Gezeiten - Bei Dao - E-Book

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Bei Dao

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Beschreibung

Gezeiten‹, der erste Roman von Bei Dao, einem der meistbeachteten Autoren Chinas, spiegelt die verzweifelte Situation junger Intellektueller in der verworrenen End- und Auflösungsphase der Kulturrevolution. Die schwierige Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem aus Peking in ein ödes Provinznest strafversetzten Studenten zeigt den Verlust an Hoffnung und Vertrauen, den eine ganze Generation erlitten hat. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 214

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Bei Dao

Gezeiten

Ein Roman über Chinas verlorene Generation

Aus dem Chinesischen von Irmgard E. A. Wiesel

FISCHER Digital

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Helmut Martin

Inhalt

Personen [...]1(Yang Xun)(Xiao Ling)2(Lin Dongping)(Lin Yuanyuan)(Yang Xun)(Xiao Ling)(Bai Hua)3(Yang Xun)(Xiao Ling)(Bai Hua)4(Bai Hua)(Lin Yuanyuan)(Yang Xun)(Xiao Ling)5(Lin Yuanyuan)(Lin Dongping)(Yang Xun)(Xiao Ling)6(Lin Dongping)(Yang Xun)(Xiao Ling)7(Yang Xun)(Xiao Ling)8(Bai Hua)(Yang Xun)(Xiao Ling)9(Lin Dongping)(Yang Xun)(Xiao Ling)10(Lin Yuanyuan)(Bai Hua)(Yang Xun)(Lin Dongping)(Xiao Ling)11(Yang Xun)(Xiao Ling)(Lin Dongping)(Lin Yuanyuan)(Yang Xun)(Xiao Ling)(Bai Hua)(Yang Xun)(Xiao Ling)»Überlebende dieser Zeit«Ein Dichter wird zum Symbol des ProtestesEine Welt der Alpträume: die ErzählungenDer RomanChinesische UntergrundliteraturSpäte DrucklegungPseudonymeEine neue SpracheSymbolebenenChinas Gegenwartsliteratur: Rückblick auf das erste JahrzehntZu dieser ÜbersetzungBibliographische Hinweise

Personen

aus deren Perspektive die Handlung des Romans sich entfaltet

 

Ort

Eine Provinzstadt, wahrscheinlich in Shanxi

 

*Xiao Ling (Lingling),23

Hilfsarbeiterin mit belastender Rotgardistenvergangenheit, stammt aus einer Intellektuellenfamilie; beide Eltern wurden während der Kulturrevolution in den Tod getrieben

 

Xie Liming

Rotgardist, der Xiao Ling vor Jahren verlassen hat

 

*Yang Xun, etwa 25

ehemaliger Rotgardist, war als ›Politischer‹ im Gefängnis, wohl unehelicher Sohn von Lin Dongping

 

*Lin Dongping

Kader im Stadtparteikomitee, ehemaliger Propagandachef der Provinz, Vater von Yuanyuan

 

Tante Chen

führt den Haushalt von Direktor Lin

 

Ruohong

ehemalige Geliebte von Lin, Mutter von Yang Xun, jetzt in hoher Position in Peking

 

Xiao Zhang und Su Yumei

Mitarbeiterinnen von Direktor Lin

 

Dicker Wu

Chauffeur von Direktor Lin

 

*Lin Yuanyuan, 18

Tochter von Lin Dongping, damit jüngere Halbschwester von Yang Xun; ihre Mutter, ebenfalls Führungskader, ist in der Kulturrevolution umgekommen

 

Fafa

ihre Freundin, Tochter des Sicherheitschefs Liu, ein oberflächliches Kader-Töchterchen

 

Affen-Xu, das Mädchen Dickerchen Wang und andere ›Kaderkinder‹

 

Li Tiejun

verrohter Rotgardist

 

Wang Defa

Linker Aufsteiger aus der Armee, mit starkem Shandong-Akzent, Kollege von Lin

 

Wu Jiezhong

Zweiter Provinzsekretär

 

›Doppelkracher‹

Vorarbeiter von Xiao Ling

 

*Beschützer Bai Hua, etwa 25–30

auch ›die Ratte‹ und ›Großvater‹ genannt, Anführer einer Bande krimineller Jugendlicher

 

Xiao Si, die Wildkatze ›Kleine Nummer Vier‹

Freundin von Bai Hua

 

Manzi

Kumpan von Bai Hua

 

Lanzi

minderjährige Prostituierte, und Freundinnen

 

* Hauptfiguren, aus deren Perspektive der Leser Handlung und Gedanken wahrnimmt

 

Die im Chinesischen üblichen vertraulichen Namensvorsätze ›Xiao‹ und ›Lao‹ (›Kleine(r)‹ und ›Alte(r)‹) sind im Roman nicht ins Deutsche übertragen, sondern werden in dieser Form belassen.

1

(Yang Xun)

Wir fuhren im Bahnhof ein; die Bremsen quietschten. Straßenlaternen, die Schatten von Bäumen und eine Reihe pulsierender Gitterstäbe blitzten vorbei. Der Schaffner öffnete die Türen, klappte die Trittbretter herunter und rief irgendwas. Ein Strom frischer Luft schlug mir entgegen, ich nahm einen tiefen Atemzug und stieg aus.

Der Bahnsteig lag verlassen da. Weit vorne stieß die Lokomotive Dampf aus, im aufsteigenden Nebel flimmerte das blasse Licht eines Scheinwerfers. Aus dem langgezogenen Zugschatten ertönte ein schwaches, gleichmäßiges Hämmern.

Eine sanfte Brise vertrieb die Nacht.

Der alte Fahrkartenkontrolleur döste an das Gittertor gelehnt vor sich hin. Ein halbabgerissener Knopf baumelte an seiner Jacke. Müde streckte er seinen Rücken und tastete nach seiner Taschenuhr. »Schon wieder Verspätung, faule Säcke.« Er nahm meine Karte, wendete sie hin und her und gab sie mir schließlich zurück. »Ich war auch mal in Peking, da am Tianqiao, Dazhalan, Huashi und … ach was soll’s.«

Ich bot ihm eine Zigarette an. »Wann waren Sie dort?«

»1934.« Er riß ein Streichholz an und schützte es mit einer Hand vor dem Wind. Die zwischen seinen Fingern aufblitzende Flamme huschte über seine Stirn. Gierig sog er an der Zigarette. »Damals hatte ich gerade meine Frau kennengelernt, wir haben buntbedruckten Stoff und alle möglichen anderen Sachen eingekauft.«

Ein süßlich-ranziger Geruch nach Vermodertem hing über dem kleinen Bahnhofsplatz. Unter der Laterne vor dem Eingang zum Wartesaal stand ein Fuhrwerk. Von Zeit zu Zeit schnaubte das Pferd an der Deichsel und schnupperte am Boden. Der Fuhrmann hatte sich bequem auf dem Wagen zurückgelehnt und ließ ein Bein hinunterbaumeln. Ich stellte meinen Koffer ab, zündete mir eine Zigarette an und warf das Streichholz in eine schwarze Pfütze.

Es gab weder Straßenlicht, noch schien der Mond in die Straße, nur die Halme vereinzelter Grasbüschel am Rand reflektierten ein wenig Licht. Auf einmal tauchte hinter raschelnden Sonnenblumen ein in einen Gemüsegarten geducktes, erleuchtetes Lehmhaus auf. Vor der Tür hing ein Bündel roter Paprika, das im Lichtschein besonders auffiel.

Ich wechselte meinen Koffer in die andere Hand und ging darauf zu.

»He, Landsmann«, ich klopfte an die Tür, »hast du einen Schluck Wasser für mich?«

Nichts regte sich.

Ich klopfte stärker. »He, Landsmann – – –«

Ein scharrendes Geräusch. Ich merkte, daß jemand mit angehaltenem Atem hinter der Tür stand. Schließlich öffnete sich die Tür. Im Lichtschein tauchten die Konturen eines jungen Frauengesichts auf, um das die Haare wie ein schimmernder Strahlenkranz standen … ich traute meinen Augen nicht!

»Entschuldige, ich bin gerade mit dem Zug angekommen, und bis zur Fabrik ist es noch ein ganzes Stück. Ich komme fast um vor Durst …«, erklärte ich umständlich. Allmählich lichtete sich das Dunkel, und ich sah ein Paar großer, wachsamer Augen. Sie gab mir ein Zeichen. »Tritt ein.«

Das Haus war sehr einfach eingerichtet, an einigen Stellen hatte sich die Tapete von der Wand gelöst. Auf dem Tisch stand das eingerahmte Foto eines kleinen Mädchens, ein Federhalter und ein Notizbuch mit blauem Einband lagen daneben.

»Setz dich«, sie zeigte auf einen Stuhl neben der Tür, trat – eine Hand auf dem Rücken – ein paar Schritte zurück und ließ sich auf dem Bett gegenüber nieder. Als das Licht auf ihr Gesicht fiel, war ich verblüfft, wie schön sie war.

»Bedien dich, Thermoskanne und Becher stehen neben dir auf der Truhe.« Sie schlug das blaue Notizbuch auf, wobei sie noch immer die eine Hand auf dem Rücken hielt.

Das Wasser war kochendheiß. Ich pustete in den dampfenden Becher und fragte: »Lebst du allein hier?«

Sie sah auf und starrte mich an. Erst nach einer ganzen Weile nickte sie zerstreut.

»Bist du gerade erst von der Landverschickung zurückgekommen?«

»Was?«

Ich wiederholte meine Frage.

»Vor einem Jahr hat man mich zurückversetzt.«

»In was für einer Produktionsgruppe warst du?«

Sie hob erstaunt die Augenbrauen. »Willst du sonst noch was wissen?«

Einen Moment lang war ich verdutzt, dann lächelte ich. »Ja, zum Beispiel, was du da in der Hand hast?«

»Du bist wohl mit dem Buch ›Zehntausend Fragen‹ aufgewachsen.« Sie zog einen blitzenden Dolch hinter ihrem Rücken hervor und legte ihn auf den Tisch.

»Ganz im Gegenteil, als Kind war ich überhaupt nicht wißbegierig.«

Sie lächelte spöttisch: »Deshalb willst du jetzt wohl um so mehr wissen.«

»Genau.«

»Mach schon, trink dein Wasser aus.« Sie sah mich mißmutig an und winkte ungeduldig mit dem Dolch, der glänzende Kurven in die Luft schnitt.

Schweigen.

Leise klopfte sie mit dem Griff einen abwechselnd schnellen und langsamen Rhythmus auf dem Tisch. Dabei lauschte sie mit zur Seite geneigtem Kopf, als ob dieser Klang eine besondere Bedeutung für sie hätte. Offenbar hing sie einem vertrauten Gedanken nach … Plötzlich knallte sie den Dolch auf den Tisch, trat ans Fenster und öffnete es. Eine kleine Pappel streckte ein Bündel dreieckiger, funkelnder Blätter herein, die freudig um ihre Schultern tanzten, als wollten sie ihre langerwartete Herrin begrüßen.

Während ich ihren Rücken betrachtete, zitterte der Becher in meiner Hand. Uns trennten Geschlecht, unterschiedliche Erfahrungen und die Dunkelheit. Vielleicht hätte ich etwas sagen sollen, um das alles zu überwinden und die peinliche Stille zu unterbrechen. Uns konnte eine schicksalhafte Beziehung bevorstehen, aber wie empfindlich sind solche Beziehungen und wie leicht zu verfehlen.

Das kleine Mädchen auf dem Tisch lachte mich keck an und hielt stumme Zwiesprache mit mir.

»Ist das ein Kinderbild von dir?« konnte ich mich nicht enthalten zu fragen.

Sie schien nicht gehört zu haben. Wie zuvor stand sie mit verschränkten Armen am Fenster und blickte in die Ferne. Was konnte sie sehen, die Nacht, Felder, Bäume … oder war das nur Dunkelheit, endlose Dunkelheit? Ich fragte noch einmal, doch wurde mir in diesem Moment klar, wie unpassend meine Fragen waren.

Ihre mageren Schultern hoben und senkten sich leicht. Plötzlich drehte sie sich um und starrte mich kalt, sogar ein wenig feindselig an. »Wie kannst du nur so taktlos sein … Kannst du andere Leute nicht zufriedenlassen? Trink bitte aus und geh, ich möchte meine Ruhe haben.«

Ich stand auf. »Es tut mir leid, daß ich dich gestört habe. Danke für das Wasser.«

Sie nickte kurz, und in diesem Moment sah ich das Schimmern von Tränen.

(Xiao Ling)

Mama spielt die ›Mondscheinsonate‹.

Die Lampen im Zimmer sind aus. Wie eine kleine Katze sitze ich still neben dem Klavier mit meinen locker geflochtenen Zöpfen und verströme den Duft von Seife.

Das Mondlicht fällt auf den Boden und beginnt zur Musik zu tanzen wie ein Mädchen in einem weißen Seidengewand, und alles um es herum stimmt sacht mit ein.

»Mama, o Mama –«, weine ich plötzlich, ohne es zu wollen. Das Mondlicht erstarrt.

»Was ist los, Lingling?« Mama legt mir eine Hand auf die Stirn, »fühlst du dich nicht wohl?«

»Mama, ich habe Angst.«

»Wovor hast du Angst?«

»Ich weiß nicht.«

Ich weiß es wirklich nicht, ist es die Dunkelheit, das Mondlicht oder sind es diese geheimnisvollen Klänge.

 

Ich lege den Stift hin. Hat die Vergangenheit hier ihren Ausgang genommen? Manchmal ist die Erinnerung recht merkwürdig; was wir behalten, sind oft unwichtige Kleinigkeiten. Doch vielleicht sind es gerade diese kleinen Dinge, die insgeheim die Zeichen eines unabänderlichen Schicksals in sich tragen. Ich habe so lange nicht mehr geschrieben, daß es mir beinahe seltsam vorkommt, jetzt wieder damit anzufangen. Und außerdem: Was will ich eigentlich schreiben? Eine Autobiographie? Eine Skizze für eine Erzählung? Nein, keins von beiden, ich halte nur die Erinnerung an die Vergangenheit fest.

In der Ferne pfeift schrill eine Lokomotive. Manchmal bin ich wie ein erschöpfter, unterwegs an einer kleinen Station zurückgelassener Reisender, der weder an seinen Ausgangspunkt noch an seinen Bestimmungsort denkt, sondern nur an Frieden und die Aussicht dauernder Ruhe.

 

»Phantasie ist nur eine unerträglich dumme Idee. Sie verblendet die Menschen und bringt sie durcheinander, so daß sie Dinge versuchen, von denen sie nichts verstehen.« Der Physiklehrer geht in seiner zerknitterten Uniform auf dem Podium auf und ab und streicht mit der Hand über sein schlecht rasiertes Kinn. »Was ist Wissenschaft? Wissenschaft ist Vernunft, wie alles andere auch …«

Ich melde mich.

»Ja, bitte?«

»Und was ist Poesie, Herr Lehrer?«

»Hm, setz dich. Was ich gesagt habe, gilt für alle Gebiete. Natürlich mag auch ich Gedichte sehr gern. Ich greife sogar selbst hin und wieder zur Feder. Ein paar Gedichte habe ich auch an Zeitschriften geschickt, und die Genossen Redakteure haben immer die Schärfe meiner Logik besonders hervorgehoben.

Dieser Vierzeiler zum Beispiel:

Die Erde hat die Schwerkraft,

wir Menschen haben Muskelsaft,

so können wir mutig voranschauen,

ohne Angst, am Dach den Kopf zu hauen.«

Alles brüllt vor Lachen.

»Na, das war doch nicht schlecht, oder?« Bescheiden zupft der Lehrer seine Jacke zurecht. »Sonst noch Fragen?«

 

»He, du kletterst aber schnell.«

Ich drehe mich um. Ein Junge aus einer anderen Klasse kommt, auf einen Stock gestützt, hochgestiegen. Er gleicht mit seinen entblößten Armen und den um die Hüfte gebundenen Ärmeln einem Tibeter. Jetzt fällt es mir wieder ein, in den letzten Sommerferien habe ich ihm Nachhilfestunden gegeben.

»Ich fürchte, das ist ein großer Umweg«, sage ich.

»Nein, das ist sogar eine Abkürzung. Komm, ich gehe voraus.« Er hastet voran, mit seinem Stock die Brombeerbüsche zur Seite schlagend. »Schneller, bis zum Gipfel ist es nicht mehr weit.«

Dunkle Wolken türmen sich auf und rücken näher, der Wind verfängt sich in meinem Rock. Plötzlich gibt es einen Donnerschlag, der direkt neben meinem Ohr zu explodieren scheint. Der Rock wickelt sich um meine Beine, so daß ich kaum noch vorwärtskomme.

»Was ist los?« ruft der Junge und dreht sich um.

»Geh nur weiter.«

Behende wie eine Bergziege springt er zu mir und reicht mir seinen Stock. »Hier nimm, damit geht es leichter, du brauchst keine Angst zu haben. Guck mal, ein richtiger Sturm. Als ich klein war, bin ich hier oft ganz allein hochgeklettert, um wilde Jujuben zu pflücken. Und bei Regen, da wurde es erst richtig aufregend. Dann zog ich mir die Kleider aus«, er streicht sich über die Brust, »genau wie jetzt, ich stand auf dem Gipfel, unter mir die Wolken, die wallten und sich übereinanderschoben, dazu das Rollen des Donners, und ich schrie, so laut ich konnte, bis meine Stimme überall zu hören war. Rate mal, was ich gerufen habe?«

»Was denn?«

Er klettert auf einen steilen Felsvorsprung und schreit laut über das Tal: »Heejaa – – – hee – – jaa …«

Das Echo hallt im Tal und klingt noch lange nach.

 

Und dann kam dieser ungebetene Gast, der Erschöpfung, Kälte und einen ungewohnten Geruch mitbrachte.

Was ist los mit mir? Mein ganzer Körper fühlt sich unwohl, ich bin durcheinander, und alles nur wegen dieses verdammten Kerls. Was hat er überhaupt mit dir zu tun? Er ist doch nur wegen Wasser und weil er Licht gesehen hat hergekommen. Und dann? Geh deiner Wege, wie weit und wie lang sie auch sind …

Die schwarze Nacht und ich sehen uns an.

Leere, Undurchdringlichkeit, Ziellosigkeit, sind dies Gefühle, die ich der Nacht zuschreibe oder die die Nacht in mir weckt? Es ist schwer zu unterscheiden, was Nacht ist und was ich bin, wir scheinen eins zu werden. Es war schon immer so, daß es Harmonie und Ruhe nur dann geben kann, wenn Leben und Tod ineinander übergehen; dann erst gibt es keinen Streit und keine Wünsche mehr.

Kleine Pappel, was redest du da vor dich hin?

 

»Was siehst du, Lingling, guckst du den Möwen zu?«

»Ich schaue mir die Sonne an, Mama.«

»Mach keinen Unfug, du wirst dir die Augen verderben.«

»Das macht nichts.«

»Tu, was ich dir sage, Lingling.« Die Wassertropfen heben sich wie Diamanten auf Mamas sonnengebräunter Haut ab. »Willst du nicht schwimmen gehen?«

»Geh du zuerst, Mama, ich sonne mich noch ein wenig.«

Ich liege auf dem heißen Sand und starre ohne zu blinzeln in die Sonne. Das Dröhnen der Sonne ist ohrenbetäubend, es übertönt noch das Donnern der Wellen und den Lärm der Menschen. Ich schließe die Augen und öffne sie wieder, vor mir tanzen bunte Kreise.

Der Himmel wird so dunkel und schmal, wie ein schmutziger Stoffetzen, den eine Möwe hoch oben im Schnabel trägt. Die Sonne ist doch reich.

Die Flut kommt …

2

(Lin Dongping)

»Zigarette – – –« sagte ich.

Er griff zu dem Metalletui, nahm eine Zigarette heraus und zündete in aller Ruhe ein Streichholz an. Beide waren wir an dieses verlegene Schweigen gewöhnt. Draußen fiel ein vertrocknetes Blatt herab und streifte raschelnd die Fensterscheibe.

»Ist zu Hause alles in Ordnung?«

»Vater ist ziemlich beschäftigt …«

»Ach ja, ich habe davon in der Zeitung gelesen. Diese Ausländer, die mit aller Macht ins Land wollen, was kann man da schon machen … und deine Mutter?«

»Sie will dieses Jahr in Ruhestand gehen.«

»In Ruhestand?« murmelte ich und trommelte mit den Fingern auf der Glasplatte des Teetischchens.

Geräuschvoll wurde die Tür aufgestoßen, und Yuanyuan stürzte herein. Ihr Gesicht war sehr rot; ob das an ihrem zu eng gebundenen Halstuch oder an dem starken Wind lag, wußte ich nicht.

»Oh, du bist es, Xiao Xun. Seit wann bist du wieder da? Komisch, jedesmal, wenn du kommst, herrscht bei uns Grabesstille …«

Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

Lachend hielt sie sich den Mund zu. »So etwas bringt Unglück, nicht wahr? Ich hätte vielleicht besser sagen sollen: ›Die Ruhe eines unbewegten Gewässers. Plötzlich der Schrei eines Hahnes, er zerbricht …‹« Yuanyuan riß sich das Halstuch herunter und warf es hoch über den Kleiderständer, auf dessen Spitze es wie ein Fallschirm niedersank. »Das lesen wir gerade in der Schule.«

»Mach uns doch noch etwas Tee«, sagte ich.

»Ja, ja. ›Der alte Bauer Zhang treibt sein Vieh vom Hof …‹.« Sie stieß die Tür auf und ging hinaus.

Das Telefon klingelte, ich nahm den Hörer ab und antwortete, wobei ich die Schnur um meine Hand wickelte: »Ja, ich bin’s. Hm, wann? Ist gut, ich werde da sein.«

Yuanyuan brachte die Tassen herein. »Schon wieder eine Sitzung, Paps? Diese Versammlungen der Kommunistischen Partei dauern immer ewig …«

»Yuanyuan!« wies ich sie in scharfem Ton zurecht.

»Alle sagen das …«

»Wer sind alle? Und wer bist du?«

Sie streckte die Zunge heraus und gab Xun einen Wink.

»Xiao Xun soll heute bei uns essen, ich bin bald zurück.«

 

Ich kurbelte die Scheibe herunter, und sogleich strömte kalte Luft in das Wageninnere und die Gardinen flatterten mir ins Gesicht. Bei dieser schmerzhaften Kälte war mir schon wohler. Im Seitenspiegel verkleinerte sich alles und löste sich schnell in nichts auf. ›In Ruhestand gehen‹, dieser Begriff war so ungewohnt und hatte bei ihr sogar etwas Beängstigendes. In meiner Erinnerung war sie immer noch so jung und lebhaft wie damals, als wir uns kennenlernten. Die Zeit war etwas Unwirkliches. Es würden bald dreißig Jahre sein. Worüber hatten wir auf dieser Erweiterten Konferenz des Bezirkskomitees damals gestritten? War es um die Perspektiven einer Zusammenarbeit zwischen Nationalisten und Kommunisten gegangen oder um den Streik der Arbeiter vom Elektrizitätswerk? Sie hatte ständig den Becher in ihren Händen gedreht, ohne allerdings das Wasser darin anzurühren. Erst als die Diskussion hitziger geworden war, hatte sie etwas verschüttet und hastig einen Schluck getrunken. Vielleicht war es die Aufregung gewesen oder weil das Licht zu schlecht war, aber ich hatte sie damals kaum richtig wahrgenommen. Nach der Sitzung waren wir uns auf dem Treppenabsatz begegnet. Sie streckte mir unbefangen und anmutig die Hand entgegen und lächelte mich einen Moment amüsiert an … ach, warum will ich mich schon wieder quälen? Wer war das, der gesagt hat, Schmerz ist ein Zeichen von Leben? Jetzt erinnerte ich mich; es war in unserer ersten Vorlesung an der medizinischen Fakultät gewesen. Ein alter, in Amerika ausgebildeter Professor sagte es und schrieb es dann mit herunterrieselnder Kreide auf englisch an die Tafel. Es war an einem Herbstmorgen gewesen, das Sonnenlicht drang durch die trüben, altmodischen Fenster herein … dieser Student mit dem zerzausten Haar und ich, was hatten wir heute noch miteinander gemein? Mein Haar war jetzt weiß.

Vor der Scheibe gingen zwei junge, ölverschmierte Arbeiter mit ihren Frühstücksdosen unter dem Arm vorbei und diskutierten über irgend etwas; sie schauten auf. Ein kleines Mädchen mit einem roten Halstuch knabberte an einer Süßkartoffel und schaute auf. Die Frau, die am Wasserhahn ihre Kleider wusch, wischte sich die Hände an der Schürze ab und schaute auf. Was hatten diese Blicke zu bedeuten? Aber vielleicht dachten diese Leute gar nicht daran, wer da im Auto saß; was hatte es mit ihnen zu tun? Doch die Genossen der Volkspolizei schalteten die Ampeln extra auf Grün und hoben sogar ihre weißen Handschuhe.

Ein schwarzer Zim parkte vor dem Eingang des Stadtrevolutionskomitees; ich erkannte den Besitzer am Nummernschild: es war der kürzlich in das Amt gekommene zweite Sekretär des Provinzparteikomitees. Als ich noch Leiter der Propagandaabteilung der Provinz war, war er nur ein Abteilungsleiter unter mir gewesen; seine Beförderung erfolgte nach meiner Versetzung, wie es heißt, aufgrund eines Artikels in der Parteizeitung.

In der dunklen Eingangshalle standen zwei Männer und sprachen miteinander.

»… Sekretär Wu, es hat ziemlich viel Widerstand gegeben; ein kleiner Soldat wie ich kann damit nicht fertig werden. Es gibt immer ein paar Dickschädel, die zu nichts zu bewegen sind …« Das war Wang Defas Shandonger Akzent.

Wu Jiezhong lachte: »Vielleicht bin ich auch so ein Dickschädel?«

Ich räusperte mich, und sie drehten sich um.

Wu Jiezhong streckte seine dünnen, knochigen Finger aus. »Lao Lin, was für eine Überraschung aus dem Hinterhalt.«

»Die nichts Gutes verheißen kann«, antwortete ich.

Wir lachten alle, aber jeder auf eine andere Weise; es hörte sich schrecklich an.

»Sekretär Wu ist gekommen, um unsere Arbeit zu kontrollieren«, sagte Wang Defa.

»Von Kontrolle kann keine Rede sein, ich bin nur mal vorbeigekommen, um mir anzusehen, wie die Produktionslage in diesem Quartal ist.« Wu Jiezhong rückte seinen um die Schultern gelegten Wollmantel zurecht.

»Schlecht«, sagte ich.

Betretenes Schweigen. Wang Defa holte ein großes Taschentuch aus seiner Tasche und putzte sich lautstark die Nase.

»Hat das Kohlebergwerk im Dorf Zhang wieder mit der Kohleförderung begonnen?« fragte er. »Der Zentrale ist diese Sache sehr wichtig.«

»Nach den Stolleneinbrüchen haben wir eine Truppe zusammengestellt, die die Unglücksstelle möglichst schnell wieder in Ordnung bringen soll. Der Haken ist nur, daß die Ursache für den Einsturz bisher noch ungeklärt ist. Dieser Punkt ist außerordentlich wichtig, weil sonst ähnliche Unfälle …«

»Wir sollten aber nicht vor lauter Angst, uns zu verschlucken, mit dem Essen aufhören, das ist meine Meinung.« Wu Jiezhong schüttelte mißbilligend den Kopf. »Gut, findet die Ursachen heraus, aber so schnell wie möglich; das ganze Land betrachtet die Mine als ein Musterbeispiel. Entscheidend sind vor allem die Auswirkungen … gehen Sie nur wieder hinein, ich finde selbst hinaus.«

»Und was ist mit der anderen Sache?« wechselte Wang Defa das Thema.

»Oh, ich glaube, die sollten wir lieber lassen.«

»Die Genossen des Ensembles haben aber schon die Kostüme und Requisiten fertig.«

»Aber keinen übergroßen Aufwand, bitte, nur ein normales Treffen …« Wu Jiezhong warf mir einen Blick zu. »Lao Lin, du kommst doch auch, oder?«

»Nein, mir geht es heute nicht so gut.«

Es waren noch zwanzig Minuten bis zur Versammlung, und so ging ich in das Büro und setzte mich an den Schreibtisch. Stempelkissen, Federhalterständer und Briefbeschwerer glänzten im Sonnenlicht. Laßt mich eine Weile in Ruhe, ich bin müde. Als ich noch ein Kind war, hat mir der blinde Zhang aus der Oststraße einmal kopfschüttelnd vorausgesagt, daß ich mein Leben lang für all meine Anstrengungen keine Belohnung erhalten würde. Meine Amme hätte ihm wegen dieser Bemerkung beinahe eine Ohrfeige gegeben. Ich erinnere mich noch genau an diese Szene: ich stand auf Zehenspitzen, das Kinn auf dem eiskalten Dattelholztresen, und starrte auf seine mit schwarzem Pflaster zugeklebten Augenhöhlen und seine beiden riesigen, zitternden Hände mit den großen Fingerknöcheln. Er warf die Bambusstäbchen in den Becher, schüttelte sie klappernd und murmelte Zauberformeln. Der Kanarienvogel mit dem roten Schnabel hüpfte aufgeregt hin und her …

Ich hob den Kopf. Das Licht der untergehenden Sonne fiel auf die riesige Karte der Stadt. Die Masse der Linien, Kreise und Symbole verschwamm zusehends, bis nur noch das ins Auge fallende, still und drohend sich erhebende Gebäude des Stadtrevolutionskomitees übrigblieb, das die ganze Stadt überblickte. Die Fenster im dritten Stock des Ostflügels waren im Licht der Abendsonne aufgeflammt, sie schienen die Strahlen wie ein Brennglas zu bündeln … merkwürdig, ich brauchte nur an diesem Tisch zu sitzen, um mein Zutrauen wiederzuerlangen. Es war, als ob ich nur hier, inmitten funkelnder Schreibutensilien meinen legitimen Platz finden konnte …

Die Tür ging auf, und Xiao Zhang trat leise ein. »Direktor Lin, hier sind ein paar Briefe von den Massen …«

»Gib sie der Postabteilung.«

»Von da kommen sie ja gerade.« Sie lächelte geheimnisvoll.

»Dann leg sie hierher.«

Die Umschläge waren wieder zugeklebt worden, also schlitzte ich sie einen nach dem anderen mit der Schere auf. Die meisten von ihnen stammten von Katastrophenopfern aus den umliegenden Kreisen (der Gedanke an die Überschwemmungen in diesem Sommer jagte mir kalte Schauer über den Rücken). Sie forderten eine Untersuchung über den Verbleib der Mittel des nationalen Hilfsfonds. Leiter der Unterabteilung für Katastrophenhilfe war Wang Defa. Auf jeder Tagung des ständigen Ausschusses teilte er detaillierte Zahlen zu allen möglichen Posten mit, und die Schweißflecken auf seiner ausgeblichenen Uniform, die er niemals wusch, verströmten einen derart stechenden Geruch, als ob er den Eindruck erwecken wolle, er arbeite sich schier zu Tode. In dem Stapel war überraschend auch dieser unverständliche Brief: »… kommt bitte mittwochs oder sonnabends zur Renmindong-Straße 75 und verhaftet die Ehebrecher.« Diese Leute mußten den Verstand verloren haben, auch noch solche Briefe an mich weiterzuleiten, es war ein Witz! Ich legte den Brief in eine Schublade zu den über hundert anderen; auf ein paar mehr kam es nun auch nicht mehr an.

Es war Zeit für die Versammlung. Ich ging hinunter und öffnete die Tür zu dem kleinen Laden. Su Yumei war in ein Buch vertieft, eine Haarsträhne hing ihr ins Gesicht.

»Eine Schachtel Zigaretten«, sagte ich.

In dem Augenblick, als sie hochschaute, war ihr Blick äußerst konzentriert; offenbar war ihr Interesse an dem Buch gerade eben nur vorgetäuscht. »Vorgesetzter Lin?« Sie strich ihr Haar zurück und lächelte anmutig.

»Was lesen Sie denn da?«

»Bittere Kräuter[*], wirklich sehr beeindruckend.«

»Habt ihr Qianmen-Zigaretten?«

»Wir haben alles. Gerade sind erstklassige Sahnebonbons hereingekommen. Der Markenname klingt wirklich gut. Möchten Sie ein paar?«

»Wie heißt die Marke?«

Sie zwinkerte mir schelmisch zu: »Unschuld, Unschuldsbonbons.«

(Lin Yuanyuan)

»Irgendwas Neues über die Jobzuteilungen?« Xiao Xun nahm einen Schluck Tee.

»Ach, hör bloß auf damit, die Lehrer behaupten, sie kümmern sich drum. Sie machen ein solches Trara darum, daß schon die ganze Schule davon weiß, doch bisher leider ohne Erfolg. Was hat Arbeiten da überhaupt noch für einen Sinn?« Ich lehnte am Bücherschrank, löste meine kümmerlichen Zöpfchen und flocht sie wieder. Mama hat einmal gesagt, daß ich nie im Leben lange Zöpfe haben würde. Nun war es bald sieben Jahre her, daß sie gestorben war, und die Zöpfe waren noch immer so kurz wie Hasenschwänze.