Gewittertiere - Svealena Kutschke - E-Book

Gewittertiere E-Book

Svealena Kutschke

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Beschreibung

Colin und ihr Bruder Hannes wachsen in einer kleinstädtischen Reihenhaussiedlung auf, aber von Idylle kann keine Rede sein. Als nach dem Mauerfall die Angst vor Zuwanderung aus dem Osten geschürt wird, beginnt ihr Vater einen Bunker im eigenen Garten zu graben, und bringt damit auch den letzten familiären Zusammenhalt ins Wanken. Ein Leben lang werden die Geschwister ihren Platz jenseits privater und gesellschaftlicher Machtgefüge suchen – in einem Land, in dem rechtsextreme Gewalt längst zum Alltag gehört. Und während Colin in ihrer Liebe zu Eda Erlösung sucht, bekommt Hannes selbst eine Macht, der er sich nicht immer entziehen kann. Bildhaft und präzise, schonungslos und zärtlich erzählt Svealena Kutschke in ihrem neuen Roman von Figuren am Rande der Gesellschaft, von der Suche nach der Möglichkeit einer Beziehung – und trifft dabei den gegenwartspolitischen Kern unserer Zeit.

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Gewittertiere

Die Autorin

Svealena Kutschke studierte Kulturwissenschaften und lebt als Autorin in Berlin. Für ihre literarischen Arbeiten und bisher drei veröffentlichten Romane erhielt sie verschiedene Auszeichnungen und Förderungen, darunter den Open Mike der Literaturwerkstatt Berlin, das Berliner Senatsstipendium und den Förderpreis des Schiller-Gedächtnispreises 2019. Ihr Stück zu unseren füßen, das gold, aus dem boden verschwunden zählt zu den Gewinnertexten der Autorentheatertage 2019 und wurde am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt.

Das Buch

Colin und ihr Bruder Hannes wachsen in einer kleinstädtischen Reihenhaussiedlung auf. Als nach dem Mauerfall die Angst vor Zuwanderung aus dem Osten geschürt wird, beginnt ihr Vater einen Bunker im eigenen Garten zu graben, eine Baustelle, die ihm zunehmend zum Fluchtpunkt vor der Familie wird. Ein Leben lang werden die Geschwister ihren Platz jenseits privater und gesellschaftlicher Machtgefüge suchen – in einem Land, in dem rechtsextreme Gewalt längst zum Alltag gehört. Und während Colin in ihrer Liebe zu Eda Erlösung sucht, erhält Hannes in seinem Beruf als Gerichtsvollzieher eine Macht, der er sich kaum entziehen kann.

Svealena Kutschke

Gewittertiere

Roman

Ullstein

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claassen ist ein Verlagder Ullstein Buchverlage GmbH© 2021 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinLektorat: Martin Mittelmeier, Claudia MarquardtUmschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, MünchenUmschlagabbildung: © Victor Habbick / arcangelAutorenfoto: © Alexander MaleckiE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-8437-2590-3

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Motto

»I was 60 years old, just a kid with a crazy dream …«

Leonard Cohen

 

»Ich glaube, ich habe ganz früh schon von dir geträumt«, sagte Eda unter der U-Bahntrasse, sie aßen Pommes und tranken Bier aus Plastikbechern. Eine Ratte durchsuchte die verwehten Pappschalen nach Resten, und Colin schaute ihrer Freundin in die Augen: Es traf sie immer unvorbereitet. Wie zart Eda sein konnte.

Jeder Stehtisch vor dem Imbiss besetzt, am Nebentisch drei Frauen, aus der Bar gegenüber gespült, die versuchten, ihren Rausch abzufedern, etwas weiter die U-Bahntrasse hinunter ein Matratzenlager, zu Stoßzeiten reichte die Schlange von der Imbissbude bis zur Matratzenburg und an ihr vorbei, wie an einem Hindernis im Flussbett. Ein Einkaufswagen voller Leergut, ein Haarschopf, der aus einem der vielen Schlafsäcke ragte, graubraunes Haar, das eine Glatze umrahmte. Diese Blöße, die so ungeschützt dort im Schlaf lag. Der Imbiss mit seiner berühmten Currywurst eine bedeutende Station für Touristen, eine Frau in der Warteschlange war so betrunken, dass sie beim Reden schwankte, ihre Ausfallschritte nur Zentimeter vom Kopf des Schlafenden entfernt. Eda steckte sich den Plastikspieß in einen Mundwinkel und kniff die Augen zusammen, fokussierte die Touristin.

Sie tranken das Bier aus, dann gingen sie die Allee hinauf, vor dem Späti an der Ecke lief Musik, unterbrochen vom Rauschen des Antennenradios. Vor den Bänken tanzten zwei alte Männer, wiegten sich mit geschlossenen Augen gegen den Takt, auf den Bänken erhitzte Gespräche, dazwischen schlief einer im Sitzen, das Kinn auf der Brust.

Sie stiegen in den vierten Stock, Colin schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf, dieser kleinen Panorama-Werft über der U-Bahntrasse, jeder der schmalen Räume ging zur Straße hinaus, die Bahn fuhr direkt an den Fenstern vorbei. Sie fragten sich häufig, wie ihr Leben für die Leute in der Bahn aussehen mochte: eine Wohnung wie Theaterkulisse, Schlafzimmer, Bad, Küche und Wohnzimmer nebeneinander aufgereiht, jeder Raum von außen einsehbar.

Eda öffnete die Tür zum Balkon, Colin holte zwei Bier aus dem Kühlschrank und ging ihr nach. Eda, mit dem Rücken gegen das Geländer gelehnt, das Hemd aufgeknöpft. Colin zeichnete eine zarte Linie über ihre Stirn, den Nasenrücken, über Lippen und Kinn, zwischen ihren Brüsten hinunter. Edas Blick, der wie so häufig zwischen Lust und Spott zu flimmern schien. Als Colins Telefon klingelte, legte Eda den Kopf in den Nacken, erschöpft und gereizt, dann schob sie Colins Hände weg und forderte sie mit einem Nicken auf, den Anruf zu beantworten.

Die sporadischen Telefonate mit der Familie waren seit dem Vorfall im Frühsommer häufiger geworden, die Zeiten immer unberechenbarer, Hannes rief mehrmals in der Woche an, auch die Eltern fanden plötzlich ungewöhnlich viele Gründe, sich bei Colin zu melden.

In dieser Nacht jedoch ließ Colin das Telefon klingeln. Legte ihrer Freundin eine Hand in den Nacken, küsste sie mit einer Dringlichkeit, die an Unbeholfenheit grenzte. Der Raum, in dem Colin und Eda sich bewegten, wurde mit so großer Selbstverständlichkeit von den Beckers heimgesucht, dass Colin zunehmend das Gefühl bekam, sich durch eine Kulisse zu bewegen. Als wäre Edas und ihr gemeinsames Leben eine Inszenierung, an deren Ende Colin wieder an ihren Platz bei den Beckers zurückkehren würde.

»Jetzt geh schon ran!«

Colin küsste Eda, das Klingeln brach ab, die Stille lastend. Colin fluchte, dann zog sie das Telefon aus der Tasche, rief ihren Bruder zurück, er ging nicht ran.

»Es gibt kaum etwas, was so präzise dafür sorgt, dass niemand mehr deine Anrufe ignoriert, wie ein halbherziger Suizidversuch«, sagte Eda, und Colin breitete entschuldigend die Arme aus: Denn selbst wenn Hannes nicht müde wurde, zu beteuern, es sei ein Versehen gewesen – die starken Kopfschmerzen, im Suff den Überblick über die Paracetamol verloren, so in etwa –, genoss er es doch, wie zuverlässig seine Schwester nun an seiner Seite auftauchte, wenn er sie brauchte.

Es war kurz vor Mitternacht, das Haus, in dem Hannes wohnte, wurde vom Licht der Laternen gewaschen, an den Balkonen zur Straße hing der Putz in Fetzen, der Stuck so oft überstrichen, dass nicht mehr als eine unförmige Wölbung davon übrig war. Vereinzelt ausgebleichte, staubige Fahnen und vertrocknete Blumen des letzten Sommers. Sie hörte Hannes schon von der Straße aus. Die verschliffenen Silben eines vollkommen Betrunkenen.

Hannes stand in der Mitte des Hofes, ein Bier in der Rechten, eine Zigarette in der Linken. Das Haar zerzaust, das Hemd offen, sein Bauch glänzte im gelben Licht, das aus seiner Wohnung drang. Er hielt eine seltsame Balance, zurückgelehnt, als könnte die Luft ihn tragen, zu seinen Füßen Bernhard, entspannt schnurrend unter Hannes’ Zorn, Hannes, der sein Lamento in die Nacht rief.

In dem Haus wurden ständig Wohnungen frei, niemand hielt es lange aus, nur Hannes lebte schon seit über zehn Jahren dort. Und der Messie aus dem vierten Stock gegenüber. Der Mensch braucht nur einen zweiten, um eine Theorie zum Fakt zu machen. Wer wirklich mit dem Haus verwuchs, ging mit ihm zugrunde, das war Hannes’ Theorie.

Hannes trat gegen die Mülltonnen. Der dumpfe Hall seiner Tritte. Colin schaute zu den Fenstern empor, die unter der Brandung seiner Wut eines nach dem anderen geschlossen wurden, und dachte plötzlich, dass sie ihn verstand. Er brauchte eine Antwort, ein Geräusch, und wenn es von einem Ding war. Manchmal war dein einziger Freund eine Mülltonne.

Colin legte ihm eine Hand auf die Schulter, »komm, is gut jetzt«. Widerstandslos ließ er sich in seine Wohnung führen, Bernhard tippelte vor ihnen her, Colin meinte, Hohn aus der Körperhaltung des Katers herauszulesen, aber das war albern, das wusste sie selbst. Es war Colins eigene Aufsässigkeit, ihr Widerstand gegen die ihr zugewiesene Rolle, die sie in das Tier hineinlegte, es ärgerte sie, wie bereitwillig ihr Bruder sich von ihr führen ließ.

Sie stellte ihm ein Glas Wasser hin, von dem er in kleinen Schlucken mit schweren Lidern nippte. Sie überlegte, ob sie ihm einen Kaffee machen sollte, aber er schien wieder bei Sinnen. Er lächelte sie müde an, um Fassung bemüht, begann, von der Arbeit zu erzählen. Von dem Käfig, den einer in seiner Wohnung hatte, für seine Frau. »Ich denke noch, wo ist denn der Hund?«, und dann erst habe er die Fesseln und Peitschen und alles gesehen. Von der Tunte, die sie verhaften mussten und die der Beamte nicht an ihre High Heels ranließ. »Aus purer Gehässigkeit. Der wollte die am liebsten im Schlüpper mitnehmen. Ich hab noch durchgesetzt, dass sie sich zumindest ’ne Hose anziehen darf.« Hannes stand auf, öffnete den Sack mit Trockenfutter, füllte Bernhards Schale auf.

»Ja, gut. Wenn du jetzt klarkommst, ich würde dann mal wieder …«

»Das ist so wie mit Pilzen«, hatte Eda gesagt. »Überirdisch einzelne Pflanzen, aber selbst wenn sie weit auseinanderstehen, sie gehören alle zum selben unterirdischen Geflecht. Ich dachte nur, dass wir zum selben Geflecht gehören, Colin. Du und ich.«

Hannes schaltete den Wasserkocher an und gab Kaffeepulver in eine Tasse, selbstvergessene Verrichtungen, als handele es sich um einen von Colins gewöhnlichen Besuchen: »Ich hab gar keinen Kuchen da, aber muss ja auch nicht immer.« Er goss den Kaffee auf: »Wo war ich jetzt gleich? Genau, ich sag dir das, wie es ist. Das muss man erst mal verkraften, wenn man jemanden auf die Straße setzen muss. Letzte Woche erst wieder. Eine ganze Familie. Araber oder so. Die sind schon auch ordentlicher. Und höflicher. Ich komm, um die zu räumen, und krieg erst mal Tee angeboten.« Hannes schüttelte den Kopf und gab Zucker in den Kaffee, reichte Colin die Tasse, die sich widerwillig auf den Berg Wäsche fallen ließ, der in einem Sessel zusammengeknüllt lag. »Das ist nicht leicht, Leute auf die Straße zu setzen, das tut einem richtig in der Seele weh.«

Colin schaute Hannes an, der jetzt schwieg und mit geschlossenen Augen rauchte. Er sah seltsam aus, seit dieser Sache. Colin musste immer blinzeln, wenn sie ihn ansah, um sicherzugehen, dass er wirklich da war. Ihr Bruder war wie die Mauer, die sich nicht weit von hier durch die Stadt gezogen hatte. Abgerissen, aber noch immer spürbar.

 

Auf einer vorspringenden Klippe des Steinbruchs, nur wenige Meter unter ihnen, ein Reh, den Kopf unnatürlich verdreht, das Genick gebrochen. Fliegen auf der Schnauze, Fliegen auf dem Rest des Körpers. Sie starrten hinunter auf das verendete Tier, auf den Knochen, der spitz aus dem Fell ragte, das leicht geöffnete Maul, die bloßgelegten Zähne. Colins Füße in den grünen Schuhen dicht am Abgrund, so dicht, dass schon eine leichte Böe ihr Schauder die Wirbelsäule hinuntertrieb. Eine Fliege flog zu ihnen hoch, setzte sich auf Hannes’ Hand. Diese ölig grün schimmernden Flügel. Colins lange Haare wehten Hannes ins Gesicht, sie war groß für ihr Alter, größer als er, obwohl sie ein Jahr jünger war.

Immer wieder tote Tiere in diesem Steinbruch, besonders Rehe, was unheimlich war, denn sie wussten, dass Rehe scheu waren und alles andere als unvorsichtig.

»Voll die blöden Viecher, ey«, sagte Colin in der unbeholfenen, aufgesetzten Abgebrühtheit einer Neunjährigen und schüttelte sich den Pony aus der Stirn. Der brave Haarschnitt passte nicht zu ihrem Gesicht, das schon früh alle kindliche Niedlichkeit verloren hatte, er gab Colin eine eigenartig biedere Ausstrahlung. Zudem steckte Nora Becker sie meist in altmodische Kleider, die Colin eine seltsame Strenge verliehen. Einer der Gründe, warum sie in ihrer Klasse unbeliebt war. Hannes allerdings traf es schlimmer.

»Hast du blaue Flecken?« Colins Stimme klang eher fasziniert als besorgt. Hannes zog sein Sweatshirt hoch. An der Seite, von der Hüfte bis zu den Rippen, zogen sich Rötungen, die sich im Laufe der nächsten Tage dunkler färben würden. Colin pfiff durch die Zähne, und Hannes grinste: »An den Beinen hab ich noch mehr!« Colins Bewunderung half Hannes, die Demütigung zu überspielen.

Colin hatte ihren Bruder in der großen Pause weder auf dem Schulhof noch vor dem Brötchenstand gesehen, ihn schließlich bei den Jungstoiletten gefunden, eingerollt in einer Kabine, die Brille zerbrochen, das Haar nass. Er hatte kein Wort gesagt und Colin hatte nicht gefragt. Alles, was Colin wissen musste, war deutlich zu sehen. Den Rest kannte sie, es war nicht das erste Mal. Sie hockte sich neben ihn, saß da, bis Hannes bereit war aufzustehen, dann gingen sie nach Hause, nicht nebeneinander, hintereinander.

Sie passten aufeinander auf, was noch lange nicht hieß, dass man sie miteinander sehen musste. Auf dem Schulhof standen sie nie beieinander, denn die Unbeliebtheit des anderen war ansteckend, das hatten sie gelernt. Sie waren einander keine Hilfe. Oft standen sie allein in entgegengesetzten Ecken des Schulhofes, aßen konzentriert ihr Pausenbrot und ignorierten einander und die Grüppchen, die sich überall bildeten. Colin war besser darin, unbeteiligt auszusehen, sie hatte immer ein Buch dabei, Hannes stand einfach da und schaute auf seine Füße. Manchmal aber verschwand Colin in einer der Gruppen, sie war nicht beliebt, aber unauffällig, sie stand als Füllmaterial zwischen ihren Mitschülerinnen, die sich über Dinge unterhielten, von denen sie nichts verstand, und hielt die Klappe.

Ihre Mutter saß auf den Treppenstufen vor dem Haus und rauchte, den Rock gerafft, ein Sakko ihres Mannes um die Schultern gelegt. Unwillkürlich zögerte Colin und zog Hannes, der ohne seine Brille kurzsichtig hinter ihr hergetrottet war, am Ärmel. Nora Becker schaute zum Wald hinüber, sah ihre Kinder nicht, sie blies den Rauch aus und wirkte auf eine ungewohnte Art entspannt. Colin wusste nicht genau, was ihr an diesem Bild so ungewöhnlich erschien. Ihre Mutter war perfekt geschminkt und frisiert, wie sie es immer war: die Lippen tiefrot, die Wimpern schwarz und lang, die blasse Haut gepudert, das rote lockige Haar hochgesteckt, und doch wirkte sie fremd. Es war das erste Mal, dass Colin Nora Becker nicht als Mutter wahrnahm. Wenn Hannes und Colin aus der Schule kamen, stand Nora üblicherweise in der Küche, oder sie lief geschäftig durchs Haus und tat Dinge, die Mütter eben so tun, manchmal machte sie ihre wohlverdiente Pause, dann saß sie hinter dem Haus auf der Terrasse und las, niemals saß sie auf der Treppe vor dem Haus und träumte vor sich hin.

Nora sah auf, ihr Blick schien von weit her zu kommen, ein kurzes Zögern: als müsste sie sich an ihre Kinder erinnern. Colin zog Hannes hinter sich her, seine Haare waren getrocknet. »Ihr seid aber früh!«

»Ich bin auf seine Brille getreten«, rief Colin, bevor Hannes irgendwas sagen konnte. Sie wusste nicht genau, wen sie damit beschützen wollte, Hannes oder ihre Mutter. Aber das wusste sie nie so genau in ihrer Familie. Man musste immer einen von ihnen verraten, um jemand anderen glücklich zu sehen.

»Ich hab jetzt noch gar nichts zu essen gemacht«, sagte Nora, als wären Colin und Hannes Besuch, der unangekündigt hereingeschneit kam. Sie drückte ihre Zigarette aus und stand auf: »Hannes, du musst wirklich besser auf deine Brille aufpassen. Was die gekostet hat!«

»Ich bin draufgetreten«, wiederholte Colin leise, sodass Hannes es hörte, nicht aber ihre Mutter. Ein billiger Trick, das wusste sie, aber Nora wirkte plötzlich ungehalten und gereizt. Jetzt galt es, die Mutter zu besänftigen, und auf Hannes konnte man sich nie verlassen, was das anging. Alles an ihm provozierte Nora. Wenn es darum ging, ihr ein Lächeln zu entlocken, musste Colin die Führung übernehmen.

Sie folgten der Mutter in die Küche, wo Nora Spaghettiwasser aufsetzte, Hackfleisch aus dem Kühlschrank holte und damit anfing, Zwiebeln zu schneiden. »Cornelia, deck doch schon mal den Tisch.« Colin und Hannes legten vier Platzsets auf den Tisch, holten Teller aus dem Schrank und füllten vier Gläser mit Orangensaft, ihr Vater würde in einer Stunde seinen Laden abschließen und zum Mittagessen kommen.

Der Steinbruch war ihnen verboten, ein gefahrvoller Ort, schon auf dem Weg durch die Felder befiel sie eine Aufregung, die keiner von ihnen zugab, die Morbidität des Steinbruchs, die toten Tiere, die langsame Zersetzung, das Gefühl, dass dort etwas Unnatürliches geschah. Die gebrochenen Knochen der Rehe adelten Hannes’ blaue Flecken, machten sie zu Blessuren eines Kampfes. Der leichte Verwesungsgeruch, der ihnen in die Nase stieg, ließ sie alle Demütigung vergessen.

Hannes drehte sich zum Feld in ihrem Rücken um, als plane er etwas und schaue nach möglichen Zeugen. Aber auch dort nur Rehe, Hufspuren im feuchten Boden, die bis an die Reihenhaussiedlung heranführten. Diese Siedlung mit den erschlagenen Maulwürfen in den Vorgärten, daneben die Rosenstöcke, die Geranien, der Oleander, der grüne Rasen, auf dem die Hügel wieder eingeebnet und mit frischem Saatgut bestreut wurden. Fallen gegen die Marder, die an den Leitungen parkender Autos nagten, Rattengift gegen die Füchse, das vor allem aber die Rehe erwischte. Eine so traurige wie banale Erklärung für die toten Tiere im Steinbruch – Hannes und Colin aber brauchten die Ahnung eines Zaubers, auch wenn es ein düsterer war. Das Gefühl, dass eine böse Macht nach ihnen greifen konnte, den Triumph, ganz knapp einem schrecklichen Schicksal entronnen zu sein.

Nur hier erlaubten sie sich den Gedanken, dass sie ihrer Schicksalsgemeinschaft entfliehen könnten. Der Sog der Tiefe, ein Zucken ging durch ihre Körper, als hätte einer den anderen gestoßen, sie holten scharf Luft und sahen sich den ganzen Heimweg über nicht an. Beide mit dem Gefühl, sich schuldig gemacht zu haben, beide mit einem Blick in die eigenen Abgründe.

 

Nora schaute auf die Uhr, die an der Wand über dem Küchentisch hing, 7 Uhr 17, am Küchenfenster gingen schon die ersten Kinder vorbei, dabei fuhr der Bus erst in zwölf Minuten. Sie schnitt Apfel- und Möhrenstücke und füllte sie in kleine Plastikbeutel, schlug Brote in Alufolie ein, dazu zwei Trinkpäckchen und verstaute alles in den zwei Schulranzen, die im Flur bereitstanden.

Auf dem Küchentisch die Reste des Frühstücks, eine halbherzig gelesene Zeitung, in der Tasche ihres Bademantels das Buch, das sie gerade angefangen hatte. Sie hatte es heute probeweise beim Frühstück aufgeschlagen, als Martin in der Zeitung blätterte, die Blicke der Familie daraufhin so ratlos, dass sie es direkt wieder in den weiten Taschen des Bademantels verschwinden ließ. Sie hörte, wie Martin sich im Flur Jacke und Schuhe anzog, dann stand er in der Küchentür, die Hosenbeine mit silbernen Fahrradklammern zusammengefasst, er lächelte leicht gehetzt, wartete, dass sie zu ihm kam, um ihn zu verabschieden. Seit sie ihn einmal angefahren hatte, als er mit schlammverschmierten Schuhen über den frisch gewischten Küchenboden geeilt war, betrat er selbst mit trockenen Schuhen keinen der Räume mehr. Aus dem oberen Stockwerk die Stimme von Colin, die Hannes ermahnte, nicht das Wasser laufen zu lassen, während er sich die Zähne putzte, dann trottete sie in ihrer langsamen, fast schwerfälligen Art die Treppe hinunter, zog wortlos Jacke und Schuhe an, setzte ihren Ranzen auf und wartete auf Hannes.

Colin und Hannes, die letzten in der Prozession der Kinder, die über die Kreidebilder auf dem Plattenweg liefen. Blaue und rote Scout-Ranzen, manche neu und glänzend, andere mit sich ausbreitenden Flecken ausgelaufener Filzstifte und Fettflecken von Salamibroten. Dazwischen Teenager, die Rucksäcke und lederne Schultertaschen trugen.

Die Reihenhaussiedlung, in der die Beckers wohnten, dehnte sich nah am Wald, durch den sich ein verschlammter Fluss schlängelte. Sie war der letzte Ausläufer der Stadt, dahinter begann die gezähmte, behäbige Flora des deutschen Nordens, geforstete Fichtenwälder, Weizen- und Maisfelder, ein paar Wiesen mit verstreuten Findlingen, jeder einzelne mit einer Gravur versehen; was man nicht beackern, ernten, roden oder fällen konnte, musste man zumindest beschriften.

Die Siedlung lag an der Endhaltestelle, der Busfahrer stand auf der Straße und trank Kaffee aus einer Thermoskanne, während sich der Bus mit Kindern füllte, dazu ein paar Rentnerinnen mit gehäkelten Einkaufsnetzen, welche die neue Linie nutzten, um die zwei Kilometer zu Martin Beckers Lebensmittel- und Haushaltswarenladen, den er die Beckerei getauft hatte, nicht zu Fuß zurücklegen zu müssen.

Nora schloss die Haustür, ging in die Küche und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, dann setzte sie sich im Bademantel auf die Terrasse hinter dem Haus, ließ ihren Blick über den kleinen Garten wandern und rauchte eine Zigarette. Aus den Nachbarhäusern drang schon das Summen der Staubsauger herüber, das Brummen der Spülmaschinen und Waschmaschinen, in den Gärten wurden die Wäschespinnen aufgespannt, die Blumen, der Rhabarber, die Radieschen und die Petersilie gegossen und das Unkraut gejätet. Es wurden Bartstoppeln aus Waschbecken gewischt, Brotkrümel vom Frühstückstisch und die feuchten Fußabdrücke der Kinder vom Badezimmerboden. Nora holte ihr Buch hervor und schlug es auf. Sie gehörte noch zu der Generation von Frauen, die Frotteebettwäsche aus einem ganz speziellen Grund zu schätzen wusste: weil man sie nicht mangeln musste. Zum Einzug ins Reihenhaus hatte sie, neben dem schweren alten Jahrhundertwendeleinen, auch eine Mangel von ihrer Mutter bekommen. Paula Bode hatte extra zwei junge Männer angeheuert, die das Monstrum aus ihrem Keller zerrten, die Treppe hochwuchteten, in einem gemieteten Kleinlaster 80 Kilometer in die Siedlung fuhren und es in das winzige Reihenhaus schleppten, wo es sich im Flur so verkeilte, dass es die Tapete zerfetzte. Jahrelang hatte Nora einmal in der Woche im Waschkeller gestanden und unter heftigem Zischen und beeindruckender Dampfentwicklung zähneknirschend das Leinen durch die Mangel gezogen, während Colin fasziniert neben ihr stand und jedes einzelne gottverdammte Mal, bevor sie den glühend heißen Deckel über der Rolle zuklappte, aufschrie: »Mama! Finger!«

Nora Becker konnte nicht sagen, ob das aufschießende Bedürfnis, die Finger zwischen Mangelrolle und Heizplatte zu stecken, durch die Angst ihrer Tochter überhaupt erst entstanden war. Die einzige wirkliche Rebellion gegen die eigene Mutter, die Nora kannte, war die Autoaggression; das vielleicht schwierigste Erbe, das sie ihren Kindern vermachte.

Wie bei jedem Frühstück hatte Martin auch heute gefragt, was es zum Mittagessen geben würde, und Nora, die morgens nichts hinunterbekam außer einem schwarzen Kaffee, hatte, wie jeden Morgen, das leichte Würgen, das sie bei dem Gedanken an eine fleischlastige Hauptmahlzeit befiel, unterdrückt und »Auflauf« gesagt, weil das viele Optionen bot. Es machte sie traurig und gleichzeitig wütend, mit welch zärtlicher Vorfreude ihr Mann diese Frage stellte und wie enthusiastisch er sich ihrer Fürsorge überließ. Vor allem aber: wie anspruchslos er war. Nora war keine gute Köchin, Martin aber lobte noch das schlichteste ihrer Gerichte, was ihr, wenn sie gerade eine Dose Corned Beef, eine Dose Erbsen und ein paar Spirelli in eine Auflaufform geschichtet und mit Gouda bestreut hatte, kein gutes Gefühl gab. Ob Bratwürstchen mit aus Pulver aufgekochter Jägersoße und Kartoffelpüree aus der Tüte oder Salzkartoffeln mit Erbsengemüse aus der Konserve und fertigen Frikadellen von Aldi – Martin lobte jedes Essen nach dem ersten Bissen. Immer mal wieder nahm sie sich vor, vernünftig zu kochen, kaufte Zeitschriften mit Rezepten, aber schon die strahlenden Hochglanzgesichter der Frauen, die mit makelloser Frisur ihre sorgsam angerichteten Teller präsentierten, machten Nora so aggressiv, dass sie lieber Unkraut jäten ging, in einem Furor, dem auch die eine oder andere Tulpe zum Opfer fiel.

Nora sammelte gerade verstreute Socken zusammen, als sie das Heft mit den Matheaufgaben unter Colins Schreibtisch fand. Sie überlegte nur kurz, ob es wichtig war, ihrer Tochter das Heft in die Schule zu bringen. Sie fühlte sich nicht schuldig, dass sie es nicht tat. Sie fühlte sich schuldig, mit welcher Geschwindigkeit sie entschied, dass die Zahlen, die sorgsam in die kleinen Karos gemalt waren, den Aufwand nicht lohnten. Ihre Tochter war Klassenbeste, der Lehrer würde ihr das Fehlen der Aufgaben verzeihen, und was die Kinder heute heiße Tränen kostete, war ihnen übermorgen schon wieder entfallen. Nora konnte sich kaum an ihre Kindheit erinnern, und was sie erinnerte, hätte sie gern vergessen. Deswegen fiel es ihr manchmal schwer, die Emotionen ihrer Sprösslinge mit der gebotenen Dringlichkeit zu betrachten. Kinder waren widerstandsfähig, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Nicht alles zu erinnern sei ein Segen, hatte Paula Bode immer gesagt, und wenn Nora auch mit ihrer Mutter in kaum etwas übereinstimmte: In diesem Punkt musste sie ihr recht geben.

Einmal, Colin war etwa sechs Jahre alt, war Nora im Wald einem Exhibitionisten begegnet. Der Mann hatte sich plötzlich aus dem Schatten der Bäume gelöst, den Mantel geöffnet, darunter sein erigierter Penis, und bevor Nora überhaupt begriff, was sie sah, hatte sie schon die Stimme ihrer Mutter im Kopf: »Was gehst du auch im Wald spazieren. Da muss ja was passieren.« Und Nora blieb stehen, unfähig, sich der Situation zu entziehen, starrte diesen Mann an, dessen Grinsen immer mehr Macht bekam. Nach einer Weile war der Mann zurück in den Schatten geglitten und hatte der Dunkelheit des Waldes jede Unschuld genommen. Nora stand reglos auf dem schmalen Pfad, und der Wald, der immer ihr Rückzugsort gewesen war, ihr immer Sicherheit gegeben hatte, schien plötzlich unübersichtlich und voller Gefahren zu sein. Dann Colins dünne Stimme: »Mama, du musst keine Angst haben.« Als wäre ihre Tochter erst in diesem Moment an ihrer Seite aufgetaucht. Auf dem Kopf das orangefarbene Erstklässlerkopftuch, das sie stolz auch am Nachmittag trug, hatte sie reglos neben ihr ausgeharrt, schließlich tröstend an ihrer Hand gezupft. Nora hatte den Druck der Kinderhand erwidert, dann waren sie beide der nahen Siedlung zugeeilt, während die Schatten des Waldes sich hinter ihnen schlossen. Colin hatte nie ein Wort über den Vorfall verloren, Nora war überzeugt, dass sie ihn vergessen hatte. In Nora Beckers Erinnerung war es ein Erlebnis, das ihr widerfahren war, nicht ihrer Tochter. Und deshalb fiel ihr auch nicht auf, dass sie ihrer sechsjährigen Tochter nicht nur keinen Schutz geboten, sondern dass, umgekehrt, Colin sie beschützt und getröstet hatte.

Nora Becker war schon einunddreißig Jahre alt, als sie mit Hannes schwanger geworden war. Als der Teststreifen ihre Vermutung bestätigte, lief sie in die Küche, um sich zur Beruhigung ein paar Pumpernickel-Käsespieße mit Weintrauben zu machen. An jenem Abend bettete Martin seinen Kopf in ihren Schoß und weinte vor Glück. Martins Tränen waren eine Reaktion, die Nora genauso wenig schätzte wie die Haltung ihrer Mutter, die auf die Botschaft mit einem kurzen »Ach je« geantwortet und auf Noras irritierte Nachfrage erklärt hatte: »So eine Geburt vergisst man nicht. Das zerreißt einen. Aber dein Vater wollte unbedingt ein Kind.«

Erstaunlicherweise jedoch wurde Nora Becker, die fast zehn Jahre lang heimlich verhütet hatte, von einer fast fröhlichen Aufregung ergriffen, sodass ihr weder die rührselige Art ihres Mannes noch die selbstbezogene Härte der Mutter wirklich etwas ausmachte.

Bald nach der Geburt ihres Sohnes sollte ihr klar werden, dass sie lieber schwanger als Mutter war. Auf die Eigensinnigkeit von Säuglingen, auf ihre Untröstlichkeit und Fremdartigkeit war sie nicht vorbereitet. Als sie ein Jahr später noch ein Mädchen zur Welt brachte – Nora war dem Mythos erlegen, dass Stillen vollkommen ausreichte, um eine weitere Schwangerschaft zu verhindern –, wurde auch Martin Becker bewusst, dass die Idee, die er von einem Familienleben gehabt hatte, eine sehr romantische gewesen war. Seine rasend schnell heranwachsenden Kinder waren nicht so, wie er sie sich erträumt hatte. Der Sohn ungeschickter und weniger robust, die Tochter weniger niedlich. Beide zudem emotional merkwürdig zurückgezogen, dabei sehr aufwendig in den verschiedenen körperlichen Bedürfnissen. Er hatte sich immer vorgestellt, wie sie über den Rasen vor dem Haus auf ihn zuliefen, wenn er von der Arbeit kam, stattdessen saß die Tochter heulend in der Sandkiste, und der Sohn fiel auch grade über die eigenen Füße.

Weil sie als Kinder nie selbstbezogen sein durften, betrachteten Martin und Nora ihre eigenen Nachkommen mit Skepsis: Die natürliche kindliche Selbstbezogenheit erschien ihnen als Egoismus. Sie fühlten sich provoziert durch den Trotz, mit dem der Sohn Aufmerksamkeit einforderte, die Zurückgenommenheit und Fügsamkeit der Tochter werteten sie als Ergebnis ihrer guten Erziehung. Colins Dünnhäutigkeit jedoch hatte in ihren Augen etwas Vorwurfsvolles, die Schatten, die dem Mädchen bei jeder Kleinigkeit übers Gesicht zogen, gaben Nora ständig das Gefühl, als Mutter zu versagen.

Nora fuhr mit dem Staubsauger den Teppich im Wohnzimmer ab, als das Telefon klingelte. Das schrille Läuten, obwohl vom Lärm des Staubsaugers gedämpft, fuhr Nora durch den ganzen Körper. Es war selten ein gutes Zeichen, wenn das Telefon klingelte.

»Na, erreicht man dich doch mal. Du meldest dich ja nie.«

Die Stimme ihrer Mutter war schwer von Whisky.

»Mama, es ist noch vor Mittag. Du ruinierst dir doch deine Gesundheit!«

»Das ist für den Kreislauf. Hat sogar der Arzt gesagt. Mein Blutdruck ist so niedrig, da könnte sonst was passieren. Sonst was. Könnte. Passieren. Und dann lieg ich hier, ganz allein, und keiner kriegt es mit. Keiner. Kriegt. Es. Mit!« Nora dachte, dass außer ihrer Mutter nur ihr Mann so sprach. Als würde er einen Punkt hinter jedes einzelne Wort setzen.

Nora konnte sich an keine Zeit erinnern, in der sie nicht das Gefühl hatte, sich Sorgen um ihre Mutter machen zu müssen. Noras Kindheit, die nicht mehr als die Sollbruchstelle im Leben des ruinierten Menschen war, in dessen Obhut sie aufwuchs.

»Aber ich bin ja selbst schuld. Ich hab dich viel zu sehr verwöhnt. Dein Vater war einfach zu weich. Der hat gar nicht gemerkt, dass du dich so in den Vordergrund gespielt hast. Eine kleine Prinzessin.«

»Hmja, Mama, ich weiß.«

Nora zündete sich eine Zigarette an. Sie hörte das Klappern von Töpfen und Pfannen aus den anderen Wohnungen, über den Garten wehte der Geruch von Eintöpfen und gebratenem Fleisch herein, die Stimme ihrer Mutter wurde leiser, verwaschene Silben, eine ferne Melodie, die langsam an Bedeutung verlor. Nora rauchte mittlerweile die dritte Zigarette und löste Kreuzworträtsel. Sie saß auf dem Teppich, das Telefon neben sich auf dem Boden, das Kreuzworträtsel auf den Knien, sie war einundvierzig Jahre alt und sah aus wie ein eingeschüchtertes Mädchen.

Als sie die ersten Autos hörte, die in die Anliegerstraße einbogen, als das Klappern der Autotüren die Männer ankündigte, die ihre Mittagspause zu Hause verbrachten, als sie die entfernten Stimmen der heimkehrenden Kinder hörte, drückte sie ihre Zigarette aus, verabschiedete sich von ihrer Mutter, strich ihren zerknitterten Rock glatt und ging in die Küche. Sie holte Mehl aus dem Vorratsschrank, Milch und Eier aus dem Kühlschrank. Routinierte Handgriffe, während sie darauf wartete, dass ihr Mann und ihre Kinder nach Hause kamen und sie daran erinnerten, dass sie der Mutter schon lange entwachsen war.

 

Als hätte eine Feuerqualle sie erwischt. Colin saß auf dem Turnhallenboden, ihr war schwindelig, ihre Wange brannte. Einer ihrer Zöpfe hatte sich gelöst und hing ihr über die Schultern. Sie fühlte den klebrigen, sandigen Boden der Turnhalle unter ihren Händen. Die Kinder um sie herum lachten. Colins Wange fühlte sich riesengroß an.

Schon der Geruch nach Turnschuhen, Schweiß und dem Gummi von Bällen und Matten löste Beklemmung bei den Becker-Geschwistern aus. Die dicken blauen Matten mit den ledern verstärkten Ecken, die Netze mit den Handbällen, Basketbällen und Fußbällen, die speckigen Turngeräte, an denen Generationen von Schülerinnen und Schülern sich blaue Flecken und Schwielen eingehandelt hatten. Das Schlimmste von allem aber waren die Ringe und Seile. Kein Schrecken in Hannes’ und Colins Grundschulleben war mit dem vergleichbar, der sie befiel, wenn die blonde Sportlehrerin mit den kurzen Haaren und der fröhlichen Strenge die lange Stange mit dem Haken aus der Ecke holte und die Ringe und Seile von der Hallendecke herunterzog. Eine Station im Zirkeltraining-Parcours, an der die Becker-Geschwister besonders auffällig scheiterten. Es gab die Kinder, die triumphierend nach ganz oben kletterten, es gab die Kinder, die sich bis zur Hälfte mühten und mit brennenden Handflächen am Seil wieder hinunterrutschten, und es gab Hannes und Colin, die mit geschlossenen Augen auf dem Knoten saßen, das Seil umklammert, bis der Pfiff ertönte, das Signal zum Wechseln der Station, und sie auf die nächste Matte plumpsten.

Mannschaftssport war für beide nicht weniger herausfordernd. Sie saßen immer als Letzte auf der Bank, bis die jeweiligen Mannschaftskapitäninnen das Unglück augenrollend unter sich aufteilten. Eine Demütigung, die sich auf dem Spielfeld fortsetzte, wo sie hilflos in die eine oder andere Richtung rannten, sich ihnen der Ball, den sie werfen wollten, aus den Händen drehte, und sie sich duckten, wo andere dem Ball entgegensprangen.

Sie bewegten sich ungern, hatten keine Kraft, schlechte Koordination, ihre Körper waren schwerfällig, nahmen mehr Raum ein, als sie füllen konnten, und strahlten eine Robustheit aus, die ihnen die letzte Hoffnung auf Schutz nahm.

Colin sah auf. Hannes lachte mit den anderen Kindern, machte nach, welchen Gesichtsausdruck sie gehabt hatte, als der Ball sie ins Gesicht traf, wie sie sich erst nachträglich mit den Händen zu schützen suchte, dabei das Gleichgewicht verlor und hinfiel. Hannes imitierte in seiner ungelenken Art ihren Sturz so zutreffend, dass das Lachen gar nicht abzureißen schien. Immer wenn es zu verebben drohte, legte er nach, es war selten, dass der Spott nicht ihm galt. Dass das Lachen ihn einschloss, ihn zum Teil einer Gruppe machte, war für Hannes ein so seltener Rausch, er konnte nicht aufhören, ihn auszukosten. Colin legte den Kopf in den Nacken, eine Technik, die gegen aufsteigende Tränen half, Weinen war eine rein physische Reaktion, man konnte sie also mechanisch bekämpfen. Sie stand auf und strich sich die Shorts über die Oberschenkel, Hannes’ Shorts, seit einiger Zeit zog sie beim Sportunterricht Sachen ihres Bruders an, eine Entscheidung, über die Nora zwar den Kopf schüttelte: Du bist doch eigentlich so ein hübsches Mädchen, die sie aber duldete, solange Colin die Sachen nur in der Turnhalle trug.

Colin nahm sich den Ball, »hat gar nicht wehgetan«, rief sie und schleuderte ihn in die Gegnermannschaft, versuchte es zumindest, aber der Ball drehte sich vor dem Wurf schon aus ihrer Hand und tropfte auf den Boden. Das Lachen schwoll erneut an, legte sich über den Schmerz, der in ihrem Gesicht brannte, und stach sie am ganzen Körper, alles an ihr war der Lächerlichkeit preisgegeben. Die aufgerissenen Münder der anderen Kinder, ihre ausgestreckten Zeigefinger, Hannes, der in einer Imitation ihres Schreckens die Augen albern aufgerissen hatte. Durch seine dicken Brillengläser wirkten sie noch größer, er war die Karikatur ihres Versagens. Colin schnappte sich den Ball, bündelte all ihre Kraft und feuerte ihn ihrem Bruder mitten ins Gesicht.

Das Seltsame bei den Becker-Geschwistern: Sie verfehlten immer ihr Ziel, außer wenn sie sich gegenseitig verletzen wollten. Sie waren hoffnungslos ungeschickt mit einem Ball in ihrer Hand. Außer, wenn sie das Gesicht des anderen ins Visier nahmen. Colins Ball schnitt pfeilgerade durch die feuchtwarme Luft, in der sich der Schweiß der Klasse sammelte, und traf Hannes mitten ins Gesicht. Nicht so fest, dass ihn der Aufprall umgeworfen hätte, aber doch fest genug, um seine Brille zu zerstören und Glassplitter rund um sein linkes Auge in die Haut zu treiben.

Am frühen Abend saß Hannes am Schreibtisch und kämpfte noch immer mit den Hausaufgaben, aus Colins Zimmer drang schon die Titelmusik der Drei???, sie erledigte die Aufgaben mit einer Mühelosigkeit, die er als Provokation empfand. Sein Kopf tat weh, schon wieder musste er auf eine neue Brille warten. Der Nebel, der über der Siedlung lag, ließ das Zimmer kleiner erscheinen, als es ohnehin war. Ein fast körperliches Zwielicht, das von draußen gegen die Scheiben drückte.

Plötzlich Colin im Halbdunkel des Zimmers, die Schulhefte am ausgestreckten Arm: »Du kannst abschreiben, wenn du willst.« Der Ton trotzig, das Gesicht schuldbewusst, er hatte sie gedemütigt, sie hatte ihn verletzt, er hatte sie verpetzt, sie wussten beide häufig nicht mehr, ob sie ärgerlich waren oder sich schuldig fühlten.

Als Nora zum Abendessen rief, schlichen sie die Treppe hinunter, in der beklommenen Frustration, die der fast routiniert aufziehende Streit zwischen Hannes und dem Vater schon vorher auslöste. Dieses Mal aber mit einer leisen Hoffnung, dass die Verletzung dem Vater Achtung abringen, das Abendritual ändern könnte.

Martin Becker schien seinem Sohn nicht einfach nur so gegenübersitzen zu können. Hannes’ ganze Art, seine trotzige Unsicherheit, sein weiches Gesicht, der runde Rücken, alles brachte den Vater gegen ihn auf. Besonders schlimm war es, seit Hannes zurückgestellt worden war – ein langwieriges Drüsenfieber hatte ihn schulisch so weit zurückgeworfen, dass er in Colins Klasse versetzt – und dennoch nur mühsam den Anforderungen gerecht wurde. »Wie kann man den Stoff der Grundschule nicht beherrschen! So was habe ich ja noch nie gehört. In der zweiten Runde!«

Hannes wehrte sich mit Aufsässigkeit und unbeholfenen Sticheleien, Colin saß dazwischen, in stiller Empörung auf die Vorsätzlichkeit, mit der beide jede Aussicht auf Harmonie zerstörten. Jeden Abend fanden am Esstisch der Beckers diese verwirrenden Kämpfe statt, rasch ausbrechende Auseinandersetzungen, deren Ursprung Hannes und Colin nicht benennen konnten, aber das ging ihnen ja auch in der Schule so. Hannes wusste nicht, was die Leute gegen ihn aufbrachte. Alles, was er sagte und tat, wurde falsch verstanden. In der Schule wehrte er sich nicht dagegen. Zu Hause schon. Ein hilfloser Versuch, dem Vater Wertschätzung abzugewinnen.

Heute aber hatte er einen entscheidenden Vorteil: eine Sportverletzung. Sportverletzungen respektierte Martin Becker, daher waren die Geschwister überrascht, als er nicht mit der erhofften Anerkennung reagierte. Hannes war jedoch nicht bereit, schnell aufzugeben: Es habe sehr stark geblutet, so stark, dass die Schulkrankenschwester sehr besorgt gewesen sei. Er schaute Colin an, damit sie die Richtigkeit seiner Erzählung bezeugen konnte, Colin nickte zwar, schwieg aber verbissen.

»Das sind keine Wunden, das sind Kratzer«, sagte Martin Becker trocken, dann wandte er sich Nora zu: »Na, was hast du uns denn heute Schönes gezaubert?« Er beugte sich vor und schnupperte am Hackbraten: »Sternchen, das riecht ganz hervorragend!« Eine ganz ursprüngliche Freude im Gesicht, die speziell Braten in ihm auslöste. Er gab Nora einen Kuss und strich ihr mit dem Finger sanft über das Gesicht.

Hannes versuchte es noch mal: »Die Krankenschwester hat gesagt, fast hätte man nähen müssen!«

»Ist ja zum Glück glimpflich abgegangen«, sagte Nora tröstend. Sie schnitt den Hackbraten, Martin saß sehr gerade auf seinem Platz, die Hand am Porzellan, und verfolgte aufmerksam die Bewegungen seiner Frau, den Teller schon fast in der Luft. »Na, die ist aber dünn geraten!« Nora seufzte und legte die Bratenscheibe auf ihren eigenen Teller, suchte eine andere, dickere für ihren Mann aus. Martin nickte zufrieden und fügte, an Hannes gerichtet, hinzu: »Was hab ich früher alles eingesteckt, so einen Kratzer hätten wir gar nicht bemerkt.« Er schüttelte den Kopf: »Wegen solch einer Lappalie hätten wir uns damals keine Tränen leisten können, sonst wären wir ja aus dem Weinen gar nicht mehr rausgekommen. Du bist aber auch wirklich empfindlich.«

Hannes starrte auf seinen Teller, die Enttäuschung seines Vaters schwer im Nacken. »Ich hab gar nicht geheult!« Hannes war so aufgeregt, dass seine Stimme dünn wurde. Er weinte nicht, wenn seine Klassenkameraden ihn auf dem Klo verprügelten. Er weinte auch nicht, wenn er überall Glassplitter im Gesicht hatte. Aber nicht einmal seine Tapferkeit fand Anerkennung beim Vater.

»Das stimmt. Er hat nicht geweint. Und es hat schlimm geblutet.« Colin.

Der ungewohnte Widerwillen in ihrer Stimme demonstrierte, dass sie ihm die Petzerei noch nicht verziehen hatte.

»Ach, jeder andere wäre rechtzeitig ausgewichen! Das ist doch nicht nur Ungeschicklichkeit. Er will einfach nicht!« Und plötzlich ging es nicht mehr um Hannes’ Verletzung, sondern um das Hobby, das Martin ihm angetragen hatte: ein Modellflugzeug. Der Nachbau hatte zu einem klebrigen Klumpen von Kleinteilen geführt, darauf ungeschickt aufgetragener Lack mit dicken grauen Tränen. Dazwischen Fingerabdrücke. So unbeholfen könne man unmöglich sein, behauptete Martin Becker, das habe er doch absichtlich so verhunzt.