fukase reagierte voller Bewunderung:

»Das ist doch großartig!«

»Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen eine Einführung geben«, schlug der Wirt mit wachsender Begeisterung vor. Seine Augen funkelten voller Stolz.

Fukase nickte, worauf der Wirt eine Kostprobe einer Mischung aus Honduras ankündigte, wo er zuerst hingereist war. Er bat seine Frau, ihm eine Portion aus der Verkaufsecke zu bringen. In einer Maschine aus deutscher Fabrikation bereitete er sorgfältig einen Espresso.

»Köstlich!«, rief Fukase.

In seinem Mund entfaltete sich ein erfrischend säuerliches Aroma, aus dessen Tiefe ein leicht süßlicher Geschmack aufstieg. Blaubeer-Schokoladen-Note, erklärte ihm der Wirt, was Fukase sich nun geschmacklich offenbarte.

Während Fukase stotternd dem Chef seinen persönlichen Eindruck mitzuteilen versuchte, fiel ihm auf, wie armselig sein Vokabular war. Seine Unbedarftheit machte ihm zu schaffen. Je verzweifelter er um die richtige Worte rang, desto verschrobener klang das alles.

Aber der Wirt ließ sich freundlich auf Fukases Stammelei ein: »Aha, so schmeckt das also. Nun ja, warum nicht.«

Es war schließlich nach Mitternacht, als Fukase bei seinem ersten Besuch das Café verließ. Er hatte zwar nach der zweiten Tasse nur noch aus Mokkatässchen getrunken, aber insgesamt waren es dann doch zwölf Kostproben geworden. Als es ans Bezahlen ging, wollte der Wirt nur eine Tasse berechnen, worauf ein langwieriges, ungeschicktes Hin und Her folgte, bis Fukase schließlich nachgab. Der Mann war in seiner ruhigen Art ein harter Brocken. Die Rechnung belief sich auf lediglich 300 Yen. Der Verkaufspreis für einhundert Gramm Bohnen schwankte je nach Qualität zwischen 500 und 2000 Yen, aber wenn man an der Theke eine Tasse trank, zahlte man unabhängig von der Sorte immer den gleichen Preis.

In Sachen Kaffee besitze er zwar bereits ein gewisses Know-how, sagte der Wirt, aber noch reiche seine Könnerschaft nicht aus, um einen Beruf daraus zu machen.

Fukase wiederum wusste, dass er dem Inhaber lange nicht das Wasser reichen konnte, was seine Fertigkeiten in der Kaffeezubereitung anbelangte. Aber anstatt sich unzulänglich zu fühlen, freute er sich darüber, dass sich ihm nun eine neue Welt eröffnen würde. Er warf einen Blick auf das Aushängeschild, das bereits hinter der Theke verstaut lag, und informierte sich über die Öffnungszeiten des Cafés, das eigentlich um 21.00 Uhr schließen sollte. Als die Ehefrau ihm einen guten Heimweg wünschte, verneigte er sich auch vor ihr sehr tief.

»Alles Gute! Schauen Sie gern mal wieder bei uns vorbei!«

Oh, das hat Spaß gemacht! Draußen vor dem Laden nahm Fukase einen tiefen Atemzug und schaute zum Himmel empor. Es war eine sternenklare Nacht.

Am folgenden Tag suchte er abermals das Café auf, wenn auch unter dem Vorwand, seinen Schirm vergessen zu haben, und von da an machte er es sich zur täglichen Gewohnheit, nach der Arbeit dort einzukehren.

Das Café anderen gegenüber als Stammlokal zu erwähnen, hätte seine Bescheidenheit nicht zugelassen, aber insgeheim erschien ihm sein Leben durch die Entdeckung plötzlich genau wie der Kaffee: stark, intensiv und hocharomatisch.

»Fukase-kun, essen Sie morgens Brot zum Frühstück?«, sprach ihn die Wirtin hinter der Theke an, als er an seinem Lieblingsplatz ganz hinten gedankenverloren seinen Kaffee schlürfte.

»Wenn ich etwas esse, dann in der Regel Brot, aber meistens nehme ich nur einen Kaffee zu mir.«

»Das ist aber nicht gut. Ein junger Mensch muss doch ordentlich frühstücken. Genügend Zucker ist auch wichtig.«

»Aber ich gebe doch viel Milch und Zucker in meinen Morgenkaffee.«

Im Laden trank er den Kaffee schwarz, um den Eigengeschmack der Bohnen voll auszukosten.

»Ach, dann mögen Sie es süß. Hier …«

Die Wirtin stellte geräuschvoll ein Glas auf die Theke. Es enthielt eine bernsteinfarbene klebrig-zähe Flüssigkeit.

»Darf ich Ihnen ein Gläschen schenken? Hausgemacht, ich bekomme den Honig von meinen Eltern.«

Ihr Vater habe nach der Pensionierung mit einigen Anwohnern aus der Region eine Imkerei eröffnet. Die Bauern bildeten den Mittelpunkt der Kooperative, während die anderen Mitglieder individuell die Bienenstöcke im eigenen Garten oder auf dem Acker oder Reisfeld aufstellten. Nach einer gewissen Zeit würden dann sämtliche Erträge gemeinschaftlich zusammengebracht werden.

»Letztes Jahr reichte die Menge gerade mal für Sirup zum Eierpfannkuchen, aber in diesem Jahr gab es einen reichen Ertrag. Sogar wir haben fünf Gläser erhalten. Man muss aber nicht extra Pfannkuchen dafür backen, auf Toast schmeckt er auch wunderbar, wenn man den vorher dick mit Butter bestreicht.«

»Oh …«

Fukase hob das Gläschen hoch, was die Oberfläche zum Schwappen brachte. Der Honig sah so gut aus, dass eigentlich nur noch ein Etikett fehlte, um ihn im Geschäft zum Verkauf anbieten zu können.

Als die Wirtin ihn aufforderte, davon zu kosten, bimmelte die Türglocke. Sie eilte sogleich in den Ladenbereich. Der Wirt war seit einer Woche auf Handelsreise, um Bohnen einzukaufen. Diesmal tourte er in afrikanischen Ländern wie Kenia und Tansania herum. Die Wirtin zeigte Fukase ein aktuelles Foto aus Tansania, wo ihr Mann braun gebrannt und lachend in einer Kaffeeplantage zu sehen war.

Fukase stellte das Honigglas vor sich auf den Tresen zurück.

War Imkerei populär geworden? Diesmal entsprach die Portion wenigstens einer überschaubaren Menge …

»Ich habe ihn von zu Hause geschickt bekommen, hast du vielleicht eine Verwendung dafür?«

Es war im achten Semester auf der Uni gewesen, als Hirosawa bei einem Besuch in Fukases Apartment ein Riesenglas Honig anschleppte. Hirosawa brachte hin und wieder Gebäck oder Donburi mit Rindfleisch mit, wenn er zu Fukase kam, aber diesmal drohten die Henkel der Einkaufstüte zu reißen, so schwer war der Inhalt.

Er packte die Tüte aus und knallte den Behälter lautstark auf den Kotatsu, der nicht mehr heizte, sondern nur noch als Tisch diente. Das Einweckglas war so groß, dass es eine Jahresration Salzpflaumen hätte fassen können, und war randvoll mit der bernsteinfarbenen klebrig-zähen Flüssigkeit gefüllt.

»Ein Onkel von mir ist Imker. Ich bin zwar ein Süßschnabel, aber das hier überfordert mich. Was soll ich nur damit anfangen? Meine Mutter hätte das ja mal bedenken können, bevor sie diesen Brocken losschickt.«

Das war ein so bombastisches Geschenk, dass Fukase schlecht ablehnen konnte.

»Ich weiß zwar auch nicht, was ich damit machen soll, aber ich kann mir ja erst mal was davon in eine Tupperdose abfüllen. Oder soll ich mir im 100-Yen-Shop einen Glasbehälter kaufen?«

»Nein, du kannst das alles hier behalten.«

Er habe in seiner Wohnung noch zwei solcher Gläser. Fukase erlebte Hirosawa das erste Mal ungehalten, aber wenn ihm das mit seiner Mutter passiert wäre, hätte er selbst wohl noch vehementer Einspruch erhoben.

»Wir können ja später überlegen, was man damit anstellen kann. Ich mach uns erst mal einen Kaffee.«

Das war ihr übliches Ritual, wenn Hirosawa seinem Freund einen Besuch abstattete.

Sie schauten sich dann eine Unterhaltungssendung im Fernsehen an oder einen Film aus dem Video-Verleih um die Ecke. Manchmal brachte Hirosawa auch eine DVD mit Rakugo-Varieté mit.

Fukase hatte keine Ahnung, ob das nun die richtige Art war, Kontakte zu Leuten seines Alters zu pflegen. Dabei war er vorher nicht völlig einsam gewesen. Es gab zwar mal eine Zeit lang arge Probleme mit seinen Klassenkameraden auf der Junior Highschool, aber ein echter Außenseiter war er nie gewesen. Nur einen ganz engen Freund hatte er seit seiner Grundschulzeit nie gehabt. Angenommen, jeder seiner Mitschüler sollte fünf Freunde aufzählen, würden vielleicht drei aus der Klasse Fukases Namen notieren, aber wenn nur der »beste Freund« zu nennen wäre, würde er wohl nie erwähnt werden. Und derjenige, den Fukase als seinen einzigen Freund bezeichnete, würde hingegen Fukase vielleicht nicht einmal zu seinen fünf Vertrauenspersonen zählen.

Für ihn war das die beschämendste Sache der Welt. Der Wert eines Menschen bemaß sich nach der Anzahl seiner Freunde. Obwohl ihm das nie jemand gesagt hatte, war er überzeugt davon. Inwieweit wurde er wohl von anderen gemocht? Inwieweit vertraute man ihm? Es ging nicht um eine große Anzahl an Freunden. Auch nicht darum, dass ihm jeder recht wäre. Es musste ein wertvoller Freund sein, um den ihn andere beneideten.

Doch während der Grundschulzeit, als Fukase bereits ein vages Bewusstsein dafür entwickelte, gab es nicht einen einzigen Kandidaten dafür in seinem Umfeld. Den Grund dafür begriff er sofort. Er war komplett unsportlich. Darüber hinaus war er auch nicht der coole Typ, der zur Begrüßung einen lockeren Spruch auf den Lippen hatte. Während der Pausen redete niemand mit ihm, weil er seine Nase ständig in die Bücher steckte. Ich verzichte doch nicht auf meine Lektüre, bloß um mit irgendwelchen Idioten herumzualbern, versuchte er sich dann einzureden, aber klammheimlich schielte er doch zu den anderen Cliquen, bei denen es lebhaft zuging.

Als er auf die Junior Highschool wechselte, hatte er die Hoffnung gehegt, dass Schüler mit guten Noten respektiert würden, aber es stellte sich heraus, dass diejenigen, die im Klassenzimmer johlten und lachten, die gleichen anerkannten Typen wie in der Grundschule waren. Doch daran war nun mal nichts zu ändern. Es interessierte niemanden, wer gute Leistungen erbrachte, und außerdem bekamen es die Schüler untereinander gar nicht in Erfahrung. In der Schule, die Fukase besuchte, wurden die Noten der Semestertests nicht bekannt gegeben. Zu Schulzeiten seiner Eltern wurden die Prüfungsergebnisse am Schwarzen Brett im Korridor angeschlagen. Wäre er damals aufgewachsen, wäre seine Position wohl besser gewesen. Sich hinter Buchdeckeln versteckend, verfluchte Fukase die sogenannte zwanglose Erziehung. Immerhin interessierten sich manchmal, wenn auch höchst selten, Mitschüler für das, was er las, oder hatten denselben Lieblingsautor. Damit hatte er nun Freunde, denen er Neuerscheinungen lieh oder mit denen er nach der Schule in einen Buchladen gehen konnte, aber während der Unterrichtszeit, die er mit ihnen verbrachte, fühlte er sich niemals so recht wohl.

Mit dem Eintritt in die Oberstufe glaubte er, seine Stärken nun unter Beweis stellen zu können. Er hatte sich mit seinem Abschlusszeugnis für ein Privatcollege qualifiziert, das in der Region als weiterführende Schule mit dem höchsten Numerus Clausus und den schärfsten Aufnahmebedingungen bekannt war. Aber im zweiten Schuljahr wurde bei seinem Vater Krebs diagnostiziert, und von da an wurde sein Leben durch den Kampf gegen die Krankheit bestimmt. Die Firma für Nahrungsmittelverarbeitung, in der sein Vater angestellt war, baute zwar keine Stellen ab, aber es war ein Unternehmen, das die Gehälter bei vorübergehender Freistellung nicht weiterzahlte. Unter diesen Umständen brachte Fukase es nicht übers Herz, seinen Eltern zu sagen, dass er auf eine Privatschule gehen wollte, und besuchte deshalb die nächstgelegene öffentliche Oberschule. Zwar blieben die Idioten im Raster hängen, aber ein Drittel seiner Mitschüler aus der Mittelstufe hatte es ebenfalls hierher verschlagen, sodass sich an seiner Situation kaum etwas änderte.

Um so zu leben, wie es angemessen für mich wäre, muss ich dieses Provinzkaff hinter mir lassen, begriff er damals.

Sein Vater wurde erfolgreich operiert, und er konnte wieder ins Berufsleben zurück, worauf Fukase anstrebte, auf eine städtische Universität mit hohem NC