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Kann der okkulte Detektiv Levi Stoltzfus das Böse aufhalten, bevor es entfesselt wird? Halloween steht vor der Tür und in LeHorn's Hollow wird eine neue Spukattraktion eröffnet. Die Leute werden aus dem ganzen Land anreisen, um sich auf dem Ghost Walk zu gruseln. Aber mit einer Sache haben die Besitzer des Geisterweges nicht gerechnet. In den Wäldern lauert wirklich etwas – ein riesiges, uraltes Übel mit einem unermesslichen Hunger nach Leben. Bald werden die ahnungslosen Kunden sich anstellen ... um zu sterben. Horrormeister Brian Keene verbindet in diesem Thriller klassische und moderne Schrecken. The Horror Review: »Keenes Name sollte in einem Atemzug mit King, Koontz und Barker genannt werden. Ohne Zweifel ist er einer der besten Horrorautoren, die es gibt.«
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Seitenzahl: 414
Veröffentlichungsjahr: 2023
Aus dem Amerikanischen von Olaf Bentkämper
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Ghost Walk
erschien 2008 im Verlag Leisure Books.
Copyright © 2008 by Brian Keene
Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-049-6
www.Festa-Verlag.de
Für Dave Thomas und Joe Branson,
bis sprechende Piratenkatzen
gegen einen Yeti kämpfen …
1
Mutter Natur hielt ihren Atem an. Die Wälder waren still. Es wehte kein Wind, der die wenigen Blätter, die noch an den Bäumen hingen, zum Rascheln brachte oder die gefallenen, die den Waldboden bedeckten, umherwirbelte. Es gab keine zirpenden Grillen. Keine Heuschrecken oder Bienen summten. Keine Moskitos oder Mücken. Kein Vogelgezwitscher. Richard Henry konnte sich nicht erinnern, jemals im Wald gewesen zu sein und nicht mindestens einen Vogel gehört zu haben. Es gab auch keine Eichhörnchen. Normalerweise hörte er, wenn er lange genug stehen blieb, wie sie in den Ästen spielten und miteinander schnatterten – aber nicht heute. Zurück am Waldrand, in der Nähe des Feldwegs, an dem er geparkt hatte, war der Wald voller Aktivität gewesen. Er hatte Kaninchen, Insekten, Vögel, Eichhörnchen und sogar eine räudige, streunende Katze gesehen, die eine Feldmaus jagte. Aber jetzt war da nichts mehr. Nicht einmal ein Tannenzapfen oder ein toter Ast, der auf den Boden fiel. Alles war still. Selbst die Wolken am Himmel, die zwischen den Baumkronen zu sehen waren, blieben regungslos.
Als wäre der Wald tot.
Die Stille fühlte sich an wie ein fester Gegenstand; unsichtbare Mauern drückten ihn nieder.
Schlimmer noch, irgendetwas war da draußen. Es beobachtete ihn. Rich war sich dessen sicher. Er spürte Augen, die ihn durch das dichte Laubwerk anstarrten, und das Gefühl sträubte ihm die Haare auf seinen Armen. Er war nervös. Schreckhaft. Seine Haut kribbelte. Sein Mund war trocken und es fiel ihm schwer zu schlucken. Rich schob sich ein Skoal Bandit ohne Geschmack in den Mund und versuchte, etwas Speichel zu produzieren. Er räusperte sich. Es klang sehr laut. Der Wind pfiff kurz durch die Bäume und brachte mehr Geräusch in die Stille. Zitternd zog Rich den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hoch. Als sein Speichel wieder floss, spuckte er auf einen Haufen trockener Blätter. Normalerweise rauchte Rich, aber wenn er sich hier draußen eine Winston anzündete, würde ihn das nur an die wilden Tiere verraten – falls er überhaupt welche finden würde. Nichts schreckt Tiere so sehr ab wie Zigarettenrauch. Deshalb bevorzugte er Skoal ohne Geschmack. Minz- oder Wintergrüngeschmack hätte die Tiere ebenfalls abgeschreckt. Er steckte die runde Tabakdose in die Gesäßtasche seiner verblichenen Jeans, holte seine 30.06er von dem Felsen, an den er sie gelehnt hatte, und setzte seinen Weg fort, sehr darum bemüht, das Gefühl, beobachtet zu werden, zu ignorieren.
Er kam sich wie ein Idiot vor, so nervös zu sein.
Die Leute in York County erzählten alle möglichen Geschichten über den Wald, aber das machte sie nicht wahr. Es waren nur Legenden. Blödsinnige Folklore. LeHorn’s Hollow sollte voll von Geistern, Dämonen, Hexen, Bigfoot, dem Ziegenmann und Höllenhunden sein – aber nichts davon existierte im wirklichen Leben. Im wirklichen Leben gab es andere Dinge zu fürchten. Im wirklichen Leben musste sich Rich mit Dingen wie Terrorismus und Krebs beschäftigen – mit Ängsten, Krankenversicherungen und Rechnungen. Und damit, dass sein einziger Sohn Tyler in einem Krieg getötet worden war, der keinen Sinn ergab – ein Krieg, der niemanden mehr zu interessieren schien. Zumindest nicht genug, um sich von der Couch zu erheben, den Fernseher auszuschalten und auf der Straße dagegen zu protestieren. Seine Eltern hatten in den 60ern gegen Vietnam protestiert. So hatten sie sich kennengelernt. Rich hatte ein Bild von seinen Eltern, wie sie auf der Mall in Washington, D. C. standen, Schlaghosen trugen, Plakate in den Händen hielten und Friedenszeichen zeigten. Sein Vater war im Jahr zuvor in Vietnam gewesen. Er hatte entschieden, dass Amerika nicht dort sein sollte, und tat, was er für richtig hielt. Nach Beendigung seiner Dienstzeit kam er nach Hause und gab dem Dissens seine Stimme. Er protestierte. Sprach über die Dinge.
Richs Generation – sie hatte es vermasselt. Niemand scherte sich noch darum. Den Leuten war der Krieg scheißegal. Solange sie Paris Hilton und Britney Spears und George Clooney und Scheiß-Brangelina, oder wie auch immer sie sich nannten, hatten, war das alles, was die Leute interessierte. Ob Demokraten oder Republikaner – beide waren Teil des Problems und nicht der Lösung.
Er hatte Tyler verloren. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, hatte das Leben nach dem Tod seines Sohnes noch einen draufgesetzt und ihm die Hölle heißgemacht. Es war eine schiefe Metapher, aber das war Rich scheißegal. So fühlte er sich einfach. Rich musste damit klarkommen, dass er von der Futtermittelfabrik entlassen worden war, weil sie meinten, sein Alkoholkonsum sei außer Kontrolle geraten. Er solle sich bessern, wenn er seinen Job behalten wolle. Was zum Teufel wussten die schon? Natürlich trank er. Das würden sie auch tun, wenn sie sich den Scheiß gefallen lassen müssten, den er sich gefallen ließ. Die Regierung – dieselbe Regierung, die für Tylers Tod verantwortlich war – sagte, er habe noch Steuern nachzuzahlen. Und jetzt drohte die Bank mit der Zwangsvollstreckung seines Hauses. Sie wollten ihr Geld, und es war ihnen egal, ob er auf der Straße saß. Das alte Haus stand nun leer, bis auf Rich; die anderen Bewohner würden nie wieder zurückkehren. Tyler war tot. Das bisschen von ihm, das es nach Hause geschafft hatte, war auf dem Friedhof der Golgotha Lutheran Church begraben. Der Rest war über den Sand verstreut. Richs Ex-Frau Carol lebte mit einem anderen Mann zusammen. Einem Zahnarzt. Sie lebten in Windsor Hills mit den anderen Yuppies. Die einzigen Dinge, die mit Rich in dem alten Haus lebten, waren die Geister seines Glücks.
Der Wald wurde von Schreckgespenstern heimgesucht? Bullshit. Terroristen und Politiker und Banker und Bosse und Ex-Frauen und der Schmerz, den er empfand, wenn er sich Bilder von Tyler ansah und sich an die Zeit erinnerte, als er so klein war – das waren die wahren Schreckgespenster. Das wirkliche Leben war an sich schon verdammt gruselig. Das wirkliche Leben barg genug Schrecken, ohne dass man noch imaginäre Monster dazuerfinden musste. Das wirkliche Leben war ein Horrorfilm. Vorgebliche Monster waren eine Flucht.
Rich war gerade 42 geworden, aber er fühlte sich viel älter. Das mittlere Alter war ihm bislang nicht gut bekommen. Es waren nicht der katastrophale Haarausfall auf seinem Kopf oder die groben, grauen Haare, die an Stellen wuchsen, an denen sie nie zuvor gewesen waren – in seinen Ohren und seiner Nase, auf seinen Schultern und seinem Rücken. Es war nicht, dass ihm in diesen Tagen schneller die Puste ausging. Oder dass er dauernd müde war. Oder dass ihm der Kopf vom Aufwachen bis zum Einschlafen wehtat. Oder das zusätzliche Gewicht um seine Taille oder sein nachlassendes Interesse an Sex und die damit einhergehende nachlassende Erektion oder die Art und Weise, wie sein Rücken und seine Gelenke nach einfachen Tätigkeiten schmerzten. Er hatte mit diesen Dingen gerechnet, hatte seinen eigenen Vater darunter leiden sehen. Das alles war Teil des Alterungsprozesses. Diese Dinge setzten ihm nicht zu, außer wenn er wirklich betrunken war.
Was ihn wirklich bedrückte, war die Tatsache, dass sich sein Leben in den letzten Jahren aufzulösen schien. Seit er 40 geworden war, hatte ihm das Schicksal einen Tritt in die Eier nach dem anderen versetzt. Zuerst war da Tylers Tod, dann die Scheidung, ein Berg von Schulden, und jetzt der Verlust seines Jobs und die Zwangsversteigerung des Hauses. Alles geriet immer mehr aus den Fugen, und es schien kein Ende in Sicht zu sein. Seine Tage waren eine einzige lange, endlose Talfahrt. Das war nicht fair. Dies sollte die zweite Hälfte seines Lebens sein, der Weg, der zu den goldenen Jahren, dem Lebensabend, führte. Aber manchmal dachte Rich, dass er die zweite Hälfte gar nicht erleben wollte. Die Dinge sollten einfacher werden. Aber wann genau würde das passieren? Er hatte das Gefühl, dass alles stattdessen immer schwerer wurde. Konnten die goldenen Jahre überhaupt lebenswert sein?
Er fühlte sich verraten und allein.
Manchmal wollte Rich einfach nur sterben. Er stellte sich vor, dass es so ähnlich war wie schlafen. Kein Kummer. Keine Sorgen. Kein Schmerz. Einfach nur süßes, willkommenes Vergessen, für immer und ewig – und wenn es danach nichts mehr gäbe, keinen Himmel oder ein Leben nach dem Tod, wäre es ihm auch egal, denn er wäre ja tot.
Natürlich würde dann auch der Familienname mit ihm sterben. Er hatte keine Geschwister, keine Onkel mit Söhnen. Rich war der letzte männliche Henry aus der Linie seines Vaters. Als Tyler vor zwei Jahren im Irak gestorben war, war ein großer Teil von Rich mit ihm gestorben. Das Militär hatte nie die ganze Geschichte aufgedeckt, nur dass Tyler in einem Konvoi durch die Wüste gefahren war, als eine Bombe am Straßenrand – eine IED, wie der Regierungsmann sie genannt hatte – seinen Humvee zerfetzte. Einer von Tylers Freunden, ein Junge aus Mississippi, war auf der Stelle tot. Tyler nicht. Er hatte noch fast eine Viertelstunde gelebt. Bei der Gedenkfeier war eine amerikanische Flagge über seinem geschlossenen Sarg drapiert. Darüber lag sein High-School-Abschlussfoto in einem schönen Rahmen aus dem Hallmark-Shop. Auf dem Bild lächelte Tyler und war noch ganz. Im Sarg war er es nicht. Der Prediger sprach über Gott, sein Land und seine Opferbereitschaft. Dann wurde Tyler beerdigt.
Für den Rest der Welt nahm das Leben wieder seinen gewohnten Gang.
Für Rich nicht.
Carol verließ ihn kurz darauf. Sie sagte, sie habe es seit Jahren geplant und nur warten wollen, bis Tyler erwachsen und aus dem Haus war. Sie hatte ihre Pläne verschoben, als er der Armee beitrat und in den Irak ging. Aber jetzt …
Sie beendete diesen letzten Satz nicht. Das brauchte sie auch nicht. Manchmal sagten ungesagte Dinge mehr als Worte.
Carol hatte ihm alles überlassen – das Auto, das Haus, das schmutzige Geschirr in der Spüle, ihr leeres Bett und einen Berg von Schulden. Die Kreditkarten waren am Limit, und für das Haus hatten sie noch fünf Jahre lang Raten zu zahlen. Ob sie es aus Mitleid oder Schuldgefühlen getan hatte oder einfach nur aus dem Wunsch heraus, mit ihm fertig zu werden, das Endergebnis war das gleiche. Sie hatte ein letztes Mal mit ihm gefickt, bevor sie mit ihrem Zahnarztfreund zusammenzog. Jetzt, ein Jahr später, war er arbeitslos, fast obdachlos und wilderte außerhalb der Saison Hirsche. Und das alles nur, damit er sein mageres Arbeitslosengeld nicht für Lebensmittel ausgeben musste und die Geldeintreiber noch ein paar Wochen länger hinhalten konnte.
Kein Wunder, dass er verdammt noch mal trank. »Außer Kontrolle«, meinte sein Chef? Noch nicht. Aber vielleicht bald, wenn sich die Lage nicht besserte – und wenn er genug Kugeln hätte …
Ja, er könnte außer Kontrolle geraten. Amok laufen. Es wäre so verdammt einfach.
Rich blickte zurück in den Wald. Es gab keine Wege oder Pfade. Keine weiten Flächen oder Lichtungen. Dieser Teil des Waldes war von dem großen Waldbrand im Jahr 2006 verschont geblieben. Hier wuchsen die Bäume dicht an dicht, und der felsige Boden war mit toten Blättern und Zweigen bedeckt. So dicht, dass er überrascht war, dass dicke Büschel von Unterholz aus dem Boden wuchsen: Farne, Giftefeu, wilde Möhren, Seidenpflanzen, Brombeeren und Himbeeren, Schachtelhalme, Kiefern- und Eichensetzlinge sprenkelten die Landschaft. In einer Woche oder so würde alles abgestorben sein. Schon jetzt färbten sich die Blätter braun. Er konnte nicht weiter als fünf Meter in den Wald sehen, aber das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb. Er bekam eine Gänsehaut.
Wahrscheinlich nur ein Hirsch, dachte er. Komm raus, damit ich dir ein paar Kugeln reinjagen kann, blödes Mistvieh.
Das wäre schön. Einen großen Hirschbullen erlegen, ihn ausweiden und den Kadaver zum Truck schleppen. Dann unter der Plane verstecken und nach Hause fahren. Ihn von der Ladefläche des Trucks in die Garage bringen, ohne dass die Nachbarn es sehen (Trey Barker, der nebenan wohnte, würde den Wildhüter rufen, wenn er wüsste, dass Rich wilderte). Mit etwas Glück könnte er ihn aufhängen, schlachten und in die Gefriertruhe legen, bevor es dunkel wurde, und dann hätte er den ganzen Abend Zeit, ein paar Bier zu trinken und zu sehen, was im Fernsehen lief. Vielleicht würde er heute Abend nicht einmal weinen, wenn er ins Bett ging. Das wäre eine hervorragende Abwechslung zu seiner normalen Routine.
Er hatte am Rand einer der alten unbefestigten Holzfällerstraßen geparkt. Rich machte sich keine Sorgen, dass jemand seinen Truck entdecken könnte. Er befand sich abseits der ausgetretenen Pfade und jagte an der Grenze des staatlichen Jagdgebiets. Wenn ein Wildhüter oder jemand anderes zufällig vorbeikäme, könnten sie den Truck genauso gut für den eines Wanderers oder Anglers halten, oder für den von jemandem, der Ginsengwurzeln ausgräbt. Sie könnten auch denken, dass der Truck kaputt oder verlassen war. Solange er vorsichtig war, wenn er den Kadaver des Hirschs anschleppte, würde alles in Ordnung sein.
Natürlich musste er zuerst einen erlegen. Oder überhaupt irgendwas erwischen, was auch immer.
Aber da war nichts.
Es war Ende Oktober, fast Halloween. Die Niederwildsaison war gerade zu Ende gegangen, und die Hirschsaison war noch einen Monat entfernt. Das Einzige, was er im Moment legal schießen konnte, waren Kojoten und Krähen, aber einen Kojoten zu essen war wie einen Hund zu essen, und Krähen hatten nicht genug Fleisch an sich – und das bisschen Fleisch, das sie hatten, schmeckte wie Scheiße.
Aber selbst die Krähen waren heute nicht da.
Rich fragte sich, ob er mehr Glück gehabt hätte, wenn er von der Shrewsbury-Seite des Waldes gekommen wäre. Vielleicht. Er hatte diesen Weg nicht genommen, weil die Freiwillige Feuerwehr und andere Bürgergruppen mit dem Ghost Walk beschäftigt waren – eine Spukattraktion, die am Abend vor Halloween eröffnet werden und bis zum ersten Novemberwochenende laufen sollte. Obwohl es die erste Veranstaltung dieser Art war, rechneten die Organisatoren mit Tausenden von Besuchern, die auf Heuwagen hin und her gefahren wurden und auf dem Pfad durch den Wald spazieren würden, während Maskierte heraussprangen und sie erschreckten. Es war nur ein kleiner Teil des Waldes, aber dort arbeiteten derzeit viele Leute, und er konnte nicht riskieren, dass ihn jemand beim Wildern entdeckte.
Er spuckte wieder Tabaksaft aus und lauschte der Stille. Dann ging er weiter. Als er sich durch die Bäume schlängelte, überdachte er noch einmal seine Skepsis. Er konnte verstehen, warum die Leute Geistergeschichten über diese Gegend erzählten. So weit drinnen herrschte in den Wäldern eine besondere Atmosphäre. Die Stille war beunruhigend. Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Wusste die Tierwelt, dass ein Raubtier in ihrer Mitte war? Er war leise gewesen, war geräuschlos gegangen, hatte gekaut statt geraucht und darauf geachtet, kein Deodorant zu tragen. Er hatte sogar schmutzige Kleidung angezogen und keine saubere, die nach Waschmittel riechen würde. Aber da draußen war nichts.
Na ja, fast.
Irgendetwas war da draußen. Er wusste nur nicht, was es war.
Er spürte, wie sich diese unsichtbaren Augen wieder in ihn bohrten, direkt zwischen seinen Schulterblättern. Als Rich sich umdrehte, war dort nichts außer Bäumen und Laub zu sehen.
»Komm schon«, flüsterte er. »Gib mir ein Kaninchen. Einen Fasan oder ein Eichhörnchen – irgendetwas, verdammt noch mal.«
Er befand sich mitten in einem über 30 Quadratmeilen großen, geschützten Waldgebiet in Pennsylvania, das in Zonen eingeteilt war, die Landwirte und Immobilienmakler daran hindern sollten, alles abzuholzen und Getreide zu pflanzen oder Wohnsiedlungen und Einkaufszentren zu bauen. Die Zellstoff- und Papierfabrik im nahe gelegenen Spring Grove hatte in den vergangenen Jahren große Teile des Waldes abgeholzt, aber der Gesetzgeber, der wütende Waldbrand und die zunehmende Verfügbarkeit von billigerem Papier aus China hatten dem ein Ende gesetzt. Die alten Holzfällerstraßen existierten jedoch noch. Sie waren zwar zerfurcht und an einigen Stellen ausgewaschen, aber sie ermöglichten immer noch den Zugang zu den tieferen Teilen des Waldes. Das Land jenseits des Waldes, das nicht durch das Feuer verwüstet worden war, wurde landwirtschaftlich genutzt und war mit Mais-, Erdbeer- und Sojabohnenfeldern bebaut. In anderen entlegenen Gebieten befanden sich Jagdhütten. Hinter den Farmen und Jagdhütten lagen die Kleinstädte Shrewsbury, Seven Valleys, Jefferson, New Freedom, Spring Grove, Glen Rock und New Salem. Das Kernland von York County.
Rich war in Seven Valleys aufgewachsen, und abgesehen von einer vierjährigen Dienstzeit bei den Marines in den frühen 80ern und einer Urlaubsreise nach New York City, als Tyler zehn Jahre alt war, hatte er sein ganzes Leben dort verbracht. Rich war schon Tausende Male in diesen Wäldern gewesen, aber er war noch nie so weit hineingegangen wie heute. Da es kein Wild gab, vergaß er die unsichtbare Präsenz, die ihn beobachtete, und ging weiter, ignorierte das unheimliche Gefühl und wagte sich in Gebiete, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er machte sich keine Sorgen, sich zu verlaufen. Er hatte seinen Kompass, und er würde die Straße und seinen Truck wiederfinden können. Seine einzige Sorge war, nicht rechtzeitig Fleisch zu finden, um nach Hause zu kommen und das Spiel zu sehen. Er wünschte sich jetzt, er hätte etwas geschossen, als er die Gelegenheit dazu hatte, näher an der Straße, wo er geparkt hatte. Er hatte nicht riskieren wollen, dass ihn jemand hörte. Aber es schien, dass alle Tiere tiefer in den Wald gegangen waren, also tat Rich das auch.
So nahe am Zentrum schien der Wald leblos zu sein.
Und dieses verdammte Gefühl, beobachtet zu werden, ging nicht weg.
Das ferne Dröhnen einer Kettensäge durchbrach die Stille und Rich zuckte bei dem plötzlichen Geräusch zusammen. Das Summen verstummte und wurde von einem Hämmern abgelöst. Rich zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich baute die Freiwillige Feuerwehr etwas für den Ghost Walk. Ihm kam der Gedanke, dass das Wild vielleicht deshalb so rar war. Vielleicht hatte der Lärm die Wildtiere verscheucht. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass er dem Spuk-Wanderweg so nahe war. Grummelnd schob sich Rich durch das Laub und ging weiter.
Ein paar Minuten später stieß er auf den ersten der toten Bäume. Schon bald lichtete sich das wirre Unterholz und wurde durch eine weite Fläche trostlosen, unfruchtbaren Bodens ersetzt. Er näherte sich dem, was einst das wahre Herz des Waldes gewesen war – ein verbranntes und geschwärztes Gebiet, bekannt als LeHorn’s Hollow, benannt nach dem Farmer, dem es einst gehört hatte. Der große Waldbrand im Frühjahr 2006 hatte über 500 Hektar Wald zerstört und die gesamte Senke völlig ausgelöscht. Mehrere Menschen starben in dem Inferno. Die Ermittler vermuteten Brandstiftung oder vielleicht ein zufälliges Feuer, konnten die genaue Ursache jedoch nie feststellen. Schließlich wurde spekuliert, dass eine unachtsame Zigarette oder ein unbeaufsichtigtes Lagerfeuer die Feuersbrunst ausgelöst hatte. Das Ereignis machte landesweit Schlagzeilen. Sogar CNN und Fox News schickten Reporter, um darüber zu berichten. Fünf Minuten lang war York County, Pennsylvania, wegen etwas anderem in den Nachrichten als wegen der Gerichtssache Intelligent Design versus Evolution.
Viele von Richs Freunden und Kollegen waren erleichtert gewesen, als LeHorn’s Hollow abbrannte. Die Senke war die wichtigste Quelle für die meisten Geistergeschichten und Legenden, die mit dem Wald in Verbindung gebracht wurden – einschließlich eines brutalen Mordes in den 80er-Jahren, einer Reihe von Morden im Zusammenhang mit Sekten im Jahr 2006 (kurz vor dem Feuer) und Gerüchten über alles Mögliche, von Hexerei und Teufelsanbetung bis hin zu Kornkreisen und fliegenden Untertassen. Und dann war da noch die neuere Legende von einer bigfootähnlichen Kreatur, Ziegenmann genannt, die in der Gegend herumspuken sollte. Natürlich war das alles Blödsinn, aber als er hier zwischen den ausgebrannten Baumskeletten stand, kein Wind wehte, kein Geräusch und keine Bewegung zu hören war und er das Gefühl hatte, beobachtet zu werden, konnte Rich verstehen, warum die Leute an die alten Geschichten glaubten.
Sein Magen grummelte. Sein Tabak schmeckte sauer, also spuckte er ihn aus und schob einen neuen Priem ein. Rich sah auf seine Uhr und seufzte. Dann ging er weiter. Verbrannte Äste lösten sich unter seinen Füßen auf. Ein gesplitterter Baumstamm zerfiel in verkohlte Stücke, als er darüberkletterte. Bei jedem Schritt stoben Asche und Staub in die Luft, wirbelten um ihn herum und klebten an seinen Jeans und Stiefeln. Es war, als würde man durch schwarzen Babypuder laufen. Er fragte sich, warum die Vegetation noch nicht zurückgekehrt war. Es hätte grüne Triebe und zarte Schösslinge geben müssen, die aus dem Boden sprossen. Er zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich weil es schon so spät im Jahr war. Nächstes Frühjahr könnte sie wieder zum Leben erwachen. Vielleicht erklärte der Mangel an neuem Wachstum, warum es in der Hollow kein Wild gab. Der Boden war frei von Spuren und Fußabdrücken, außer den seinen.
Er wollte gerade aufgeben und zum Truck zurückgehen, als er auf den Stein stieß. Er war grau und hob sich deutlich von der dunklen Landschaft ab. Er erinnerte Rich an einen Grabstein: kniehoch, gewölbt, mit abgerundeten Kanten und mit Schnitzereien versehen. Er war eindeutig von Menschenhand geformt und geglättet worden. Trotz des Feuers, das offensichtlich um ihn herum gewütet hatte, schien der Stein unversehrt zu sein. Auf seiner unbeschädigten Oberfläche war kein Ruß zu sehen. Keine Brandspuren oder hitzebedingten Schäden.
Neugierig trat Rich an den Stein heran und kniete sich neben ihn. Die Schnitzereien sahen verwittert aus, was bedeutete, dass der Stein wahrscheinlich alt war. War er schon vor dem Feuer hier gewesen oder hatte ihn jemand danach hierhergebracht? Und wenn er vorher hier gewesen war, wie war er dann unbeschädigt davongekommen? Er betrachtete ihn genauer. Es gab weder Moos noch Flechten an den Seiten noch Risse oder Spalten in der Oberfläche. Der Stein war bis auf die seltsamen Schnitzereien völlig strukturlos. Sie waren anders als alles, was er je zuvor gesehen hatte. Sie sahen aus wie eine Art Runen oder vielleicht wie die Symbole der amerikanischen Ureinwohner, wie sie in den Dokumentationen des History Channel gezeigt werden. Er erinnerte sich an den Kult, der vor dem Brand hier ansässig gewesen sein sollte. Könnten dessen Anhänger diese geschnitzt haben? Das schien unwahrscheinlich. Rich konnte es sich nicht erklären, aber die seltsamen Symbole schienen viel älter zu sein.
Vielleicht waren sie etwas Geld wert. Ein Stein wie dieser, möglicherweise bedeckt mit Glyphen amerikanischer Ureinwohner? Das wäre ein ziemlich dicker archäologischer Fund. Vielleicht könnte er ihn an das Indian Steps Museum bei Wrightsville verkaufen. Dort gab es alle möglichen Artefakte – Speere und Pfeilspitzen, Steinkeulen, Schalen und andere Dinge. Wenn er sich richtig erinnerte, hatten sie auch einige Steine mit Markierungen; in einer Vitrine waren mehrere Schieferstücke ausgestellt, die jemand vom Grund des Susquehanna River geholt hatte, wobei jedes Segment mehrere uralte Schnitzereien aufwies. Er hatte es in den Lokalnachrichten gesehen.
Rich nickte und spuckte wieder aus. Ja, je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich. Das Ding musste Geld wert sein; wenn nicht dem Museum, dann vielleicht jemandem am York College oder vielleicht sogar am Smithsonian in Washington. Wie viel? Er wusste es nicht. Bestimmt genug, um seine Schulden zu begleichen – damit er das Haus und die Kreditkarten abbezahlen konnte und die Anrufe und Briefe der Inkassobüros ein für alle Mal aufhören würden.
Er würde frei sein. Plötzlich hatte Rich wieder Möglichkeiten. Einen Ausweg, der nicht darin bestand, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen oder sich zu Tode zu trinken. Es gab ein Licht am Ende des Tunnels, und es war kein entgegenkommender Zug. Er könnte das Haus behalten oder zumindest abbezahlen und es dann verkaufen. Einen Neuanfang machen. Frei sein von den Geistern seiner Familie.
Leise hämmernde Geräusche drangen wieder zu ihm durch. Er fragte sich, ob jemand von den Leuten, die am Ghost Walk arbeiteten, diese Stelle schon entdeckt hatte. Wahrscheinlich nicht. Wenn ja, dann hätte er Fußspuren in der Asche gesehen.
Er setzte sein Gewehr ab und holte seinen Kompass hervor, um herauszufinden, wo er sich befand. Er blinzelte und starrte ihn an. Die Nadel drehte sich langsam, ohne sich auf eine Position festzulegen. Fast so, als gäbe es keinen Norden.
»Merkwürdig. Billiges Scheißteil.«
Rich schaute sich um und entdeckte drei weitere Steine, die aus dem Boden ragten. Jeder von ihnen sah genauso aus wie der andere. Sie lagen in einem Abstand von etwa drei Metern zueinander und bildeten eine Art Halbkreis. Könnte es noch weitere geben, die unter der Asche verborgen waren? Vielleicht ein ganzer Kreis? Eine amerikanische Version von Stonehenge? Wenn ja, dann hatten sich seine Aussichten gerade noch mehr verbessert. Einer dieser Marker musste Geld wert sein, aber ein Dutzend davon? Er würde für immer ausgesorgt haben.
»Jackpot!«
Grinsend legte Rich seine Hände auf den Stein. Er fühlte sich kühl an, und für einen kurzen Moment glaubte er, dass er unter seinen Fingerspitzen vibrierte. Er hielt inne und fragte sich, ob der Boden bebte. Ein Erdbeben? Obwohl sie in diesem Teil des Landes selten waren, hatte es sie schon gegeben. Aber das war es nicht. Der Ruß und die Asche blieben reglos, ebenso wie die verbrannten Holzstücke. Sie rührten sich nicht. Nur der Stein bewegte sich – und nur dieser. Er konnte ihn deutlich spüren. Seine Brüder, die, die er nicht berührte, blieben ruhig, zumindest mit bloßem Auge. Die flache Oberfläche erwärmte sich leicht, als er mit den Handflächen darüberstrich. Dann ließ das vibrierende Gefühl nach und der Stein wurde wieder kühl. Er bemerkte, dass auch der Wald wieder still war. Die hämmernden Geräusche waren verklungen.
»Unheimlicher Scheiß.«
Obwohl er leise sprach, dröhnte seine Stimme durch die verwüstete Landschaft und klang in der Stille zu laut. Rich fiel ein, dass er sich nicht beobachtet gefühlt hatte – er hatte nicht gespürt, dass diese unsichtbaren Augen ihn beobachteten –, seit er die Steine entdeckt hatte.
Der Gedanke an Geld half ihm, seine Ängste zu verdrängen. Er schob den Stein hin und her und rüttelte dabei an der verbrannten Erde. Ascheflöckchen flogen ihm ins Gesicht und klebten auf seiner verschwitzten Stirn und seinen Wangen. Brauner Tabaksaft tropfte an seinem Kinn hinunter, als er fester drückte, stöhnte und herauszufinden versuchte, wie viel von dem Stein unter der Erde vergraben war. Der Stein war schwerer, als er aussah. Seine Finger fanden Halt in den Schnitzereien. Wieder spürte er ein wärmendes Gefühl in seinen Handflächen und Fingerspitzen. Die harte Oberfläche pochte. Diesmal war er sich sicher.
Verwirrt gab Rich dem Stein einen letzten Stoß. Der Stein löste sich aus der Erde, kippte auf die Seite und wirbelte noch mehr Asche in die Luft. Rich hustete, und seine Augen tränten, als die Wolke seine Sicht behinderte. Er schmeckte den Ruß in seinem Rachen. Er wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. Sie wurde schmutzig und schwarz. Seine Haut juckte.
Als sich der Staub gelegt hatte, blickte Rich auf ein kleines, rundes Loch, wo der Stein gelegen hatte. Er konnte den Boden nicht sehen, nur einen tiefen Schatten. Er beugte sich näher heran und spähte in den Spalt hinab. Die Luft schien kälter zu sein als am Boden. Richs Augen weiteten sich vor Überraschung, als sich die Dunkelheit in dem Loch bewegte und herumwirbelte, genau wie die Aschewolke es getan hatte.
Die Dunkelheit war ein festes, unförmiges Gebilde.
Noch immer auf den Knien rutschte Rich rückwärts und keuchte, als sich die Dunkelheit aus dem Loch in die Luft erhob und sich zu einem kleinen Trichter formte, wie ein Miniaturtornado. Er bewegte sich lautlos und aus eigenem Antrieb und drehte sich langsam im Kreis. Es gab keine Brise, die ihn verwirbelte. Der schwarze Kegel glitt rückwärts, weg von Rich und den Steinen. Rich sah jetzt noch mehr Steine aufragen. Sie bildeten tatsächlich einen Kreis. Er stand außerhalb des Kreises. Die Wolke schwebte in der Mitte des Kreises. Ihre Geschwindigkeit nahm zu, sie drehte sich schneller.
»O Scheiße …«
Noch immer hustend von der Asche in seinem Hals sprang Rich auf die Füße. Seine Knie knackten und sein Kopf pochte. Die Dunkelheit drehte sich weiter. Sein Magen kribbelte, als er sie beobachtete. Seine Füße und Hände fühlten sich wie Blei an. Die Dunkelheit drehte sich schneller. Sein Mund war plötzlich wie ausgedörrt; der Priem fühlte sich wie ein trockener Schwamm zwischen Zahnfleisch und Lippe an. Er vergaß sein weggeworfenes Gewehr, trat von dem Loch weg und beobachtete die Trichterwolke mit großen, ängstlichen Augen.
»Ich glaube«, flüsterte Rich. »Okay? Ich glaube es jetzt. Alles, was sie über diesen Ort sagen, ist wahr. Du hast gewonnen. Du hast mich überzeugt. Ich glaube. Ich glaube an Gott und den Teufel und den verschissenen Butzemann. Ich glaube an all das. Also lass mich einfach gehen. Ich werde nicht wiederkommen.«
Die Dunkelheit sprach. Sie klang weit weg.
Dad …
Rich schluchzte. Er kannte diese Stimme.
Dad … ich bin’s. Die Stimme wurde lauter.
»T… Tyler?«
Die Dunkelheit verschmolz, ihre Form veränderte sich erneut, verwandelte sich in etwas anderes.
Verwandelte sich in seinen toten Sohn.
»Tyler … Ist es … Was ist das hier?«
Das konnte nicht wahr sein, und doch war es so. Der Geist seines toten Sohnes stand vor ihm, immer noch in seine kakifarbene Wüstenuniform gekleidet, als wäre er gerade nach Hause gekommen. Einfach so wurde Rich ein Glaubender. Er konnte nicht verleugnen, was er mit eigenen Augen sah. Es handelte sich nicht um eine Vision oder Halluzination. Das war Tyler, fest und doch ätherisch, seine Füße schwebten Zentimeter über dem Waldboden. Sein Tod war schrecklich gewesen, aber jetzt erschien Tyler unversehrt und vollständig, er sah so perfekt, stolz und stark aus wie an dem Tag, als er seine Ausbildung begonnen hatte.
Dad. Tyler streckte seine Arme aus und lächelte. Es ist schön, dich zu sehen. Wie geht’s Mom?
Rich versuchte zu antworten, aber er konnte nicht. Seine Worte erstarben in seiner Kehle, erstickt durch sein Schluchzen. Seine Augen verschwammen vor Tränen.
»O Tyler … ich vermisse dich. Ich vermisse dich so verdammt sehr.«
Ich vermisse dich auch, Dad. Dich und Mom, euch beide.
Rich machte einen zögernden Schritt in den Kreis. Als er das tat, schien Tyler klarer zu werden.
Es ist so kalt hier, Dad. Nicht wie in der Wüste. Es ist echt kalt.
Rich wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg, trat ganz in den Kreis und griff nach seinem Sohn. Tyler schwebte an ihn heran, kam näher. Weinend berührte Rich ihn. Als er das tat, veränderte Tyler seine Gestalt. Die Dunkelheit kehrte zurück. Richs Finger tauchten in die Substanz ein. Sie fühlte sich an wie kalte Zuckerwatte. Schwarze, rauchartige Tentakel brachen aus ihrem Zentrum hervor und schlängelten sich über seine Hand und seinen Arm hinauf. Wimmernd versuchte Rich, sich loszureißen, aber die Dunkelheit hielt ihn fest. Sie schlängelte sich an seinen Schultern hoch, wickelte sich um seinen Hals und raste auf seinen Mund zu.
Rich schrie, an Ort und Stelle erstarrt.
Mehr von der Dunkelheit strömte über ihn. Sie strömte durch seinen Mund, seine Ohren und seine Augenwinkel, glitt unter seine Kleidung und schlängelte sich in seinen Anus und seine Harnröhre. Überall, wo es eine Öffnung gab, fand die Dunkelheit sie. Die schwarze Wolke wurde immer kleiner, je mehr von ihr in seinem Körper pulsierte. Rich schrie die ganze Zeit über.
Als die Wolke verschwand, verwandelten sich Richs Schreie in Gelächter und hallten durch die toten Bäume. Die Stimme war nicht die seine. Auch die Gedanken in seinem Kopf waren es nicht. Es gab keine Sorgen mehr über seine finanzielle Situation oder seine Arbeitslosigkeit. Verschwunden waren seine Depression und seine Wut. Verschwunden waren seine Erinnerungen an Carol und Tyler und alles andere. Diese Erinnerungen, genau wie ihr Besitzer, existierten nicht mehr. Sie waren nur noch Geister.
Richard Henry war nicht mehr. Er war durch etwas anderes ersetzt worden.
Man würde ihn nicht vermissen, denn es gab niemanden, der ihn vermissen konnte.
Als die Nacht über die Senke hereinbrach, verstummte das Lachen. Der Mond schien durch die verbrannten Bäume, aber das Licht drang nicht in den trostlosen Ort ein. Die Gestalt, die einst Rich gewesen war, holte das 30.06er Gewehr und ging auf die Jagd. Es gab viel zu tun und nur wenig Zeit dafür. Halloween stand vor der Tür und die Barrieren zwischen den Welten wurden dünner.
2
Maria Nasr hielt ihren Atem an und zählte bis zehn.
Ich werde nicht ausrasten. Ich werde nicht ausrasten. Ich werde nicht ausrasten.
Sie wiederholte das Mantra wieder und wieder in ihrem Kopf. Es half nicht. Ihre Wut schwoll an. Das war doch lächerlich. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und ihre langen Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen, die französische Maniküre vom Vortag war fast vergessen. Ihre Beine zuckten verärgert und ruckelten das Tablet, den Stift und das digitale Diktiergerät auf ihrem Schoß. Die Uhr an der Wand weigerte sich, sich zu bewegen, die Zeiger schienen in der Zeit erstarrt zu sein. Marias Schläfen pochten.
Vorn im Raum redete der dicke Mann, Orvil Hale, einer der Stadtverordneten, unaufhörlich von der christlichen Privatschule seines Kindes und wie wunderbar sie sei und dass alle anderen Vorstandsmitglieder in Erwägung ziehen sollten, ihre Kinder ebenfalls an dieser Schule anzumelden. Seine Glatze glänzte unter dem Neonlicht. Hales pummelige, rotfleckige Wangen wackelten, während er sprach. Lange Haare ragten aus seiner Nase und schaukelten bei jedem Atemzug. Maria konnte sie sogar von dort aus sehen, wo sie saß. Und er keuchte zwischen den Worten, als ob ihm das Sprechen den Atem raubte. Warum hielt er dann nicht einfach die Klappe? Stahl er nicht gerade den Steuerzahlern die Zeit? Ja, natürlich tat er das. Aber anstatt zur Sache zu kommen, redete Hale weiter.
Das machte sie wütend. Sie hatte an einem Mittwochabend Besseres zu tun als hier zu sitzen und einem gewählten Beamten zuzuhören, der auf Kosten der Gemeinde missionierte. Okay, vielleicht waren Wäsche waschen, ihre Wohnung putzen und Lebensmittel einkaufen nicht gerade aufregend, und sicher, diese Sitzungen waren ungefähr so spannend wie Fliegen beim Sex zu beobachten, aber jetzt reichte es! Komm zur Sache, sprich die Anliegen der Steuerzahler an – das neue Abwassersystem und wer dafür bezahlen wird. Deswegen war sie hier; um für die Zeitung zu berichten, nicht für diesen privaten Unsinn. Das konnten sie sich für nach der Sitzung aufheben.
Gelegentlich überflog Maria Writer’s Digest und andere Zeitschriften und Websites, die sich an Autoren richteten. Sie ließen eine freiberufliche Tätigkeit immer glamourös und wie einen Riesenspaß erscheinen.
Das hier war weder das eine noch das andere.
Maria atmete aus, nahm einen weiteren tiefen Atemzug und zwang sich, sich zu entspannen. Sie streckte Finger und Zehen, drehte den Kopf hin und her und ließ die Knorpel in ihrem Nacken knacken. Der Mann vor ihr, ein Redakteur des York Daily Record, drehte sich um und lächelte. Maria lächelte zurück.
Mach dir keine falschen Hoffnungen, Kumpel, dachte sie. Du bist doppelt so alt wie ich und arbeitest immer noch als Freiberufler. Offensichtlich hast du keinen beruflichen Ehrgeiz und keine höheren finanziellen Ambitionen. Und außerdem bohrst du in der Nase und wischst es dir an der Hose ab.
Das stimmte.
Sie hatte ihn bei Dutzenden von Gemeindeversammlungen gesehen, aber auch bei anderen Treffen der Stadtverwaltung, an Unfallorten, bei Eröffnungen, Jaycee Bean Suppers, Lions-Club-Pfannkuchen-Frühstücken und allem anderen, worüber sie berichteten.
Der Reporter – Mark war sein Name, erinnerte sie sich jetzt – drehte sich wieder um und konzentrierte sich auf den vorderen Teil des Raumes. Sein Zeigefinger wanderte wieder zu seiner Nase. Die Gemeindevorsteher diskutierten über die letzte Folge von American Idol. Maria warf einen Blick auf die Uhr und seufzte. Die Zeiger hatten sich kaum bewegt.
Erschieß mich bitte jemand, jetzt sofort …
Sie hasste es. Sie hasste ihren Job als Freiberuflerin und alles, was er mit sich brachte. So hatte sie sich die Dinge nicht vorgestellt, nachdem sie vor drei Jahren das College abgeschlossen hatte. Sie hatte sich vorgestellt, nach New York City oder Los Angeles zu ziehen und einen Job bei einer großen Zeitung zu bekommen, oder vielleicht für Time oder Newsweek oder Vanity Fair zu schreiben. Stattdessen saß sie hier in York County, Pennsylvania, als Freiberuflerin fest und schrieb Artikel für jeden, der dafür zu zahlen bereit war, und kam gerade so über die Runden.
Maria war in Paramus, New Jersey, aufgewachsen. Ihr Vater war ein jordanischer Muslim und ihre Mutter eine brasilianische, nicht praktizierende Katholikin. Beide waren in die Vereinigten Staaten eingewandert, um dort zu studieren, und beide hatten sich anschließend hier niedergelassen. Sie hatten geheiratet, nachdem ihre Mutter zum Islam konvertiert war. Marias Vater war Ingenieur. Ihre Mutter war Ärztin. Beide wollten das Beste für ihre Tochter, zumal sie ein Einzelkind war. Aber sie bestanden auch darauf, dass sie sich ihren Unterhalt selbst verdiente. Ihr Vater war in dieser Hinsicht besonders hartnäckig. Sie hätten Maria auf die besten Journalistenschulen des Landes schicken und ihre Studiengebühren vollständig übernehmen können, aber stattdessen hatten sie es abgelehnt, sie finanziell zu unterstützen. »Du musst es selbst schaffen«, hatte ihr Vater gesagt. »Wenn du jetzt nicht hart arbeitest, wirst du die Chancen, die sich dir bieten, nie zu schätzen wissen. Du magst uns jetzt dafür hassen, aber eines Tages wirst du uns danken.«
Maria hatte sich für das York College entschieden. Es war hoch akkreditiert, aber dennoch erschwinglich mit ihrem College-Darlehen. Der Umzug von Paramus in die kleine Stadt in Pennsylvania war eine gewisse Umstellung, aber sie schaffte es. Sie fand einen Teilzeitjob in einer Videothek, teilte sich eine Wohnung außerhalb des Campus mit fünf anderen Mädchen und konzentrierte sich auf ihre Ausbildung. In ihren Jahren am College hatte sie keinen Freund gehabt – dafür war keine Zeit gewesen. Das Wichtigste war, Journalistin zu werden. Ernsthafte Beziehungen konnten später kommen, sobald sie ihren Abschluss gemacht hatte und für die New York Times arbeiten würde.
Doch dazu kam es nie. Maria erhielt zwar ihren Abschluss, aber die Jobangebote blieben aus. Sie bewarb sich in Baltimore, Philadelphia, Pittsburgh, New York, Washington, D. C. und all den anderen großen Städten in der Nähe. Als sie dort kein Glück hatte, versuchte sie es in kleineren Städten wie Allentown, Scranton, Trenton und Richmond, aber auch dort war nichts zu machen. Einige von ihnen boten ihr andere Stellen oder freiberufliche Arbeit an, aber nichts, das finanziell machbar gewesen wäre. Sie brauchte eine Vollzeitstelle – eine Festanstellung. Maria musste ihr Studiendarlehen abbezahlen sowie die Lebenshaltungskosten und die Kosten für den Umzug an den Ort, an dem sie den Job annahm. Sie konnte nicht zurück nach Hause ziehen. Ihr Vater bestand nach wie vor darauf, dass sie die Dinge selbst in die Hand nahm, sodass ein weiteres Zusammenleben mit ihren Eltern nicht infrage kam. Sie hätte sie um ein Darlehen bitten können, aber das wäre ein Eingeständnis der Niederlage gewesen – und außerdem war sie schon hoch genug verschuldet.
Schließlich entschied sich Maria dafür, einfach in York zu bleiben. Sie nahm sich eine kleine Wohnung in York City, kaufte sich einen Hyundai Accent und häufte noch mehr Schulden an. Dann, während sie weiter in der Videothek arbeitete (jetzt in Vollzeit und nicht mehr in Teilzeit), begann sie, ihr Einkommen mit freiberuflichen Aufträgen aufzubessern. Denn wozu war ihr Abschluss gut, wenn sie ihn nicht nutzte? Abends, nach Feierabend, begann Maria für verschiedene Märkte zu schreiben. Am Anfang ging es nur langsam voran. Sie musste eine Liste von Redakteuren und Märkten erstellen, für die sie regelmäßig schreiben konnte. Webzines, Reiseführer, Zeitschriften, Zeitungen – alle suchten nach Freiberuflern, sogar die Zeitungen, die sich geweigert hatten, sie fest einzustellen. Nach anderthalb Jahren hatte sie eine beeindruckende Menge an Artikeln vorzuweisen und konnte es sich leisten, ihren Job in der Videothek zu kündigen – auch wenn sie dabei nicht mehr als vorher verdiente. Sie arbeitete weiter hart und blieb produktiv, und bis jetzt war sie nicht mit ihren Rechnungen im Rückstand, konnte sich Lebensmittel kaufen und war noch nicht nach Paramus zurückgekrochen, um ihren Eltern zu sagen, dass sie ein Versager war. Der Schlüssel zum Erfolg als Freiberuflerin war die Fähigkeit, schnell für eine Vielzahl von Kunden zu schreiben.
So wie jetzt; Maria konzentrierte sich wieder auf Orvil Hale. Sie hatte nichts verpasst. Die Beamten riefen soeben die Versammelten zur Ordnung.
Endlich, dachte sie. Wird verdammt noch mal Zeit. Vielleicht sind wir hier noch vor Halloween wieder raus.
Maria schlug die Beine übereinander. Sie musste pinkeln.
Heute Abend arbeitete Maria als freie Mitarbeiterin für The York Dispatch. Im Gegensatz zu ihrem Konkurrenten, dem York Daily Record, setzten sie Freiberufler ein, um über die meisten Stadtratssitzungen zu berichten. Maria verdiente 60 Dollar pro Artikel, und auch wenn das nicht viel Geld zu sein schien, zählte jeder Scheck – so lautete das Mantra der Freiberufler. In einer beliebigen Woche konnte sie für mehrere Zeitschriftenartikel, ein halbes Dutzend Online-Rezensionen und zwei oder drei freiberufliche Geschichten für die Zeitung bezahlt werden. Das alles summierte sich. Außerdem brauchte sie für die Artikel über den Stadtrat nur ein paar Stunden. Sie waren also nicht gerade harte Arbeit. Der einzige Nachteil war, dass sie die langweiligen Sitzungen über sich ergehen lassen musste. Maria hatte noch keinen Weg gefunden, wie man Abwasserleitungen, Straßenreparaturen oder die Müllabfuhr interessant und spannend gestalten konnte. Egal wie man es anstellte, es war immer noch der langweiligste Scheiß der Welt. Aber sie wurde ja auch nicht dafür bezahlt, es spannend zu machen. Sie sollte einfach nur über die Fakten berichten – so uninteressant sie auch sein mochten.
Der andere Nachteil war die Tatsache, dass sie nur wenige persönliche Beziehungen und wenig Zeit für soziale Kontakte hatte, abgesehen von Geschäftskontakten und Gleichgesinnten, die sie im Internet kennengelernt hatte. Maria schrieb regelmäßig in einigen Foren für freiberufliche Autoren und hatte einige Freunde, mit denen sie E-Mails austauschte, aber sie ging nicht viel aus. Sie konnte es nicht. Sie hatte keine Zeit. Sie verbrachte ihre Tage und Abende damit, am nächsten Auftrag zu arbeiten oder zu versuchen, weitere Aufträge zu bekommen. Infolgedessen gab es außerhalb des Internets so gut wie kein soziales Leben. Drei Jahre nach dem College hatte sie immer noch keinen festen Freund. Maria konnte die Anzahl ihrer Verabredungen an einer Hand abzählen. Und abgesehen von einem betrunkenen One-Night-Stand mit einem Typen, den sie vor sechs Monaten bei einem Auftrag kennengelernt hatte, schlief sie immer allein.
Ja, dachte sie, das aufregende, glamouröse Leben einer freiberuflichen Autorin.
Bescheuert …
Zwei lange Stunden später beendeten die Gemeindevertreter ihre Arbeit und Hale vertagte die Sitzung. Maria schaltete ihr digitales Diktiergerät aus, steckte es zusammen mit Notizbuch und Stift in ihre Handtasche und stand auf. Ihr Notizbuch war voll mit Kritzeleien – Katzen- und Hundegesichter, ein Sechseck und labyrinthische, konzentrische Kreise. Sie hatte sich keine Notizen gemacht, da sie davon ausging, dass die wichtigen Dinge auf dem Rekorder gespeichert waren. Wenn sie zu Hause war, würde sie es abspielen, transkribieren und sich einen Reim auf die Dinge machen. Sie würde die Diskussion von zwei Stunden in einen 400 Worte langen Artikel packen, der auf der letzten Seite des Lokalteils landen würde, gleich nach dem Landwirtschaftsbericht und den Gottesdienstplänen für die Woche. Sie würde es vor ihrem Abgabetermin um ein Uhr nachts per E-Mail an ihren Redakteur schicken und sich dann schlafen legen.
Maria ging mit den anderen Teilnehmern nach draußen. Mark vom Daily Record lächelte sie wieder an. Seine Hosenbeine waren mit getrockneten Popeln übersät. Sie lächelte zurück, sah dann weg und tat so, als würde sie sich für die Halloween-Dekoration interessieren, die an der Wand hing.
Ja, ihr Leben verlief wirklich so, wie sie es geplant hatte.
Vielleicht würde sie morgen wieder umziehen. Versuchen, aus York herauszukommen. Auf Craigslist nach einer Wohnung in New York oder Philadelphia suchen. Und vielleicht würde sie auch im Lotto gewinnen. Schließlich würde sie sich den Umzug nur so leisten können.
Ob es ihr gefiel oder nicht, sie saß hier fest. Allein.
Auf dem Weg zur Tür warf sie einen Blick zurück auf Mark. Sein Finger steckte bis zum ersten Knöchel in seinem Nasenloch. Sie war also nicht das Einzige, das festsaß.
Maria stellte ihren Auftrag eine halbe Stunde vor dem Abgabetermin fertig und schickte den Anhang per E-Mail an ihren Redakteur. Ihr kleiner Fernseher flackerte in der Ecke. Conan O’Brien interviewte den kanadischen Stand-up-Comedian Pete Zedlacher. Die beiden lachten über irgendetwas, aber Maria wusste nicht, worüber, denn sie hatte den Ton stumm gestellt.
Ihre Wohnung war klein, aber gemütlich – Bad, Wohnzimmer, Kochnische und zwei Schlafzimmer, von denen eines als Büro diente. Die Wohnung war mit einer seltsamen Mischung aus übrig gebliebenen Wohnheimmöbeln aus ihrer Zeit am College und neueren Käufen bei Ikea und Target eingerichtet. Eine neue Couch. Ein gebrauchter Futon. Die eierschalenfarbenen Wände waren spärlich dekoriert – ein gerahmter Monet-Druck, eine Fotomontage aus der High School und dem College und ein Regal mit Sammellöffeln. In der ganzen Wohnung gab es nur ein einziges Bild ihrer Eltern, das sie unbewusst über dem Entertainment-Center aufgehängt hatte, wo sie es nicht jeden Tag sehen musste. Maria verbrachte nur wenig Zeit im Wohnzimmer. Wenn sie zu Hause war, verbrachte sie ihre Abende mit Schlafen oder Arbeiten. Ihr Büro war nicht besonders groß. Zwei Schreibtische waren L-förmig in der Ecke aufgestellt worden. Auf dem einen stand ihr Laptop, auf dem anderen ihr älterer Desktop-Rechner. Ein Aktenschrank mit zwei Schubladen enthielt ihre verschiedenen Zeitungsausschnitte und Artikel sowie Verträge, Quittungen und Finanzunterlagen. Zwei Bücherregale standen an der Wand. Eines davon war vollgepackt mit Taschenbüchern und Compact Discs. Eine grüne Vase stand bedenklich weit oben. Im anderen Regal standen ihr Fernseher und weitere Bücher.
Conan machte Platz für eine nervige Werbung für ein Kopfschmerzmittel. Sie wollte gerade den Fernseher ausschalten und ins Bett gehen, als ihr Laptop piepte und eine neue E-Mail meldete. Sie öffnete Outlook Express und sah, dass sie von Miles, ihrem Redakteur bei der Zeitung, stammte.
Sie lautete:
Habe den Artikel erhalten. Danke. Wird morgen im Lokalteil erscheinen. Wie wäre es in der Zwischenzeit mit einem größeren Auftrag? Ich brauche einen Sonderbeitrag über einen neuen lokalen Ghost Walk. Mindestens eine ganze Seite, plus Bilder. Vielleicht auch mehr, wenn das Material es rechtfertigt. Einer der Fotografen hat sich bereits um die Bilder gekümmert. Ich brauche nur jemanden, der die Story schreibt. Normalerweise würde Hilary darüber berichten, aber sie ist noch im Mutterschaftsurlaub, und der Eigentümer des Ghost Walk, Ken Ripple, besteht auf einer Berichterstattung. Die Sache öffnet in der Nacht vor Halloween, also müssen wir uns sputen. Wir haben nicht viel Zeit. Da ist heiße Nadel angesagt. Hast du Interesse?
–Miles
Sie war überrascht, dass Miles um diese Uhrzeit noch wach war. Aber wenn man bedachte, wie oft er sich über seine Frau und seine Kinder beklagte, war er vielleicht bei der Arbeit glücklicher.
Maria drückte auf ›Antworten‹. War sie interessiert? Eine ganzseitige Reportage? Das brachte viel mehr ein als ein Artikel über den Stadtrat. Aber hallo war sie interessiert, und das sagte sie ihm auch. Ein paar Minuten später antwortete Miles mit den Kontaktdaten von Ripple und schlug vor, dass Maria am nächsten Tag das Archiv der Zeitung durchstöbern sollte. Es gab eine Menge Geschichte, die mit dem Standort des Ghost Walk verbunden war, und da sie nicht von hier war, musste sie sich einlesen.
Nachdem sie ihm versichert hatte, dass sie das tun werde, und versprochen hatte, morgen früh im Büro vorbeizuschauen, loggte Maria sich aus und ging ins Bett. Es dauerte lange, bis sie einschlief.
Als sie endlich einschlief, hatte sie einen Albtraum von ihren Eltern. Sie waren unzufrieden mit dem Weg, den sie im Leben eingeschlagen hatte, und hatten beschlossen, mit ihr darüber zu reden – mit Messern.
Sie waren sehr wütend, und die Messer waren sehr scharf.
3
Ken Ripple wischte sich den Schweiß aus den Augen. Dann, die Hände in die Hüften gestemmt, streckte er seinen schmerzenden Rücken. Er stieß einen zufriedenen Seufzer aus, als es knackte.
»Wirst du zu alt für diesen Scheiß?«, fragte Terry Klein.
»Nein«, sagte Ken. »Ich habe gestern Abend deine Frau geknallt und mir dabei den Rücken verrenkt.«
»Na, wenigstens lässt sie noch einen von uns beiden ran.« Terry zog seine ledernen Arbeitshandschuhe aus und bewegte seine Finger. »Verdammt, Blasen.«
Ken grinste. »Zu viel gewichst.«
»Wie gesagt, wenigstens lässt sie noch einen von uns beiden ran.«
Beide Männer lachten und wandten sich dann wieder der Arbeit zu, ein Seilzugsystem an der Tür eines Plumpsklos zu befestigen. Wenn es ausgelöst wurde, öffnete die Reihe von Kabeln und Rollen die Tür, sodass sich eine Puppe auf ahnungslose Passanten stürzen würde. Alles, was sie tun mussten, war, auf den versteckten Schalter zu treten. Die Puppe war nichts Besonderes – Stroh und Sperrholz, bedeckt mit einigen von Terrys alten Kleidungsstücken und einer Monstermaske aus Gummi als Gesicht. Aber in der Dunkelheit würde es reichen.
Der Ghost Walk war Kens Idee gewesen. Er hatte schon immer Spaß an Spukattraktionen gehabt. Zentral-Pennsylvania war voll davon – Field of Screams, Jason’s Woods, The Spook House, The Haunted Mill, Scream In The Park. Aber erst im letzten Jahr, als Ken an einem Fachkongress in Baltimore für Betreiber von Spukattraktionen teilgenommen hatte, war er vom Enthusiasten zum Designer geworden. Er war aus reiner Neugierde zu dem Kongress gefahren, in der Hoffnung, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und ein paar Geheimnisse des Geschäfts zu erfahren, wie Zauberer ihre Kaninchen aus dem sprichwörtlichen Hut zogen. Stattdessen war er mit dem innigen Wunsch nach Hause gekommen, selbst eine Attraktion zu bauen.
Und sie dem Andenken an Deena zu widmen.
Vor zwei Jahren hatte Kens Frau Deena während einer leichten Erkältung ihre Periode nicht bekommen. Ein Schwangerschaftstest zu Hause zeigte ein positives Ergebnis. Das war ein freudiges Ereignis. Sie hatten die letzten drei Jahre erfolglos versucht, ein Kind zu bekommen. Doch der anschließende Besuch beim Arzt brachte düstere Nachrichten – ihre leichte Erkältung war alles andere als das, und Deena war auch nicht schwanger. Statt eines Babys wuchs in ihr ein Tumor. Der Krebs hatte bereits gestreut. Vier Monate später war sie tot und Ken war wieder allein.
Jeden Tag vermisste er sie mehr und mehr. Seine Freunde und seine Familie sagten ihm, dass es mit der Zeit leichter werden würde, aber das war nicht der Fall. Die emotionalen Wunden heilten zwar, aber die Narben schmerzten immer noch.