Stadt aus Rauch - Svealena Kutschke - E-Book

Stadt aus Rauch E-Book

Svealena Kutschke

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Beschreibung

Wild und wunderbar. Ein Roman von großer Schönheit und Poesie. Taiye Selasi

Lucie wird in einer eisigen Winternacht in der Trave geboren, mit einer Gabe, die für die kommenden Generationen Segen und Fluch sein wird. Stadt aus Rauch ist ein faszinierendes Epos einer Familie, auf die die Wirren des 20. Jahrhunderts ihre langen Schatten werfen. Von großmäuligen Denunzianten und kleinmütigen Helden, von Bürokraten des Verbrechens und Hochstaplern der Kunst, von der Verführung des Faschismus und vom Schweigen derer, die glauben, schuldlos zu sein: Die Tragödie eines ganzen Jahrhunderts spiegelt sich in der eigentümlichen Welt von Lübeck, wo Historie von Seemannsgarn kaum zu unterscheiden ist. Ein mitreißendes literarisches Wagnis.

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Seitenzahl: 823

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungTeil 1 SommersonnenwendeKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Teil 2 WintersonnenwendeKapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14

Über dieses Buch

Wild und wunderbar. Ein Roman von großer Schönheit und Poesie. Taiye Selasi Lucie wird in einer eisigen Winternacht in der Trave geboren, mit einer Gabe, die für die kommenden Generationen Segen und Fluch sein wird. STADT AUS RAUCH ist ein faszinierendes Epos einer Familie, auf die die Wirren des 20. Jahrhunderts ihre langen Schatten werfen. Von großmäuligen Denunzianten und kleinmütigen Helden, von Bürokraten des Verbrechens und Hochstaplern der Kunst, von der Verführung des Faschismus und vom Schweigen derer, die glauben, schuldlos zu sein: Die Tragödie eines ganzen Jahrhunderts spiegelt sich in der eigentümlichen Welt von Lübeck, wo Historie von Seemannsgarn kaum zu unterscheiden ist. Ein mitreißendes literarisches Wagnis.

Über die Autorin

Svealena Kutschke ist in Lübeck geboren und studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim. Sie ist Preisträgerin des Open Mike der Berliner Literaturwerkstatt 2008. Ein Jahr später erschien ihr Debüt »Etwas Kleines gut versiegeln«. Sie erhielt das Berliner Senatsstipendium, das Arbeitsstipendium der Stiftung Schleswig-Holstein und Aufenthaltsstipendien in China, Polen und Kroatien; ihre Beiträge erscheinen in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien. 2013 erschien ihr zweiter Roman »Gefährliche Arten« im Eichborn Verlag.

SvealenaKutschke

STADTAUSRAUCH

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

  

Originalausgabe

  

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

  

Textredaktion: Martin Mittelmeier, Köln

Umschlaggestaltung: U1berlin/Patrizia Di Stefano

Einband-/Umschlagmotiv: U1berlin.de unter Verwendung eines Motives von © getty-images/Jose A. Bernat Bacete

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7325-4785-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

»… und seit Jahr und Tag wartet der Wind vor der Marienkirche auf den Teufel, der nie erscheint. Er muss die Sünder in die Hölle bringen.«

Mündliche Überlieferung

Teil 1SOMMERSONNENWENDE

KAPITEL 1

Magdalena stand am Ufer der Trave und schaute auf die schwarzen Wellen, die an ihren Füßen leckten. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, älter als das 20. Jahrhundert, nicht alt genug, dem Teufel gegenüberzutreten.

Der Teufel stand auf der anderen Seite der Trave, Schnee fiel durch seinen Körper, Magdalena sah ihn an, und das Ungeborene in ihrem Leib öffnete die Augen.

Letzte Nacht war die Trave über die Ufer gestiegen, die Treppen der Häuser an der Obertrave emporgekrochen, hatte die Sandsäcke durchweicht, war in die Dielen geflossen und hatte die beiden einzigen Keller gefüllt, die es an der Obertrave gab. Als das Wasser langsam zurückwich, ließ es ertrunkene Ratten, aufgeweichte Rechnungsbücher und verrostetes Werkzeug zurück. Und Magdalena. Sie saß auf dem Boden zwischen drei Bierfässern, zwei schwammigen Brotlaiben und einem glitschigen Schinken, die Beine lang ausgestreckt, die Hände blau vor Kälte, aber zu Fäusten geballt. Als das Hochwasser kam, hatte sie sich im Keller der Gastwirtschaft in der Hartengrube hinter den Bierfässern versteckt, fest entschlossen zu sterben. Die Männer hatten den Weinbestand gerettet, Fässer mit gesalzenem Hering und die meisten Räucherwaren. Aber als sie das erste Bierfass die schmale Stiege hinaufwuchteten, war das Wasser bereits in die Gasträume gesickert. Sie schlossen die Kellertür, stapelten Sandsäcke davor und hofften.

Das tat auch Magdalena. Oben beteten die Männer um einen glimpflichen Verlauf, unten ersehnte Magdalena eine mächtige, erlösende Flut. Aber das Wasser sickerte in dünnen, trüben Strahlen in den Keller. Als der Pegel ihre Oberschenkel bedeckte, war Schluss. Einer weniger Entschlossenen hätte die Gemächlichkeit des ansteigenden Wasserspiegels wahrscheinlich den Lebenswillen zurückgegeben. Aber Magdalena fürchtete das Leben, besonders das ungeborene, mehr als den Tod. Sie war vielleicht nicht entschlossen genug, in einer Pfütze zu ertrinken, aber dafür, sich nicht von einem einzigen missglückten Versuch von ihrem Vorhaben abbringen zu lassen, reichte es.

In der nächsten Nacht ging sie zum Wasser hinunter. Wenn die Trave nicht zu ihr kam, musste sie eben zur Trave.

Sie stand am Ufer neben der Dankwartsbrücke, ein paar bleiche Sterne spiegelten sich auf der Wasseroberfläche. Hätte Magdalena Angst vor der Hölle gehabt, hätte ihr dieser Anblick vielleicht geholfen. Den Teufel austricksen, sich von der Trave einen direkten Zugang zum Himmel verschaffen, etwas in dieser Art, sie hatte aber keine Angst vor der Hölle. Sie glaubte nicht an die Hölle, was Grund genug war, genau dort zu landen, so hatte sie den Pastor verstanden. In ihrem Fall gab es mehr als diesen einen Grund.

Der Teufel stand auf der anderen Seite der Trave, klopfte eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie zwischen die Lippen, nahm eine Schachtel Zündhölzer aus der Tasche seines Fracks und strich eines an. Der Schein der Flamme schälte sein Gesicht aus der Nacht, sein schwarzes zurückgekämmtes Haar, den dichten Bart, die gleißend blauen Augen, die rotgeschminkten Lippen. Die Hand mit den langen, rotlackierten Fingernägeln. Er zündete die Zigarette an, der Schein der Glut erhellte das ganze Viertel. Es begann mit einem unsteten Licht, wie ein Wetterleuchten, das über der Trave zitterte, wenn er an der Zigarette zog. Bald aber war es so hell, als würde mitten in der Nacht die Sonne scheinen. Ein Paar, das im Schein einer Gaslaterne stritt, verstummte; zwei Männer, die sich gerade noch geprügelt hatten, ließen ihre Fäuste sinken und fanden es plötzlich schwer, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. Alle schauten zum Himmel, der dunkel und eisig über dem Licht lag. In der Dankwartsgrube, der Marlesgrube, der Hartengrube traten die Leute vor ihre Häuser, schüttelten ihre Uhren, schlurften in Nachthemd und Mantel die Straßen hinunter.

Die Straßen waren erleuchtet, als wären sie in Brand gesetzt. Auch die düstersten Gassen und Hinterhöfe, sogar die sargschmalen Tunnel, die zu den Hinterhäusern führten und immer dunkel und klamm waren, wurden unbarmherzig ausgeleuchtet. Am Hafen torkelten Matrosen aus den Kneipen, plötzlich überzeugt, dass die nächste Ausfahrt die letzte sein würde, Huren rafften ihre Tücher über der Brust und schauten zu den Türmen der Jacobikirche empor, Kapitäne nahmen sich vor, ihre Kogge ein zweites Mal zu taufen, sie hatten so ein Gefühl.

Das Licht fraß sich die Gruben hinauf in die Mühlenstraße, wo Mädchen handgeklöppelte Träume träumten, und in die Burgstraße, wo ein Junge fiebrige Liebesbriefe schrieb und ein Pastor zum ersten Mal in seinem Leben nicht sicher war, ob eine Sache Gott oder seinem Widersacher zuzuordnen war. Ein paar Häuser weiter fragte sich eine junge Frau, die eben im Begriff war, ihren Mann zu betrügen, exakt dasselbe.

Die erfolgreiche Schriftstellerin im Burgtor schaute ins Gleißen hinaus, faltete die Hände über der Brust und hatte eine Eingebung, der erfolglose Schriftsteller Willnauer hatte im Rosengang soeben seinen zweiten Roman beendet und nahm das nächtliche Wunder als ein gutes Omen, womit er falschlag: Auch dieser Roman sollte unveröffentlicht bleiben. In der Kleinen Gröpelgrube gewann Fräulein Lisbeth im Alter von achtundsechzig Jahren jäh ihr Augenlicht zurück und erwischte Fräulein Hedwig über dem Kirschkuchen, von dem diese behauptet hatte, er wäre schon gestern ausgegangen; im Hinterhaus trat der Maler Michél Hinrichs betrunken in den Hof und streckte seine Fäuste in das Licht, das eine Substanz zu haben schien, greifbar war wie feiner, seidiger Stoff. Er legte den Kopf in den Nacken und überließ sich dieser seltsamen, erlösenden Traurigkeit, einem Gefühl, das er bisher nur in Magdalenas Armen gehabt hatte. Die Stadt brannte im Licht, und Magdalena schaute in die tiefe Schwärze der Trave.

Es wäre der passende Moment gewesen, eine Lebensmüde vom Ufer wegzufischen. Aber niemand sah Magdalena. Das Licht der Sterne kann man noch Jahrhunderte nach ihrem Erlöschen sehen. Magdalena war schon verschwunden, bevor die Trave sie geschluckt hatte.

»Düvel ook!«, rief Johann Petersenn, der vor Erstaunen ins Platt verfiel. »Watt een Höllfüer.«

Sein jüngster Sohn Christoph, im Nachthemd neben ihm am Fenster, schaute auf die Schule, die im kalten Höllenfeuer stand. Die Mauern des Johanneums bleichten aus, selbst der dunkle Schlund des Eingangstores war grell ausgeleuchtet. Die Bäume vor der Schule staken im Licht. Der Verlauf der Schatten bei verschiedenen Lichtverhältnissen, an dem Christoph in seinen Zeichnungen, die er von dem Schulgebäude anfertigte, ständig scheiterte, war ausradiert. Es war ein Gleißen, das jeden Schatten ablöschte.

Christoph Maria Petersenn lächelte, Johann schwitzte, Magdalena legte den Kopf in den Nacken und schaute zu der toten Sonne empor, dem im Licht erstickten Mond, den erblindeten Sternen, dann sah sie dem Teufel in die Augen, dann platzte ihre Fruchtblase. Ein Wind war aufgekommen, ihr Kleid klebte an ihrem runden Bauch, das schwere Tuch, das ihr um die Schultern lag, blähte sich wie ein Segel. Das Haar des Teufels aber lag still auf seinem Schädel, kein Windstoß trübte die geordneten Falten der Frackschöße.

Siegelringe blitzen an seinen Händen. Magdalena konnte sie so klar erkennen, als würde sie durch ein Opernglas schauen. Das Wappen Heinrichs des Löwen am Ringfinger der rechten Hand, der Doppelköpfige Adler am Mittelfinger, das Handels- und Seefahrerwappen am Ringfinger der linken Hand. Am kleinen Finger das Lübecker Schiffssiegel. Das Haar des Teufels glänzte, der Rauch seiner Zigarette wehte über die Trave.

Ganz offensichtlich hatte Magdalena sich geirrt, es gab einen Teufel, aber auch der Pastor hatte sich geirrt, die Hölle war nicht jenseitig, die Hölle war hier und jetzt, die Hölle war Lübeck.

Magdalena atmete tief ein, der Teufel lächelte ihr zu, und sie sprang. Der Teufel drückte seine Zigarette aus. Die Stadt versank in der Nacht, und Magdalena in der Trave.

Als ihre Leiche an einem Fender an der Kaimauer des Hansahafens gefunden wurde, war sie weder aufgedunsen noch hatten die Fische sie angeknabbert. Nein, ihre Haut und das sonst so strohige Haar waren von einem Glanz, der den Hafenarbeitern das Wasser in die Augen trieb. Auch ihre Zähne, die zu Lebzeiten alles andere als makellos gewesen waren, schimmerten perlmuttfarben. Der Pastor bekreuzigte sich: Sogar der obere Schneidezahn, den man ihr zu Beginn der Schwangerschaft ausgeschlagen hatte, war nachgewachsen. Auf ihrem Bauch, unter ihren Brüsten zusammengerollt, lag ein Säugling. Die Nabelschnur, die ein giftiges Grau angenommen hatte, in der Faust wie ein Tau.

Die einen sagten, der Teufel habe Magdalena geholt, die anderen glaubten an ein Wunder, die meisten sagten, es sei ein tragisches Unglück. Fest stand nur, die junge Frau war tot, sie trieb mit dem Bauch nach oben am Hafen, das Haar verflochten mit Algen, einen Knöchel im Tauwerk eines Kutters verfangen. Neben ihr schwamm ein halber Laib Brot, der für den Moment die Aufmerksamkeit der Fische von ihr ablenkte.

Der Säugling lag auf ihrem Bauch, als habe, man bekreuzigte sich erneut, der Roggenbuk selbst ihn mit seinen knochigen Fingern entbunden und auf ihren Leib gelegt, oder, und diese Vorstellung schien fast noch unheimlicher, als wäre der Säugling aus eigener Kraft auf das leblose Floß geklettert. Ein Enterich schnappte nach der grauen Nabelschnur, schaffte es aber nicht, sie durchzubeißen.

Christoph Petersenn, der mit seinem Zeichenblock am Hafen herumlungerte, betrachtete Magdalena fasziniert. Das lag erst mal nicht daran, dass sie tot war. Es lag daran, dass er noch nie eine nackte Frau gesehen hatte. Er war von dem Anblick gleichermaßen enttäuscht wie berauscht. Die Realität war aufregend, aber dennoch ernüchternder als seine Fantasie: Er war neun Jahre alt, als er sich schwor, künftig den Geheimnissen ihren Glanz zu lassen.

Nachdem der Pastor ihn verjagt hatte, ging er nach Hause, riss die Zeichnungen, die er vom Johanneum angefertigt hatte, aus seinem Block und begann unbeholfen, die Tote mit ihrem Kind zu zeichnen, was ihm eine Ohrfeige eintrug, dennoch aber der Beginn einer Serie sein sollte. Einer geheimen.

Michél Hinrichs, der gekommen war, um eine Fracht zu löschen, warf einen einzigen Blick auf die beiden Körper im Wasser, dann ging er mit raschen Schritten die Untertrave hinunter. In einer Eckkneipe stieß er später seine Faust erst in die hölzerne Tresenverkleidung, dann dem Wirt zwischen die Zähne.

Die Hafenarbeiter zogen mithilfe von langen Stangen Magdalenas Körper an den Bug des Kutters. Keiner von ihnen konnte schwimmen, und so schaffte man ein großes Fischernetz heran, mit dem man Mutter und Kind barg. Als das Kind wie eine Kieler Sprotte aus dem Fangnetz in die Arme des Pastors flutschte, schloss der Geistliche die Augen und murmelte ein weiteres Gebet. Denn Lucie, Jessie Mertens’ Großmutter, war am Leben. Sehr hungrig zwar, unterkühlt und von Parasiten befallen, aber zweifellos am Leben. Und damit fing das Elend erst an.

Im Hinterhaus in der Kleinen Gröpelgrube, einen kurzen kräftigen Fußmarsch vom Hansahafen entfernt, an einem kalten späten Abend im April 1974, ballte Jessie Mertens, sechsundsechzig Jahre nach der Geburt ihrer Großmutter, im Bauch ihrer Mutter Freya die Fäuste und wappnete sich gegen die bevorstehende Geburt. Jürgen Mertens schaute einen Jesse-James-Western, halb sitzend, halb liegend, einen Teller Bratkartoffeln auf dem Bauch, das braune Jackett als Stütze in den Nacken gestopft.

Freya hockte an dem Tisch, unter dem sie als Kind so oft gekauert hatte, und starrte grimmig auf ihren Teller. Sie beobachtete, wie das Fett auf den Bratkartoffeln erkaltete, stockte und unansehnlich weiße Flecken bildete. So ungefähr musste es in ihren Beinen aussehen, dachte sie, und in ihren Hüften, seit der Empfängnis hatte sie zweiundzwanzig Kilogramm zugenommen. Dann betrachtete sie ihren Mann. Jürgens Dicklichkeit hatte sie nie gestört, auch die etwas unmännliche Stupsnase und die leicht hängenden Wangen hatte sie immer rührend gefunden. Der wuchernde Schnauzbart und die fetten Koteletten gaben seinen Zügen etwas Melancholisches, verliehen ihm die Würde eines tragischen Helden. Freya dagegen hatte den Stolz einer Burgzinne. Ihre tiefe, rauchige Stimme wirkte verwegen, selbst jetzt, hochschwanger, Lucies alten gesteppten Morgenmantel nur noch mühsam über dem Bauch geschlossen, strahlte sie eine fast majestätische Würde aus. Die herzliche Gemütlichkeit ihres Mannes glich das aus. In liebevollen Momenten nannte sie Jürgen »Bär« und dachte dabei an einen Eisbären, wegen seiner hellen, frühzeitig ergrauenden Haare.

Jetzt aber, im Lichte einer etwas weniger freundlichen Betrachtung, wirkte Jürgen nicht würdevoll und tragisch, sondern einfach nur verlottert. Mit dem Scharfsinn einer zornigen Ehefrau bemerkte sie, dass seine Zähne bei genauerem Hinsehen durchaus etwas leicht Nagetierhaftes hatten. Er fläzte sich auf dem Sofa, die Nase verschwand fast im Fleisch der Wangen, die zudem prominenter waren als das Kinn. Jürgen sah aus wie ein riesiger Hamster, das erkannte sie plötzlich mit großer Klarheit.

Über dem grünen Sofa lag der Schatten Christoph Petersenns, der immer kerzengerade auf dem verschlissenen Samt gesessen hatte, die Füße nebeneinandergestellt wie ein ordentlich sortiertes Paar Schuhe, die Haare gescheitelt, die Hände neben sich auf den Polstern, als wäre Sitzen an sich eine anregende, alle Konzentration erfordernde Tätigkeit.

Im Schatten ihres Vaters räkelte sich ihr Mann, dem gerade eine Bratkartoffel auf den Bauch fiel, er bemerkte es noch nicht einmal. Freya beobachtete, wie die Kartoffel einen fettigen Hof bekam, der sich langsam auf dem Hemd ausbreitete. Inmitten eines Schusswechsels hievte sie sich aus dem Stuhl, fegte die Füße ihres Mannes vom Tisch, stampfte zum Fernseher und schaltete ihn aus. Auf diesen Jesse-James-Western von 1939 hatte Jürgen sich seit einer Woche gefreut, er kam trotzdem nicht zu Wort: Sie habe Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Sodbrennen usw., und Jürgen lungere herum, als könne er kein Wässerchen trüben. Dabei habe er ihr diese Misere eingebrockt. Und ob er sich mal angeschaut habe? Diese Haltung? Diese Frisur? Jürgen betastete erschrocken sein Haar, strich sich über Schnauzbart und Koteletten, und Freya platzte die Fruchtblase.

Freya und Jürgen starrten noch auf die Pfütze auf dem Boden, auf Freyas weiße Socken, die sich dunkel färbten, da fiel eines der schweren Ölporträts von Lucie krachend auf den Boden. Freya, abgelenkt durch den Lärm, schaute ihrer Mutter ins Gesicht, und Lucie schloss die Augen. Freya starrte auf die geschlossenen Lider, die Ölfarbe rissig, als hätte Michél es so gemalt, dann krümmte sie sich unter einer starken Wehe zusammen und stieß einen gepressten Fluch aus. Der Teufel solle Lucie holen, das Kind komme!

Je désire, dachte der Teufel resigniert, der eben den Schauplatz betreten hatte. Désire. Hatte er das jetzt richtig konjugiert? Désirer, da war er sich sicher, aber war es nun je désire? Was auch immer: Er wünschte.

Jürgen starrte noch auf den geborstenen Rahmen, die vergilbte Rückseite der Leinwand (Michél hatte die Porträts seiner Tochter nie signiert, aber immer die Jahreszahl auf die Rückseite geschrieben, in diesem Fall: 1915), als Freya schon auf dem Boden lag, die Füße an die Wand gedrückt, und presste.

Der Teufel wandte sich ab. Er hasste Geburten. Dieses ganze Geschrei, dieses Quetschen und Pressen und Reißen und Spritzen, er fand das alles einfach unoriginell. Er verstand das nicht: Man züchtete und kreuzte Tomaten, Rüben, junge Hunde und die seltsamsten Blumensorten, die Geburt musste aber noch immer so archaisch stattfinden. Der einzige Grund, warum er diese Geburt bezeugte, war der, dass die Enkelin von Lucie und Christoph sich hier den Weg in die Welt erkämpfte. Lucie Hinrichs, diese seltsame Hinterhausgöre, deren Gegenwart nur ertrug, wer es mit sich selber aufnehmen konnte, Lucie, die die Flöhe husten und das Gras wachsen hörte, Lucie, die aus der Trave kam und irgendwann in die Trave zurückmusste. Christoph, der Charmeur mit dem verratenen Talent, der preußischen Erziehung und dem unzuverlässigen Schatten. Christoph, der immer so aufrichtig wirkte, besonders wenn er log.

Freya, Lucies und Christophs Tochter, hatte ihn enttäuscht, aber es gab Flüche und Fähigkeiten, die eine Generation übersprangen, der Teufel senkte den Kopf, er hoffte.

Jürgen rannte auf und ab, holte Handtücher und Wasser, fand die Telefonnummer der Hebamme nicht und rührte in der Wählscheibe des Telefons herum (die Nummer des Krankenhauses kannte er auswendig), ohne zu bemerken, dass der Stecker aus der Wand gezogen war. Freya schrie wie ein Tier.

Der Teufel starrte auf diesen malträtierten Körper, keine élégance, kein Anstand, keine Würde. In tausend Jahren hatte er nicht verstanden, was der Mensch so faszinierend fand an seinem Leib: ein Haufen Sehnen, Muskeln, Haare, Haut und Fett, ein Verdauungstrakt, die Gebärmutter, Herz, Blase und Lungenflügel. Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Zahnschmerzen, Gänsehaut und Schüttelfrost, Stechen, Ziehen und Reißen. Blähungen und Orgasmen, mehr passierte da nie.

Freyas Gesicht schien nur noch aus Adern und Sehnen zu bestehen, sie presste ein letztes Mal, und ein blutverschmiertes Wesen mit verkrümmten Extremitäten rutschte direkt in Jürgens geöffnete Hände. Seine Hose war voller Blut, er hockte zwischen den Beinen seiner Frau und hielt dieses winzige Mädchen, dessen Hitze seine Haut durchdrang. Er schaute es an, das zerknautschte Gesicht, die Nase nicht größer als sein Daumennagel. Er hielt seine Tochter in seiner hohlen Hand, ihre Haut glich dünnem lichtempfindlichen Papier.

Jürgen Mertens faltete sie vorsichtig auseinander, strich sie glatt und trug sie durch die Diele ins Badezimmer, das ihm in seiner Freizeit auch als Fotolabor diente. Dort tauchte er sie in die Duschwanne und sah zu, wie sich unter der roten Lampe langsam die Konturen ihrer Augen, des winzigen Mundes, der muschelförmigen Ohren herausbildeten.

Ihre Augen waren noch nicht gut genug, dass sie das Gesicht ihres Vaters erkennen konnte, dafür sah sie das Gesicht des Teufels, der neben ihm stand, recht deutlich. Seine leuchtend blauen Augen, den schwarzen Bart, die roten Lippen. Jessie Mertens wurde belichtet unter dem kühlen Mond eines Mittwochs und entwickelt im Badeschaum des provisorischen Fotolabors ihres Vaters. Getauft im Namen des Teufels und des heiligen Jesse James.

Und als der Teufel in ihre wasserblauen Augen sah, diese Augen, die ihn sehen konnten, genau wie Lucie es gekonnt hatte, wusste er, dass Lucies Geschichte noch nicht zu Ende war.

Jürgen ging durch den schmalen niedrigen Tunnel, der durch das Vorderhaus zum Hinterhaus führte, in der linken Hand einen großen Weidenkorb, in der rechten eine Plastiktüte von Aldi, er ging fast im Krebsgang, die rechte Schulter vorgeschoben, den Kopf eingezogen. Die Maße des Ganges waren so berechnet, dass man gerade eben einen einfachen Sarg hindurchtragen konnte. Eine durchaus vernünftige Architektur, fand Jürgen, dennoch stimmte es ihn jedes Mal melancholisch, wie wenig sie auf das Leben ausgerichtet war, dass sie sich kaum dazu eignete, einem stattlichen, wohlgenährten, noch dazu mit Einkäufen beladenen Mann Zugang zu gewähren.

Im Hof stellte Jürgen seine Einkäufe ab, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete das Haus. Ein Fossil der alten Stadt, vom Efeu überwuchert, von Rosen umgarnt, eine steinerne Skulptur des Elends. Jessies Urgroßvater Michél Hinrichs war in diesem Haus geboren, Lucie war hier aufgewachsen, Freya, jetzt Jessie. Das Haus, eine von unzähligen Gesindebuden, welche die Vorderhausfamilien überall in der Stadt in ihre Hinterhöfe gestopft hatten, war gedrungen und robust wie eine geballte Faust. Es war hunderte von Jahren alt, neue Farbe blätterte innerhalb eines Jahres wieder von den Fensterläden, es war roh und alt wie ein Fels. Es hatte die Pestwellen bezeugt, ihm war die Kloake bis zur Haustür gestiegen, bis sich der Himmel unter dem Gestank grün färbte. Läusegeplagte Familien hatten sich in seinem Bauch zusammengedrängt, es hatte Kinder in seinem Leib verhungern lassen, trunkene Familienväter hatten beim Kartenspiel kostbare Quadratmeter an die Nachbarn verloren. Das Haus kannte sich aus mit Armut, mit Geistern und mit dem Tod. Es lebte in den Eingeweiden der Stadt, war ein Klumpen in dem Geflecht der Adern, das im Rücken der Vorderhäuser die Stadt durchzog. Für Jürgen aber war es vor allem eins: Es war das Haus, in dem seine Tochter schlief, in dem seine Frau wachte. Er genoss diesen Moment: eine Zigarette rauchen, die Zutaten für das Abendessen zu Füßen, den Blick auf das Haus gerichtet, dieses Haus, das seine Familie fest im Arm hielt.

Freya lag erschöpft auf dem grünen Biedermeiersofa, ihr Kind auf dem Bauch, und sah zu, wie Jürgen die Einkäufe wegräumte und den Weidenkorb, in dem schon zwei Generationen alles, was leicht zerbrach (Weinflaschen, Geschirr, Kinder), durch die Luke ins Dachgeschoss geseilt hatten, prüfend musterte und ein welkes Blatt aus dem Geflecht zupfte. Jürgen stattete den Korb mit einem Kissen und einer Decke aus und knotete ihn wieder an das Seil, das von der Luke herunterhing. Die Stiege, die zum Schlafzimmer führte, war so steil, dass sie eher einer Leiter glich. Michél hatte eine Treppe mit halben Trittplatten und einem Seitengeländer gebaut, man ging die Stiege breitbeinig und schwankend hinauf wie ein Seemann, einen Säugling trug man dabei besser nicht in den Armen. Jürgen hatte kaum den Knoten am Henkel des Korbes festgezogen, als Freya schon aufstand, das Kind in die Wiege legte und sich wortlos zurück auf das Sofa fallen ließ. Jürgen beugte sich über sein Mädchen und lächelte, dann begann er Möhren zu schälen. That was Billy, lonesome Billy, who was quick to think, a gun could make him strong. Freyas Schweigsamkeit machte ihm keine Sorgen, er verstand, dass sie erschöpft war, aber sein Mädchen sollte mehr hören als das Rascheln der Mäuse. Also sang Jürgen: No one tougher or more daring. Only he and his gun sharing the great fight to live, and his great love to fight.

Freyas schwarzes Haar wuchs ungekämmt und ungewaschen über die Lehne des grünen Sofas, das sie kaum noch verließ. Jürgens Stimme brachte sie zum Weinen. Ein Teller Suppe brachte sie zum Weinen. Der Geruch ihres Kindes brachte sie zum Weinen.

Sie konnte Jessie nichts geben. Sie machte sich keine Illusionen. Die Traurigkeit, die Freya seit der Kindheit in den Knochen steckte, war zusammen mit Jessie in die Welt gekommen. Als Freya wenige Jahre nach Kriegsende an den schwarzen Wassern der Trave gestanden und ihren langen Schatten über das Gesicht ihrer Mutter geworfen hatte, hatte das dunkle Flüstern des Wassers ihre Haut geschliffen und gehärtet. Freya, das Trümmerkind, das Rabenkind, Freya, die kräftig zuschlagen, aber niemanden umarmen konnte. Es irritierte sie, wenn Jürgen sie scheinbar grundlos anlächelte, sie war niemals unbeschwert, schon gar nicht albern. Sie war leidenschaftlich, stolz und streitlustig, Schwäche akzeptierte sie weder an sich noch an Jürgen. A rough man who played with danger, to whom trouble was no stranger, until one day he lay dying. Sie hatte nicht vorgehabt, Mutter zu werden.

»Von mir kommt nichts Gutes«, hatte sie über die Jahre in immer kürzeren Intervallen zu Jürgen gesagt. »Mir steckt der Krieg in den Knochen, mir steckt Lucie in den Knochen. Ich habe nicht viel zu geben, es reicht ja kaum für dich.« Und in immer kürzer werdenden Intervallen küsste Jürgen seine Frau und sagte: »Du wirst dich wundern, was in dir steckt. Du wirst dich wundern, wie viel du geben kannst.«

Und irgendwann glaubte sie ihm. Weil er sie kannte. Er tat nicht so, als wäre sie eine gute Ehefrau, er tat nicht so, als würde ihm nichts fehlen. Er war nicht blind vor Liebe, aber er gab ihr das Gefühl, dass bei niemandem Hopfen und Malz verloren war, selbst bei ihr nicht. Und niemand ist völlig immun gegen Hoffnung, auch Freya war das nicht. Never friendly, never trusting, always kept one ready hand near his gun. Und dennoch: Sie wusste, dass auch in ihr das Böse schlief, so musste es sein, in jedem Menschen schlief das Böse.

Wie hatte sie so naiv sein können, zu glauben, sie könne für ein Kind sorgen. Wie hatte sie glauben können, ausgerechnet sie würde davonkommen. Jürgens Stimme, der Jessie in den Schlaf sang, tröpfelte von oben durch die Decke: Keep your hand on the gun, don’t you trust anyone, there’s just one man you can trust, that’s a dead man, and a gringo like me.

Jürgen sang, Jessie schlief, der Teufel saß im Hof und schaute in die untergehende Sonne, ohne zu blinzeln. Freya war nie so einsam gewesen.

Jessie Mertens wuchs auf mit dem Knacken der Balken des Altstadthauses, Clint Eastwoods Schießkünsten, dem wandernden Schatten ihres Großvaters, dem Rascheln der Mäuse in den Wänden, dem wässrigen Duft der Geister und dem Geruch von Hackbraten, aber ihre einzige Angst war das Haar ihrer Mutter. Beim Kämmen schlangen sich die schwarzen, schweren Strähnen um die Zinken, als wäre Freyas Haar ein Lebewesen. Ein Wesen, das auf dem Kopf der Mutter nistete. Jessie weinte, wenn Freya am Abend den Knoten löste und ihr die Haare bis zu den Hüften hinunterfielen. Manchmal, wenn sie Lippenstift aufgelegt, das Muttermal über der Lippe mit Kajal noch dunkler gefärbt und das Haar auf dem Kopf verschlungen hatte, legte Jessie die Hand auf den kunstvoll geschlungenen Knoten, wie man eine Schlange am Hals eines Dompteurs berührte. In der Nacht floss Freyas Haar die Treppe hinunter, der Wind drückte gegen die Scheiben, und die Mäuse nagten an den tragenden Balken. Im Seemannseck ging die letzte Runde Jägermeister raus, und in Travemünde riss es wieder einen Meter von der Steilküste. Freyas Haar bespann Wände und Böden, Jürgen drehte sich im Bett und vergrub die Nase im Nacken seiner Frau, und Jessie schlief in einem Nest aus Haar, das sie jederzeit erwürgen konnte.

Jürgen Mertens arbeitete in einem Bestattungsinstitut, seine Frau in der Geburtsstation des Krankenhauses. Freya klopfte den Säuglingen auf den Rücken und entlockte ihnen den ersten Schrei, Jürgen Mertens wusch die Toten. Freya kleidete die Säuglinge in ihr erstes Hemd, Jürgen zog seinen Toten das letzte an.

Wenn er am späten Nachmittag nach Hause kam, tapste Jessie ihm entgegen, er hockte sich auf den Boden, und Jessie griff ihm mit beiden Händen ins Gesicht. Jedes Mal hatte er das Gefühl, noch nie in seinem Leben eine Haut berührt zu haben, die so warm war, so zart und so lebendig. Freya ging zur Spätschicht, und Jürgen nahm seine Tochter auf den Arm, schloss sich mit ihr im Badezimmer ein und entwickelte die Fotos der Toten, die er heimlich machte. Es waren die Siebzigerjahre, man glaubte wieder besonders stark an die Seele und daran, dass alles irgendwie miteinander verbunden war, Energie nicht ausgelöscht werden konnte, nur umgewandelt. Zumindest glaubte Jürgen Mertens das. Es war ihm ein nicht geringer Trost, und es machte einen guten Teil seiner Liebe zu seiner Frau aus, dass die Seelen, die seinen Toten entwichen, unter Freyas Händen wieder zum Leben erwachten. Wenn sie ihm beim Frühstück von den Geburten der Nacht erzählte, nickte er wissend, als würde sie ihm Anekdoten von alten Bekannten erzählen.

Für ihn waren Freya und er mehr als zwei Menschen, die sich liebten. Sie teilten die Welt unter sich auf, sie sorgten dafür, dass nichts verging, er fand das immer wieder ergreifend, und dann küsste er seine Frau über dem Frühstücksei so heftig, dass er die Kaffeetassen umwarf und sein Hemd wechseln musste.

Wenn er, Jessie auf den Schultern, Freya an der Hand, am Strand von Travemünde spazieren ging, deutete er auf die Einsiedlerkrebse, manche trugen ein Schneckenhaus, manche den Verschluss einer Shampooflasche auf dem Rücken. »So ist es mit den Seelen«, sagte er dann. »Sie brauchen ein Haus, manchmal nehmen sie das erstbeste, es passt vielleicht nicht besonders gut, aber bis ein neues gefunden wird, reicht es vollkommen aus. Haus ist Haus.«

Während junge Väter im Krankenhaus Bilder von ihren Neugeborenen machten, fotografierte er seine Toten. Er wusste, dass die Seele nicht mit dem Eintritt des Todes den Körper verließ. Sie blieb noch ein paar Tage, das war völlig klar, wenn man die Toten wusch. Ihre Haut war kalt und trocken, ihre Gliedmaßen starr, aber darin wohnte noch etwas, das erst nach einer Weile davonzog und sich ein neues Heim suchte, weshalb er sie jeweils zweimal ablichtete, einmal mit Seele, einmal ohne, der Unterschied war frappierend. Früher hatte er seine Frau fotografiert. Als er aber die Bilder entwickelt hatte, sah er mehr als beabsichtigt. Jemanden zu fotografieren bedeutete, ihn zu erforschen. Und in der Liebe forscht man besser nicht. Er hörte auf, Freya zu fotografieren, und widmete sich mehrwissenschaftlichen Objekten, seinen Toten.

Mehrmals in der Woche nahm er Jessie mit ins Bad, verschloss die Tür, befestigte schwarze Pappe vor dem Fenster, klebte die Ritzen der Tür ab und stopfte Watte ins Schlüsselloch. Über die Duschwanne legte er ein Brett, auf dem Schalen mit Entwickler und Fixierer standen, darunter trudelten nach spätestens einer Stunde die Gesichter der Toten. Der Belichtungsapparat stand auf dem Klodeckel, das Fotopapier und alles Übrige stapelten sich im Waschbecken. Jürgen Mertens hatte genau einen Quadratmeter, auf dem er sich um die eigene Achse drehen konnte. Der Duschvorhang lag unter dem Waschbecken, an der Drahtschnur hingen die tropfenden Bilder. Aus einem kleinen Kassettenrekorder drang Westernfilmmusik von Morricone.

Als Säugling hatte Jessie in ihrem Weidenkorb zusammen mit dem Duschvorhang unter dem Waschbecken im roten Licht der Dunkelkammer gelegen, dann hockte sie unter dem Waschbecken und spielte mit den Schnürsenkeln ihres Vaters, später klemmte sie zwischen Dusche und Toilette an der Wand und blinzelte in das rote Licht, in dem ihr Vater sehr jung aussah.

Jürgen Mertens erklärte Jessie jeden seiner Arbeitsschritte, noch bevor seine Tochter das erste Wort gesprochen hatte. Mit vier Jahren durfte sie die gewässerten Bilder aus der Badewanne holen, mit sieben Jahren durfte sie mit einer Zange die entwickelten Fotos aus dem Fixierer fischen und ins Wasser werfen. Mit neun Jahren belichtete sie die Bilder mit einer Sorgfalt und einem Feingefühl, die Jürgen Mertens nicht erstaunten, aber erfreuten. Jessie fand nichts Unheimliches am Anblick der Toten, bis sie ein paar Fotos von sich selber sah, die ihr Vater von ihr gemacht hatte, als sie schlief.

»Warum habe ich nicht gemerkt, dass du mich fotografierst?«

»Weil du geschlafen hast.«

»Was passiert, wenn ich schlafe?«

»Du träumst.«

»Träume ich die ganze Nacht?«

»Nein.«

»Was mache ich, wenn ich nicht träume?«

»Da bist du bewusstlos, oder so etwas in der Art.«

Jürgen lächelte, und Jessie war entsetzt.

Am Abend waren sie vom Dampf der Chemikalien benebelt und schauten Filme. Jürgen Mertens hatte einen Heimvideorekorder gekauft (eine elegante schwere Maschine im Holzgehäuse) und eine beachtliche Anzahl von Western gesammelt. Am liebsten mochte Jessie die Fistful of Dollars-Trilogie, sie verehrte Clint Eastwood fast so sehr wie ihren Vater. Sie hockten nebeneinander auf dem grünen alten Samtsofa, zwischen sich eine Schüssel mit Erdnussflips, Jürgen rauchte Camel ohne Filter, und Jessie klemmte sich eine Schokoladenzigarette in den Mundwinkel. Wenn Jürgen sich vorbeugte, um die Asche abzuklopfen, hielt auch Jessie ihre Schokoladenzigarette über den Aschenbecher, das Papier aufgeweicht und verschmiert. Die Schokolade schmeckte nicht und veranstaltete eine ziemliche Sauerei, die Camel ohne Filter verursachten Jürgen Kopfschmerzen, also stiegen sie nach einiger Zeit auf Filter- und Kaugummizigaretten um. Wenn Freya von der Spätschicht nach Hause kam, fand sie ihr Kind häufig schlafend auf dem Sofa, eine völlig aufgeweichte Kaugummizigarette im Mundwinkel, das abgelöste Papier bedeckte ihre Unterlippe, und ihren Mann auf dem Boden vor dem Fernseher, mit der zweiten Weinflasche schon halb durch.

An einem Morgen im Frühling, Jessie war neun Jahre alt, brachte Jürgen seine Tochter zur Schule. Normalerweise ging sie allein, sie musste nur durch die Rosenstraße, ein paar Meter die Große Gröpelgrube hinunter und dann in den Langen Lohberg einbiegen, aber Jürgen hatte verschlafen und Jessie verkündet, dass sie nie wieder zur Schule gehen würde, zumindest nicht heute. Das Haus, das viel zu klein für die ausladenden, großbürgerlichen Möbel war, bot genügend Möglichkeiten, sich effektiv zu verkeilen. Jessie hatte sich in ihrem Zimmer zwischen Lucies Bett und der Wand eingeklemmt, den Rücken gegen das dunkle speckige Holz, die Füße gegen die Mauer gestemmt. Trotz ihrer Anstrengung pflückte Jürgen Jessie so mühelos vom Fußboden, als würde er ein Radieschen aus der Erde ziehen.

Jessie weinte nicht, als sie neben ihm hertrottete, das tat sie selten, das lag in der Familie, aber sie presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie ganz weiß waren. Vor dem Schultor stemmte sie ihre Hacken in das Kopfsteinpflaster, ballte die Fäuste und drückte das Kinn auf die Brust. Jürgen war nicht danach, sein Kind in die Klasse zu tragen. Er redete Jessie gut zu, bot an, sie in die Klasse zu begleiten: »Jeder kann mal verschlafen, mein Mädchen, ich klär das, da brauchst du keine Angst zu haben.« Jessie reagierte nicht. Sie starrte auf ihre Füße, aber ihr Brustkorb hob und senkte sich so flatterhaft, Jürgen sah, dass sie in echter Not war. Sie war keine eifrige Schülerin, er verstand nicht, was das Problem war. Warum sie es so schlimm fand, zu spät zu kommen. Jessie sagte keinen Ton, rührte sich nicht vom Fleck, bis die Pause anbrach und sich der Hof mit Kindern füllte. Dann erst sah sie auf: »Bis später, Papa«, sagte sie, nahm ihre Schultasche und mischte sich unter die Kinder. Niemand grüßte sie. Ein paar Kinder lachten und riefen etwas, das Jürgen nicht verstand. Aber dass es nichts Freundliches war, das spürte er genau. Spott hat einen ganz eigenen Geschmack. Wie saure Milch. Jessie hielt den Kopf gesenkt und bahnte sich ihren Weg durch die Gruppen von Kindern, zu routiniert, das sah er deutlich. Sie bewegte sich anders als zuhause, sie huschte fast. Sie bewegte sich wie jemand, der durch Unterholz schleicht, bemüht, keine Geräusche zu machen.

Das war der Moment, in dem Jürgen Mertens zum ersten Mal auffiel, dass Jessie noch nie zu einem Geburtstag eingeladen worden war und vor Schulfeiern immer Bauchschmerzen hatte. Sie war jetzt in der vierten Klasse, und das einzige Kind, mit dem sie sich manchmal verabredete, war Bjarne, ein schüchterner, pummeliger Junge aus dem Rosengang.

Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass jemand sein Mädchen nicht mögen könnte, das schien ihm schlicht unmöglich, jetzt sah er, wie die Rücken sich vor ihr schlossen. Niemand rempelte sie an, der Spott kam aus sicherer Entfernung, die anderen mochten sie nicht, aber es war mehr als das, es war, als hätten die anderen Kinder Angst vor ihr. Jürgen wurde entsetzlich elend. Die Zweit- und Drittklässler spielten Gummitwist und Himmel und Hölle. Sie tauschten Sammelkarten und trugen bei aller Winzigkeit schon Markenjeans anstelle der praktischen Bundfaltenhosen aus Stoff, in denen Jessies Körper versank. Die Viertklässler standen um einen Kassettenrekorder herum und übten den Moonwalk, ein paar von ihnen hatten gerollte Bravos unter dem Arm. Jessie hingegen sprach bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Westernzitaten. Sie hatte bisher wahrscheinlich mehr tote als lebendige Gesichter gesehen, in der zweiten Klasse hatte sie darum gebeten, ein paar Fotos mitnehmen zu dürfen, um sie in der Schule zu zeigen, sie sollten von ihren Hobbys erzählen. Jessie war anders als die anderen Kinder. Und anders war kein Vorteil, nicht in der Grundschule.

Jürgen schloss die Augen, rieb sich Schnauzer und Koteletten, er vergisst einen Gedanken, während er ihn denkt.

Jürgen schließt die Augen, und Jessie öffnet ihre. Jessie sieht: Jürgens Rücken am Ende der Straße, eine Wolke türmt sich über ihm am Himmel, sie meint nur ihn.

Jessie ging über den ganzen Schulhof, an den Bänken bei den Bäumen vorbei, den Klettergerüsten, auf denen Mädchen im Schweinebaumel hingen und Aufschwung übten, bis sie, auf der anderen Seite der Schule, in einer Nische neben den Mülltonnen Bjarne fand. Sie lehnte sich neben ihn an die Mauer, und Bjarne hielt ihr wortlos den Schokoriegel hin, an dem er gerade knabberte, Jessie schüttelte den Kopf.

Bjarnes Hosen waren nass, seine Schuhe auch, seine Augen rot. Jessie schaute zu der großen Pfütze rüber, neben der ein paar Jungs standen und zu Bjarne rüberfeixten. »Ich kann einem fliegenden Vogel ein Auge ausschießen«, schrie sie zu ihnen rüber, sie lachten noch lauter, aber sie gingen.

»Verschlafen?«, fragte Bjarne.

»Ja.«

»Cool«, sagte Bjarne und schaute sie bewundernd an.

Jessie zupfte an ihren gelben Stoffhosen herum, die an den Oberschenkeln so weit waren, dass ihr Bein doppelt hineingepasst hätte, an den Waden liefen sie schmal zusammen. Sie hatte vor zwei Wochen eine feste Klammer bekommen wegen der Schneidezähne, aber das machte nichts, sie lachte sowieso nicht in der Schule. Sie stand ganz dicht neben Bjarne, so dicht, dass die Feuchtigkeit seiner Jeans in den Stoff ihrer Hose zog, auch das machte nichts. Aus den Westernfilmen wusste Jessie, dass man keine Freunde brauchte, aber einen Menschen, dem man sein Leben anvertrauen würde, und das war Bjarne.

Bjarne kramte in seiner Tasche, holte eine kleine Zigarrenschachtel heraus und hielt sie Jessie hin. Sie schob den Deckel auf, im Inneren fand sie einen winzigen pelzigen Leib, zwei abgerissene Fühler, die Flügel so zerbröselt, dass sie nicht mehr zu erkennen waren. Jessie schluckte. »Schön«, sagte sie nach einer Weile. »Danke.« Bjarne schmiss die Zigarrenschachtel wütend auf den Boden und zertrat sie mit seinen Turnschuhen. Das Pfauenauge war seine erste eigenständige Arbeit gewesen.

»Wir haben alle unsere Gespenster, Marshall, du jagst sie auf deine Weise, ich auf meine«, sagte Jessie tröstend und schenkte ihm ein Foto von der toten Frau Oslowsky. Bjarne lächelte.

Nach der Schule ging Jessie zum Mittagessen mit zu Bjarne nach Hause. Er wohnte im Rosengang, im selben Haus, in dem noch immer der Geist des unglücklichen und verkannten Schriftstellers Hans Willnauer im Schein einer Kerze saß und mit krummem Rücken und fiebrigem Blick Seite um Seite niederkritzelte. Man sah ihn nicht, aber manchmal, wenn alles ganz still war, hörte man das Kratzen seiner Feder. Dann stellte Bjarnes Vater Mäusefallen auf, aber er fing nichts, und das Kratzen ging weiter.

Bjarne und Jessie verputzten schweigend die verbrannten Fischstäbchen, die Bjarnes Vater mit zitternden Händen auf den Tisch stellte. Er selbst rührte nichts an, er nippte stattdessen an seiner Kaffeetasse, aus der es seltsam scharf roch.

Jessie erinnerte sich noch gut an die Vorsicht, mit der Bjarnes Vater die Schmetterlinge präparierte, als seine Hände noch nicht zitterten, die freundliche ruhige Stimme, mit der er ihr und Bjarne jeden Schritt erklärte. Die Atmosphäre war genauso wie im Fotolabor ihres Vaters gewesen, nur dass man besser atmen und bequemer sitzen konnte. Jetzt war das Haus in tiefes Schweigen getaucht, ein Schweigen klebrig wie Schweiß.

»Hast du keinen Hunger?«, fragte Jessie Bjarnes Vater, und ihre Stimme klang ungewollt scharf, als müsste sie durch etwas Dickes hindurchschneiden.

»Magen«, sagte dieser nach einer Weile, die so lang war, dass Jessie schon gar nicht mehr mit einer Antwort rechnete. Jessie sah beklommen zu, wie Bjarne Fischstäbchen und Kartoffelbrei aus der Tüte in sich hineinschaufelte, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. Er hielt den Kopf dicht über dem Teller und schob die nächste Gabel in den Mund, bevor er überhaupt geschluckt hatte. Sein Gesicht war rot und verquollen, als hätte er geweint. Oder, dachte Jessie, als würde er weinen, nicht essen.

Bjarnes Vater schaute in seine Tasse, Bjarne schaute auf seinen Teller, Jessie schaute auf Bjarne, Willnauer schaute auf sein Blatt, das Haus schloss die Augen.

Jessie und Bjarne lagen ausgestreckt auf dem Fußboden in Bjarnes Zimmer und betrachteten die Deckenbalken.

»Warum arbeitet dein Vater nicht mehr?«

»Magen.«

Bjarne sagte das so schnell, dass Jessie gar nicht erst fragte, wie ein Magen so viel Zerstörung anrichten konnte. Dass einer nicht mehr arbeiten ging, nicht mehr aß, nichts mehr sagte, nicht mehr lächelte und auch keine Schmetterlinge mehr präparierte. Sie dachte sich, es sei besser, Bjarne auf andere Gedanken zu bringen.

»Gestern hat Papa ein Foto gemacht von einem, der sich erhängt hat. Ich sollte das nicht sehen. Hab ich aber. Das war bestimmt an so einem Balken.« Jessie schaute Bjarne erwartungsvoll an. Bjarne lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen und machte sich nicht einmal die Mühe, den Deckenbalken mit dem notwendigen Schauer zu betrachten.

»Bei mir zerfallen immer alle. Alle.« Bjarnes Stimme zitterte.

»Willst du nicht das Foto von der Frau Oslowsky aufhängen?«

»Ich hab noch keinen Schmetterling richtig hingekriegt. Aber Papa lässt mich auch nicht an seine Sachen. Ich brauch eine richtige Trockendose«, sagte Bjarne und trat frustriert gegen die Keksdose, mit der er seine Versuche machte, seit sein Vater angefangen hatte, stumm auf dem Sofa zu sitzen und in seine Kaffeetasse zu starren.

»Wenn jemand stirbt, macht er sich in die Hose. Das weiß aber keiner.«

»Echt?« Bjarne drehte sich auf die Seite und stützte sich auf dem Ellenbogen auf.

»Total. Sogar mit Kacke.«

»Das glaube ich nicht.«

»Und ob. Kannst ja meinen Vater fragen.«

Bjarne holte das Foto von Frau Oslowsky raus, das Jessie ihm geschenkt hatte, faltete es auseinander und betrachtete es.

»Sie auch?«

»Klar. Das machen alle!«

»Ist das nicht peinlich?«

»Die sind doch tot. Wie doof bist du denn?«

Bjarne wurde rot und pinnte das Foto über sein Bett an die Wand. Seine Hose hatte Ränder, dort, wo das schmutzige Pfützenwasser getrocknet war. Jessie hatte einen Kloß im Hals. »Kannst du ja auch nicht wissen«, sagte sie schnell.

Es war ihre Schuld, dass die Jungen Bjarne in die Pfütze geschubst hatten, wäre sie da gewesen, wäre das nicht passiert. Keiner legte sich mit ihr an, dafür hatte sie gesorgt. Bjarne zuckte mit den Schultern, schaute sie aber nicht an. Er kratzte sich heftig am Hals, die Haut wurde feuerrot. Jessie schluckte: »Ich schenk dir das Foto. Von dem, der sich erhängt hat. Sieht voll schlimm aus. Echt!«

Bjarne antwortete nicht, aber er hörte auf, sich zu kratzen, und lächelte ein wenig. Jessie ging, bevor Bjarnes Mutter von der Arbeit kam. Es wurde dann immer sehr laut unten, und das war noch schlimmer als das Schweigen.

Den Rest des Schuljahres stand sie pünktlich um zehn vor acht vor dem Eingang des Rosenganges, aus dem Bjarne herausschlurfte, den Kopf gesenkt, die Schultasche nicht richtig gepackt. Nur das Schmetterlingsbuch hatte er immer dabei, in den Pausen lasen sie darin, die verschiedenen Schritte des Präparierens klangen leicht und seltsam erhaben. Es klang so, als könnte es gar nicht misslingen. Bjarne zerfiel dennoch jeder Falter. Jessie las unverdrossen weiter in dem Buch, irgendwo darin waren die Lösungen für Bjarnes Probleme, da war sie sicher, aber eines Tages riss er es ihr wortlos aus der Hand und stopfte es in die Mülltonne neben der Nische.

Am nächsten Tag wartete Jessie bis um zehn nach acht vor dem Rosengang. Dann ging sie hinein und klopfte an Bjarnes Haustür. Niemand machte auf. Es war still. Sie schaute durchs Fenster, auf dem Wohnzimmerboden lag ein Kassenbon mit einem Schuhabdruck drauf. Ein dunkler, schlammiger Abdruck eines Arbeitsschuhs, rechts daneben lag eine Kippe, ansonsten war da nichts. Kein Tisch, kein Sofa, keine Bilder: Die Wohnung stand leer.

Jessie ging an diesem Tag nicht zur Schule. Sie ging zum Kanal hinunter und setzte sich auf den Steg. Die Sonne brannte. Die Möwen kreischten. Die Mücken stachen. Jessie brauchte keine Freunde. Aber sie brauchte einen Menschen, auf den sie sich mit ihrem Leben verlassen konnte. Das war Bjarne. Und Bjarne war weg.

Mit zwölf Jahren und bei genau hundertzweiundsechzig Zentimetern hörte Jessie auf zu wachsen, aber Freya stellte ihre Tochter weiterhin jeden Sonntag nach dem Frühstück mit den Lübecker Nachrichten auf dem Kopf in den Türrahmen. Sie runzelte die Stirn und zog die Luft scharf zwischen den Zähnen ein, doch der Bleistiftstrich wanderte nicht weiter nach oben, nur dicker wurde er jede Woche.

Das Nagen der Mäuse wurde lauter, ein Sachverständiger hätte festgestellt, dass die Balken des Hauses nicht mehr trugen. Die Rosen verloren ihre Blätter, ein dorniges Skelett rankte am Haus empor. Der Graphitbalken glänzte metallen auf dem weißen Lack des Rahmens, er gewann an Struktur und Dichte, man hätte ihn vorsichtig mit einem Spatel von der Tür ablösen können und weiter oben wieder an den Rahmen kleben. Im Februar wanderte der Strich ein paar Millimeter nach oben, aber es war nur die Kulturbeilage, die den Lübecker Nachrichten etwas Volumen zugab, und die neue Linie verblasste schnell.

Sechs Monate lang schaute Jürgen über den Rand seiner Brille und griff sich an die Krawatte, die er sonntags zum Frühstück trug, als wollte er den Knoten lösen. Fünfundzwanzig Sonntage lang biss Jessie Mertens sich auf die Lippen, roch die Druckerschwärze, spürte, wie ihre Haare sich elektrisch aufluden, und widerstand dem Impuls, sich auf die Zehen zu stellen. »Wider die Natur«, wie die Mutter mit ihrer rauen Stimme ausrief, selber 1,80 Meter groß und immer noch zehn Zentimeter kleiner als Jürgen.

Die Schieferschicht am Türrahmen bröckelte schon, es stand ein blasser Mond am morgendlichen Winterhimmel, und die Deckenlampe spendete ein krankes, fauliges Licht, als Jürgen die Lesebrille in die Haare schob, seiner Frau die Zeitung aus der Hand nahm, der Tochter die Buddenbrooks auf den Kopf legte und eine Markierung bei exakt hundertsechsundsechzig Zentimetern machte. »So, Freya«, sagte er. »Und nu is mal gut.«

Im Frühling, Jessie war gerade vierzehn geworden, stand sie vor dem Bestattungsinstitut in der Glockengießerstraße, um ihren Vater abzuholen. Sie hatte seine Kamera mitgebracht und machte ein Foto von ihm, als er das Bestattungsinstitut verließ, sie überraschend auf der Straße entdeckte und lächelnd die Arme ausbreitete.

»Sweetwater wartet auf dich«, sagte Jessie.

»Einer wartet immer«, sagte Jürgen mit tiefer Stimme und finster zusammengezogenen Augenbrauen, dann verwuschelte er die ohnehin schon zotteligen Haare seiner Tochter, drückte sie, dass ihre Rippen knackten, und lud sie auf ein Eis ein.

Sie setzten sich vor das Niederegger Café, Jürgen bestellte einen gigantischen Eisbecher, Jessie winkte erwachsen ab und fragte nach einer Cola. Nachdem Jürgen das Eis vertilgt hatte, zündete er sich eine Zigarette an, und Jessie schlug die Beine übereinander und knabberte an ihren Nägeln. Seit einem Jahr fand sie Kaugummizigaretten kindisch, was ihm noch immer einen Stich versetzte, Westernfilme schauten sie schon seit zwei Jahren nur noch äußerst selten, und wenn, dann Jürgen zuliebe. Das Sweetwater-Zitat war schon eine Hommage an ihn, an die vergehende Kindheit, was ihn gleichzeitig rührte und schmerzte.

Jessie schminkte sich nicht, sie lief in zerschlissenen Jeans und Trainingsjacken vom Flohmarkt herum, sie war auch nicht verliebt, soweit Jürgen das beurteilen konnte, sie war noch nie betrunken gewesen, es war also alles gut. Auf Elternabenden hörte er von Discobesuchen, Lippenstift und anderen Dingen, die einen Vater in Angst und Schrecken versetzen konnten, um Jessie musste er sich da offensichtlich keine Sorgen machen.

Sie beobachtete die Leute, die durch die Fußgängerzone gingen, ihre Augen leuchteten kobaltblau, wie häufig, wenn die Sonne langsam an Licht verlor. Morgens waren sie eisblau, eine Farbe, die an Gletscher erinnerte, nachts waren sie satt und dunkel. Jürgen hatte niemals Augen wie die seiner Tochter gesehen, aber Jürgen kannte den Teufel nicht, und Lucie nur von Gemälden.

»Jessie«, sagte er, einfach, weil er gern ihren Namen sagte. Jessie sah ihn an und lächelte. Es war ein milder Frühlingsabend, einer der ersten in diesem Jahr, Jürgen war euphorisch und melancholisch zugleich. Dieses seltsame Gefühl, das der Frühling häufig auslöst, das Gefühl, etwas verloren zu haben, an das man sich schon nicht mehr erinnern kann. Die Ahnung von etwas Unerhörtem, die Leichtigkeit der ersten Blätter, der jungen Brise. Im Frühling wurde ihm bewusst, wie alt er schon war, wie schnell alles verging. Er hatte den plötzlichen Drang, jede Minute mit Bedeutung zu füllen, er wollte seine Familie um sich haben, seine Frau und seine Tochter an einem Tisch, mit ihnen essen und lachen, bis sie der Nacht wie eine Gräte im Schlund steckten, er wollte das so heftig und dringend, als wäre es das letzte Mal. Jürgen schluckte.

Jessie reagierte nicht gut auf Rührseligkeit, schon als sie klein war, hatte sie ihn skeptisch oder einfach verständnislos angeschaut, wenn er sentimental wurde, mittlerweile war aus der Skepsis offene Missbilligung geworden. Er musste sich zusammennehmen, wenn das heute was werden sollte.

»Weißt du was, mein Mädchen?«, begann er so leichthin wie möglich. »Deine Mutter hat in einer guten halben Stunde Dienstschluss. Ich denke, wir überraschen sie. Holen sie vom Krankenhaus ab, und dann lade ich euch beide zum Essen ein. Na?« Er zündete sich eine Zigarette an, nahm seine Tochter bei der Hand, was sie ausnahmsweise duldete, und sie fuhren mit dem Bus zum Uni-Klinikum.

»Wie wars in der Schule?«, fragte er.

»Ja«, sagte Jessie.

»Mathearbeit schlecht?«

»Auch.«

»Physik?«

»Hm.«

»Wann schreibt ihr Deutsch?«

»Übermorgen.«

»Na, dann ist ja noch ein bisschen Zeit.«

Jessie nickte und lehnte sich an seine Schulter.

Jürgen wusste, er musste mit seiner Tochter reden, sie überzeugen, wenigstens ein bisschen fleißiger zu sein, er konnte es nicht. Er fand es einfach so hinreißend, wie sie an seiner Schulter lehnte, gar nicht damit rechnete, dass er schimpfen könnte. Und so schlecht war sie ja auch nicht. Die Versetzung war selten gefährdet. Das wurde alles überschätzt, fand Jürgen.

Sie gingen nicht auf die Station, sie versteckten sich draußen hinter den Büschen. Jessie hatte die Kamera im Anschlag, Jürgen überlegte, welches Restaurant der Feierlichkeit seiner Stimmung angemessen war, und entschied sich für die Schiffergesellschaft. Ihm war nach Stoffservietten, schweren Gabeln und rauchgeschwärzten Balken. Danach vielleicht ein Mondspaziergang. Vielleicht sogar an der Trave entlang, um die ganze Stadt herum. Am Krähenteich im feuchten Gras sitzen. Sich von ein paar der ersten Mücken stechen lassen, Freya seinen Mantel und Jessie seinen Pullover umlegen, wenn es kühl wurde. Beide zum Lachen bringen. Gleichzeitig. Das wollte er heute schaffen. Sie lachten über so verschiedene Dinge, Freya und Jessie hatten ihre eigene Sprache, die er nicht verstand, den Unterhaltungen von Jürgen und Jessie konnte Freya nicht folgen, er und seine Frau hatten einmal eine gemeinsame Sprache gehabt, aber die hatte er schon fast vergessen.

Aber heute würden sie zu dritt lachen. Und seine Brille würde unter dem Atem seiner Frau beschlagen. Und Jessie würde im Gras einschlafen, und er würde sie nach Hause tragen dürfen, noch ein einziges Mal.

Es war dieser Moment, als er mit seiner ihm langsam entwachsenden Tochter wie ein Kind hinter Büschen kniete, die Nase im Buchsbaum, Jessies Haar im Gesicht, der ihm bewusst machte, wie dankbar er war, diese kleine seltsame Familie zu haben.

Freya kam lachend mit einem Kollegen aus der Tür der Station, blieb kurz stehen, um sich zu verabschieden. Zwanzig Meter entfernt sprangen Jürgen und Jessie hinter dem Busch hervor, Jessie stellte das Objektiv scharf, Freya sah nicht hin. In dem Moment, als die beiden aus dem Buchsbaum brachen, schloss Freya die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Freya küsste den Arzt, und Jessie drückte den Auslöser.

Der Roggenbuk hockte unter einem Stein am Grund der Trave, die Klauen hungrig gekrümmt. Seine Harfe bestand nur noch aus drei Knochen, damit betörte er niemanden mehr. Junge Frauen saßen am Ufer, ihre nackten Füße hingen im Wasser wie junge Forellen, weißes warmes Fleisch, ihre Rippenbögen würden sanft unter seinen Klauen vibrieren, das dreigestrichene C, das wundersame Dis, ein H.

Der Sage nach hatte ein Ritter, natürlich ein Ritter, den Roggenbuk getötet. Ihm im letzten Moment die Jungfrau entrissen, welche die Stadt ihm geopfert hatte. So weit stimmte das. Pro Jahr hatte man ihm eine Jungfrau dargebracht, den Rest des Jahres gab er dann Ruhe. Und dann kam dieser Ritter daher, mit vollem Gedöns, Schimmel, Rüstung, Locken usw., und raubte ihm seinen Teil des Handels. Der Sage nach hatte der Roggenbuk sich vor Zorn in einen Lindwurm verwandelt, in einen fürchterlichen Drachen, und der Ritter, furchtlos und glänzend (Sonne auf Rüstung, Locken und dergleichen), hatte ihm den Kopf abgeschlagen. Weil eine Sage eben ein gutes Ende braucht. In Wirklichkeit war der Ritter eine wahre Flitzpiepe gewesen, schnell, das schon, aber feige. Hatte sich das Mädchen geschnappt, und weg war er. Kein Kampf und schon gar keine rollenden Köpfe. Er hatte das Mädchen geraubt und war getürmt.

Nach dem geplatzten Handel spielte er das ganze Jahr über auf seiner Harfe. Scharenweise gingen die Mädchen ins Wasser, sanken ihm lächelnd entgegen, die Arme sehnsüchtig ausgestreckt, Haare wie Engel.

Jetzt ließ sich niemand mehr betören, sein Gesang war dünn geworden, die Stimme brüchig. Und dann ein Getöse am Ufer, ein Rauschen und Summen, von überallher kam Musik, niemand hörte seine Lieder. Er war lahm geworden, das auch. Der Hunger hatte ihn abgezehrt, aus seiner wahrhaft fürchterlichen Gestalt war etwas Krummes, Verhutzeltes geworden, seine Klauen begannen sich in den Ballen zu krümmen, dort hineinzuwachsen. Sosehr er sie streckte, er konnte nichts dagegen ausrichten. Da schlief er mal hier, mal da siebzig Jahre, und schon waren sie wieder gichtiger und krummer geworden, die Spitzen bohrten sich schon ins Fleisch. Auch in eine Schiffsschraube war er geraten, vor dreißig Jahren vielleicht, er erholte sich einfach nicht mehr so gut.

Sein Fleisch krümmte sich nicht nur, es schrumpfte auch, er war klein geworden, er merkte das an dem Stein, unter dem er schlief. Vor hundert Jahren wäre der zu klein gewesen, um bequem darauf zu sitzen, jetzt konnte er sich darunter zusammenrollen. Alles schrumpelte und schrumpfte, nur seine Ohren hatten noch dieselbe gewaltige Größe. Seine Harfe musste er jetzt auf dem Boden abstellen und dann noch immer mit beiden Klauen packen, an Spielen war nicht mehr zu denken, selbst wenn sie noch alle Knochen gehabt hätte.

Er konnte sich noch daran erinnern, wie mühelos seine Klauen ein Herz aus dem Leib hatten reißen können, jetzt würden die Frauen dort am Ufer kichern und glauben, ein Fisch habe sie gezwickt, wenn er nach ihren Füßen griff.

Wie er Fische hasste. Diese kalten glibbrigen Dinger, von denen er sich jetzt ernähren musste, die Gräten, die ihm zwischen den Zähnen hängen blieben, er war so müde.

Er bettete sich um, seine schweren, ledrigen Lider schlossen sich wie ein Vorhang. Das Bild der lichten Füße im dunklen Wasser, er hörte ein Lied, sein Lied. Ein wenig schlafen, vielleicht ein, zwei Jahrhunderte, möglicherweise war das alles nicht der Untergang, eventuell war es nur eine schwere, sehr schwere Phase. Der Schlamm kroch ihm in die Nüstern, zu kraftlos, da etwas wegzuwischen, zu schlapp, einmal heftig auszuschnauben. Die Wärme der Herzen in seiner Hand, seine Zähne noch moosbewehrt und gefährlich, jetzt so kümmerlich, da wollte noch nicht mal Moos was mit zu tun haben.

Die Füße, sie waren so weiß, so appetitlich, ihr Bild auf seiner Netzhaut wie Sterne an einem grenzenlosen Himmel.

Er hörte die Frauen lachen, er fror.

KAPITEL 2

Johann Christoph Petersenn und Josefa Wilhelmina Graf trennten fast vierzig Jahre, aber was sie einte, war viel entscheidender: Josefa und Johann hatten mit eigenen Augen einen Mann zu Stein werden sehen.

Aber im Winter 1863/64 war Josefa noch nicht geboren, und ihr zukünftiger Vater Ludwig Maria Graf, ein Offizier aus dem Montafon, saß in einer Gastwirtschaft an der Trave und verzehrte mit großem Appetit geröstetes Brot, ein beachtliches Stück Schweinebraten, einen Teller Kohlsuppe und einen Liter Bier. Ihm gegenüber saß Johann Petersenn, Jessie Mertens’ Urgroßvater, ein lübscher Offizier, der dreiunddreißig Jahre alt geworden war, ohne einen Krieg gesehen zu haben, was nicht an der generellen Abwesenheit von Kriegen lag. Wäre er verheiratet, seine Frau hätte den Lübecker Senatoren Marzipanbrote vorbeigebracht, als Dank, dass man sich aus allen Kriegen raushielt, aber Johann Petersenn hatte auch keine Frau. Er hatte keine Frau, er hatte keinen Krieg, er hatte nichts als eine Uniform. Und einen stattlichen Bart, der durch einen Schnauzer mit gezwirbelten Enden gekrönt wurde. Würde wenigstens der Roggenbuk ab und an aus der Trave steigen und eine junge Dame verspeisen, Johann hätte seinen Kampf gehabt, er hätte, ohne zu zögern, sich dem Roggenbuk entgegengestürzt, aber das Ungeheuer verschlief dieses Jahrhundert, es hatte sich in den Schlamm gelegt, als es noch nicht einmal eine Eisenbahn gab, und erwachte erst wieder zum Klingeln der Straßenbahn.

Johann Petersenn lebte in einer Stadt, in der junge Männer sich nicht schamhaft unter Einsatz von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freikaufen mussten, sondern in der sie mithilfe eines offiziellen Vereins Stellvertreter anheuern konnten. In einer Stadt, die sich durch Diplomatie und strategische Zahlungen an die jeweiligen Könige, Fürsten oder Feldherren so gut wie jeden Krieg vom Leib gehalten hatte, die es sogar geschafft hatte, vom Dreißigjährigen Krieg verschont zu bleiben, in so einer Stadt war es schwer, als Offizier zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Seine Infanterie robbte nicht auf Knien durch den Dreck, sie kontrollierte die Ein- und Ausreisenden und ihre Waren. Sie kämpfte nicht auf brennenden Schlachtfeldern, sondern überprüfte die Pässe und erhob Zölle. Sie verriegelte am Abend die Stadttore und schloss sie am Morgen wieder auf. Sie verwehrte Kranken den Zutritt zur Stadt, verhaftete Tumultanten, bewachte das Rathaus, besserte die Wälle aus, regelte den Verkehr und bürstete ihre Uniformen für den nächsten Umzug.

Johann kam aus einer Familie von Offizieren, Oberstleutnants und sogar Stadtkommandanten, aber keiner seiner Vorfahren und Verwandten war im Krieg gefallen. Alle Männer der Familie Petersenn waren dem Alter, einer Grippe, der Trunksucht und ähnlichen Kalamitäten erlegen, keiner von ihnen war auch nur verwundet worden.

Ludwig Maria Graf hingegen, dieser österreichische Offizier, der ihm hier gegenübersaß, Bratensoße im roten Bart und Brot in der Faust, hatte eine Frau, er hatte einen Krieg. Er hatte alles, was einen Mann zum Mann machte. Die Österreicher zogen gegen die Dänen, und Johann Petersenn nahm einen großen Schluck Bier und kämpfte gegen das Verlangen, den obersten Knopf der Uniform zu öffnen, der Kragen scheuerte ihm am Hals. Gerade die Dänen. Die Dänen waren fast so schlimm wie die Franzosen. Johann nickte dem Österreicher, der ungeniert seine Uniform bekleckerte, zu: »Verstehen Sie, zwanzig Jahre lang haben wir beim dänischen König um eine Eisenbahnlinie nach Hamburg betteln müssen! Und dann noch nicht einmal eine Direktverbindung.« Eine Verbindung nach Büchen war das Äußerste, was man dem König habe abringen können, von dort konnte man in die Linie Hamburg – Berlin umsteigen.

Johann war einundzwanzig Jahre alt gewesen, als die Schienen verlegt waren und der Bahnhof gebaut, und die Senatoren feierlich in den Salonwagen stiegen, über Mölln und Ratzeburg nach Büchen fuhren, wo sie Schnittchen aßen und das Ende der dänischen Blockade feierten. Johann fuhr die Strecke nur ein einziges Mal. Die Landschaft raste an seinem Auge vorbei, dass er nicht mehr in der Lage war, einen Strauch von einem Baum zu unterscheiden, er sah nur bunte Streifen und musste sich zur Belustigung der anderen Reisenden und zu seiner Scham schon nach einer halben Stunde Fahrtzeit übergeben. Den restlichen Weg nach Büchen überstand er nur mit geschlossenen Augen. Er litt furchtbar unter dem Lärm der Lokomotive.

Der Senat jedenfalls hatte beschlossen, sich auch aus dem Krieg gegen die Dänen herauszuhalten und sich auf die Verpflegung und Versorgung der preußischen und österreichischen Truppen zu beschränken. Andere mochten das für diplomatisch halten, aber Johann war ein Offizier ohne Krieg. Ludwig, der ein letztes Stück Brot in die Suppe tunkte, schüttelte den Kopf. »Mein Freund, ich fühle mit Ihnen. Ich muss Ihnen aber sagen, Kampf hin oder her, Ihre Männer machen einen guten Eindruck!«

»Nicht mal eine Kaserne bewilligt der Senat«, beschwerte sich Johann, »das ist eine wirkliche Ärgerlichkeit, dass ich mir meine Truppe aus der ganzen Stadt zusammensuchen muss. Unter solchen Sachen leidet die Manneszucht. Erst letzte Woche sind drei Männer nicht zum Dienst erschienen, man hat sie aus dem Wirtshaus tragen müssen! Und der Exerzierplatz! In der Hauptübungszeit des Bataillons ist die Freiweide vor dem Burgtor vom Volksfest belegt! Für die Turnausbildung gehen wir in die öffentliche Turnanstalt, die Ausbildung im Fechten findet im Burgkloster statt, ich sage Ihnen, es ist eine Demütigung!«