Urban Gothic - Brian Keene - E-Book

Urban Gothic E-Book

Brian Keene

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Beschreibung

Hier überlebt keiner! Als ihr Auto in einem verrufenem Viertel der Stadt den Geist aufgibt, hoffen Kerri und ihre Freunde, dass sie bis zum Tagesanbruch Schutz in einem alten Haus finden werden. Sie glauben, dass das finstere Gebäude verlassen ist. Aber sie irren sich. Die, die im Keller und den Tunneln unter der Stadt hausen, sind viel gefährlicher als die Straßen draußen. Gefangen in einer Welt der Finsternis, müssen die Freunde gegen unvorstellbare Geschöpfe kämpfen. Und wenn sie die Sonne jemals wiedersehen wollen, müssen sie diesen Kampf auch gewinnen! Urban Gothic ist Brian Keenes blutbespritzte Huldigung an Horror-Ikone Edward Lee. Dark Scribe Magazine: 'Brutal, mutig und eigentlich schon genial. Urban Gothic ist ein Meisterwerk des Schock-Horrors.' The Horror Review: 'Keene Name sollte in einem Atemzug mit King, Koontz und Barker genannt werden. Ohne Zweifel ist er einer der besten Horrorautoren die es gibt.' Deutsche Erstausgabe. Broschur 19 x 12 cm, Umschlag in Lederoptik

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 438

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Anmerkungen des Autors

Dieser Roman spielt zwar in Philadelphia, allerdings habe ich mir einige geografische Freiheiten bei der Beschreibung der Stadt herausgenommen. Falls Sie dort leben, suchen Sie nicht nach Ihrer Straßenecke oder Ihrem Häuserblock. Ihnen würde nicht gefallen, was unter den Gehsteigen lauert.

Für Edward Lee, der mir einmalEr-weiß-schon-was beschert hat ...

1

»Manchmal läuftʼs einfach scheiße!«, brummte Javier vom Rücksitz.

Langsam rollte ein so stark tiefergelegtes Auto vorbei, dass die Karosserie fast über die Straße schrammte. Durch die getönten Scheiben konnten sie den Fahrer nicht erkennen, aber die Stereoanlage des Fahrzeugs wummerte laut genug, um ihre Zähne zum Klappern zu bringen.

Brett seufzte frustriert. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, Javier.«

Aber er hat recht, dachte Kerri, als sie aus dem Beifahrerfenster schaute. Javier hat recht. Es gibt keinen erkennbaren Grund. Manchmal steckt kein tieferer Sinn dahinter. Ganz gleich, wie vorsichtig wir sind, ganz gleich, wie sehr wir versuchen, uns an Planungen oder Routine zu klammern, manchmal laufen unsere Tage einfach aus dem Ruder. Nichts, was wir sagen oder tun, ändert etwas daran, und dann wird es dunkel. Manchmal läuft’s einfach scheiße, und alles ist im Arsch.

So wie jetzt.

Aber obwohl die Situation, in der sie steckten, total bescheiden war, ließ sich nicht alles darauf schieben, dass es ›manchmal einfach scheiße läuft‹. Einen Teil konnte man vielleicht aufs Schicksal schieben, der Rest jedoch war ganz allein Tylers Schuld.

Kerri fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass sie ihren Freund gleichzeitig liebte und hasste – denn genau das empfand sie im Augenblick.

Sie hatten sich aus East Petersburg auf den Weg gemacht, um zu Monsters of Hip-Hop in der Großraumdisco Electric Factory in der Innenstadt von Philadelphia zu fahren. Der Veranstaltungsort lag nicht gerade im besten Viertel der Stadt, aber die Show war es definitiv wert gewesen. Der Hauptact Prosper Johnson & The Gangsta Disciples hatte für eine landesweite Tour die bekanntesten Namen in Sachen Hardcore-Hip-Hop für ein Benefizkonzert zusammengetrommelt: Lil Wyte, Frayser Boy, T-Pain, Lil Wayne, Tech N9ne, The Roots, Mr. Hyde, Project: Deadman, Bizarre, Dilated Peoples und Philadelphias Lokalmatadore, die JediMind Tricks. Die Mädchen bevorzugten eher Hip-Pop als Hip-Hop, aber sie waren trotzdem mitgekommen, weil sie so zusammen abhängen und eine Nacht lang ihrem Provinzkaff entkommen konnten. Immerhin kamen sie auf diese Weise nach Philadelphia. Eindeutig besser, als sich einen weiteren Abend in Garganos Pizzeria rumzutreiben.

Kerri und Tyler.

Stephanie und Brett.

Javier und Heather.

Schon in der Grundschule hatten sie sich angefreundet – lange, bevor sie anfingen, miteinander zu gehen und Paare zu bilden. Nun änderte sich alles. Den Schulabschluss hatten sie hinter sich. Das College winkte. Die Welt der Erwachsenen. Der Ernst des Lebens. Obwohl es niemand laut aussprach, wussten sie, dass es vielleicht ihr letzter gemeinsamer Abend sein würde. Die meisten von ihnen würden in wenigen Monaten eigene Wege gehen, deshalb wollten sie das Beste daraus machen. Ein letztes Mal richtig Spaß haben, bevor das Leben dazwischenfunkte.

Nach Konzertende hatten sie sich zu sechst mit dem Rest des Publikums hinaus auf den Parkplatz gedrängelt. Dort stiegen sie in den alten Kombi, den Tyler von seinem Bruder Dustin übernommen hatte, nachdem der nach Afghanistan gehen musste. Dustin hatte immer dafür gesorgt, dass der Wagen so aussah, als sei er gerade vom Fließband gerollt. Dank geschicktem Tuning schnurrte der Motor im Leerlauf und röhrte, wenn Dustin das Gaspedal durchtrat. Anfangs hatte sich Tyler bemüht, den tadellosen Zustand des Autos zu erhalten, aber letztlich ließ er es wie alles andere in seinem Leben verwahrlosen. Als Kerri ihn einmal darauf ansprach, redete er sich damit heraus, keine so geschickten Hände zu besitzen wie sein Bruder. Mit Mechanik hatte er nie viel am Hut gehabt. Tylers Talente lagen woanders – beispielsweise darin, ein Tütchen Gras oder sechs Karten in der dritten Reihe für dieses Konzert aufzutreiben. Er bezeichnete so etwas als ›Beschaffung‹. So viel Geschick bei solchen Dingen besaß in East Petersburg sonst niemand, und das wusste er auch.

Halb taub vom Konzert und vollgepumpt mit Adrenalin waren sie mit heruntergekurbelten Fenstern vom Parkplatz gerollt, hatten gelacht und sich gegenseitig angebrüllt. Sie hatten Sommer, und sie waren jung. Glücklich. Unsterblich. Und all die schlimmen Sachen auf der Welt? Die passierten doch sowieso nur den anderen.

Bis sie ihnen passierten.

Es fing damit an, dass Tyler fünf Minuten, nachdem sie vom Parkplatz fuhren, den Entschluss fasste, einen Freund zu besuchen, der auf der anderen Seite des Flusses in Camden wohnte. Niemand bei klarem Verstand wagte sich nach Einbruch der Dunkelheit nach Camden, aber Tyler schwor, dass er wusste, was er tat. Er versprach, sein Freund hätte tolles Gras. Und so lenkte Tyler den Kombi durch ein verwirrendes Labyrinth von Straßen und behauptete weiterhin steif und fest, zu wissen, was er tat.

Sie fuhren an einem Reihenhausblock nach dem anderen vorbei und sahen nur gelegentlich ein Geschäft – einen Matratzenladen, eine Münzwäscherei, ein Pizzalokal, das Büro eines Kautionsvermittlers. Auf der offenen Veranda von einem der Reihenhäuser lungerten einige Typen herum und beobachteten sie, als sie vorbeikamen. Ihre eindringlich starrenden Blicke machten Kerri nervös. Trotz seiner Beteuerung, sich auszukennen, wurde auch Tyler unruhig, als die Straße, durch die er fahren musste, wegen Bauarbeiten ein Weiterkommen unmöglich machte. Orange-weiße Ölfässer mit blinkenden gelben Lichtern blockierten den Weg.

»Was zum Henker soll das?« Stirnrunzelnd zeigte Tyler auf ein großes, verbeultes Schild mit der Aufschrift STRASSE GESPERRT.

»Hier ist gesperrt«, teilte ihm Brett mit.

»Das seh ich selbst, du Penner. Vielen Dank auch.«

»Du brauchst ein Navi«, warf Stephanie ein. »Meine Eltern haben mir letztes Jahr eins zum Geburtstag geschenkt. Ich verfahr mich nie.«

Tyler runzelte die Stirn nur noch tiefer. »Deine Eltern kaufen dir alles, Prinzessin.«

Stephanie zuckte mit den Schultern. »Tja, hättest du ein Navi, säßen wir jetzt nicht hier fest, oder?«

»Mich überrascht, dass du weißt, wie man so ein Scheißding bedient.«

»Hey.« Brett meldete sich zu Wort und wollte seine Freundin verteidigen, allerdings klang er nervös. »Ganz ruhig, Tyler.«

»Halt gefälligst die Klappe, Brett.«

»Das ist vollkommen unnötig. Hör auf damit, oder ich ...« Brett ließ den Satz unvollendet. Unbehaglich rutschte er hin und her.

»Oder was?«, zog Tyler ihn auf. »Schlägst du mich sonst beim Schach? Lehn dich einfach zurück und halt’s Maul, Weichei.«

Kerri, die Tylers wachsende Aggression spürte, versuchte, ihren Freund zu beruhigen. »Tyler, warum drehst du nicht einfach um, und wir fahren nach Hause? So dringend brauchen wir das Gras nicht.«

Einen Moment lang knautschten sich Tylers attraktive Züge zusammen, und Kerri konnte förmlich sehen, wie er darum kämpfte, nicht die Beherrschung zu verlieren. Wenn sie unter sich waren, konnte Tyler wirklich süß sein, aber manchmal ging sein Temperament mit ihm durch, und das endete selten gut. Er hatte sie zwar noch nie geschlagen oder war ihr gegenüber sonst irgendwie gewalttätig geworden, aber er sagte dann Sachen, die schlimmer schmerzten als jeder Schlag.

Er schüttelte den Kopf. »Alles bestens. Ich kann die Straße umfahren. Wir müssen nur einen Block weiter und dann zurück.«

Letztlich führte sie der Umweg in die entgegengesetzte Richtung der Ben-Franklin-Brücke. Tylers mühsam beherrschte Fassade bekam Risse, als sie sich auf einem gewundenen Abschnitt des Lower Carlysle Thruway wiederfanden und durch einige der übelsten Gegenden von Philadelphia kurvten. Verlebte, ausgemergelte Nutten streunten über den Bürgersteig. Eine Frau mit gehetztem Blick und feuerroten Haaren zeigte ihnen den Mittelfinger, als sie an ihr vorbeifuhren. Ein riesiges Herpesbläschen verunstaltete einen ihrer Mundwinkel. Brett winkte ihr zu. Steph stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen.

Die Straße erwies sich als zerfurcht und rissig. Das Auto holperte über ein klaffendes Schlagloch und polterte und ratterte dermaßen, dass Dustin seinen kleinen Bruder zweifellos mit einem Sturmgewehr verfolgt hätte, wäre er hier gewesen. Etwas schrammte an der Unterseite der Karosserie entlang. Brett schnaufte auf dem Rücksitz, den anderen zog sich alles zusammen, als das schabende Geräusch andauerte.

»Leck mich am Arsch«, stieß Tyler leise hervor.

»Das hättest du wohl gern«, murmelte Kerri.

Er lächelte, doch es wirkte eher mechanisch. Sie setzten den Weg fort und verlangsamten die Fahrt, bis ein träges Kriechen daraus wurde. In der zunehmend trostloseren Umgebung passierten sie eine Reihe versifft aussehender Kneipen, vor denen Gäste in grelles Neonlicht getaucht herumlungerten. Dann wichen die Kneipen allmählich Pfandleihen, Schnapsläden und völlig verwahrlosten Wohnhäusern.

»Meine Fresse«, meldete sich Brett zu Wort. »Seht euch diese Häuser an. Wie kann jemand nur so leben?«

Sie hielten vor einer roten Ampel. Pulsierende Bässe aus dem Auto neben ihnen brachten ihre Fensterscheiben zum Zittern. An der Straßenecke stand eine große Gruppe schwarzer Jugendlicher, die zu ihnen herüberstarrten. Als einer der Teenager wild gestikulierend auf den Kombi zusteuerte, trat Tyler das Gaspedal durch und raste bei Rot über die Kreuzung. Hinter ihnen plärrte eine Hupe.

»Verriegelt die Türen«, forderte Heather die anderen mit aufgerissenen Augen auf.

Tyler ignorierte ihren Vorschlag, aber alle übrigen kurbelten die Fenster hoch und drückten den Knopf. Nach einer Weile tat er es widerwillig auch.

»Scheiße noch mal, wo bleibt diese Abzweigung?«

Javier sagte vom Rücksitz des Kombis: »Hey Mann, da ist ein Hinweisschild für die Route 30. Kommen wir über die nicht zurück nach Lititz?«

»Ich will nicht zurück nach Lititz. Ich will nach Camden.«

»Scheiß auf Camden«, wurde Javier laut. »Hast du schon mal rausgesehen? Deinetwegen werden wir noch überfallen!«

Tyler starrte stur geradeaus. »Ihr macht euch zu viele Sorgen. Herrgott noch mal, wir kommen gerade von einem Rap-Konzert. Und jetzt scheißt ihr euch in die Hosen, weil wir durch die Stadt fahren? Ihr seid ja echt ein Haufen armseliger Mittelschicht-Spießer.«

»Falls es dir entgangen ist«, gab Brett zurück, »du bist selbst ein Mittelschicht-Spießer.«

»Bin ich nicht. Ich bin Italiener.«

Javier seufzte.

»Beruhigt euch alle mal, verdammt«, meinte Tyler. »Uns passiert schon nichts. Solange wir niemanden anmachen, macht uns auch niemand an.«

Er versuchte, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen, biss dabei aber die Zähne zusammen. Kerri wusste aus Erfahrung, wie es gerade in ihm brodelte.

Der letzte Rest seiner entspannten Fassade bröckelte, als am Armaturenbrett eine Kontrollleuchte anging und unter der Motorhaube Dampf hervorquoll, durch den die Windschutzscheibe beschlug.

»Scheiße!«

Der Motor stotterte und wurde abgewürgt, zusammen mit dem Radio und den Scheinwerfern. Die Geschwindigkeit des Autos verringerte sich von 60 Sachen auf maximal zehn. Sie rollten noch einige Meter weiter, dann kamen sie zum Stehen. Der Fahrer des Wagens hinter ihnen hupte. Tyler versuchte, die Warnblinkanlage einzuschalten, doch die funktionierte auch nicht.

»Verfluchter Scheißdreck.« Er öffnete die Tür, stieg aus und bedeutete ihrem Hintermann, um sie herumzufahren. Dann beugte er sich in den Kombi und löste die Verriegelung der Motorhaube.

»Bleibt hier drin«, forderte er die anderen auf und stapfte zur Vorderseite des Autos.

Und nun saßen sie hier fest – gestrandet in dieser üblen Gegend.

Tylers Schuld.

Kerri schüttelte den Kopf und seufzte.

»Manchmal läuft’s einfach scheiße«, brummte Javier erneut.

Heather nickte zustimmend. »Er musste ja unbedingt heute Nacht nach Camden fahren. Hätte er auf uns gehört, wären wir inzwischen auf der Schnellstraße.«

»Vielleicht sollten wir aussteigen und ihm helfen«, schlug Brett vor. »Ich meine, Tyler versteht doch einen Scheißdreck von Autos. Der Motorfreak ist immer Dustin gewesen. Was will er da draußen schon ausrichten?«

Kerri runzelte die Stirn. »Tyler hat gesagt, wir sollen im Wagen bleiben.«

»Mir doch egal«, gab Brett zurück. »Hier drin ist es heiß, und das Fenster lasse ich auf keinen Fall runter.«

»Du hast Angst davor, das Fenster runterzulassen«, meldete sich Heather zu Wort, »aber du willst raus zu Tyler gehen?«

»Ja«, pflichtete Javier ihr bei. »Was ist das denn für ʼne Logik, Kumpel?«

Grinsend ahmte Heather eine Babystimme nach. »Er weiß, dass Tyler die großen bösen Gangmitglieder vermöbelt, wenn sie sich mit uns anlegen. Er hat Angst.«

Bretts Ohren liefen rot an. Statt etwas zu erwidern, öffnete er die Tür und stieg aus.

»Weißt du«, sagte Stephanie zu Heather, »das war echt hundsgemein.«

Heathers Lächeln erstarb. »Ich hab doch bloß Spaß gemacht.«

»Brett ist sensibel, und das weißt du genau.«

Seufzend verließen Javier und Heather das Auto, um sich bei Brett zu entschuldigen. Stephanie blieb sitzen und kramte in ihrer Handtasche. Sie zog ihr rosafarbenes Handy heraus und klappte es auf. Das Display leuchtete in der Dunkelheit.

»Wen rufst du an?«, wollte Kerri wissen.

»Meine Eltern. Sie sind Mitglied beim Automobilclub und können uns einen Abschleppwagen schicken.«

»Warte damit noch kurz. Erst sollen die Jungs rausfinden, was mit dem Auto nicht stimmt.«

»Kannst du vergessen«, entgegnete Stephanie. »Ich hocke nicht hier rum und warte darauf, ausgeraubt zu werden. Hast du schon mal rausgeguckt? Hier sieht’s aus wie in Bagdad.«

Kerri rieb sich die Schläfen. Hinter ihren Augen kündigten sich Kopfschmerzen an. »Bitte, Steph, nur ein paar Minuten. Wenn du jetzt anrufst, wird Tyler nur noch stinkiger.«

»Mir doch egal.«

»Ich weiß, aber du bist nicht diejenige, die sich mit ihm rumschlagen muss, wenn er wütend wird. Bitte. Tu’s für mich.«

Stephanie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum du dir die Scheiße gefallen lässt. Würde Brett mich so behandeln, hätte ich ihn längst abserviert.«

»Brett lässt sich von dir alles gefallen. Schon seit der Mittelstufe. Er ist ein Schwächling.«

»Vielleicht. Aber er ist süß, und er behandelt mich so, wie es mir zusteht. Er respektiert mich. Wie gesagt, ich hab echt keine Ahnung, warum du dir Tyler antust. Der respektiert nichts und niemanden. Nicht mal sich selbst.«

»Lange brauche ichʼs ja nicht mehr auszuhalten. Sobald ich in Rutgers bin, ändert sich sowieso alles. Wir werden uns auseinanderleben.«

»Warum machst du dann nicht sofort mit ihm Schluss?«

Kerri zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. »Weil mir was an ihm liegt und ich ihm nicht wehtun will. Ich hab Angst davor, was er sonst tut.«

»Was er dir antut?«

»Nein. Nicht mir. Sich selbst.«

Stephanie erwiderte nichts. Stattdessen schloss sie leise ihr Handy und stopfte es zurück in die Handtasche.

Kerri murmelte: »Ich glaube, Tyler mag sich selbst nicht besonders.«

»Ach was, wirklich?« Stephanies Tonfall troff vor Sarkasmus. »Wie kommst du denn da drauf?«

»Für dich ist alles ganz einfach. Die hübsche, kleine Stephanie, die alles bekommt, was sie will. Manche von uns haben es nicht so leicht, Steph. Ich dachte, du bist meine beste Freundin. Diese Scheiße brauch ich echt nicht von dir. Erst machst du Heather die Hölle heiß, weil sie auf Brett rumhackt, und dann versuchst du dasselbe bei mir?«

Mit finsterer Miene öffnete Kerri die Beifahrertür und stieg aus. Stephanie rannte hinter ihr her und entschuldigte sich. Sie gingen zu den anderen, die sich um die offene Motorhaube drängten. Die Jungs starrten konzentriert auf den Motor. Aus dem Kühler stieg Dampf auf. Der Motor selbst roch nach Öl und Frostschutzmittel. Heather rauchte eine Zigarette. Kerri schnorrte sich eine von ihr. Stephanie gab einen angewiderten Laut von sich, als Kerri den Glimmstängel anzündete.

Tyler hob den Kopf und sah sie an. »Hab ich nicht gesagt, ihr sollt im Wagen bleiben? Hört denn nie jemand auf mich?«

»Da drin ist es heiß.« Stephanie legte den Kopf in den Nacken. »Soll ich meine Eltern anrufen? Die sind beim Automobilclub.«

»Nein.« Tyler richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Motor. »Wir bekommen das alleine hin.«

»Bisher machst du das ja ganz großartig.«

Tylers Finger schlossen sich um den Kühlergrill des Autos und umklammerten ihn krampfhaft. Sowohl Kerri als auch Brett gaben Stephanie ein Zeichen, den Mund zu halten. Vom Motor stieg weiterer Qualm in die Luft.

Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, herrschte immer noch eine schier unerträgliche Hitze, die in Wellen vom Bürgersteig und vom rissigen Asphalt der Straße auszugehen schien. Die Luft fühlte sich wie klebriger, feuchter Dunst an. Kerri zupfte an ihrer Bluse. Nach dem Schwitzen beim Konzert und durch die Hitze hier auf der Straße klebte der Stoff an ihrer Haut. Sie zog erneut an ihrer Zigarette, aber durch die extreme Luftfeuchtigkeit fühlte es sich an, als inhalierte sie Suppe. Sie nahm Kochgeruch wahr. Benzin. Pisse. Alkohol. Verbrannten Gummi. Heißen Asphalt. Stephanies Parfüm. Eine Übelkeit erregende Mischung.

Kerri hustete, atmete durch den Mund, sah sich um und begutachtete nervös ihre Umgebung. Sie hatte den Begriff ›städtische Verödung‹ schon gehört, ihn jedoch nie richtig begriffen – bis zu diesem Zeitpunkt. Die meisten Straßenlaternen funktionierten nicht und die wenigen, die es taten, hüllten die Gegend in einen hässlichen gelblichen Schimmer. Zusammen mit dem Mondlicht ergab es eine unheimliche Atmosphäre.

Rings um sie standen heruntergekommene Häuser. Keines davon sah einladend aus. In der Düsternis wirkten die niedrigen Gebäude wie Monolithen – endlose schwarze Mauern, die von Verwahrlosung zeugten. Hinter schmutzigen Vorhängen oder zerbrochenen Fensterscheiben – einige davon mit Plastikfolie abgedeckt oder mit dreckigen Lumpen zugestopft – schimmerten matte Lichter. Bei vielen der Häuser fehlten Dachziegel, und die Außenmauern wiesen dort, wo Ziegel abgebröckelt oder Bretter abgefallen waren, Lücken auf. An einigen prangten Graffiti von Straßengangs, die Kerri nicht einordnen konnte. Keines der Häuser besaß einen Vorgarten, es sei denn, man zählte die kluftigen Bürgersteige, aufgebrochen von den Wurzeln längst abgestorbener Bäume, dazu, aufgesprengt durch heiße Sommer und frostige Winter. Kakerlaken und Ameisen krabbelten auf dem abgesackten Beton zwischen Crack-Ampullen, Zigarettenstummeln und glitzernden Glasscherben umher. An den Randsteinen standen aufgerissene Müllsäcke, die ihren verrotteten Inhalt auf die Straße ergossen.

Die Bürgersteige und Hauseingänge präsentierten sich verwaist, abgesehen von einer mürrisch wirkenden Gruppe Jugendlicher an einer Straßenecke etwa einen Block entfernt. Kerris Blick verharrte kurz bei ihnen, bevor er weiterwanderte. Die einzigen Geschäfte in der Straße waren eine Pfandleihe, ein Schnapsladen und ein Zeitungsstand. Alle hatten bereits geschlossen, schwere Stahlgitter verriegelten die Eingänge. Auch an den Wänden der Läden gab es überall Graffiti. Dasselbe galt für einige der Schrottkarren am Straßenrand. Ein paar der Fahrzeuge wirkten verlassen – zerschlagene Windschutzscheiben, ohne Reifen auf Zementblöcken aufgebockt, die Karosserien rostig und verbeult, die Stoßstangen herabhängend oder eingedrückt.

Sie drehte sich in die andere Richtung, wo die Straße in einer Sackgasse zu enden schien. Im Anschluss an die Reihenhäuser folgte von Geröll übersäter Asphalt, als habe man die Gebäude in diesem Abschnitt abgerissen. Dort leuchtete das Mondlicht heller und die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos beleuchteten die Szene. Betonbrocken und verbogene Metallträger ragten aus den Trümmern. Dahinter stand ein einziges Gebäude, wesentlich größer als die übrigen Reihenhäuser. Der Architektur nach vermutete Kerri, dass es mindestens 100 Jahre alt sein musste. Wohl eines der ursprünglichen Gebäude in diesem Viertel, das schon dort stand, bevor man die Slums errichtet hatte. Vermutlich irgendwann mal ein echtes Schmuckstück. Mittlerweile glich es einer verkommenen Ruine, die sich in noch schlimmerem Zustand als die Reihenhäuser befand. Das Bauwerk schien am Ende der Straße zu lauern und sie bedrohlich zu beherrschen. Dahinter gab es ein leeres Grundstück, überwuchert von Unkraut und Gestrüpp, an das ein hoher, rostiger Maschendrahtzaun angrenzte. Kerri starrte das Haus an. Trotz der Hitze schauderte sie, als sie der unheimliche Eindruck ereilte, das verlassene Gebäude beobachte sie regelrecht.

Tyler fluchte und schlug mit den Knöcheln gegen das Auto. Kerri lenkte die Aufmerksamkeit zurück auf ihre Freunde. Dabei fiel ihr auf, dass keinerlei Verkehr mehr auf der Straße herrschte. Sie waren plötzlich völlig allein.

»Vielleicht sollten wir doch Stephs Eltern anrufen«, schlug Brett vor. »Es ist schon ziemlich spät und wir sind in einer üblen Gegend.«

Tyler schaute zu ihm auf, öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, starrte dann stattdessen über Bretts Schulter. Kerri bemerkte, dass sein Gesicht zuckte. Sie und die anderen drehten sich um, weil sie sehen wollten, was seine Aufmerksamkeit erregte.

Die Gruppe schwarzer Jugendlicher, die Kerri kurz zuvor gesichtet hatte, kam langsam auf sie zu. Die Jungen schienen etwa im selben Alter wie sie zu sein. Die meisten trugen entweder Sporttrikots oder Trägerhemden. Die nur von engen Gürteln und den Laschen der Basketballstiefel gestützten Hosen hingen ihnen fast bis zu den Kniekehlen hinab und entblößten die Boxershorts darunter. Ringe und Halsketten aus Gold vervollständigten die Aufmachung. Ein paar von ihnen trugen verkehrt herum aufgesetzte Basecaps. Der Vordermann trug ein schwarzes Tuch um den Kopf und funkelnde Goldringe in beiden Ohren. Er erinnerte Kerri an einen Piraten.

»Oh Scheiße«, flüsterte Brett. »Was zum Geier wollen die?«

Stephanie wimmerte leise. »Die werden uns ausrauben.«

Brett nickte. »Das ist übel. Das ist echt verdammt übel.«

»Beruhigt euch gefälligst«, meldete sich Javier zu Wort. »Geht ihr automatisch davon aus, dass sie uns ausrauben wollen, nur weil es Schwarze sind?«

»Sieh sie dir doch an«, beharrte Brett. »Jedenfalls machen sie nicht den Eindruck, als wollten sie uns Pfadfinderplätzchen verkaufen.«

Javier warf ihm einen finsteren Blick zu und schien sprachlos zu sein.

Die Gruppe kam näher. Alle bewegten sich mit lässigen federnden Schritten. Kerris Nervosität steigerte sich. Eigentlich wollte sie Javier beipflichten, doch dann erinnerte sie sich an ihre Situation und ihre Umgebung. Panik überwältigte sie. Unwillkürlich griff sie nach Tylers Hand, aber er stand steif wie Holz da.

»Scheiße«, raunte Brett stöhnend. »Scheiße noch mal, tut irgendwas, Leute!«

Javier versetzte ihm einen Stoß. »Kumpel, bleib ruhig. Du führst dich auf wie ein Arschloch.«

Als sich die Gruppe noch etwa drei Meter entfernt befand, blieb sie stehen. Der Anführer trat vor und bedachte sie mit einem unfreundlichen, argwöhnischen Blick.

Langsam rückten seine Freunde zu ihm auf.

»Scheiße, was treibt ihr hier? Habt ihr euch verirrt?«

Er hatte eine tiefe Stimme, die mürrisch klang. Er stand mit angespanntem Körper da, als sei er bereit, sie jederzeit anzuspringen.

Stephanie und Heather fassten sich an den Händen und wichen gleichzeitig einen Schritt zurück. Brett huschte hinter sie. Javier kam hinter dem Auto hervor und baute sich gegenüber von der Gruppe auf. Tyler schlug langsam die Motorhaube zu und trat neben ihn. Kerri verharrte an Ort und Stelle. Ihre Füße fühlten sich wie festgewachsen an. Ihr Herz hämmerte wild in der Brust.

Ein anderer der schwarzen Jugendlichen ergriff das Wort. »Wir haben euch was gefragt.«

»Wir wollen keinen Ärger«, antwortete Tyler.

Innerlich zuckte Kerri beim kläglichen, flehentlichen Tonfall seiner Stimme zusammen.

»Tja, wenn ihr keinen Ärger wollt«, meinte der Anführer grinsend, »seid ihr definitiv am falschen Ort.«

Seine Freunde kicherten über die Bemerkung. Er hob eine Hand und sie verstummten schlagartig.

»Wenn ihr nach Einbruch der Dunkelheit in diese Gegend kommt«, fuhr er fort, »dann müsst ihr auf der Suche nach Ärger sein. Oder Dope. Oder ihr habt euch verirrt. Also was davon?«

»Nichts davon«, gab Javier zurück. »Wir hatten bloß Ärger mit dem Auto. Das ist alles. Wir haben gerade einen Abschleppwagen gerufen und der ist schon unterwegs.« Er verstummte kurz. »Sollte jeden Moment hier sein.«

Der Anführer stupste den schlaksigen Jungen neben ihm mit dem Ellenbogen. »Hast du den Mist gehört, Markus? Er sagt, ein Abschleppwagen ist unterwegs.«

Markus lächelte und nickte. »Hab’s gehört, Leo. Was denkst du?«

Der Anführer – Leo – starrte Javier an, als er antwortete. »Ich denke, dieses Würstchen will uns verscheißern. Nach Einbruch der Dunkelheit kommen keine Abschleppwagen hierher. Nicht in diese Straße.«

Javier und Tyler sahen sich an. Kerri fiel auf, dass Tylers Adamsapfel auf und ab hüpfte. Sie drehte sich zu Stephanie um, die langsam ihr Handy aus der Handtasche zog.

»Und jetzt ehrlich«, sagte Leo. »Was wollt ihr hier? Sucht ihr was zum Einwerfen?«

»V-vielleicht«, antwortete Tyler. »Was habt ihr?«

Leo kam näher. »Die Frage ist: Was habt ihr? Wie viel Kohle habt ihr dabei?«

Scheiße, dachte Kerri. Jetzt kommt’s. Gleich ziehen sie ein Messer oder eine Kanone.

»W-wir kommen von M-Monsters of H-Hip-Hop«, stammelte Brett, der sich hinter den Mädchen versteckt hatte. »Wir w-wollen nur n-nach Hause.«

Die Gruppe der schwarzen Teenager brach in grölendes Gelächter aus. Kerri konnte nicht einordnen, ob es an der allzu offensichtlichen Angst in Bretts Stimme lag oder daran, dass eine Clique weißer, unübersehbar aus den Vorstädten stammender Jugendlicher ein Hardcore-Rapkonzert besucht hatte.

Leo warf einen Blick auf das Auto, dann auf ihre Gruppe. Kerri merkte, dass er sie besonders intensiv anstarrte. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken. Dann sah er wieder zum Wagen.

»Na schön«, meinte er. »Lasst uns das kurz und schmerzlos erledigen. Ich sag euch, wie wir’s machen. Ihr gebt uns ...«

»Leck mich, Nigger!«

Kerri war genauso überrascht wie Leo und seine Begleiter. Sie hörte Füße über den Asphalt klatschen und als sie sich umdrehte, sah sie Brett, der wegrannte und auf das verlassene Haus am Ende des Blocks zuhielt. Gleich darauf spurteten Stephanie und Heather hinter ihm her. Stephanies Telefon rutschte ihr aus der Hand und landete klappernd auf dem Boden, als sie flüchtete. Sie hielt nicht an, um es aufzuheben. Tyler hetzte ihnen schreiend nach. Javier und Kerri starrten einander einen Herzschlag lang an, dann packte er sie am Arm und zog sie hinter sich her.

»Komm!«

»Hey!«, brüllte Leo. »Scheiße, wie hast du mich grad genannt?«

»Himmel!«, stieß Kerri keuchend hervor. »Mein Gott ...«

»Was zum Henker ist mit euch los?«, rief Javier seinen fliehenden Freunden hinterher. »Ihr Arschlöcher schafft es noch, dass sie uns umbringen.«

»Halt’s Maul und renn«, gab Tyler zurück, ohne über die Schulter zu schauen und sich zu vergewissern, ob es Kerri gut ging.

»Yo!«, brüllte Leo. »Kommt zurück. »Hey, Motherfuckers, ich rede mit euch!«

Kerri kreischte, als sie Verfolgungsgeräusche hörte. Leo hatte aufgehört zu brüllen. Abgesehen von Grunz- und Keuchlauten sowie dem Klatschen von Schuhen auf den Asphalt rannten die schwarzen Jugendlichen schweigend hinter ihnen her.

»Lauf!«, forderte Javier sie auf und stieß sie vorwärts. Er selbst reihte sich hinter ihr ein, schob sich zwischen Kerri und die Verfolger. Kurz hielt er inne, um sich zu bücken und Stephanies Handy aufzuheben.

Die Hetzjagd setzte sich die Straße hinab fort – Brett an der Spitze, gefolgt von Stephanie und Heather, dann Tyler, Kerri und Javier als Nachhut. An einer von Heathers Sandalen löste sich ein Riemen und der Schuh flog von ihrem Fuß. Eine Sekunde lang wurde sie langsamer und Tyler schoss an ihr vorbei, ohne anzuhalten. Schreiend trat Heather auch den anderen Schuh weg, lief barfuß weiter und beschleunigte wieder. Erschrocken stellte Kerri fest, dass ihre Freundin blutige Fußabdrücke hinterließ. Heather musste sich den Fuß an den Glasscherben verletzt haben, die den Bürgersteig übersäten. Kerri fragte sich, ob Heather es überhaupt bemerkt hatte oder der Adrenalinrausch die Schmerzen ausblendete.

Sie flüchteten an den Reihenhäusern vorbei und gelangten auf das verödete Grundstück mit dem Trümmerhaufen. In diesem Bereich funktionierten die Straßenlaternen nicht, und die Schatten rings um sie wurden länger. Kerri hörte, wie etwas hinter einer Ansammlung zerbröckelter Ziegelsteine vorbeitrippelte, und hätte beinahe laut aufgeschrien. Hinter ihnen verstummten die Geräusche der Verfolger.

»Yo!«, rief Leo. »Scheiße, kommt zurück. Wenn ihr weiterlauft, handelt ihr euch Riesenärger ein.«

Sie ignorierten ihn und hielten genau auf das verlassene Haus zu. Unheilvoll ragte es vor ihnen in der Dunkelheit auf. Heather stolperte und fiel zurück, aber Kerri und Javier halfen ihr weiter. Obwohl sie nicht länger verfolgt wurden, verlangsamten sie die Schritte nicht. Kerris Atmung wurde unregelmäßiger und hektischer. Sie versuchte, sich zu beruhigen, sah zu ihren Freunden. Stephanies Lippen formten die Worte des Vaterunsers. Bretts Züge waren zu einer besorgten, düsteren Miene erstarrt, seine Schritte wirkten unkontrolliert wie bei einem Besoffenen. Tyler hatte seine Augen in Panik weit aufgerissen, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.

Kerri schaute zurück. Leo und der Rest seiner Gang standen am Rand des Brachlands, gingen langsam hin und her. Der Anführer brüllte etwas, aber mittlerweile befanden sie sich zu weit entfernt, um ihn zu verstehen. Wahrscheinlich eine weitere Drohung. Kerri fragte sich, warum sie die Verfolgung so plötzlich aufgegeben hatten.

Wahrscheinlich gaben sie sich damit zufrieden, Tylers Auto auszuschlachten. Sie verspürte einen Anflug von Besorgnis. Der arme Tyler – Dustin würde außer sich vor Wut sein, wenn er davon erfuhr.

Javier drängte sie weiter, achtete darauf, über die tiefsten Löcher hinwegzuspringen, und lenkte sie um Geröllhaufen herum. Brett brummte mit leiser Stimme etwas und klang dabei grenzhysterisch.

»Halt die Klappe«, herrschte Javier ihn an. »Deine große Klappe hat uns überhaupt erst in diesen Schlamassel gebracht. Was hast du dir dabei gedacht, du blödes Arschloch?«

Statt etwas zu erwidern, schluchzte Brett leise.

Javier gab Stephanie ihr Handy.

»Danke«, murmelte sie.

»Was jetzt?«, fragte Tyler, der bereit zu sein schien, Javier die Rolle des Anführers zu überlassen.

»Da rein.« Er nickte in Richtung des verlassenen Gebäudes. »Wir verstecken uns dort und rufen die Bullen.«

»Aber die werden sehen, dass wir reingehen«, flüsterte Heather.

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Javier. »Wir können sie wegen der Straßenlaternen dort hinten sehen. Aber hier ist es stockfinster. Ist mir aufgefallen, als wir hergerannt sind – von weiter hinten sieht man einen Scheißdreck. Nur Schatten. Wenn wir schnell und leise sind, müsste es klappen.«

Misstrauisch beäugte Stephanie das Haus. »Was, wenn da drin jemand lebt?«

»Sieh’s dir doch mal an«, gab Javier zurück. »Wer soll in einer solchen Bruchbude schon leben?«

»Crackjunkies«, antwortete Kerri. »Obdachlose. Ratten.«

Statt etwas zu erwidern, drängte sich Javier an den anderen vorbei und stapfte die durchhängenden Verandastufen hinauf. Sie ächzten zwar unter seinem Gewicht, hielten aber stand. Das Geländer wackelte, als er sich daran abstützte, und kleine Rost- und Lackflocken rieselten auf den Boden.

Die anderen folgten ihm. Kerri betrachtete die groben Ziegel und den Mörtel der von wucherndem, weißlich grünem Moos überzogenen Außenmauer. Sämtliche Fenster waren mit feuchtigkeitsfleckigen Sperrholzplatten vernagelt. Seltsamerweise wies das verlassene Gebäude im Gegensatz zu allen anderen in der Straße keinerlei Graffiti auf.

Als sie sich alle auf der Veranda befanden, nahm Javier die von Kerben übersäte Holztür in Augenschein. Sie wirkte unförmig, durch Wasser verzogen, und mehrere Schichten Lack blätterten davon ab und brachten darunter eine Palette hässlicher Farben zum Vorschein. Javier ertastete den altmodischen Messingknauf und drehte ihn. Die Tür öffnete sich mit einem schabenden Quietschen. Dreck und Lack rieselten auf seinen Unterarm und in seine Haare. Javier trat zurück und klopfte sich ab.

»Hallo?« Bretts Stimme ertönte als heiseres Flüstern. »Ist jemand zu Hause?«

Keine Antwort.

Sie spähten hinein, doch im Inneren herrschte tiefe, bedrückende Finsternis. Kerri beschlich der Eindruck, wenn sie die Hand ausstreckte, würde sich die Dunkelheit als greifbar entpuppen und wie Teer an ihren Fingern kleben. Javier setzte sich in Bewegung und trat in die Schwärze. Kerri folgte ihm. Stephanie und Heather zögerten kurz, bevor sie ebenfalls hineingingen. Heather hinkte und hinterließ immer noch blutige Fußabdrücke. Brett folgte den beiden Mädchen und Tyler bildete das Schlusslicht und warf hinter sich die Tür zu. Das Geräusch hallte laut durch das Gebäude. Die anderen warfen ihm verärgerte Blicke zu. Tyler zuckte trotzig mit den Achseln.

»Wir brauchen Licht«, flüsterte Kerri.

Sie holte ihr Feuerzeug hervor und ließ es aufflammen. Die Schatten schienen sich um die flackernde Helligkeit zu drängen. Tyler klappte sein eigenes Feuerzeug auf und folgte Kerris Beispiel. Heather, Javier und Stephanie zückten jeweils ihre Handys und steuerten den schwachen Schimmer der Displays als Lichtquelle bei.

Kerri drehte sich mit dem Feuerzeug im Kreis. Eine Spinnwebe streifte ihre Wange. Zitternd wischte sie die Fäden weg. Sie standen in einer feuchten, schimmligen Diele. Ein Gang führte in die Dunkelheit. Mehrere geschlossene Türen zweigten davon in andere Teile des Hauses ab. Gelbe Tapeten schälten sich in großen Lagen von den schäbigen Wänden und offenbarten darunter rissigen, nackten Verputz mit schwarzen Stockflecken. Die Fußbodenleisten wiesen dort, wo Ratten und Insekten sich darüber hergemacht hatten, Löcher auf.

Etwas huschte mit einem trockenen, raschelnden Geräusch durch die Schatten. Heather unterdrückte ein Kreischen.

»Hörst du was?«, wollte Javier von Tyler wissen und nickte in Richtung Tür.

Tyler beugte sich näher heran und lauschte. Dann schüttelte er den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Nichts. Aber das Feuerzeug verbrennt mir allmählich die Finger.«

Er ließ den Knopf los und die Flamme erlosch. Trotz des anderen Feuerzeugs und der nach wie vor schimmernden Handydisplays wurde es schlagartig dunkler.

»Vielleicht sind sie ja weg«, meinte Brett. »Vielleicht haben sie aufgegeben.«

»Und vielleicht«, gab Tyler zurück, »demolieren sie gerade Dustins Auto, während wir hier rumstehen. So eine verfluchte Scheiße.«

Er streckte die Hand nach dem Türknauf aus.

»Was hast du vor?«, flüsterte Kerri.

»Nachsehen, was draußen los ist. Ich mache nur einen Spaltbreit auf.«

Seine Hand drehte sich. Der Knauf nicht. Er rüttelte daran, aber das Schloss gab nicht nach.

Stephanie drängte sich an Brett, spähte über seine Schulter und beobachtete Tyler. »Was ist?«

»Das verfluchte Ding klemmt oder so. Geht nicht auf.«

Javier stöhnte. »Ist die Verriegelung eingeschnappt, als die Tür hinter dir zugefallen ist?«

»Woher soll ich das wissen, verdammte Scheiße?«

»Nur die Ruhe, Kumpel. Sprich leise. Wir wollen doch nicht, dass sie uns hören.«

»Mir egal. Ich bleib nicht die ganze Nacht in dieser Bruchbude. Da draußen steht das Auto meines Bruders.«

»Daran hättest du früher denken sollen.«

Tyler wirbelte zu ihm herum und rammte Javier einen Finger in die Brust.

»Dieser Scheißdreck ist nicht meine Schuld. Brett war derjenige, der sie Nigger genannt hat.«

Javiers Körper versteifte sich. Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Einen Moment lang dachte Kerri, er wollte Tyler schlagen, dann jedoch entspannte er sich und hob kapitulierend die Hände.

»Schon gut«, flüsterte er. »Schon gut. Bleib cool. Aber wir können die Tür nicht aufbrechen, Mann. Wenn die noch da draußen sind, hören sie uns. Am besten gehen wir in eins der Zimmer, suchen uns ein Fenster und spähen durch die Spalte zwischen den Brettern raus. Vielleicht können wir erkennen, wo sie sind.«

Tyler nickte. Seine Schultern sackten herab.

»Du hast recht.«

Er ging los und öffnete die erste Tür zu seiner Linken. Die rostigen Angeln knarrten, als sie langsam aufschwang und weitere Dunkelheit offenbarte. Kerri trat hinter Tyler und hielt ihr Feuerzeug über seinen Kopf, um das Zimmer zu beleuchten.

»Beeil dich«, flüsterte sie. »Mein Feuerzeug wird immer heißer.«

Tyler zögerte.

Und nach diesem Zögern änderte sich alles.

Alles lief komplett aus dem Ruder.

Kerri sah die bedrohliche, schattige Gestalt auf der anderen Seite des Eingangs. Sie wusste, dass Tyler sie ebenfalls bemerkt hatte, denn sein gesamter Körper versteifte sich. Er gab keinen Laut von sich. Kerri wollte die anderen warnen, aber ihr Mund fühlte sich plötzlich staubtrocken, ihre Zunge wie Schleifpapier an. Der Atem stockte ihr in der Brust.

Die Person im Zimmer wirkte unglaublich groß. Ihre Gesichtszüge konnte Kerri nicht ausmachen, aber der Kopf musste beinahe die Decke berühren. Unter den breiten Schultern folgte ein Rumpf so massiv wie ein Ölfass. Die Gestalt hielt etwas in der Hand. Es sah wie ein riesiger Hammer aus.

Tyler stöhnte.

Dann setzte eine blitzschnelle Bewegung ein.

Kurz nach Kerris zwölftem Geburtstag hatte ihr älterer Bruder von irgendwoher Chinakracher aufgetrieben. So groß wie ihre Handfläche, und sie hatte sich nicht wohl damit gefühlt, die Böller in der Hand zu halten. Ihr Bruder und seine Freunde vom College hatten die Sprengkörper in eine Wassermelone gesteckt, um herauszufinden, was passierte. Nachdem sie die Lunten angezündet hatten, gab es einen gewaltigen Donnerschlag, gefolgt von einem wilden Schauer aus Samen, rosa Pampe und Schalenteilen.

Dasselbe geschah mit Tylers Kopf. Nur handelte es sich nicht um Samen und Schalenteile, sondern um Knochen, Haare und Gehirnmasse. Warme Feuchtigkeit spritzte Kerri ins Gesicht und durchtränkte ihre Bluse und ihren BH. Sie schmeckte die Flüssigkeiten am Gaumen und spürte, wie sie ihr den Kopf hinab und in die Ohren liefen. Etwas Heißes, Widerliches und Festes kroch über ihre Lippen. Sie würgte und ließ das Feuerzeug fallen.

Tyler stand noch einen Moment lang zitternd da. Dann sackte er mit einem dumpfen Laut zusammen.

Kerri öffnete den Mund, um zu schreien, doch Brett kam ihr zuvor.

Die riesige Gestalt stürzte auf sie zu.

2

»Scheiß drauf«, murmelte Leo. »Weiter geh ich nicht.«

Markus und die anderen glotzten ihn ungläubig an. Sie waren am Rand des Lichtkegels der Straßenbeleuchtung stehen geblieben, etwa 50 Meter von dem verlassenen Haus am Ende des Blocks entfernt. Wolken hatten sich vor den Mond geschoben. Dieser Abschnitt präsentierte sich stockfinster.

»Willst du denen das etwa durchgehen lassen?«, fragte Jamal. »Hast du eigentlich gehört, was die gesagt haben?«

Leo nickte. »Hab ich. Aber sieh dir mal die Fakten an, Jamal. Sechs Weißbrote. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, würde ich sagen, die sind aus den Vororten. Sie kommen in die Stadt, verfahren sich, haben ausgerechnet in diesem Viertel eine Panne – und dann traben wir an. Wahrscheinlich haben wir denen eine Scheißangst eingejagt.«

»Stimmt«, räumte Markus ein. »Wahrscheinlich dachten sie, wir wollen Crack oder so verhökern. Hocken wohl ständig daheim rum, sehen sich The Wire an und glauben, alle Kids in einem schwarzen Viertel müssen automatisch mit Drogen dealen.«

»Das ist voll beschissen«, meldete sich Chris zu Wort. Er war der Jüngste der Gruppe und schaute zu allen anderen auf, vor allem zu Leo und Markus. Da er von ihnen anerkannt werden wollte, schloss er sich immer ihren Entscheidungen an. »Und was machen wir jetzt?«

Leo schwieg und dachte über ihre Optionen nach. Er starrte zu dem Haus und in die umgebende Dunkelheit. Bisher war es ein feiner Abend gewesen. Erst auf einer Party einige Mädchen kennengelernt und Spaß gehabt. Alles rundum perfekt. Danach hatten sie auf dem Heimweg herumgealbert und sich amüsiert, als sie auf den liegen gebliebenen Kombi stießen. Sie merkten sofort, dass die Teenager darin Hilfe brauchten. Sie gehörten nicht hierher, waren Außenseiter. Einfache Beute. Dieses Viertel galt schon bei Tageslicht als üble Gegend, aber nachts – nachts war es ein regelrechter Dschungel. Nachts trieben sich Monster auf den Straßen herum.

Und in den Schatten sogar noch Schlimmeres.

Crack-, Heroin- und Methamphetaminhuren streunten umher, machten für 20 Mücken – genug für die nächste Dröhnung – den keimverseuchten Mund auf, spreizten die Beine oder hielten den Arsch hin. Alles wurde von Dealern kontrolliert – die Straßenecken, die Häuser, die Wohngebäude und alles dazwischen. In den Wohnungen gab es Ratten, Schimmel, Kakerlaken und alle möglichen sonstigen Gesundheitsrisiken. Aus einem kaputten Abwasserrohr ergossen sich Scheiße und Pisse auf die Straße, trotzdem unternahm das Bauamt nichts dagegen. Die Bullen kamen höchstens auf dem Weg zu einem Notruf in einer anderen Gegend vorbei. Dasselbe galt für Krankenwagen und die Feuerwehr. »To serve and protect«, das Motto der Polizei, spielte in diesem Teil der Stadt keine große Rolle.

Vor zwei Jahren hatte eine fettleibige Frau, die wegen ihrer Körperfülle nicht mehr aus dem Haus konnte, vor dem Fernseher einen Herzinfarkt erlitten, als sie sich gerade Judge Judy ansah. Ihre Familie hatte die Notrufzentrale angerufen. Zweimal. Und dann erneut am nächsten Tag. Und am Tag darauf. Eine ganze Woche verging, bevor die Sanitäter endlich eintrafen. Bis dahin hatte die Tote bereits angefangen, Gewicht zu verlieren.

Ein ganz gewöhnlicher Tag im Paradies.

Vor einem Jahr war ein zwölfjähriges Mädchen mit Kinderlähmung nur wenige Häuser von dort entfernt gestorben, wo Leo mit seinen Freunden in diesem Moment stand. Tagelang hatte das Mädchen auf einer nackten, mit Scheiße und Pisse besudelten Matratze in einem stinkenden, heißen Raum gelegen und um Wasser gebettelt. Die Familie der Kleinen hatte ihre Schreie ignoriert. Madenverseuchte Wundstellen übersäten ihren unterernährten, dehydrierten Körper, die Muskeln waren völlig verkümmert. Als man sie schließlich entdeckte, wog sie keine 20 Kilo mehr. Die Umrisse ihres Körpers drückten sich in die Matratze ein. Das Sozialamt hätte ihr helfen können – nur kamen Sozialarbeiter nie in diese Gegend der Stadt.

Niemand tat das.

Und das von allen gemiedene Haus am Ende der Straße galt als besonders hungrig.

Leos Blick wanderte erneut in Richtung des Gebäudes. Er wollte nicht hinsehen, aber die schreckliche Anziehungskraft des alten Gemäuers schien geradezu magnetisch zu sein. Er musste hinschauen. Unwillkürlich zitterte er und hoffte, dass es die anderen nicht merkten. Sie sollten nicht mitbekommen, dass er sich fürchtete – obwohl er verdammt gut wusste, dass sie selbst Schiss hatten.

Jeder hatte Schiss vor dem Haus am Ende des Blocks. Es schien besser zu sein, Kinder mitten auf der Autobahn als dort drüben spielen zu lassen. Menschen, die das Haus betraten, wurden nie wieder gesehen.

Manchmal hörte man sie – leise, gedämpfte Schreie, die abrupt verstummten. Aber sie blieben verschwunden.

In jedem Viertel – selbst in ihrem – gab es ein verwunschenes Haus.

Leo schüttelte den Kopf. Warum hatten diese weißen Teenager nur so reagieren müssen? Er und die Jungs hatten sie doch bloß ein wenig auf den Arm genommen. Gerade hatte er sagen wollen: »Lasst uns das kurz und schmerzlos erledigen. Ich sag euch, wie wir’s machen. Ihr gebt uns 20 Mäuse, und wir reparieren das Auto für euch.« Und das hätten sie auch gekonnt. Angel Montoya betrieb zwei Häuserblocks die Straße runter eine illegale Werkstatt, in der geklaute Autos ausgeschlachtet wurden, und Angel mochte Leo und seine Freunde. Er ließ sie manchmal in der Werkstatt abhängen und sie durften sich kostenlose Limonade aus dem staubigen Verkaufsautomaten nehmen. Wenn sie ihn darum gebeten hätten, dann hätte er das Auto repariert.

Aber noch bevor Leo ausreden konnte, hatte der Junge mit der Brille gebrüllt: »Leck mich, Nigger!« Und dann waren die Kids losgerannt. Diese Reaktion hatte Leo kurzzeitig sprachlos gemacht. Er war nicht zum ersten Mal von Weißen so genannt worden, nur hätte er in dieser Nacht – und unter diesen Umständen – nie damit gerechnet. Er fühlte sich wütend und verletzt und hatte einen Moment gebraucht, um den Schock zu überwinden. Dann hatte er den Teenagern nachgebrüllt und versucht, sie zu warnen, in die Dunkelheit am Ende der Straße zu rennen. Sie aufgefordert, sich vom Haus fernzuhalten. Er wusste nicht, ob sie ihn gehört hatten oder nicht. Jedenfalls waren sie weitergelaufen. Verdammt, eines der Mädchen hatte sogar ihr Handy fallen gelassen und sich nicht danach gebückt. Einer der Jungen hatte es für sie aufgehoben, aber ihr selbst schien es offenbar nicht so wichtig zu sein. Wenn er es im Nachhinein aus ihrer Sicht betrachtete, konnte Leo ihnen keinen Vorwurf daraus machen, falls sie ihn zwar rufen gehört, aber einfach ignoriert hatten.

Wahrscheinlich hätte er sie nicht ›Motherfuckers‹ nennen sollen. Wohl kaum der beste Weg, um Freunde zu gewinnen und Menschen für sich einzunehmen. Mehrere Blocks entfernt ertönten Schüsse. Weder Leo noch die anderen zuckten auch nur zusammen. Sie hatten sich daran gewöhnt. Solche Geräusche waren hier so alltäglich wie Verkehrslärm, Sirenen, Tauben oder was man sonst so in einer Stadt hörte. Leos älterer Bruder hatte früher oft gesagt, das Geräusch von Schüssen helfe ihm nachts beim Einschlafen.

Mittlerweile saß sein Bruder im nördlichen Teil des Bundesstaats in Cresson ein und verbüßte wegen einer idiotischen Verurteilung 20 Jahre bis lebenslänglich. Leo fragte sich, welche Geräusche ihn im Knast in den Schlaf lullten.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Chris erneut. »Hauen wir einfach ab und tun so, als wären die nie hier gewesen?«

»Hört sich vernünftig an«, meinte Jamal. »Besser, wir kümmern uns um unseren eigenen Kram. Ist sicherer. Versteht ihr, was ich meine?«

Leo sah seine Freunde an und musterte ihre Gesichter. Dann richtete er die Aufmerksamkeit wieder auf das Haus.

»Ich sag euch, was wir machen. Wir rufen die Bullen.«

Markus lachte. »Die Penner werden einen Scheißdreck unternehmen. Da könnten wir ebenso gut die Nationalgarde alarmieren.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, pflichtete Leo ihm bei. »Aber es ist nicht richtig, sie einfach dort reingehen zu lassen. Ihr kennt alle die Geschichten, die sich um das Haus ranken. Hat irgendjemand Lust, selbst reinzugehen und sie zu retten?«

Markus starrte auf den Boden. Jamal und Chris tauschten kurze Blicke. Die anderen taten, als hätten sie nichts mitbekommen.

»Keiner von euch will den Helden spielen?«, forderte Leo sie heraus. »Keiner will mit rauchenden Colts reinstürmen?«

Niemand erwiderte etwas.

Weitere Schüsse ertönten und verhallten. In weiter Ferne erklang eine verschlafen und teilnahmslos klingende Polizeisirene.

»Tja«, meinte Leo nach einer Pause. »Das ist schon in Ordnung. Ich will’s auch nicht tun. Nicht bei dem Haus.«

Er drehte sich um und starrte erneut hin.

»Nicht da drin.«

3

Als die bedrohliche Gestalt in die Diele stürmte, wichen Kerri und Javier zurück und hätten beinahe Stephanie, Brett und Heather umgestoßen. Klumpen von Tylers Haaren, Kopfhaut und Blut tropften von der Waffe, die der Mörder in den knotigen Händen hielt – ein grober Granitbrocken von der Größe einer Wassermelone, befestigt an einem Stück Eisenrohr. Zusammen bildeten die beiden Teile einen primitiven, aber effektiven Streithammer. Fassungslos fragte sich Kerri, wie es möglich war, ein solches Monstrum zu halten, geschweige denn zu schwingen. Dann heftete sich ihr Blick auf den Angreifer und die Frage erübrigte sich.

Er richtete sich zu voller Größe auf, hob den Hammer, streckte ihn aus und grölte – ob wütend oder amüsiert, vermochte Kerri nicht zu sagen. Wahrscheinlich traf beides zu. Er ragte über 2,10 Meter hoch auf. Dicke Muskelstränge überzogen die Brust, Arme und Beine. Seine Haut besaß die Farbe von Provolone-Käse und war mit großen braunen Muttermalen und eitrigen Wundstellen überzogen. Blutiger Speichel tropfte aus seinem offenen Mund und sickerte dabei über Zahnfleisch, das sich von den schwarzen abgebrochenen Zähnen zurückgezogen hatte. Seine Atmung ging rasselnd und abgehackt. Sein kahler Schädel wirkte missgebildet. Er starrte sie mit Augen an, die nicht oval, sondern fast vollkommen rund zu sein schienen. Die Pupillen schimmerten schwarz.

Der Fremde war fast völlig nackt und trug nur einige mit ausgefranstem Klebeband zusammengeflickte Müllsäcke. Sie raschelten, wenn er sich bewegte. Sein Penis, so groß wie der Rest von ihm, baumelte zwischen dem Plastik hervor und schaukelte hin und her. Der Anblick brachte Kerri zum Würgen. Er war unbeschnitten und die Vorhaut sah entzündet aus. Eiter tropfte von dem abscheulichen Glied und platschte auf den Boden. Am schlimmsten empfand sie den Gestank, der von dem Angreifer ausging – Übelkeit erregend wie saure Milch, die sich mit Ausscheidungen und Schweiß vermischte. Kerris Nase brannte.

All das nahm sie innerhalb von Sekunden wahr, doch die empfand sie als die längsten ihres Lebens. Die Zeit schien regelrecht stillzustehen.

Dann setzte sie jäh wieder ein.

Der Koloss schlug Kerri mit dem Handrücken und fegte sie von den Beinen. Sie krachte in die gegenüberliegende Wand und schlitterte daran zu Boden. Kerri spuckte Blut und bemerkte ihr heruntergefallenes Feuerzeug. Ohne nachzudenken, griff sie danach und hob es auf. Der Wahnsinnige lachte. Kerri wollte sich aufrappeln, rutschte jedoch in einer wachsenden Lache von Tylers Blut aus.

Abermals lachte der Angreifer, dann schwang er den Hammer. Kerri beobachtete angespannt, wie Javier dem Hieb auswich und dieser nur knapp seine Brust verfehlte.

Die fünf Teenager stoben auseinander. Heather rannte zum Ende des Flurs, riss eine der Türen auf und verschwand im Raum dahinter. Als einzige Spur ließ sie blutige Fußabdrücke zurück. Javier brüllte hinter Heather her, doch falls sie ihn hörte, zeigte sie es nicht. Während sich der Unbekannte bedrohlich Brett und Stephanie zuwandte, kniete sich Javier über Kerri und streckte ihr die Hand entgegen. Sie ergriff sie und er zog sie auf die Beine. In blinder Panik rannten sie den Korridor entlang, ohne auch nur einen Gedanken an Stephanie und Brett zu verschwenden. Oder an Tyler. Oder aneinander. Der einzige Gedanke, der ihren Verstand beherrschte, hieß Überleben.

Sie folgten Heathers blutiger Spur durch die offene Tür. Kerri schaute sich kurz um, sah, was mit Stephanie geschah, aber ihre Füße blieben in Bewegung.

Die Schreie ihrer Freunde wurden hinter ihnen leiser.

»Geh schon auf, du Scheißding!«

Schluchzend rüttelte Stephanie an der Eingangstür und versuchte, zurück nach draußen zu kommen. Sie hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz. Tränen strömten über ihre von Mascara verschmierten Wangen. Sie brabbelte eine Abfolge wirrer Worte – zusammengewürfelte Gebete, vermischt mit der flehentlichen Bitte, ihre Eltern mögen kommen, um sie abzuholen.

Brett zerrte an ihrem Arm. »Steph, komm mit!«

Sie stieß ihn weg.

Ein mächtiger Schatten fiel über sie beide, und der Hammer sauste zischend durch die Luft. Mit einem widerwärtigen Knirschen krachte er gegen Stephanies geballte Faust. Blut und Gewebe spritzten unter dem Stein hervor. Stephanie heulte auf und starrte ungläubig auf die breiige Fleischmasse, in die sich ihre Hand verwandelt hatte. Der Angreifer holte mit dem Hammer zu einem weiteren Hieb aus, und Stephanie fuchtelte hilflos mit den Armen. Blut schoss aus ihrer zerschmetterten Gliedmaße. Brett setzte dazu an, ihr zu helfen, doch bevor er es tun konnte, schwang der Unbekannte den Hammer erneut. Diesmal zermalmte er Stephanies Kopf.

Hilflos, wie festgewurzelt, erstarrte Brett. Jeder Fluchtinstinkt war aus ihm abgeflossen. Er starrte Stephanies Körper an und versuchte, zu verarbeiten, was er vor sich sah. Setzte man ihn vor ein Schachbrett, präsentierte sich ihm alles sonnenklar. Stellte man ihm eine Trigonometrieaufgabe, konnte er sie lösen. So etwas ergab für ihn Sinn. Es steckte Logik und Ordnung dahinter. Klare Regeln.

Hier gab es keine Logik, keine Ordnung. Auch keine Regeln, die er erkennen und verstehen konnte. Nur ein Monster – denn ein Mensch konnte es nicht sein. Nein, sein Verstand weigerte sich, zu akzeptieren, dass diese Kreatur einen menschlichen Ursprung hatte. Das Monster hatte Tyler getötet. Und nun ...

Brett schrie.

Etwas stimmte nicht mit Stephanies Gesicht. Er sah es, als sie zu Boden rutschte. Ihre Züge wirkten zusammengepresst. Die Augen, die Nase, der Mund – alles lag zu dicht beisammen. Ihre Lippen – Lippen, die er noch vor einer Stunde geküsst hatte – ließen sich kaum noch als solche erkennen. Ihr Kopf wirkte nicht länger dreidimensional, eher wie ein Basketball, der sämtliche Luft verloren hatte. Oben war er aufgeplatzt und aus der roten Öffnung lugte etwas hervor, das an geronnenen, gräulichen Quark erinnerte.

Ihr Gehirn, dachte Brett. Großer Gott, das ist ihr Gehirn.

Brett zuckte zusammen, als ihm Galle in die Kehle stieg und darin brannte. Er schaute zum Mörder hoch.

Der lachte ein drittes Mal – heiser und grölend.

In jenem Augenblick flüchtete sich Brett in das, wovon er am meisten verstand – Logik. Er betrachtete die Situation als kniffligen Level, als reales Videospiel. Um zu überleben, brauchte er ihn nur zu lösen. Als der Angreifer die blutige Waffe anhob, ging Brett in Gedanken seine Möglichkeiten durch. Dann tat er das, womit das Ungetüm hoffentlich am wenigsten rechnete – er raste unmittelbar daran vorbei und hechtete in das Zimmer, aus dem der Koloss gekommen war. Die menschenähnliche Kreatur schrie auf, eindeutig wutentbrannt.

Obwohl Brett weinte, musste er unwillkürlich lächeln.

Das hast du wohl nicht erwartet, du Pisser, was?

Er rannte weiter und durchquerte den Raum. Vor ihm befand sich eine andere Tür, die tiefer ins Haus hineinführte. Ohne zu zögern, stürmte er weiter in die Dunkelheit. Er verschwendete keinen Gedanken daran, wo er möglicherweise landete.

Die Füße seines Verfolgers stapften hinter ihm her und ließen den Holzboden erzittern.

Irgendwo hinter den Wänden, vermutlich in einem anderen Raum, begann Kerri mit gebrochener, schriller Stimme zu schreien.

Brett wusste haargenau, wie sie sich fühlte.

4

Kerris Welt hatte sich vor ihren Augen in ein Trümmerfeld verwandelt. Tyler war tot. Stephanie war tot.

Scheiße gelaufen ...

Mit Stephanie verband sie seit dem Kindergarten eine enge Freundschaft. Sie hatten von der ersten bis zur siebten Stufe dieselbe Klasse der katholischen St. Mary’s School besucht, waren danach gemeinsam zu einer öffentlichen Schule gewechselt. Sie hatten zusammen gelernt und ihre Kindheit verbracht.

Kerri stockte der Atem, als Javier sie durch die Dunkelheit drängte. Obwohl sich ihre Augen mittlerweile etwas an die Lichtverhältnisse angepasst hatten, lieferte Javiers Handy, das er aufgeklappt ließ, die einzige Beleuchtung. Kerris Hände zitterten zu heftig, um ihr Feuerzeug zu halten. Sie hörte, wie Javiers Atem durch seine Nase pfiff. Kerri versuchte zu sprechen, um ihm zu sagen, er solle langsamer laufen, und um ihn zu fragen, ob er bei der Polizei angerufen hatte, doch die Stimme versagte ihr den Dienst. Sie stolperte noch einige Schritte weiter, dann blieb sie stehen. Schlagartig wurde ihr schwindlig. Hinter ihren Augen baute sich Druck auf.

Sie schloss die Lider und hoffte, dass die Schmerzen verschwanden.

Vielleicht war Steph gar nicht tot. Vielleicht lebte sie noch. Immerhin hatten Javier und sie es auch geschafft, zu fliehen. Eventuell hatte sie sich das, was sie mit anzusehen glaubte, nur eingebildet.

Dann hörte Kerri erneut das Geräusch. Jenes grauenhafte Geräusch, das der Hammerkopf verursacht hatte, als ...

Tyler und Steph ...

Steph und Tyler ...

Beide lebten unbestreitbar nicht mehr. Und Kerri hatte nichts unternommen, um ihnen zu helfen. Stattdessen war sie davongerannt. Wie konnte das sein?

Tyler hatte Kerri die Unschuld genommen. Steph hatte sich danach alle Einzelheiten angehört, genau, wie Kerri es getan hatte, als Steph einige Jahre davor ihre Unschuld unter weniger angenehmen Umständen verlor. Steph war in jeder Hinsicht, die zählte, wie eine Schwester zu ihr gewesen, und nun lebte sie nicht mehr.

Auch mit Tyler verband sie nicht nur eine Beziehung. Er hatte den Mittelpunkt ihres Lebens gebildet. Ja, in letzter Zeit war es manchmal schlecht gelaufen. Sie hatten oft gestritten. Da sie genug von seinem unreifen Verhalten hatte, dachte sie immer öfter darüber nach, ihn zu verlassen. Aber all die Streitigkeiten und all der Ärger – das bewies doch nur, wie sehr sie sich in Wirklichkeit liebten. Man zankte sich nicht mit jemandem, der einem am Arsch vorbeiging. Und nun war er weg. Tot. Er lag auf dem Boden im vorderen Teil des Hauses und seine Leiche wurde kalt, während sich das gerinnende Blut mit dem von Steph vermischte.

Der Druck in ihrem Kopf kochte über. Kerri öffnete die Augen und schrie. Der Laut drang als tiefes, urtümliches, die Kehle zerfetzendes Kreischen hervor, das ewig anzudauern schien ...

... bis Javier ihr die Hand auf den Mund klatschte und fest zudrückte.

»Hör auf«, flüsterte er. »Hör einfach auf.«