Gestern waren wir unendlich - Dominik Gaida - E-Book

Gestern waren wir unendlich E-Book

Dominik Gaida

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Beschreibung

Was wäre, wenn du den schlimmsten Moment deines Lebens noch einmal erleben müsstest? Henry ist der Mensch, von dem Louis immer geträumt hat. Er ist sein Partner, sein bester Freund, die Liebe seines Lebens. Doch darauf nimmt das Schicksal keine Rücksicht. Als die beiden in einen schweren Autounfall verwickelt werden, stirbt Henry. Für Louis bleibt die Welt stehen – buchstäblich. Denn als er am nächsten Morgen aufwacht, ist Henry wieder da. Derselbe Tag beginnt von vorn. Louis kann es kaum glauben. Muss er den schlimmsten Moment seines Lebens noch einmal erleben? Oder ist das die Chance, Henry zu retten? Ebenso herzzerreißend wie originell. Band 1 des Death Duets von Dominik Gaida.  Queere New-Adult-Romance für alle Fans von Adam Silvera und Dustin Thao.

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EPUB
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Seitenzahl: 491

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dominik Gaida

Gestern waren wir unendlich

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Was wäre, wenn du den schlimmsten Moment deines Lebens noch einmal erleben müsstest?

 

Henry ist der Mensch, von dem Louis immer geträumt hat. Er ist sein Partner, sein bester Freund, die Liebe seines Lebens. Doch darauf nimmt das Schicksal keine Rücksicht. Als die beiden in einen schweren Autounfall verwickelt werden, stirbt Henry. Für Louis bleibt die Welt stehen – buchstäblich. Denn als er am nächsten Morgen aufwacht, ist Henry wieder da. Derselbe Tag beginnt von vorn. Louis kann es kaum glauben. Muss er den schlimmsten Moment seines Lebens noch einmal erleben? Oder ist das die Chance, Henry zu retten?

 

Ein Roman über die große Liebe, Abschiede, Neuanfänge – und alles, was dazwischenliegt.

Vita

Dominik Gaida arbeitet nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr in Südafrika und seinem Psychologie-Studium heute als Psychotherapeut. Er hat bereits unter Pseudonym mehrere Hörbuchskripte geschrieben, mit der Brynmor-Trilogie – drei College Romances mit Dark-Academia-Setting – trat er erstmals mit seinem eigenen Namen an die Öffentlichkeit. Nun beschreitet er mit dem Death Duet neue Wege. Die beiden Bücher erzählen queere Liebesgeschichten vor einem einzigartigen Hintergrund: In Band 1 ist der Held am Todestag seiner großen Liebe in einer Zeitschleife gefangen, in Band 2 wird der Tod selbst zur Hauptfigur. Als Own-Voice-Autor möchte Dominik Gaida zur Sichtbarkeit der LGBTQIA+-Community beitragen. Er ist auf Instagram (@dominikgaida) und TikTok (@dominik.gaida) zu finden.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Janika Mielke

Motto auf Seite 7 aus dem Song «Wait for it» aus dem Musical «Hamilton». Melodie und Text von Lin-Manuel Miranda.

Zitat auf Seite 227 aus dem Song «Do I Love You» von The Ronettes. Melodie und Text von Phil Spector, Pete Andreoli und Vini Poncia.

Zitat auf Seite 251 f. aus dem Song «The Cave» von Mumford & Sons. Melodie und Text von Marcus Mumford, Ben Lovett, Winston Marshall und Ted Dwane.

Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun

Coverabbildung Karmen Loh; Shutterstock

ISBN 978-3-644-02314-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Hinweise des Verlags

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Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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www.rowohlt.de

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Wenn du dich darüber informieren möchtest, findest du auf unserer Homepage unter www.endlichkyss.de/unendlich eine Content-Note.

Für Christiane

Death doesn’t discriminate

Between the sinners and the saints

It takes and it takes and it takes …

 

aus «Hamilton»

Playlist

Leave Me Alone – New Order

Everlasting Love – Love Affair

Do I Love You? – The Ronettes

Let’s Fall in Love for the Night – FINNEAS

Nothing’s Gonna Hurt You Baby – Cigarettes After Sex

Experience (In A Time Lapse) – Ludovico Einaudi

Forever Young – Alphaville

Lover’s Spit – Broken Social Scene

The Cave – Mumford & Sons

Only a Lifetime – FINNEAS

Save the Last Dance for Me – The Drifters

Till Forever Falls Apart – Ashe & FINNEAS

PrologHenry

09. Juli, vor drei Jahren

Auf der anderen Seite der Wiese sitzt der traurigste Junge der Welt.

Und ich habe keine Ahnung, was ich tun soll.

Ihn ansprechen? Fragen, ob er Hilfe braucht? Oder ihn lieber in Ruhe lassen? Genau darüber zerbreche ich mir seit vierzehn Minuten und siebenundzwanzig Blicken den Kopf. Jetzt werfe ich dem Unbekannten einen weiteren zu.

Nummer achtundzwanzig.

Von dem, was um ihn herum passiert, scheint er nichts mitzubekommen. Die Touristen und Jogger, die ihn im Vorbeilaufen anstarren, die Wolken, die sich auf der anderen Seite der San Francisco Bay zusammenbrauen und die Türme der Golden Gate Bridge verhüllen … Ja, nicht einmal von mir nimmt er Notiz. Und das, obwohl uns kaum dreißig Schritte trennen und ich mir keine Mühe gebe, meine Neugier und Hilflosigkeit zu verbergen. Alles und jeder ist Luft für ihn, mal abgesehen von den Grashalmen, die er gedankenverloren aus dem Boden rupft und in klitzekleine Stücke zerreißt.

Er ist in meinem Alter. Achtzehn, höchstens neunzehn. Seine Haut ist blass, fast durchschimmernd hell, seine rehbraunen Haare werden vom kühlen Wind zerzaust. Unter seiner blau-weißen College-Jacke lugt ein beigefarbener Sweater hervor, dazu trägt er eine Jeans, die an den Knien zerrissen ist, und leicht verdreckte Sneaker.

Während ich ihn so ansehe, schlägt mein Herz noch ein bisschen schneller als bei den siebenundzwanzig Blicken davor. Er ist süß. Aber verdammt! Das ist etwas, woran ich nicht mal denken sollte. Nicht solange ihm die Tränen wie ein Wasserfall über die Wangen laufen. Stattdessen sollte ich ihn endlich ansprechen. Wäre ich an seiner Stelle, würde ich mir bestimmt wünschen, dass jemand auf mich zukommt, und sei es nur, damit ich nicht das Gefühl hätte, allein zu sein. Ob er es sich wünscht, weiß ich natürlich nicht. Ich werde es allerdings auch nicht herausfinden, wenn ich hier noch länger wie angewurzelt stehen bleibe.

Warum habe ich überhaupt so viel Zeit verstreichen lassen? Verärgert über mich selbst wende ich mich von dem Jungen ab und halte Ausschau nach Cooper.

Crissy Field, der frühere Flugplatz, wurde nach seiner Stilllegung zu einem Naherholungsgebiet mit Grünflächen, Aussichtspunkten und Picknickplätzen umgestaltet. Vor allem in den Sommermonaten ist hier manchmal echt viel los. Aber an einem Nachmittag wie heute kann ich Coop nach Herzenslust laufen lassen.

«Cooper!», rufe ich – und sehe ihn in genau diesem Moment mit seinem zerknautschten Ball im Maul auf mich zustürmen. Wenige Augenblicke später lässt er ihn vor mir auf die Wiese fallen. «Gut gemacht, Süßer.»

Hechelnd sieht Cooper zu mir auf. Keine Frage, wenn es nach ihm ginge, wären wir hier noch lange nicht fertig. Vermutlich könnte er noch die nächste halbe Stunde dem Ball hinterherjagen. Oder den ganzen Nachmittag.

Aber das müssen wir auf ein anderes Mal verschieben.

«Siehst du den Jungen da vorn?» Ich deute mit dem Kopf in Richtung des Unbekannten. Dann hebe ich den Ball auf, verstaue ihn in meinem Jutebeutel und befestige die Schleppleine an seinem Halsband. «Es geht ihm nicht gut.»

Cooper bellt und stupst mit der Schnauze gegen den Beutel. Damit will er mir offenbar zu verstehen geben, wie wenig er von meinen Absichten hält. Aber meine Entscheidung steht. «Komm.»

Während wir uns dem Jungen nähern, beobachte ich, wie ein weiterer Jogger an ihm vorbeiläuft. Kurz drosselt der Mann das Tempo, zieht die Geschwindigkeit jedoch gleich wieder an. Auch ich gehe nun etwas schneller. Trotzdem kommt es mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis Cooper und ich vor dem Jungen stehen.

«Hey.»

Statt zu mir aufzublicken, hält er den Kopf gesenkt und zerrupft den nächsten Grashalm in seine Einzelteile.

«Sorry … Also, ich will dich nicht stören oder so. Aber ich habe dich gesehen. Von da drüben.» Beiläufig zeige ich über meine Schulter auf die Stelle, an der ich bis eben gestanden habe. Was ich mir, wie mir sofort klar wird, genauso gut hätte sparen können. Der Junge sieht mich noch immer nicht an.

Scheiße.

Und jetzt?

Es vergehen ein paar Sekunden, in denen das Schweigen so drückend wird, dass es mir fast die Kehle zuschnürt. Sekunden, in denen mein Kopf auf Hochtouren läuft und gleichzeitig auf der Stelle tritt.

Der Junge ist traurig. Todtraurig. Und alles, was mir im Wesentlichen bisher eingefallen ist, ist: Hey.

Und: Also, ich will dich nicht stören oder so.

Das ist großes Kino. Das ist wirklich großes Kino.

Aber wenn er nichts sagt, muss ich etwas sagen. Ich war nie gut darin, Stille auszuhalten.

Gerade, als ich den Mund öffne, macht Cooper ein paar Schritte auf ihn zu.

«Coop, nicht!» Weil er dem Jungen so nah kommt, will ich schon zurückziehen, allerdings streckt der in diesem Moment die Hand aus.

«Ist das ein Labradoodle?» Er spricht so leise, dass ich mich anstrengen muss, um ihn zu verstehen. Aber er hat gesprochen. Ich habe es mir nicht eingebildet.

«Ja. Sein Name ist Cooper.»

Noch immer sieht der Junge nicht zu mir auf. Stattdessen ist sein Blick fest auf Cooper gerichtet. «Darf ich ihn … Ich meine, ist es in Ordnung, wenn ich ihn streichle?»

«Klar!»

Er hält seine flache Hand an Coopers Schnauze, woraufhin Coop seine Fingerspitzen beschnüffelt. Als er sie nach kurzem Zögern abschleckt, huscht mir ein erleichtertes Lächeln übers Gesicht.

«Darauf kannst du dir was einbilden. Normalerweise ist er ein ziemlicher Angsthase.»

Der Junge fährt mit der Hand durch Coopers hellbraunes Fell und krault ihm das rechte Schlappohr. «Wie alt ist er?»

«Elf Monate. Wir haben ihn von einer Züchterin aus Sausalito. In den ersten Wochen ist er total schüchtern gewesen und hat sich ständig irgendwo im Haus verkrochen. Wenn wir mit ihm Gassi waren, ist er bei jedem Hupen und jedem Sirenengeheul zusammengezuckt. Deshalb sind wir mit ihm zu einer Hundetrainerin gegangen, die uns meine beste Freundin Jess empfohlen hat, und …» Unwillkürlich beiße ich mir auf die Lippe. Wie immer, wenn ich nervös bin, plappere ich einfach drauflos. Ziemlich sicher interessiert es den Jungen herzlich wenig, was meine Familie und ich unternommen haben, um Cooper seine Ängste zu nehmen.

«Und dann?», fragt er zu meiner Überraschung.

«Wir haben regelmäßig mit ihm trainiert und ihn an alle Situationen herangeführt, vor denen er sich gefürchtet hat», fahre ich etwas weniger verunsichert fort. «Das hat natürlich gedauert, aber mit der Zeit hat Coop mehr und mehr Vertrauen gefasst. Mittlerweile ist alles in Ordnung. Na ja, nicht alles, aber das meiste zumindest.»

Der Junge nickt, stellt allerdings keine weitere Frage – und erneut breitet sich eine unangenehme Stille zwischen uns aus. O Gott, ich bin wirklich die letzte Person, die so ein Gespräch führen sollte!

«Jedenfalls … Ich habe dich gesehen», starte ich einen neuen Versuch. «Von da drüben. Und ich … Ich wollte fragen, ob bei dir alles in Ordnung ist. Wobei, nein, ich meine, ich sehe ja, dass bei dir nicht alles in Ordnung ist. Deswegen wollte ich dir meine Hilfe anbieten. Also, vorausgesetzt, dass du das willst, versteht sich.»

Erst jetzt hebt der Junge den Kopf. Sieht mich an. Und genau in dem Moment, in dem sich unsere Blicke treffen, springt seine Traurigkeit wie ein Funke auf mich über. Seine türkisgrünen Augen – Augen, mit denen er in jeder anderen Situation den allermeisten den Kopf verdrehen würde – sind wässrig und blutunterlaufen, die Ränder gerötet. In ihnen liegt so viel Schmerz.

Mehr Schmerz, als ich je bei einem Menschen gesehen habe.

Mehr Schmerz, als ich selbst fast ertragen kann.

Und wenn es mirso geht – wie muss es ihm erst gehen?

«Du …», setze ich an, verstumme jedoch abrupt, denn mein Blick ist auf eine rote Linie direkt unter seinem linken Auge gefallen: eine kleine Wunde, die zwar nicht mehr blutet, aber auch nicht älter als ein paar Stunden sein kann. Weil er bisher den Kopf gesenkt gehalten hat, konnte ich sie nur nicht früher sehen.

Plötzlich gesellt sich zum Schmerz etwas anderes.

Wut.

Und jede Menge Fragen.

«Wurdest du geschlagen?»

Statt Cooper zu streicheln, zieht der Junge die Hand zurück und zupft weiter Grashalme aus der Erde. «Nein, wurde ich nicht.»

«Das sieht aber ganz danach aus.»

«Ich bin nicht geschlagen worden!»

«Und wie hast du dir die Wunde dann zugezogen?»

«Das war …» Er schüttelt den Kopf. Zögert kurz. «Bist du wirklich auf mich zugekommen, um mir deine Hilfe anzubieten?»

«Ja, bin ich.»

«Kann ich dich dann was fragen?»

Das kommt unerwartet. «Ja, klar», sage ich trotzdem.

«Hast du schon mal das Gefühl gehabt, dass du etwas nicht siehst? Etwas, das total offensichtlich ist, meine ich?»

Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, worauf er hinauswill oder was das mit seiner Verletzung zu tun hat. Aber die Chancen, dass er mir verrät, wer ihn geschlagen hat, stehen wohl schlecht, solange er mir nicht vertraut.

«Einmal gab es da eine Sache, die ich viel früher hätte erkennen können», sage ich daher.

«Und was hast du getan, als du diese Sache bemerkt hast?»

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal mit jemandem darüber gesprochen habe. Es muss auf jeden Fall mehrere Monate her sein. Wenn ich dem Jungen helfen will und wenn meine Antworten das sind, was er gerade braucht, wäre es wohl das Beste, keine Ausflüchte zu machen.

«Ich habe etwas getan, was ich mir nie zugetraut hätte.» Noch während ich spreche, tauchen Bilder und Erinnerungen auf, die ich am liebsten für immer aus meinem Gedächtnis löschen würde. Mit aller Kraft schiebe ich sie beiseite und zwinge mich, meine Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen zu richten. «Ich bin für mich eingestanden und habe eine Grenze gezogen. Das ist mir ziemlich schwergefallen. Und es hat sehr wehgetan. Aber ich glaube trotzdem, dass es die richtige Entscheidung war. Nein, ich weiß, dass es die richtige Entscheidung war.»

Der Junge lässt meine Worte auf sich wirken. «Es hat wehgetan», wiederholt er langsam, als würde er zu sich selbst sprechen.

«Manchmal tut es auch jetzt noch weh», gebe ich zu. «Aber ich würde jederzeit wieder so handeln.»

Gedankenverloren krault der Junge ein weiteres Mal Coopers Ohr. Es erweckt den Anschein, als wollte er sich dadurch ein bisschen Zeit verschaffen. Dann, als er gerade den Mund öffnet, fällt ihm ein Regentropfen auf die Wange. Fast gleichzeitig heben wir die Köpfe und sehen nach oben.

In den letzten Minuten habe ich mich so sehr auf unser Gespräch konzentriert, dass ich die Wolken vollkommen vergessen habe, die sich bei der Golden Gate Bridge zusammengebraut haben. Mittlerweile sind sie auf unsere Seite der Bucht herübergezogen. Der Wind hat aufgefrischt, und die wenigen Leute, die vorhin auf Crissy Field unterwegs waren, zerstreuen sich bereits in alle Richtungen.

Der Junge wendet den Blick vom Himmel ab und sieht mich an. Zum ersten Mal, seit ich auf ihn zugekommen bin, umspielt ein Lächeln seine Lippen. «Danke!»

«Wofür?», frage ich verwirrt.

Er rappelt sich auf und klopft sich ein paar Grashalme von seiner zerrissenen Jeans. «Dafür, dass du auf mich zugekommen bist.»

«Ach, das war doch selbstverständlich.» Wie sehr ich mit mir gerungen habe, behalte ich für mich.

«Dann danke dafür, dass du mir dabei geholfen hast, eine wichtige Entscheidung zu treffen.»

Was für eine Entscheidung?,will ich fragen, aber da streckt er mir schon die Hand entgegen. Als sich unsere Finger umschließen, beschleunigt sich mein Herzschlag ein weiteres Mal. Ich habe keinen Gedanken mehr daran verschwendet, dass er nicht nur traurig, sondern auch süß ist. Spätestens jetzt, wo ich seine warme Haut auf meiner spüre, gelingt mir das nicht mehr.

Reiß dich gefälligst zusammen. Du bist nicht auf ihn zugekommen, weil er süß ist, sondern weil du ihm deine Hilfe anbieten wolltest.

«Ich glaube, ich weiß, was ich als Nächstes mache. Es wird wehtun. Es wird sogar ziemlich wehtun. Aber es wird die richtige Entscheidung sein.»

Inzwischen fallen die Regentropfen schnell und kräftig vom Himmel herab. Wenn wir nicht klitschnass werden wollen, sollten wir zusehen, dass wir schnellstmöglich von hier verschwinden. Und doch macht keiner von uns Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Stattdessen stehen wir einfach da, mit Cooper zwischen uns.

«Ich muss da lang», sagt der Junge schließlich und wirft einen Blick über die Schulter in Richtung der Old Mason Street. «Mit etwas Glück erwische ich den nächsten Bus. Und noch mal vielen Dank …»

«Henry. Ich heiße Henry.»

Sein Lächeln wird eine Spur breiter. «Ich bin Louis.»

«Ich … Alles Gute, Louis.»

Er nickt mir zu, dann dreht er sich auf dem Absatz herum und macht sich auf den Weg.

Mit pochendem Herzen und heißen Wangen sehe ich ihm hinterher. Cooper gibt ein leises Winseln von sich, wie so oft, wenn er merkt, dass ich aufgeregt bin.

«Es ist alles in Ordnung», versichere ich.

Und das ist die Wahrheit. Ich habe getan, was ich konnte. Ich bin auf den Jungen – nein, nicht den Jungen; Louis! – zugegangen und habe mich während unseres Gesprächs nicht vollkommen daneben verhalten. Offenbar habe ich ihm sogar geholfen. Mehr kann ich nicht tun.

Nur warum fühle ich mich nicht erleichtert?

Mein Herz pocht jetzt nicht nur.

Mein Herz hämmert.

Und dann treffe ich eine weitere Entscheidung.

«Louis!», rufe ich, so laut ich kann. «Warte!»

Abrupt bleibt er stehen und dreht sich zu mir herum.

Und ich? Keine Ahnung, ob das, was ich tue, richtig oder falsch ist.

Ich höre einfach auf mein Bauchgefühl, ziehe Cooper mit mir und renne Louis im strömenden Regen entgegen.

Kapitel 1Louis

10. Mai, heute

Ich liebe Henry Leblanc.

Ich liebe ihn mit Haut und Haaren, mit allem, was ich habe. Tatsächlich bin ich mir sicher, nie zuvor einen Menschen so sehr geliebt zu haben wie ihn.

Aber gestern Abend hat er mir etwas gebeichtet, von dem ich nicht weiß, ob ich es ihm verzeihen kann. Und weil ausgerechnet heute die lang geplante Familienfeier der Leblancs stattfindet, hatten wir keine richtige Möglichkeit, um darüber zu sprechen, was passiert ist.

Und wie es mit uns weitergeht.

Wie es mit uns weitergeht …

Fuck.

Fuck, fuck, fuck!

Mit einer Mischung aus Verzweiflung und Frust nehme ich noch einen Schluck Wodka Tonic. Kann sein, dass mir wegen der zwei Gläser, die ich getrunken habe, der Alkohol schon ein bisschen zu Kopf gestiegen ist. Das Zimmer um mich herum dreht sich zwar nicht – der Steinway-Flügel, die aus allen Nähten platzenden Bücherregale und der wuchtige Sekretär von Henrys Dad befinden sich alle an ihren angestammten Plätzen –, aber wenn ich so weitertrinke wie in der letzten halben Stunde, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es so weit ist. Oder schlimmer: bis ich kotzen muss.

Vielleicht wäre es nicht mal das Schlechteste, sich volllaufen zu lassen, sagt eine leise Stimme in meinem Kopf. Klar, Henry wäre nicht begeistert. Er hat sich wochenlang – ach was, monatelang – auf den Tag gefreut, an dem die weitverzweigte Leblanc-Familie zum ersten Mal seit fünf Jahren zusammenkommt. Allerdings müsste ich nach dem, was er getan hat, keine Rücksicht darauf nehmen. Und mal davon abgesehen: Wäre ich sturzbetrunken, würden sich meine Gedanken zumindest für ein paar Stunden nicht wie ein Karussell im Kreis drehen. Zumindest für ein paar Stunden wären da keine Enttäuschung, keine Niedergeschlagenheit und keine Zukunftsängste, die sich wie ätzende Säure durch meine Eingeweide fressen. Keine quälende Beschäftigung mit der Frage, ob und wie es mit uns weitergeht.

Ich hätte einfach Ruhe …

Ruhe.

Ein Mann braucht auch mal Ruhe.

Als hätte ich mich daran verbrannt, stelle ich das Glas so unwirsch auf dem altmodischen Sekretär ab, dass ein bisschen Wodka Tonic über den Rand auf die Schreibfläche schwappt.

Ein Mann braucht auch mal Ruhe.

Den Satz kenne ich von meinem Dad. Und wenn es etwas gibt, das ich mir geschworen habe, dann das: nie so zu werden wie er. Nie die Kontrolle zu verlieren. Offenbar habe ich meinen Schwur für kurze Zeit aus den Augen verloren. Jetzt erinnere ich mich wieder deutlich an ihn.

Und ich habe nicht vor, ihn zu brechen.

Nie und nimmer.

Nicht einmal wegen Henry Ich-habe-es-nur-gut-gemeint Leblanc.

Auf der Suche nach einer nicht alkoholischen Ablenkung schweift mein Blick durch den Raum. Es ist ein großes Zimmer – so wie alle Zimmer im Haus der Leblancs groß sind. Aber es ist ja auch ein imposantes Haus in einer der vornehmsten Gegenden der Stadt. In Pacific Heights ist alles schon immer eine Spur beeindruckender gewesen; bevor ich Henry kennengelernt habe, habe ich nie einen Fuß in dieses Viertel gesetzt. Wenn es einen Jungen wie mich hierher verschlägt, dann normalerweise nur, weil er sich als Hundesitter oder Gärtner der Reichen etwas dazuverdienen will. Genau deswegen war ich auch so eingeschüchtert, als ich zum ersten Mal vor der prächtigen viktorianischen Villa stand, die Henrys Eltern Anfang der 2000er gekauft haben. Eine Eingangstreppe aus Sandstein, eine frisch gestrichene hellgraue Holzfassade, strahlend weiße Fensterrahmen, dunkelblaue Dachschindeln, das ganze Haus umsäumt von Palmen … Bis ich mich in dieser Umgebung unbefangen bewegen konnte, hat es einige Zeit gedauert. Dass es so gekommen ist, habe ich vor allem Henrys Familie zu verdanken, die mich mit offenen Armen bei sich aufgenommen und mir nie das Gefühl gegeben hat, nicht dazuzugehören.

Mein Blick kommt auf dem Flügel zum Ruhen. Vielleicht …

Statt lange darüber nachzudenken, was ich tue, setze ich mich in Bewegung – wenn auch etwas schwankend –, gehe auf den Flügel zu und klappe die Abdeckung auf. Behutsam streiche ich über die Tasten, halte jedoch inne, bevor ich eine von ihnen anschlage. Das Haus ist von Gesprächen und Musik erfüllt, aber es würde nicht lange dauern, bis jemand hört, wie ich spiele. Und auf eine weitere Runde Small Talk mit höflichen Nachfragen und krampfhaft erzwungenem Lächeln – oder noch schlimmer: eine Unterhaltung, wie ich sie vor ein paar Stunden mit Henrys ältester Schwester Ava geführt habe – verzichte ich lieber.

Ich lege meinen rechten Daumen auf das eingestrichene C. Ganz automatisch bilde ich in Gedanken einen Dreiklang, wie meine Mutter es mir vor einer Ewigkeit beigebracht hat. Große Terz. Kleine Terz. C-E-G. C-Dur. Ich platziere meinen Mittelfinger und meinen kleinen Finger auf den entsprechenden Tasten. Schluckend bewege ich den Mittelfinger einen Halbton nach unten auf die schwarze Taste. Kleine Terz. Große Terz. So schnell wird aus Dur Moll. Es braucht nicht viel, um vom einen zum anderen zu kommen. Mit Henry und mir verhält es sich ähnlich. Bisher haben wir in Dur gespielt. Von einem Tag auf den nächsten sind wir zu Moll gewechselt.

Verdammt. Damit hat sich mein Wunsch, das Klavier könne mich ein bisschen ablenken, auch schon zerschlagen.

Aber kann es sein?

Ist vielleicht genau das mein Problem?

Dass ich immer wieder hoffe, obwohl mir mein Leben nachdrücklich zu verstehen gegeben hat, dass es so etwas wie Happy Ends nicht gibt? Ich meine, warum hätte es ausgerechnet bei Henry und mir anders sein sollen? Irgendwie ist es ziemlich naiv gewesen, davon auszugehen, dass wir einfach so glücklich und zufrieden sein könnten. Ein Happy End. Ich habe es geglaubt, weil ich es glauben wollte. Weil Henry nun einmal Henry ist.

Henry, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann.

Henry, der Sonnenschein.

Henry, der People Pleaser, der es allen anderen so sehr recht machen will, dass er in der Vergangenheit manchmal Gefahr gelaufen ist, selbst auf der Strecke zu bleiben.

Henry …

Louis, es gibt da etwas, das ich dir sagen muss. Aber bitte flipp nicht aus, okay? Ich habe es wirklich nur gut gemeint.

Ich muss nicht einmal die Augen schließen, um unser Gespräch von gestern Abend wie einen Film vor mir ablaufen zu sehen. Um zu sehen, wie wir im kleinen, überfüllten Zimmer meiner WG auf dem Bett liegen, während der Himmel eine blutrote Farbe annimmt und die letzten Sonnenstrahlen auf unsere Gesichter fallen. Wie Henry mich schonend darauf vorzubereiten versucht, was er getan hat. Nur, dass es einfach nichts gibt, was die Sache auf irgendeine Weise schonender macht.

«Sorry, Mann, ich hoffe, ich störe nicht!»

Erschrocken drehe ich mich auf dem Klavierhocker herum. Dylan, Henrys Cousin, steht auf der anderen Seite des Zimmers im Türrahmen. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht mitbekommen habe, wie er den Raum betreten hat.

«Dylan.» Ich zwinge mich zu einem Lächeln, was mich jede Menge Kraft kostet. Aber wenn mir schon ein Mitglied der Leblanc-Familie gegenübersteht, ist mir Dylan von allen am liebsten.

Er ist ein Jahr älter als ich, durchtrainiert und sonnengebräunt. In seinen blauen Augen liegt immer ein Strahlen, ganz egal, ob es ihm gut oder schlecht geht. Heute trägt er ein graues Poloshirt, das seine Oberarme betont, und eine kurze Jeans. An seinem linken Handgelenk befinden sich mehrere Bändchen von Festivals, die er in den letzten Jahren besucht hat. Coachella. Burning Man. Lollapalooza. Auf den ersten Blick könnte man meinen, Dylan sei der typische Quarterback oder der Highschool-Schwarm aller Mädchen. Die Wahrheit ist jedoch komplizierter. Dylan ist nämlich mit einem angeborenen Herzfehler auf die Welt gekommen. Deswegen hat er sich seit frühester Kindheit fast durchgängig in medizinischer Behandlung befunden und so etwas wie ein normales, unbeschwertes Leben kaum kennengelernt. Als er neunzehn war, wurde ihm schließlich ein Spenderherz transplantiert.

Dylan grinst. «Sag bloß, du brauchst auch ein bisschen Abstand von der Leblanc-Sippe?»

«Zumindest für ein paar Minuten», schwindle ich. Das ist weniger schmerzhaft, als ihm die Wahrheit über Henry und mich zu gestehen.

«Dann lass ich dich besser mal in Ruhe.»

«Wenn du magst, kannst du gern bleiben.» Die Worte kommen mir einfach so über die Lippen. Weil Dylan Dylan ist.

Nachdem er bereits Anstalten gemacht hat, das Zimmer zu verlassen, hält er inne, dreht sich zu mir um und presst die Lippen aufeinander. «Sicher?», fragt er mit hochgezogenen Brauen.

«Klar», sage ich und meine es so. «Also, schieß los. Warum brauchst du Abstand?»

Behutsam schließt Dylan die Tür. «Ich … Ich find’s toll, dass wir alle fünf Jahre dieses Familiending durchziehen. Ich meine, kennst du irgendeine andere Familie, die das macht?» Die Frage ist rhetorisch gemeint, daher antworte ich nicht, sondern warte darauf, dass er weiterspricht. «Von überallher zusammenzukommen, um gemeinsam eine gute Zeit zu haben. Und dann auch tatsächlich eine gute Zeit zu haben, ohne sich nach ein paar Stunden gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Aber soll ich ehrlich sein?»

«Ja!»

«Jedes Mal, wenn diese Feier stattfindet, bin ich mir hundertprozentig sicher, zum letzten Mal dabei zu sein.» Seine Augen strahlen noch immer, als würden wir über eine besonders denkwürdige Party sprechen. Oder darüber, wohin er bald in den Urlaub fahren möchte – und nicht darüber, wie die Angst vor dem Tod sein Leben bestimmt. «Vor fünf Jahren war ich achtzehn und wäre jede Wette eingegangen, heute nicht mehr hier zu sein. Ich stand zwar auf der Spenderliste, habe aber nicht damit gerechnet, dass ein passendes Herz für mich gefunden wird. Deswegen habe ich mich damals innerlich von allen verabschiedet. Ich habe sie in die Arme genommen, einen nach dem anderen, und habe Bye gesagt. Als wäre alles in bester Ordnung. Aber für mich war es nicht einfach nur ein Bye, bis zum nächsten Mal. Für mich war es ein Lebewohl. Jetzt habe ich ein neues Herz. Meine Chancen stehen viel besser, als sie es bei der letzten Feier getan haben. Aber wer weiß, ob mein Körper nicht doch noch beschließt, es abzustoßen. In meinem Kopf tickt eine Uhr.» Er tippt sich mit der linken Hand an die Schläfe. «Ich höre sie jeden Abend, wenn ich ins Bett gehe. Ticktack. Ich höre sie mit jedem Tag, der anbricht. Ticktack. Ticktack. Und heute, bei der Familienfeier, an der ich teilnehme, obwohl ich es nie erwartet hätte, tickt sie besonders laut. Ticktack. Ticktack. Ticktack.»

Die Musik und das Lachen der Leblancs erscheinen mir auf einmal sehr weit weg, als wäre ein schwerer Vorhang zwischen ihnen und uns, der alle Geräusche verschluckt. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass der Tag lediglich für Henry und mich scheiße ist. Für Henry, weil so gar nichts nach Plan gelaufen ist, und für mich, weil ich gute Miene zum bösen Spiel gemacht habe.

Nicht einen Gedanken habe ich daran verschwendet, wie beschissen der Tag für Dylan sein muss.

Mit den Händen in den Hosentaschen geht er auf den Sekretär zu, der direkt vor dem Fenster steht. Beiläufig wirft er einen Blick auf den Wodka Tonic, dann sieht er in den Garten, bevor er mir mit einem Kopfrucken bedeutet, zu ihm zu kommen. Ich folge seiner Aufforderung, erleichtert, dass mein Gang wieder etwas sicherer ist.

«Sie tun so, als wäre alles in Ordnung», sagt Dylan, sobald ich an seine Seite trete. Der Garten unter uns, mit seiner steinernen Terrasse und dem akkurat gemähten Rasen, wird von Lampionketten in buntes Licht getaucht. Die Leblancs stehen oder sitzen in Grüppchen zusammen, einige Kinder halten sich an den Händen und tanzen im Kreis. Sie haben sich eine von Henrys zwanzigjährigen Zwillingsschwestern geschnappt, wobei ich nicht erkennen kann, ob es sich um Josie oder Marlee handelt. «Und klar, natürlich meinen sie es nur gut, aber …»

«Nicht alles, was gut gemeint ist, ist auch gut», beende ich seinen Satz und höre dabei wieder Henrys Stimme in meinem Kopf.

Ich habe es wirklich nur gut gemeint.

«Stimmt.» Dylan seufzt. Dann zeigt er auf Henrys Großmutter, eine winzig kleine Frau, die auf einer weiß gestrichenen Holzbank sitzt und das Geschehen im Garten mit einem Glas Margarita in der Hand beobachtet. «Grandma Leanne ist die Einzige, die mich gefragt hat, wie es mir geht. Wie es mir wirklich geht, meine ich. Wahrscheinlich liegt das daran, dass sie im Gegensatz zu allen anderen nicht die Augen vor der eigenen Sterblichkeit verschließt.»

«Hast du …», setze ich an, verstumme dann aber betreten.

Kumpelhaft stößt Dylan mir mit dem Ellbogen in die Rippen. «Na los, stell deine Frage, Louis.»

«Hast du Angst vor dem Tod?» Obwohl Dylan mir sein Okay gegeben hat, fühlt es sich seltsam an, die Worte laut auszusprechen. Irgendwie so, als würde ich damit das Schicksal herausfordern.

Dylan legt den Kopf zur Seite. «Ich habe keine Angst vor dem Tod an sich. Nicht, nachdem ich mich mein halbes Leben lang darauf vorbereitet habe. Wirklich schlimm finde ich die Vorstellung, bestimmte Erfahrungen nicht machen zu können. Wenn ich tot bin, kann ich nicht mehr die Welt bereisen. Wenn ich tot bin, kann ich mich nicht mehr unsterblich verlieben. Wenn ich tot bin, kann ich in sechzig Jahren nicht mehr in einem Schaukelstuhl auf der Veranda meines Hauses sitzen und auf das lange, erfüllte Leben zurückblicken, das ich gern gehabt hätte. Ein Leben, wie Grandma Leanne es hatte.»

«Mit allem, was dazugehört.»

«Mit allem, was dazugehört», bestätigt Dylan mit einem Lächeln auf den Lippen. Diesmal liegt keine Bitterkeit darin. Diesmal kommt es von Herzen. «Wer weiß, vielleicht hat sie gerade deshalb keine Angst vor dem Tod. Weil sie nicht das Gefühl hat, etwas verpasst zu haben.»

Vermutlich wäre es angebracht, ihm gut zuzureden und ihm Mut zu machen. Ihm zu sagen, dass er mit dem Spenderherz ein langes Leben führen kann. Und für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, genau das zu tun. In allerletzter Sekunde entscheide ich mich jedoch dagegen, denn sowohl Dylan als auch ich wüssten, dass es nur halb gare Versprechungen wären. Und die hat jemand wie er ganz sicher nicht verdient.

«Genug von mir.» Dylan wendet sich vom Fenster ab, setzt sich auf den Sekretär und verschränkt die Arme vor der Brust. «Warum bist du hier?»

So schwer es ist, über den Tod zu sprechen, ist es mir trotzdem lieber, als über Henry und unsere Situation zu reden.

«Es war ein langer Tag», antworte ich, und plötzlich übt der Wodka Tonic wieder eine sehr verführerische Wirkung auf mich aus.

Dylan stupst mich ein weiteres Mal in die Rippen. «Das kauf ich dir nicht ab, Mann.»

Sollte ich gehofft haben, dass Dylan mich einfach so davonkommen lässt, habe ich mich offenbar gewaltig getäuscht.

«Henry und du. Ich hatte heute das Gefühl, dass irgendetwas zwischen euch in der Luft liegt.» Er spricht langsam, abwartend, als hätte er Angst, etwas Falsches zu sagen. «Ihr seid euch fast den ganzen Tag lang aus dem Weg gegangen. Vielleicht bist du ein guter Schauspieler, oder na ja, vielleicht wärst du es zumindest gern. Henry ist es auf jeden Fall nicht. Er hat immer wieder ziemlich besorgt zu dir herübergesehen.»

Alles in mir verkrampft sich. Bis eben war ich mir sicher, Henry und ich hätten es geschafft, uns nichts anmerken zu lassen. Doch ich habe die Rechnung ohne Dylan gemacht. Und wenn es ihm aufgefallen ist, war es für alle anderen dann genauso offensichtlich?

«Hat er das?», frage ich, um ein bisschen Zeit zu schinden. Zeit, in der ich mir eine gute Erklärung für unser Verhalten zurechtlegen kann.

«Sag bloß, du hast das nicht mitbekommen?»

Ich atme tief durch. Um mich zu beruhigen und weil ich hoffe, den inneren Krampf dadurch aufzulösen. Was – oh, Wunder! – nicht passiert. Statt Dylan etwas vorzumachen, wäre es wohl das Beste, ihm die Wahrheit zu sagen.

Oder zumindest einen Teil der Wahrheit.

«Um ehrlich zu sein, nein. Aber ich habe auch … Na ja, ich habe auch wirklich versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Und ihn nicht anzusehen.» Es auszusprechen, tut weh. Es macht die Situation noch einmal viel realer. So wie es bei meinem Gespräch mit Ava bereits der Fall war. Immerhin gelingt es mir in Dylans Gegenwart, die Fassung zu bewahren.

«Scheiße. Das sieht euch gar nicht ähnlich.»

Ich schüttle den Kopf. «Nein, tut es nicht.»

Tatsächlich sind Henry und ich in den letzten Jahren zu einem eingespielten Team geworden, das jede Untiefe gemeistert hat, nur um noch stärker daraus hervorzugehen. Wenn wir jetzt dem Abgrund ins Auge sehen, ist das für uns eine vollkommen neue Erfahrung.

«Du musst es mir nicht erzählen. Im Grunde geht es mich nichts an.» Dylan legt mir eine Hand auf die Schulter. «Aber was auch immer passiert ist, ihr solltet miteinander sprechen. Ihr macht die Sache nicht besser, wenn ihr euch aus dem Weg geht.»

Natürlich hat Dylan recht. Sich zu verkriechen, mit Alkohol zu betäuben oder in Selbstmitleid zu suhlen, mag sich leichter anfühlen als die Konfrontation mit Henry. Die lässt sich allerdings nicht vermeiden, denn was passiert ist, kann nicht rückgängig gemacht werden. Alles, was wir tun können, ist, die Scherben aufzusammeln und darauf zu hoffen, dass wir sie wieder zusammenfügen können. Ziemlich sicher sollten wir das lieber früher als später herausfinden, obwohl wir, ganz im Gegensatz zu Dylan, viel mehr Zeit haben. Vielleicht sollten wir es gerade deswegen tun. Weil die Zeit ein so kostbares Gut ist und wir nicht einen Augenblick davon verschwenden dürfen.

Aufmunternd nickt Dylan mir zu. «Kriegt euren Scheiß auf die Kette, Mann», sagt er, was aus seinem Mund eher freundschaftlich als tadelnd klingt. «Und dann seid wieder Henry und Louis. So wie ihr es immer schon gewesen seid.»

Nachdem Dylan das Zimmer verlassen hat, bleibe ich für ein paar Minuten am Fenster stehen und betrachte die Leute im Garten. Grandma Leanne schlürft weiterhin ihren Margarita. Henrys zweite Zwillingsschwester hat sich den tanzenden Kindern angeschlossen. Ein Onkel und eine Tante aus Montreal stoßen mit Sektgläsern an. Wenige Sekunden später lacht er über etwas, das sie gesagt hat. Bestimmt haben sie sich mir heute Morgen vorgestellt, aber ich kann mich nicht mehr an ihre Namen erinnern.

Mein Blick wandert weiter zum Grill, wo eine Gruppe im Halbkreis versammelt ist. Wenn mich nicht alles täuscht, ist Henrys Dad unter ihnen. Mittlerweile ist es jedoch so dunkel, dass ich im Licht der Lampions nur Silhouetten ausmachen kann.

Dem Wodka Tonic schenke ich keine Beachtung mehr. Erst, als ich mich bereit fühle, das Zimmer zu verlassen, umschließe ich das Glas noch einmal mit meinen Fingern. Statt es an die Lippen zu führen, kippe ich den Inhalt in die Kübelpflanze neben dem Sekretär.

Sicher ist sicher.

«Tut mir leid, Charlotte.» Henrys Mom würde mir diese Aktion verzeihen, wenn sie davon wüsste. Charlotte ist eine der verständnisvollsten Personen, die ich in den letzten Jahren kennengelernt habe.

Mit dem leeren Glas in der Hand ziehe ich die Zimmertür hinter mir zu. Draußen, auf dem mit beigefarbenem Teppich ausgelegten Flur, komme ich an abstrakten Gemälden und geschlossenen Türen vorbei. Dahinter liegen die Zimmer von Henrys Schwestern sowie das seiner Eltern. Spätestens am Treppenabsatz fühlen sich meine Beine geleeartig an. Der Schweiß läuft mir aus sämtlichen Poren, und mein Magen rumort vor Aufregung.

Aber Dylan hat recht.

Dylan. Hat. Recht.

Während ich Stufe um Stufe hinabsteige, versuche ich, mir den Satz wie ein Mantra aufzusagen.

Dylan hat recht.

Die Geräusche – das Klirren von Gläsern, Gesprächsfetzen, das heitere Lachen einer Frau –, die zwischenzeitlich so weit weg gewirkt haben, werden mit jedem Schritt lauter. Der Vorhang hebt sich, und ich verstecke mich nicht länger wie ein verängstigter Junge. Ich stelle mich der Realität. Aber ich habe eine Scheißangst davor.

Dylan hat recht.

In der monochrom weißen Küche kümmern sich Henrys Mom und Ava um die Muffins, die es zum Nachtisch geben soll. Für einen Moment mustere ich die zwei. Charlotte ist nicht nur eine der verständnisvollsten Personen, die ich kenne, sondern auch eine der elegantesten. Früher, vor dreißig Jahren, ist sie als aufstrebende Schauspielerin nach Hollywood gegangen. Sie ist schlank, hat schulterlange blonde Haare, und wenn sie lächelt – so wie jetzt, als Ava ihr ein paar Muffins reicht –, strahlt sie immer über das ganze Gesicht. Rein optisch ist Ava eine jüngere Version von Charlotte. Die meisten Charakterzüge, vor allem ihre Sturheit und ihre Hartnäckigkeit, hat sie allerdings von Henrys Dad. Wäre dem nicht so, hätte sie heute Mittag vermutlich viel schneller aufgegeben, die Wahrheit aus mir herauszupressen.

Bevor eine von ihnen mich sieht, gehe ich rasch weiter. Von der Küche gelange ich in den Wohn-Ess-Bereich, in dem sich mehrere Verwandte tummeln. Wenn mich nicht alles täuscht, handelt es sich bei ihnen um den New Yorker Zweig der Familie.

Von Henry keine Spur.

Versteckt er sich vor mir, wie ich mich vor ihm versteckt habe? Es würde ihm nicht unähnlich sehen. Henry ist kein Mensch, der gut mit Konflikten umgehen kann. Oder anders formuliert: Wann immer möglich, meidet er Konflikte. Unsere Situation ist für ihn das absolute Worst-Case-Szenario.

Mit gesenktem Kopf schlängle ich mich zwischen den Leblancs hindurch, als befände ich mich nicht auf einer Familienfeier, sondern auf einem Minenfeld.

Gott sei Dank schenken sie mir ebenso wenig Beachtung, wie Charlotte und Ava es getan haben.

Als ich die große Terrassentür auf der anderen Seite des Raums erreiche, schlägt mir frische Abendluft entgehen. Die Hitze des Tages ist abgeklungen, und die Kühle ist ziemlich angenehm. Aus der Anlage, die wir am Morgen aufgebaut und angeschlossen haben, dringt Leave Me Alone an meine Ohren.

Ich will mich schon in Bewegung setzen – vielleicht ist Henry im Garten –, als Cooper schwanzwedelnd auf mich zukommt. Selbst jetzt zaubert mir sein Anblick ein Lächeln auf die Lippen. Kein aufgesetztes Lächeln. Ein echtes Lächeln. Coop hat es vom ersten Tag an geschafft, dass mir in seiner Gegenwart das Herz aufgeht, egal, wie scheiße gerade alles andere ist.

«Hey, Coop.» Ich kraule ihm das linke Ohr, woraufhin er freudig den Kopf hin- und herdreht. Erst vor wenigen Tagen war Henry mit ihm beim Hundefriseur, sodass sein hellbraunes Fell nun kurz geschoren und ganz geschmeidig ist. «Hast du irgendeine Ahnung, wo Henry steckt?»

Cooper bellt.

«Wenn du ihn siehst, richtest du ihm aus, dass ich ihn suche?»

Ein weiteres Bellen. Nachdem ich ihm noch einmal den Kopf getätschelt habe, verschwindet Cooper hinter mir ins Haus. Bestimmt hofft er, in der Küche etwas abzustauben. Ich schlage die entgegengesetzte Richtung ein.

Die Lampionketten, die die Zwillinge in den Rosskastanien aufgehängt haben, werfen rot-grün-purpurne Lichtkegel auf die Rasenfläche. Das Zirpen von Grillen erfüllt die Luft, das Gras raschelt unter meinen Füßen. Nach ein paar Schritten kommt mir ein junger Mann von der anderen Seite des Gartens entgegen. Er hat ein ebenmäßiges Gesicht, dunkelblonde Haare und haselnussbraune Augen. Sein Leinenhemd flattert im Abendwind, während die cremefarbene Stoffhose eng an seinen Beinen anliegt. Falls ich ihn heute bereits gesehen habe, kann ich mich nicht mehr daran erinnern, aber das hat nichts zu bedeuten. Bestimmt handelt es sich bei ihm um einen weiteren Cousin.

Vielleicht einer aus Montreal.

Oder vielleicht ist er der Freund einer Cousine.

Der Unbekannte bleibt nicht stehen, nickt mir lediglich zu und geht an mir vorbei. Ich werfe noch einen Blick über die Schulter und sehe ihm hinterher, wie er im Inneren des Hauses verschwindet. Kaum dass ich mich von ihm abgewendet habe, habe ich ihn wieder vergessen.

Weil ich endlich Henry entdecke.

Wie Grandma Leanne sitzt er auf einer Holzbank. Die, auf die er sich zurückgezogen hat, befindet sich im hintersten Winkel des Gartens, halb verborgen hinter einem Rosenstrauch. Also hat er sich tatsächlich einen Rückzugsort gesucht.

Während ich ihn dabei beobachte, wie er gedankenverloren auf seinem Smartphone herumtippt, tauchen unwillkürlich Bilder von unserer ersten, zufälligen Begegnung in meinem Kopf auf.

Ein Nachmittag im Juli.

Crissy Field, wohin mich meine Füße getragen haben, ohne dass ich einen bestimmten Plan verfolgt hatte.

Und dann … Cooper und Henry, ein kleiner Labradoodle und ein sehr schüchterner, sehr besorgter Junge mit zerzausten blonden Haaren. Haare, die ihm in die Stirn gefallen sind und seine Augen fast verdeckt haben, obwohl sie – so viel war mir innerhalb weniger Sekunden klar – viel zu außergewöhnlich sind, als dass sie verdeckt werden sollten. Henry. Schlank, beinahe hager und irgendwie … rein. Unschuldig. Als wäre er, ganz im Gegensatz zu mir, so behütet aufgewachsen, dass er von den Schrecken der Welt zwar gehört hat, aber nie mit ihnen in Berührung gekommen ist.

Fast drei Jahre später ist Henry noch immer schlank. Durch das Surfen, mit dem er in der Zwischenzeit angefangen hat, sind ein paar Muskeln hinzugekommen. Die auffälligste Veränderung sind jedoch nicht seine Muskeln, sondern seine Haare, die ich ihm auf seinen Wunsch hin abrasiert habe. Der Buzzcut hat aus dem süßen Jungen von damals einen deutlich selbstbewussteren jungen Mann gemacht.

Henry.

Mein Freund.

Wieder verkrampft sich alles. Wieder ziehen sich meine Eingeweide zusammen. Wieder will ich in Tränen ausbrechen oder wahllos auf etwas – oder jemanden – einschlagen. Die widersprüchlichsten Gefühle wetteifern in mir wie Gladiatoren in einer Arena, nur um am Ende alle gleichzeitig als Sieger vom Platz zu gehen.

Soll ich mich umdrehen und einfach verschwinden? Ich könnte mir einen Wodka Tonic einschenken und mich betrinken, auch wenn ich damit meinen Schwur breche. Ich könnte mich erneut ins Obergeschoss zurückziehen und darauf warten, dass die Feier zu Ende geht. Das alles könnte ich tun, um den Moment der Wahrheit hinauszuzögern. Es wäre meine allerletzte Chance. Aber Dylan hat recht.

Dylan hat recht!

Und mit genau diesem Gedanken gehe ich auf Henry zu.

Kapitel 2Louis

10. Mai, heute

«Hey.» Meine Stimme klingt rau und kratzig, als hätte ich sie seit Jahren nicht mehr benutzt. Dabei können maximal zwanzig Minuten vergangen sein, seit Dylan und ich uns im Obergeschoss des Hauses voneinander verabschiedet haben.

Henry sieht von seinem Smartphone auf und betrachtet mich sorgenvoll. «Oh. Hey.»

«Darf ich?», frage ich vorsichtig und zeige auf den Platz neben ihm.

Unschlüssig öffnet Henry den Mund, ehe er ihn schnell wieder schließt. Womit auch immer er gerechnet hat – dass ich ihm auf der Bank Gesellschaft leisten möchte, war offenbar keine ernst zu nehmende Option. Was mich nicht wundert, nachdem ich ihn den ganzen Tag mehr oder weniger wie Luft behandelt habe.

«Ja. Ja, klar», antwortet er, lässt das Smartphone in der Seitentasche seiner Jeans verschwinden und streicht sich über die Oberschenkel.

Ich setze mich neben ihn, und für ein paar Sekunden schweigen wir uns an, wobei wir es vermeiden, uns in die Augen zu sehen. Mein Blick ist auf Henrys Zwillingsschwestern gerichtet, die sich am Tisch gerade zwei Gläser Wasser aus einer Karaffe einschenken. Sie wirken völlig außer Puste vom Tanzen. Dennoch würde ich gern mit ihnen tauschen, weil sie einfach eine gute, unbeschwerte Zeit haben. Wohingegen Henry und ich … Ich schlucke. Wohingegen wir uns so nah sind und es mir trotzdem so vorkommt, als würde eine Million Lichtjahre zwischen uns liegen.

«Deine Mom und Ava kümmern sich um die Muffins», sage ich schließlich. Keine Ahnung, warum ich das Gespräch ausgerechnet mit Muffins beginne. Vermutlich ist es das Unverfänglichste, was mir auf die Schnelle einfällt.

«Ist es für dich okay, wenn wir zum Nachtisch bleiben? Oder willst du, dass wir früher gehen?» Henry spricht so langsam, als würde er jedes Wort auf die Goldwaage legen.

«Solange ich nicht wie beim Abendessen neben Onkel Gregory sitzen und mir anhören muss, warum Donald Trump der beste Präsident aller Zeiten ist, ist es in Ordnung.»

Henry schnaubt verächtlich. «Oh, scheiße, tut mir leid. Er kann es anscheinend nicht lassen. Nicht einmal für einen Abend.»

«Nein, kann er nicht.»

«Wir setzen uns so weit wie möglich von ihm weg und …» Henry verstummt. Ganz leicht drehe ich den Kopf nach links und sehe, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpft. «Ich meine … Wir müssen natürlich nicht zusammensitzen. Du kannst dich auch zu den Zwillingen setzen. Oder zu Dylan. Oder …»

«Ich habe gesagt, dass ich nicht neben deinem Onkel sitzen will. Von dir habe ich nicht gesprochen.»

Henry streicht sich über den Nacken und den kurz geschorenen Hinterkopf. «Louis, weißt du, worüber ich schon die ganze Zeit nachdenke?»

«Hm?»

«Dass ich von dir überhaupt nicht hätte erwarten dürfen, heute mit mir hierherzukommen. Ich meine, welcher Freund tut so etwas? Dich erst zu verletzen und dich dann zu bitten, einen Tag lang so zu tun, als wäre die Welt in Ordnung? Nur weil mir diese beknackte Familienfeier viel bedeutet. Nur weil ich gern alles harmonisch hätte. Oder na ja, dass es zumindest den Anschein von Harmonie erweckt. Als du mir heute Morgen gesagt hast, dass du nicht mitkommen willst, hätte ich das respektieren müssen. Und was habe ich getan? Das Gegenteil. Ich bin so ein verdammter Scheißfreund!»

Wie immer, wenn Henry nervös oder angespannt ist, purzeln die Worte aus seinem Mund. Zu wissen, wie es in ihm aussieht, versetzt mir einen Stich. Unter anderen Umständen würde ich meine Hand nach ihm ausstrecken und ihm sagen, dass er sich nicht den Kopf zerbrechen soll. Es kostet mich alle Kraft der Welt, dem Impuls nicht nachzugeben – was viel schwieriger ist, als dem Wodka Tonic zu widerstehen. Aber es ist eben nicht alles gut. Und es war Henry, der uns in diese Situation hineinmanövriert hat.

«Ich weiß, wie wichtig dir diese Feier ist. Wenn ich nicht mitgekommen wäre, hätte das jede Menge Fragen bei deiner Familie aufgeworfen. Der perfekte Tag, den du dir gewünscht hast, wäre im Eimer gewesen.»

«So etwas wie einen perfekten Tag gibt es nicht», erwidert Henry bitter. «Es war komplett daneben von mir …»

«Hörst du bitte mal damit auf, dich ständig selbst fertigzumachen?», fahre ich ihn an, viel lauter als beabsichtigt. «Ich meine, wem hilft das denn? Es hilft niemandem. Es hilft dir nicht. Und mir hilft es auch nicht. Ja, du hast mich heute Morgen gebeten, mitzukommen, aber ich hätte genauso gut Nein sagen können. Das war meine Entscheidung, klar?» Ich seufze. «Ich wäre heute überall lieber gewesen als auf dieser Feier. Aber ich bin hier. Ich bin hier. Und sobald wir diese Feier über die Bühne gebracht haben, sollten wir über gestern Abend sprechen.»

Kriegt euren Scheiß auf die Kette, Mann hat Dylan gesagt, und ja, das müssen wir tun. Allerdings sind weder die Holzbank hinter dem Rosenstrauch noch irgendein anderer Ort im Haus für ein solches Gespräch geeignet, weil wir jederzeit gestört werden könnten. Weil wir Ruhe und Zeit brauchen. Das, was wir gerade tun, ist ein Anfang und nicht mehr.

«Ich …» Henry schüttelt den Kopf. «Du hast recht.»

«Wir sitzen beim Nachtisch nebeneinander. Und dann … Was hältst du davon, wenn wir uns einfach früher ausklinken und zu mir fahren?»

Henrys Kieferknochen mahlen. «Das klingt nach einem guten Plan. Ja, so machen wir es. Und, Louis?»

«Ja?»

«Ich … Ich habe heute nicht gewusst, wie ich mich verhalten soll. Ob ich dich ansprechen darf oder ob ich dich besser in Ruhe lasse. Ich hatte Angst, etwas falsch zu machen. Es schlimmer zu machen, als es ohnehin schon ist. Also danke.»

«Wofür?»

«Dass du auf mich zugekommen bist.»

Ungefähr das habe ich damals auf Crissy Field auch zu ihm gesagt. Es fühlt sich an, als würde sich damit ein Kreis schließen. Ob Henry die Worte mit Absicht gewählt hat?

«Gehen wir zu den anderen», schlage ich vor, statt ihn danach zu fragen. «Ich könnte echt einen Muffin vertragen.»

Bis sich die ganze Familie an der mit einem weißen Tischtuch bedeckten Tafel auf der Terrasse einfindet, dauert es fast eine halbe Stunde. Henry und ich haben Plätze zwischen seinen Schwestern gefunden. Dylan, der uns schräg gegenüber sitzt, nickt mir aufmunternd zu, bevor er sich wieder Grandma Leanne zu seiner Linken zuwendet. Gott sei Dank sitzt Gregory auf der anderen Seite neben den Verwandten aus New York.

Als Benjamin, Henrys Dad, mit einem Messer gegen sein Sektglas stößt, verstummen die Gespräche innerhalb weniger Sekunden.

Charlotte gibt ihrem Mann einen Kuss auf die Wange, steht auf und strahlt die Leblanc-Familie an. «Kurz nachdem Benjamin und ich nach San Francisco gezogen sind, entstand die Tradition, dass wir uns alle fünf Jahre zu einer großen Feier treffen.» Charlottes Stimme ist sanft und klar, und ich bin mir sicher, dass auch diejenigen, die weiter weg sitzen, sie gut hören können. «Wir kommen aus unterschiedlichen Gegenden – Benjamin aus New York, ich aus Montreal –, und obwohl uns unsere Arbeit an die Westküste verschlagen hat, sind wir beide durch und durch Familienmenschen geblieben. Familie bedeutet für uns Zusammenhalt. Familie bedeutet Sicherheit. Familie bedeutet Zuhause.»

Selbst unter normalen Umständen würden mich ihre Worte berühren. Vielleicht klingen sie etwas dick aufgetragen, aber sie kommen von Herzen. Sie sind keine bloßen Worthülsen, sie sind wahr. Zusammenhalt, Sicherheit, ein Zuhause – genau das habe ich bei Henry und den Leblancs gefunden. Unter den besonderen Umständen des Tages rühren mich Charlottes Worte nicht nur, sondern treffen mich bis ins Mark.

«Heute findet dieses große Familientreffen bereits zum vierten Mal statt. Und obwohl manche von uns nicht mehr bei uns am Tisch sitzen können – Benjamins Schwester Lucy, sein Vater, meine Eltern –, tragen wir sie doch immer in unseren Herzen.» Sie hebt ihr Sektglas. «Auf die Familie. Auf uns.»

Überall an der Tafel werden Gläser gehoben, werden ihre Worte wiederholt. Auch Henry und ich schließen uns den anderen an.

«Auf die Familie.»

«Auf uns.»

«Danke, dass ihr es möglich gemacht habt, zu kommen», fährt Charlotte fort. «Trotz Arbeit, trotz Verpflichtungen, trotz Alltagsstress habt ihr den weiten Weg auf euch genommen. Ich hoffe, dass wir uns in fünf Jahren in genau derselben Runde wiedersehen.»

Beiläufig huscht mein Blick zu Dylan, der sich nicht anmerken lässt, was ihm in diesem Moment durch den Kopf geht. Seine Augen strahlen, er lächelt und klatscht. Hätte er mir vorhin nicht erzählt, wie schwierig diese Feier für ihn ist, würde ich nie auf den Gedanken kommen, dass das womöglich nur eine Fassade ist. Nachdem Charlotte sich gesetzt hat und rundherum Gespräche aufbranden, sagt er etwas zu Grandma Leanne, die ihm einen Kuss auf die Wange gibt.

Dylan ist sich nicht sicher, ob er trotz Spenderherz bei der nächsten Feier dabei sein wird. Vielleicht macht er sich zu viele Sorgen – wie vor fünf Jahren –, aber niemand von uns kann es mit Sicherheit sagen. Das hinterlässt einen bitteren Geschmack, der auch nach dem ersten Biss in den Muffin nicht verschwindet.

«Willst du nichts?», frage ich Henry, der still vor seinem Teller sitzt.

Er schüttelt den Kopf und schiebt seinen Muffin mit dem rosafarbenen Zuckerguss von der einen Seite auf die andere. «Mich hat es schon gewundert, dass ich beim Abendessen etwas herunterbekommen habe.»

«Wenn das so ist, hast du sicherlich nichts dagegen, wenn ich ihn mir nehme», sagt Marlee heiter und schnappt sich den Muffin.

Henry schenkt seiner Schwester keine Beachtung. Stattdessen wendet er sich Cooper zu, der zu seinen Füßen unter dem Tisch liegt. Die beiden sind ein Herz und eine Seele. Vermutlich gibt es niemanden, dem Coop mehr vertraut als Henry. Und Cooper wiederum gibt Henry immer Zuversicht, wenn ihn etwas beschäftigt.

Ich hoffe, dass das auch jetzt der Fall ist.

Ein bisschen Zuversicht können wir alle gut gebrauchen.

Nach weiteren zwanzig Minuten sind wir mit dem Essen fertig. Gerade, als ich Henry vorschlagen will, dass wir uns von den anderen verabschieden könnten, dreht jemand den Regler der Anlage auf und die ersten Töne von Everlasting Love erklingen.

Benjamin greift nach der Hand seiner Frau und führt Charlotte auf die Rasenfläche. Die anderen folgen seinem Beispiel, und Sekunden später tanzen mehrere Paare im bunten Schein der Lampions. Lediglich Grandma Leanne, Henry und ich bleiben an der Tafel zurück.

«Es wäre seltsam, wenn ich dich fragen würde, ob wir tanzen wollen, oder?»

Ich zögere. «Ja, das wäre es», antworte ich schließlich. Obwohl in mir ein Orkan tobt, klingt meine Stimme vollkommen ruhig. Ich tanze gern mit Henry. Ich habe schon immer gern mit ihm getanzt. Allerdings wäre der Tanz eine Lüge. Er würde den Anschein von Normalität vorgaukeln, so wie meine bloße Anwesenheit bei dieser Feier den Anschein von Normalität vorgaukelt. Und damit würde ich uns keinen Gefallen tun. Nein, zuallererst müssen wir herausfinden, wie es mit uns weitergeht. Wenn wir das geschafft haben – und wenn es dann noch ein Wir gibt –, können wir unser restliches Leben miteinander tanzen.

Henry nickt. In seinen Augenwinkeln glitzern Tränen, und mehr braucht es nicht, damit mein Entschluss gefährlich ins Wanken gerät. Aber ich bleibe standhaft. Ich muss standhaft bleiben, auch wenn sich die rund drei Minuten, die der Song dauert, wie eine Ewigkeit anfühlen. Als die letzten Töne verklingen, stehen Henry und ich fast gleichzeitig von unseren Stühlen auf.

«Ich sage meinen Eltern, dass wir uns auf den Weg machen.» Ohne eine Antwort abzuwarten, läuft er los. Cooper folgt ihm dicht auf den Fersen.

Ein paar Augenblicke später sind die zwei mit Charlotte und Benjamin im Schlepptau wieder bei mir.

«Henry hat gesagt, dass ihr schon aufbrechen wollt.» Der Tanz hat Charlotte die Röte in die Wangen getrieben, sie wirkt noch immer etwas berauscht und atemlos.

«Es war ein langer Tag.» Das ist dieselbe ausweichende Antwort, mit der ich Dylan abspeisen wollte, aber etwas Besseres fällt mir nicht ein.

«Vielleicht …» Als Benjamin ihr eine Hand auf den Unterarm legt, verstummt Charlotte.

«Lass gut sein, Liebling. Sie haben doch wirklich tapfer durchgehalten.» Er zwinkert mir zu, wie es seine Art ist. Anders als sonst verzichte ich auf das obligatorische Zurückzwinkern.

Charlotte schürzt die Lippen und seufzt, unternimmt jedoch keinen weiteren Überzeugungsversuch. «Dann wartet wenigstens ein paar Minuten, damit ich euch Muffins für das Frühstück einpacken kann und …»

«Mom …», fällt Henry ihr ins Wort und tritt dabei von einem Bein aufs andere.

«Keine Widerrede. Ich bin gleich zurück.» Und schon verschwindet sie in Richtung Küche.

«Danke, dass ihr zwei mir vorhin beim Aufbau der Anlage und allem anderen geholfen habt», sagt Benjamin. «Keine Ahnung, wie wir das alles ohne euch, Dylan und die Mädchen geschafft hätten.»

«Haben wir gern gemacht.» Meine Antwort ist nicht einmal gelogen. Tatsächlich war ich durch das Helfen zumindest kurzzeitig abgelenkt.

«Es ist immer schön, wenn die Familie zusammenkommt, aber es ist auch viel zu tun und …» Benjamin lässt seinen Satz unvollendet, weil Ava in diesem Moment auf ihn zutritt.

«Komm, Dad, ich will mit dir tanzen», sagt sie und zieht ihn mit sich.

Benjamin leistet nur im Spaß Widerstand und ruft uns über die Schulter hinweg zu: «Wir sehen uns!»

«Ja, wir sehen uns», flüstert Henry so leise, dass es außer mir niemand hört.

Ohne ein Wort zu wechseln, stehen wir am Rand der Terrasse und betrachten die Leblancs, bis Charlotte wieder bei uns ist und mir einen Plastikbehälter mit Muffins in die Hand drückt.

«Ich begleite euch zum Auto», sagt sie und legt ihrem Sohn einen Arm um die Schulter. Henry beißt sich auf die Unterlippe, als wäre er nicht gerade begeistert darüber, aber er ist viel zu höflich, um etwas zu sagen, und lässt es über sich ergehen.

Nachdem wir uns von ein paar Familienmitgliedern, unter anderem Dylan und Grandma Leanne, verabschiedet haben, betreten wir das Haus. Cooper folgt uns, bis wir die Eingangstür erreichen. Dort weist Charlotte ihn an, Platz zu machen.

«Mach’s gut, Süßer!», sagt Henry noch, und wir tätscheln ihm nacheinander den Kopf. Coop winselt. Obwohl er den Ablauf mittlerweile kennt, fällt es ihm jedes Mal aufs Neue schwer, Henry ziehen zu lassen.

Auf der Straße ist es um einiges ruhiger als im Garten der Leblancs. Henry hat seinen Jeep Cherokee heute Morgen nur wenige Schritte vom Haus entfernt geparkt. Jetzt öffnet er ihn mit der elektrischen Fernbedienung, woraufhin ein Summton erklingt.

Charlotte drückt erst mich und anschließend ihren Sohn an sich. «Ich liebe euch, Jungs.» An Henry gewandt fügt sie hinzu: «Fahr vorsichtig, Schatz, in Ordnung?»

«Ich fahre immer vorsichtig, Mom.»

Während Henry auf dem Fahrersitz Platz nimmt, steige ich auf der Beifahrerseite ein und ziehe die Tür hinter mir zu. Durch die geschlossene Scheibe winkt Charlotte uns ein letztes Mal zu. Dann startet Henry den Motor, und Charlotte verschränkt die Arme vor der Brust, als würde es sie frösteln. Bevor wir die nächste Kreuzung erreicht haben, ist sie im Inneren des Hauses verschwunden.

«Also zu dir, ja?», fragt Henry, obwohl wir darüber bereits gesprochen haben.

«Zu mir», bestätige ich. In den letzten Wochen und Monaten haben wir immer wieder mit dem Gedanken gespielt, endlich zusammenzuziehen, um nicht länger in unterschiedlichen Ecken zu wohnen. Henry in Berkeley. Ich in Outer Sunset. Bisher sind aus den Überlegungen keine konkreten Pläne geworden. Und ob es die nach unserem Streit noch geben wird? «Natalie wollte mit Freundinnen feiern gehen. Vor fünf oder sechs Uhr morgens kommt sie bestimmt nicht zurück. Wir haben also auf jeden Fall unsere Ruhe.»

Henry biegt in die Divisadero Street ab. Vom Haus seiner Eltern in Pacific Heights zur Wohnung von Natalie und mir müssen wir die Stadt von Ost nach West durchqueren. Weil um diese Uhrzeit auf den Straßen kaum etwas los ist, kommen wir schnell voran.

Ich halte den Blick fest geradeaus gerichtet. Wann immer wir mit dem Cherokee unterwegs sind, liegt meine Hand auf Henrys Oberschenkel. Normalerweise läuft das Radio, und wir machen uns einen Spaß daraus, bei weit geöffneten Fenstern so schief wie möglich mitzusingen. Oder wir sprechen über Gott und die Welt. Noch nie sind uns die Themen ausgegangen. Der plötzliche Wechsel von Dur nach Moll hat viele Änderungen mit sich gebracht, und dass jetzt nichts mehr so ist wie normalerweise, tja, auch das gehört zu unserer vertrackten Situation dazu.

«Ich habe vorhin mit Dylan gequatscht», sage ich, sobald wir auf der Parnassus Avenue sind, die parallel zum Golden Gate Park nach Westen führt.

«Über uns?» Henry klingt verunsichert.

«Ich habe ihm keine Details erzählt …»

«Nicht wie bei Ava vor dem Mittagessen.»

«Nein, nicht wie bei Ava vor dem Mittagessen», bestätige ich gereizt, weil ich glaube, einen unterschwelligen Vorwurf aus seinen Worten herauszuhören. Kurz bin ich geneigt, ihm zu erklären, dass ich auch bei Ava nicht vorhatte, irgendetwas zu sagen. Doch nachdem sie gesehen hat, wie ich mir ein paar Tränen von der Wange gewischt habe, hat sie sich zu mir gesetzt, und ich wollte ihr keine Lüge auftischen. «Sein Tag war mindestens so anstrengend wie unserer. Ziemlich sicher sogar noch anstrengender.»

Henry runzelt die Stirn. «Warum? Was war bei ihm los?»

Mit wenigen Sätzen schildere ich ihm, was Dylan mir erzählt hat. Je länger ich spreche, desto mehr verfinstern sich Henrys Gesichtszüge.

«Scheiße. Ich war so mit uns beschäftigt, dass ich nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet habe, wie sich Dylan heute fühlt.»

«Willkommen im Club.»

Henry umklammert das Lenkrad fester und tritt etwas stärker aufs Gaspedal, bleibt aber immer noch unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von dreißig Meilen pro Stunde.

«Ich hoffe wirklich, dass er ein langes und glückliches Leben hat. Ich meine, jetzt mit dem Spenderherz ist seine Perspektive so viel besser als früher. Aber ich kann verstehen, dass er sich Sorgen macht. Und … Ach, Dylan hat es nicht verdient, zu sterben.»

«Wer hat das schon?», erwidere ich und lege den Kopf in den Nacken.



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