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Werte wie Zusammenhalt, Vertrauen und Hilfsbereitschaft - gibt es diese noch in einer zerstörten Welt nach dem 3. Weltkrieg? Dies ist die Geschichte der Ghost Ashley und des vermeintlich brutalen Gangleaders Ben, die durch das Schicksal immer wieder aufeinandertreffen und schlussendlich trotz aller Widrigkeiten diese Werte füreinander wieder entdecken. Ist die Gang mit der Brutalität wirklich noch immer der beste Weg zu leben? Vor allem auch für Ben's kleine Tochter Lizzy? Ashley stellt den gesamten Lebensstil von Ben in Frage. Kann Ben das Herz von Ashley berühren und sie überzeugen, sich ihm und seiner Familie anzuschließen? Oder lebt Ash schon zu lange alleine da draußen als Ghost? Wie hoch wird der Preis sein, wenn sie Fremden hilft und vertraut? Niemandem helfen oder vertrauen - ein Vorsatz, den sie nie brechen wollte. Bis jetzt?
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Seitenzahl: 366
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Danke Süße, dass Du an Ash, Ben und mich geglaubt hast!
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
KATE
BEN
ASH
BEN
ASH
LIZZY
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
ASH
BEN
EPILOG
„Scheiße, sie holen uns ein,“ dachte sich Ash, als sie mit den anderen Kids um die nächste Hausecke bog.
Sie waren zu siebt unterwegs.
Keiner von ihnen hatte schusssichere Westen an (an diese war es nicht so leicht zu kommen), geschweige denn, dass einer von ihnen eine Waffe oder Munition hatte. Davon war Ash zumindest überzeugt.
Es war dunkelste Nacht, nur der fahle Schein des Mondes durch die Wolkenfetzen war zu erahnen. Nirgendwo war ein Licht auszumachen. Nicht, dass hier von Elektrizität die Rede war – nein, die Zeiten in denen man mal eben das Licht (elektrisches wohlgemerkt) an und ausmachen konnte, waren vorbei. Nein – man sah nicht mal das Licht von Kerzen aus den finsteren Augen der Häuser dringen. Meist waren diese Augen, die unaufhörlich auf einen starrten und einen wie unsichtbare Gefahrenquellen verfolgten, nicht mal mehr mit Glas versehen. Manchmal waren noch alte behelfsmäßige Fensterläden aus Holz oder alten Plastikverschlägen auszumachen, aber Glasfenster sah man heutzutage nur noch äußerst selten.
Genauso wie andere „normale“ Dinge, an die Ash sich noch aus ihrer Kindheit erinnerte. Eine lange vergangene Kindheit.
Der Junge neben ihr sackte mitten im Lauf plötzlich zusammen. Ash gestattete sich nicht, innezuhalten oder zurückzusehen. Er war getroffen worden und damit verloren. Wer nicht aus eigener Kraft laufen konnte, gehörte zu den Schwachen, und die Schwachen hatten in dieser Welt nichts mehr verloren. Das hatte sie schon oft genug gesehen und sie war mittlerweile nicht mehr so dumm zu glauben, dass sie alleine jemandem helfen konnte. Vor allem aber würde ihr auch niemand helfen in dieser Welt.
Entweder man schloss sich einer der Gangs an, die plündernd her-umzogen oder man gehörte der Armee an. Dazwischen war man niemand. Wie ein Geist – keiner half einem und man half selbst auch niemandem. Man war völlig auf sich alleine gestellt.
Dass Ash auf diese Gruppe von Halbwüchsigen getroffen war, war ein Zufall gewesen. Sie war eigentlich schon dabei gewesen, sich einen sicheren Unterschlupf für den Tag zu suchen, als auf einmal diese sechs Jugendlichen – vielleicht auch schon junge Erwachsene, aber diese Grenzen gab es eigentlich nicht mehr – sie aufscheuchten.
Irgendwie ironisch, denn wenn die sechs sie nicht aufgescheucht hätten, hätte sie die vielleicht viel größere Gefahr nicht wahrgenommen: die Armee durchforstete wieder mal ein Viertel auf der Suche nach „Arbeitskräften“, wie es die Regierung nannte. In Wahrheit waren diese „Arbeitskräfte“ Sklaven, aber das trauten sich nur die Gangs so zu nennen. Und das auch nur, weil sie aufgrund ihrer Bewaffnung die einzigen auf der Erde waren, die noch gegen die Armee aufmucken konnten.
In der Hoffnung irgendwo unbemerkt verschwinden zu können hat sie sich der Gruppe einfach angeschlossen und ist mit ihnen gerannt. Bemerkt hatte die Armee sie sowieso schon. Das war schon egal.
Jetzt ging es darum, sich irgendwie von der Gruppe abzusondern und wieder zu verstecken.
Langsam, aber sicher bekam Ash Seitenstechen. Sie war es gewohnt lange in einem gleichmäßigen Tempo zu laufen, aber diese Sprints, in denen einem das Adrenalin durch den Körper gepumpt wurde, waren die Hölle. Lange würde sie das nicht mehr durchhalten.
Die Soldaten waren zwar schwer bepackt – schon alleine durch ihre Bewaffnung – aber langsam waren sie deshalb trotzdem nicht gerade.
Es gingen Gerüchte um, dass die Wissenschaftler der Regierung es geschafft hatten, Genmanipulationen an Soldaten vorzunehmen und sie damit schneller und stärker zu machen.
So einen Vorteil hatte Ash nicht.
Sie war nur eine junge, sehnige Frau von gerade mal 21 Jahren, die man durchaus auch als mager bezeichnen konnte. Aber nach Jahren auf der Straße war das noch eines der kleineren Probleme, das man haben konnte. Ash war gesund – und das war es auch, warum sie für die Regierung wertvoll war.
Eine gesunde, junge Frau, die viele gesunde Kinder gebären könnte. Das zumindest hatte man ihr gesagt, als man sie damals in eines der Lager gebracht hatte. Dass sie in der Lage sei, Kinder zu bekommen und es somit ihre Pflicht wäre, sich im Dienste der verbliebenen Menschheit als „Gebärmaschine“ zur Verfügung zu stellen hatte. Damals war sie 15 Jahre alt gewesen.
Heute, sechs Jahre später, war Ash noch immer gesund. Und vermutlich auch fruchtbar – sofern die von der Menschheit zerstörte Umwelt nicht auch schon an ihr ihren Tribut eingefordert hatte. Denn das war eine der größten Auswirkungen der Chemiewaffeneinsätze des 3. Weltkrieges: Unfruchtbarkeit.
Ash war in einer normalen Familie mit 2 älteren Brüdern in einem Vorort von Vancouver aufgewachsen. Ihre Eltern waren Ärzte gewesen und immer wieder auf humanitären Einsätzen in Afrika unterwegs. Ash, die eigentlich Ashley hieß, und ihre Brüder waren oft auf diesen Einsätzen dabei gewesen, da ihre Eltern die Kinder nie zu lange alleine lassen wollten. Ihr um 10 Jahre älteren Zwillingsbrüder Brad und Ted wollten auch Medizin studieren. Sie halfen tatkräftig den Eltern bei ihren Einsätzen, während Ash meist noch zu klein dafür war und mit ihrem Kindermädchen oder kleineren Kindern in den abgelegenen Dörfern in Äthiopien spielte. Sie hatte diese Zeit vollkommen positiv in Erinnerung. Auch wenn Ash schon damals lernte, dass es nicht selbstverständlich war, jeden Tag drei Mahlzeiten zu bekommen, Spielsachen zu haben oder lesen und schreiben zu lernen, waren die Menschen in Äthiopien doch immer freundlichen und lebensfroh gewesen.
Für das Nesthäkchen waren Brad und Ted ihre großen Helden und Vorbilder gewesen. Auf ihrer letzten Reise nach Afrika – Brad und Teds letzter Sommer vor dem geplanten Medizinstudium – durfte Ash sogar schon bei manchen Dingen helfen. Mum und Dad hatten Brad und Ted bereits sehr gewissenhaft das Versorgen und sogar Nähen kleinerer Wunden beigebracht, wobei Ash – damals gerade 8 Jahre alt – bereits assistieren durfte. Ash wusste noch ganz genau, wie stolz sie damals war. Ted hatte nach kurzer effektvoller Nachdenkpause kundgetan „Ash, wir waren auch in deinem Alter, als Mum und Dad meinten, dass es Zeit wäre, dass wir ihnen zur Hand gehen können.“ Ash konnte sich noch an das aufregende Kribbeln in ihrem Bauch erinnern, als sie sich das erste Mal die Hände desinfizierte und dann in die für sie viel zu großen Einweghandschuhe Größe S steckte. Gleich würde sie ihren großen Brüdern das erste Mal helfen dürfen! Sie, das kleine Mäuschen, wie ihre beiden Brüder sie liebevoll nannten.
Plötzlich spürte Ash einen scharfen Schmerz in ihrer linken Seite zusammen mit einem ohrenbetäubenden Knall. Sie strauchelte.
Sich die linke Seite haltend dachte sie nur noch „Scheiße, scheiße, scheiße…“
Wie ferngesteuert folgte sie dem Jungen rechts von sich in einen Seiteneingang des riesigen Wohnkomplexes, an dem sie gerade vorbeiliefen. Plötzlich waren sie nur noch zu zweit. Hinter sich konnte sie Schreie und Maschinenpistolensalven hören. Die anderen fünf wurden offenbar gerade gerichtet. Die Soldaten machten sich nicht mal mehr die Mühe zu überprüfen, ob sie gesund waren und somit potenziell für die Fortpflanzung geeignet.
Ash und der andere Junge liefen durch zahllose Gänge und verschwanden schließlich in einem Hinterausgang wieder in der Dunkelheit.
Ash hielt sich die linke Seite auf Höhe ihrer Hüfte – sie konnte bereits warmes Nass an ihren Kleidern spüren. Offenbar hatte sie ein Granatensplitter getroffen. Nicht gut. Gar nicht gut. Außerdem hatte sie ein schrilles Klingeln in ihrem linken Ohr, das nicht aufhören wollte und ihr vorgaukelte, dass ein Höllenlärm um sie herum sei.
Eine Straße weiter waren sie und der Junge in einer ehemaligen Reihenhausanlage angekommen. Die Häuser sahen verlassen aus – bei den meisten standen die Eingangstüren offen und die meisten Fenster waren kaputt. Der Junge, den sie eigentlich nicht mal kannte, steuerte eines der Häuser an und verschwand darin.
Ash fiel im Moment nichts Besseres ein, als ihm zu folgen. Er war offenbar genauso wenig bewaffnet wie sie. Hilfe konnte sie zwar nicht von ihm erwarten, aber irgendwie hoffte sie dennoch, dass er ihre Anwesenheit akzeptieren würde – wenn auch nur für diesen einen Tag. Ash musste sich ausruhen und versuchen, ihre Wunde bestmöglich zu versorgen.
Verletzt oder krank zu sein war in dieser Welt einem Todesurteil gleich zu setzen.
Ash betrat unsicher das fremde Haus, in dem vor ca. 7 Jahren noch eine durchschnittliche Familie gelebt haben musste. Es war stockdunkel. Ash bewegte sich einige Schritte weiter in das Haus, damit man sie von draußen sicher nicht mehr sehen würde. Ihre schwarze Kleidung und die schwarze Mütze würden ihr da behilflich sein. Rechts von ihr führte eine Treppe in den ersten Stock, aus dem sie jemanden leise fluchen hörte. Offenbar der Junge.
Ash entschied sich im unteren Stockwerk zu bleiben und zu versuchen einen Vorratsraum oder ein Badezimmer ausfindig zu machen. Die Chancen etwas Verwertbares zu finden waren zwar nach all den Jahren ziemlich klein, aber mal nachzusehen konnte nicht schaden. Außerdem merkte sie, dass ihr der Schmerz in der linken Seite immer mehr die Kräfte raubte und sie wollte jetzt keine noch so geringen Kraftaufwendungen mit Treppensteigen verschwenden.
Ash fand die Küche, aber im Stockdunkel war es unmöglich die Küchenschränke zu durchforsten. Auch der angrenzende Vorratsraum war finster und hier würde sie sich jetzt nur noch zusätzlich verletzen, in dem sie in etwas Spitzes griff. Also setzte sie ihren Weg fort. Sie fand unter der Treppe eine weitere Tür, die offenbar in den Keller des Gebäudes führte. Ash beschloss, dass es wohl das Beste sein würde, sich dort unten zu verschanzen, bis es hell werden würde. Bis dahin würde sie im Erdgeschoss des Hauses genauso wenig erkennen können wie unten im Keller.
Ash tastete sich langsam die Stufen hinunter, nachdem sie hinter sich leise die Tür geschlossen hatte. Als sie sich sicher war unten angekommen zu sein, kramte sie in ihrem kleinen schwarzen Rucksack nach einem ihrer Kerzenstümpfe und einem Feuerzeug und zündete die Kerze an. Sie versuchte sich so rasch wie möglich einen Überblick über den Kellerraum zu machen und sich ein kleines Plätzchen hinter einigen lose gestapelten Kisten auszumachen, in das sie sich kauern konnte. Dann blies sie die kleine Flamme gleich wieder aus, um die Kerze zu sparen. Kerzen und Feuerzeuge waren rar in diesen Zeiten.
Ash schälte sich vorsichtig aus Ihren beiden Jacken und fuhr sich langsam mit der Hand unter ihr Shirt und Unterhemd. Alles fühlte sich nass an. Als sie etwas Scharfes berührte, zuckte sie zusammen. „Na toll, der Granatensplitter steckte noch drin… hoffentlich ist er nicht zu tief drin,“ dachte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie kramte in ihrem Rucksack nach dem kleinen Erste-Hilfe-Täschchen, das sie bei sich hatte und holte ein steriles Pflaster und die gebrauchte Mullbinde heraus. Außerdem die bereits abgelaufene antiseptische Salbe. Von ihren Eltern und Brüdern wusste sie, dass Medikamente meist lange über das angegebene Haltbarkeitsdatum brauchbar waren.
Ash richtete sich alles griffbereit her und ertastete dann wieder vorsichtig den Splitter in der Seite oberhalb ihrer linken Hüfte. Hoffentlich war er nicht zu tief eingedrungen und hatte ein Organ oder ein Blutgefäß erwischt. Dann wäre sie verloren. Andernfalls bestand aber noch immer die Möglichkeit, eine Infektion zu bekommen – und schlussendlich trotzdem drauf zu gehen. Aber daran wollte sie jetzt mal nicht denken.
Sie umfasste den Splitter mit Zeigefinger und Daumen der rechten Hand und biss dann fest die Zähne aufeinander, um den Splitter dann mit einem Ruck raus zu ziehen. Ash keuchte leise auf und tastete dann gleich nach der Salbe und dem Pflaster und der Mullbinde. Nachdem sie sich einen einigermaßen zufriedenstellenden engen Verband um den Körper gewickelt hatte, nahm sie sich noch eine ihrer Jacken und presste diese noch zusätzlich zur Blutungsstillung auf die Wunde.
Erst jetzt erlaubte sie sich sich an der Wand zurück zu lehnen und tief durchzuatmen. Momentan war der Schmerz ein wenig besser, aber sie wusste, dass sie die Sache noch nicht überstanden hatte. Im Tageslicht musste sie sich die Sache genau ansehen und dann abwägen, wie sie weiter vorgehen sollte. Hoffentlich holte sie sich keine Infektion.
Mit Schweißperlen auf der Stirn versuchte sie sich zu einem ruhigen und regelmäßigen Atem zu zwingen, der sie hoffentlich bald in einen traumlosen Schlaf befördern würde.
Ben musste achtgeben, dass Lizzy nicht von seinem Rücken runter rutschte. Die Kleine war bereits vor drei Häuserblocks eingeschlafen, und wenn er nicht das Tragetuch um seine Tochter und seinen eigenen Oberkörper geschlungen hätte, wäre sie einfach runtergeplumpst. Lizzy war erst vier und die nächtlichen Streifzüge waren jedes Mal eine Herausforderung für die beiden – und auch für den Rest der Gang. Aber in einem Versteck zurück lassen konnte er seine Kleine nicht, das kam nicht in Frage. Niemand aus der Gang blieb alleine irgendwo zurück, egal ob erwachsen oder nicht. Schon gar nicht Lizzy, auch wenn sie ihn mit ihrem zusätzlichen Gewicht langsam und behäbig machte.
Aber nachdem er den meisten Mitgliedern seiner Gang als Anführer bereits mehrmals das Leben gerettet hatte, erwartete er auch einen gewissen Schutz für Lizzy von ihnen. Nicht für sich selbst, sondern für Lizzy. Obgleich er genau wusste, dass wenn er sterben würde, Lizzy trotz der Gang nicht lange überleben würde – früher oder später würden sie sie fallen lassen. Das war auch der Grund, warum er ein unerbittlich gnadenloser Anführer war – auch wenn er sich selbst in Grund und Boden schämte, was für ein Vorbild er Lizzy damit war. Aber die Zeiten des Heile-Familie-Spielens waren vorbei und solche Zeiten hatte Lizzy so nie erlebt.
Lizzy’s Mutter war nach ihrer Geburt gestorben – Ben konnte ihr damals nicht helfen. Laura hatte nach der Geburt offenbar eine Infektion bekommen und war irgendwann aus einem Fieberschlaf nicht mehr erwacht. Und Ben? Er war auf einmal mit einem zwei Wochen alten Säugling in der Gang als Anführer alleine dagestanden. Verwundbar. Wenn Ben nicht gleich den Widerstand gegen sich und sein Kind brutal niedergeschlagen hätte, hätten sie seine Dominanz nicht mehr akzeptiert. Er hatte damals schlussendlich Cooper erschossen, als er ihn in Frage gestellt hatte. Danach wollte keiner mehr ihm seinen Platz strittig machen.
Es ging zu wie unter Wölfen… der Dominante musste seinen Platz immer wieder behaupten.
Sie schafften es, aus einem der Lager, in der die Regierung Frauen wie Gebärmaschinen hielten, Instantnahrung für Lizzy zu besorgen und zumindest die notwendigsten Utensilien, die ein Neugeborenes so brauchte. Ben hatte zwar keine Ahnung – wie niemand aus seiner 23-köpfigen Gang – wie man ein Baby großzog und die Umstände waren mehr als widrig gewesen, aber irgendwie hatte er trotzdem das Gefühl irgendetwas richtig zu machen, wenn seine mittlerweile 4-jährige Lizzy ihn mit strahlendem Lächeln nach dem Aufwachen jeden Morgen angrinste. Lizzy hatte es geschafft, die ganze Gang irgendwie um die Finger zu wickeln. Sie hatte die Menschlichkeit in seiner Truppe bewahrt. Wer weiß, was für Menschen sie mittlerweile wären, wenn sie nicht wäre. Einzig ihre haselnussbraunen Augen ließen ihn manchmal traurig werden. Aber nur kurz. Sie erinnerten ihn an die Frau, die er geliebt hatte – Laura. Aber dann erinnerte er sich sofort wieder daran, dass ihm diese Frau das größte Geschenk überhaupt gemacht hatte in dieser lebensfeindlichen Welt – ein gesundes Kind, das er abgöttisch liebte und für das er ohne auch nur eine Sekunde zu zögern sein Leben geben würde.
Sie waren nur noch eine Querstraße von ihrem derzeitigen Unterschlupf entfernt, als Ben spürte, dass Lizzy sich regte. Er musste schmunzeln. So als würde sie es instinktiv spüren, wurde Lizzy immer wach, kurz bevor sie ihren Unterschlupf erreichten. So musste Ben sie nicht erst aufwecken, um sie aus dem Tragetuch zu befreien. Es war immer nur ein kurzes Erwachen, denn sie schlüpfte immer nur schnell von seinem Rücken unter die Bettdecke in ihrem Nest und schlief schnell weiter mit ihrer Molly, ihrer kleinen Kuschelkatze.
Heute sollte es nicht anders sein. Sie betraten das Reihenhaus in der Siedlung, die sie vor einigen Tagen ausfindig gemacht hatten. Die Häuser hier sahen alle gleich aus. Sie hatten sich eines herausgepickt und belagerten es somit tagsüber und in den frühen Morgenstunden. Nachts waren sie meist auf Nahrungssuche. Tagsüber war es nicht mehr möglich länger als 1 Stunde ohne adäquaten Sonnenschutz draußen zu sein.
Als sich die großen Atommächte der Welt darauf geeinigt hatten, die Atomwaffen nicht zu verwenden, begannen alle im Geheimen, Chemiewaffen herzustellen. Mit mehr oder weniger Erfolg. Die Konsequenzen für die Erde und deren Bewohner waren jedoch nicht minder katastrophal.
Ganze Landstriche waren ausgelöscht worden – vermutlich gab es dort nicht mal mehr Bakterien, die überlebt hatten. In anderen Gegenden wurden die Menschen und Tiere plötzlich von Seuchen heimgesucht, was soweit ging, dass mittlerweile nur noch ca. ein Zehntel der Bevölkerung von vor 20 Jahren übrig war – und mehr als die Hälfte davon war unfruchtbar. Der Diktator der Erde – Diktator Smith – und seine Armee hielten seitdem fruchtbare Frauen und Männer in Lagern um den Fortbestand der Erde zu garantieren. Es wurden riesige Kuppeln gebaut, um dort Siedlungen der letzten Menschen zu gründen. Denn noch etwas hat die Menschheit zerstört. Die die Erde vor der kosmischen und solaren Strahlung schützende Ozonschicht war quasi nicht mehr vorhanden. Wer für die schlussendlichen chemischen Anschläge verantwortlich war, war heute nicht mehr auszumachen und interessiert auch niemand mehr. Tatsache war, dass durch den Einsatz der verschiedenen Chemikalien die Umwelt nachhaltig zerstört worden war und mit ihr auch große Teile der Ozonschicht. Das bedeutet für die Menschen, die nicht unter den Kuppeln leben ein Leben in Dunkelheit. Denn die Haut der Menschen tolerierte maximal eine Stunde der ungefilterten Sonneneinstrahlung am Stück. Das Leben spielte sich also ab da nachts ab.
Ben ging im oberen Stockwerk in das Zimmer, das er für sich und Lizzy auserkoren hatte. Als Anführer nahm er sich den Luxus heraus, mit Lizzy ein ganzes Zimmer zu besetzen. Die Fensterläden waren zu, um vor der nahenden Sonneneinstrahlung zu schützen und er entfachte mit dem Feuerzeug die Öllampe auf der Kommode des kleinen Zimmers. Dann vergewisserte er sich, ob Lizzy munter war: „Bist du wach, Mäuschen?“ flüsterte er. Lizzy brummte ein unverständliches „hmmm“ vor sich hin und er begann grinsend das Tragetuch zu lockern. Langsam ließ er Lizzy zu Boden rutschen, drehte sich um und hob sie hoch. Sie war leicht wie eine Feder. Sie kuschelte sich in seine Kuhle unter dem Kinn und er trug sie zu dem provisorischen Lager, das er auf der anderen Seite des kleinen Zimmers aufgeschlagen hatte. Vorsichtig legte er sie auf den Boden an der Wand und hüllte sie ordentlich in ihre Decke ein. Dann gab er Lizzy noch einen Kuss auf die Stirn und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. „Daddy, wo ist Molly?“ hörte er sein kleines Mäuschen noch nuscheln. Er musste lächeln, als er sich umdrehte und Lizzy ihr Stofftier in die Hand drückte, das eigentlich direkt neben ihrer Hand lag, Lizzy aber nicht sah, da sie die Augen schon wieder zu hatte. „Träum was Schönes, Mäuschen!“ flüsterte Ben leise, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Als Ben auf dem Weg nach unten war, fielen ihm erst die lauten Stimmen auf, die von unten raufkamen. Nicht schon wieder Streit. Er war müde und wollte eigentlich nur noch nach dem Rechten sehen, bevor er zu Lizzy raufgehen wollte, um auch ein wenig zu schlafen.
Wenn man in einer so kleinen Gruppe lebte und ständig den Gefahren dieser Welt ausgesetzt war (Gangs wurden von der Armee gnadenlos gejagt und niedergemetzelt), waren persönliche Reibereien in Gruppen nicht gerade der Gemeinschaft förderlich. Er als Anführer musste da immer einschreiten und schlichten. Er war Richter und Henker zugleich. Und das war weiß Gott kein leichter Job. Schon gar nicht einer, den er sich selbst ausgesucht hatte.
Ben stieg die letzten Stufen hinunter als er eine fremde männliche Stimme hörte. Mit einem Mal waren alle seine Sinne geschärft – diese Stimme gehörte zu keinem seiner Männer.
Er betrat das ehemalige Wohnzimmer des Hauses und fand sich zwischen seinen Männern und den wenigen Frauen seiner Gang wieder. Sie hatten einen völlig verängstigten Jungen von vielleicht 18 Jahren buchstäblich an die Wand genagelt.
„Was wird das hier?“ erkundigte sich Ben mit bedrohlich ruhiger Stimme. „Den haben wir oben in einem der Schlafzimmer gefunden. Kate wollte sich gerade schlafen legen, als er sich auf sie stürzte,“ antwortete Jake. „Sie hat ihn übers Knie gelegt und dafür gesorgt, dass er nicht zu laut ist, damit Lizzy nicht aufwacht,“ führte er weiter aus.
Ben baute sich vor dem Jungen auf: „Wer bist du und was willst du? Vor allem aber, bist du alleine? Und zu wem gehörst du? Zur Armee ja offenbar nicht.“
Der Junge schüttelte schüchtern den Kopf. Ben war ungeduldig und müde – keine gute Kombination. „Was soll das Kopfschütteln heißen? Hast du keine Stimme, oder was?“ blaffte er ihn an.
„Ich bin Collin und ich habe meine Freunde verloren. Nein, ich gehöre nicht zur Armee. Wir sind vor denen geflüchtet und ich hab sie verloren. Ich glaub, sie sind alle tot.“ flüsterte der Junge mit gesenktem Kopf.
Ein Raunen ging durch die Menge gefolgt von aufgeregtem Gemurmel. „Ruhe,“ herrschte Ben die anderen an, „offenbar ist dir die Armee nicht gefolgt, wir haben auf dem Weg hierher keine Soldaten gesehen. Bist du alleine?“
„Da war noch ein Mädchen, das mir gefolgt ist. Sie war auf einmal da, als wir vor der Armee geflüchtet sind. Ich glaube, sie ist auch hier reingelaufen. Aber ich bin mir nicht sicher.“ der Junge schaute verlegen nach unten.
Ben versteifte sich. „Durchsucht das Haus und den Keller und Kate, sieh bitte nach Lizzy und bleib bei ihr,“ befahl er in barschem Ton.
Jeder wusste, was von ihm verlangt wurde und ging einem perfekt koordinierten Ablauf nach. Alle waren plötzlich bis auf die Zähne bewaffnet und teilten sich auf, um das Haus zu durchsuchen. Kate war sofort oben bei Lizzy und Ben hörte ein leises „Alles ok bei Lizzy“, das ihn ein wenig entspannen ließ. Kate würde Lizzy ab jetzt bis auf Widerruf nicht mehr aus den Augen lassen.
Zwei seiner Männer hielten den Jungen namens Collin fest, der Rest der Männer und Frauen durchsuchte das Haus.
„Ben!“ hörte er einige Minuten später Jake vom Keller. Er nahm sich eine Öllampe und machte sich auf den Weg hinunter. Unten standen Jake und Bill mit einer Öllampe hinter einem Haufen leerer Kisten und hatten die Maschinengewehre am Anschlag auf einen Punkt dahinter gerichtet. Aus Gewohnheit nahm Ben seine Baretta aus dem Holster und richtete sie auf den Punkt, den die beiden anvisierten.
Im Eck hinter den Kisten funkelten ihn grüne große und vor allem ängstliche Augen an. Dachte er zumindest, dass sie ängstlich wären. Die Frau musste Anfang 20 sein – höchstens. Sie hatte aschblondes, schulterlanges Haar, das ihr verschwitzt ins Gesicht hing. Ihr Blick aus diesen großen smaragdgrünen Augen war aggressiv und hasserfüllt – vor allem aber wirkte er gehetzt. Sie bewegte sich nicht – sie kauerte einfach hier im Eck und funkelte sie böse an, wie ein Raubtier, das in die Enge getrieben wurde und bereit war, jeden Moment los zu springen, auch wenn es das Letzte sein sollte, das sie tun würde. Ben’s Blick wanderte weiter nach unten um zu checken, ob sie bewaffnet war und blieb bei einem Verband etwas oberhalb ihrer Hüfte hängen. Ein dunkler Fleck breitete sich langsam auf ihrer linken Seite aus – sie war verwundet und hatte offenbar Fieber, daher das verschwitzte Haar.
So wie sie dasaß konnte er nicht abschätzen, ob sie bewaffnet war, also bedeutete er Jake, sie hoch zu ziehen, wohlwissend, dass ihr das ziemliche Schmerzen bereiten würde.
Kein Laut kam ihr über das schmerzverzerrte Gesicht, als Jake sie am Arm grob hochzog. „Nicht bewaffnet,“ stellte Jake fest, nachdem er sie nicht gerade sanft durchsucht hatte. Er ließ sie los und sie kippte an die Wand und ließ sich langsam wieder auf den Boden sinken.
„Erschieß mich doch endlich,“ kam es leise und gefährlich fest über ihre Lippen. Sie sah Ben fest in die Augen. Sie hatte offenbar gleich gemerkt, dass er der Anführer war.
Jake wandte sich bereits mit seiner Waffe gegen sie und entsicherte diese, als Ben einschritt: „Wir erschießen keine wehrlosen Frauen.“
Ein freudloses Lachen kam dem verletzten Mädchen über die Lippen: „Seit wann gibt es in den Gangs sowas wie Mitleid?“
„Zu wem gehörst du – zum Militär definitiv nicht, aber zu dem Jungen oben auch nicht. Welcher Gang gehörst du an?“ fragte Ben nun neugierig.
„Was interessiert es dich? Suchst du einen Grund, einer anderen Gang eins auszuwischen? Sorry, aber da muss ich dich enttäuschen.“ keifte sie.
Ben musste beinahe schmunzeln – sie war unbewaffnet und verwundet, aber sie war deswegen nicht eingeschüchtert. Der ängstliche Zug in ihren Augen war mittlerweile vollständig verschwunden – oder war er nie dagewesen und er hatte sich getäuscht? Sie hatte offenbar nichts zu verlieren – nichts außer ihrem Leben.
„Keine Ahnung, was du über die Gangs zu wissen meinst. Ist mir auch egal. Wir sind anders. Du bist verwundet. Wenn du lässt, würde ich mir die Wunde gern ansehen. Offenbar hat sie sich infiziert und blutet auch noch.“ meinte Ben gelassen. „Du kannst aber gerne auch hier weiter dahinsiechen, wenn du möchtest. Verzeih nur bitte, wenn wir dich hier einsperren. Ich steh nicht so drauf, während meines Schlafes niedergemetzelt zu werden. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob du das in dem Zustand überhaupt noch alleine die Stufen rauf kommen würdest.“ Aber unterschätzen würde Ben das Mädchen sicher nicht.
Die Gelassenheit und die Ruhe in Ben’s Stimme ließen sein Gegenüber in ihrer Haltung bröckeln. Langsam ließ sie ihren Widerstand sinken. Offenbar ging es ihr wirklich nicht gut, denn Ben ahnte, dass dies nicht zu ihren normalen Zügen gehörte. Normalerweise würde dieses Mädchen mit Händen und Zähnen kämpfen, wenn sie nichts anderes mehr hatte.
Ihr Nicken war kaum wahrnehmbar. Aber es genügte Ben. Er schickte Jake hinauf um Decken und Verbandszeug zu holen.
Ash hatte sich bisher in ihrem Leben selten so ausgeliefert gefühlt wie in dem Moment, als der Mann, der offenbar Ben hieß, sich vor ihr niederließ.
Er war älter als sie – er musste in etwa so alt sein, wie ihre Brüder es nun wären, wenn sie noch leben würden. Also ungefähr 10 Jahre älter. Er hatte einen Dreitagebart, der ihm einen verwegenen Ausdruck verlieh. Aber es machte das kantige Gesicht auch ein wenig weicher. Er hatte braune, weiche Augen, die ziemlich müde dreinschauten. Aber weder aggressiv noch sonderlich gefährlich. Auch wenn sie sich sicher nicht davon täuschen lassen würde, dass er ganz bestimmt die in dieser Welt notwendige Härte an den Tag legen würde können. Sein kurzes Haar war schwarz und von etlichen grauen Stellen durchzogen. Er hatte wohl schon einiges mitgemacht. Er war um einiges größer als sie und auch wesentlich besser genährt. Sein Körper schien durchtrainiert und athletisch zu sein. Fast so wie die Körper der Soldaten.
Ash konnte nicht mehr. Ihr war kalt und heiß zugleich. Offenbar hatte sich die Wunde bereits infiziert. Und sie blutete wieder. Sie würde nichts ausrichten können mit solch einer Wunde. Sie war doch tiefer als angenommen – oder sie hatte noch mehr Splitter in der Wunde stecken.
Der andere Typ namens Jake kam mit einem Rucksack wieder die Treppe runter und gab sie diesem Ben. Ben schickte ihn und den anderen hoch um Wasser für sie zu holen. Na toll, sie wollten Ash aufpäppeln, bevor sie sie umbrachten.
Wobei irgendwie erschien ihr diese Gang anders als die, die sie aus der Ferne bisher beobachtet hatte. Die waren normalerweise gnadenlos brutal, weshalb Ash immer einen weiten Bogen um Gangs machte und sich nie einer angeschlossen hatte. Sie hatte ihr Schicksal lieber selbst in der Hand.
Ben setzte sich an Ash’s linke Seite und wollte gerade ihr Shirt hoch-schieben, als Ash seine Hand mit festem Griff aufhielt. Die Situation war ihr sehr suspekt. Sehr sogar.
„Du musst mich schon ranlassen, sonst kann ich dich nicht versorgen.“ meinte er ruhig.
„Woher weiß ich, dass du mich nicht umbringst?“ raunte sie leise und müde. So unendlich müde.
„Weißt du nicht. Aber versuch‘s mal von der Seite zu sehen: welchen Benefit hätte ich, dich umzubringen?“ gab Ben zu bedenken.
„Ich verschwende euer Verbandszeug. Das ist schwer zu besorgen in diesen Zeiten.“ antwortete Ash mittlerweile mit geschlossenen Augen.
Ben streifte langsam ihre Hand ab und schob ihr Shirt hoch. Er wartete kurz, aber diesmal ließ sie es geschehen.
„Wir wissen, wo wir welches herbekommen. Mach dir darüber mal keinen Kopf. Wie bist du eigentlich zu der Verletzung gekommen? Das steckt nicht mal ein gesunder, starker Mann so einfach weg, und…“ Ben stockte, als die grünen Augen ihn wieder aufmerksam musterten.
„was und – und ich bin doch nur eine schwache Frau?“ lachte sie leise. „Granatsplitter – liegt irgendwo da drüben. Die Armee hat mich überrascht. Passiert mir normal nicht.“
Ash schloss wieder die Augen. Ben schmunzelte – taff das Mädchen.
Ben machte sich daran den Verband aufzuschneiden. Der fehlende Druck auf der Wunde ließ Ash scharf nach Luft schnappen.
„Sorry. Hast du was worauf du beißen kannst? Ich muss das sterile Pflaster lösen, um mir die Wunde genauer ansehen zu können.“ der Ton in Ben’s Stimme war schon fast besorgt.
Ash schüttelte den Kopf und spannte den Kiefer an. Ben wertete dies als Zeichen, weiter zu machen. So vorsichtig wie möglich löste er das Pflaster, das sich mit Blut vollgesogen hatte. Diesmal war es Ben, der nach Luft schnappte. Die Wunde war schwarz vom Schmutz des Granatsplitters und es quoll langsam aber stetig Blut hervor. Aber nicht soviel, als dass ein Blutgefäß verletzt wäre. Hoffentlich war es nicht so tief, dass ein Organ verletzt worden war.
In dem Moment kamen die beiden anderen Männer wieder in den Keller und Ash blickte auf. Diesmal war sie sich sicher, dass in Ben’s Blick so etwas wie Besorgnis stand.
Einer der Männer reichte ihr eine Flasche mit Wasser, die sie dankbar annahm. Sie nahm einige Schlucke und lehnte sich wieder zurück. Ben begann unterdessen mit der Reinigung der Wunde, was Ash ihre volle-Beherrschung abverlangte. Aber sie erkannte, dass er sich mit der Versorgung von Wunden auskannte.
„Wie heißt du eigentlich?“ wollte Ben unvermittelt wissen. Vermutlich versuchte er sie abzulenken.
Ash war der Meinung, dass es fair war, ihm ihren Namen zu verraten. „Ash. Woher kennst du dich so gut mit Wunden aus?“
„Ich habe eine kleine Tochter, Lizzy. Sie hat immer wieder mal ein Wehwehchen.“ scherzte Ben.
Ash sah ihm plötzlich aufmerksam bei der Arbeit zu. „Du hast eine Tochter? Man trifft nur noch selten auf freie Leute mit Kind und Frau.“
„Nicht Kind und Frau. Nur Kind. Lizzy’s Mutter ist kurz nach der Geburt gestorben. Jetzt gibt es nur noch Lizzy und mich.“ antwortete er leise.
„Das tut mir leid. Mit deiner Frau meine ich.“ Ash kam sich blöd vor. „Wie alt ist Lizzy?“
„Es braucht dir nicht Leid zu tun. Lizzy ist vier.“ Ben grinste über beide Ohren.
Da war wohl jemand sehr stolz auf seine Tochter, bemerkte Ash und musste auch grinsen.
„Das wir jetzt wieder weh tun. Du hast zwar nichts mehr in der Wunde, aber ich würde sie gerne doch mit zumindest zwei Stichen nähen. Dann heilt sie schneller.“ Ben war wieder hoch konzentriert.
Ash nickte und schloss wieder die Augen, bevor sie sich anspannte. Ben versuchte so schnell wie möglich zu arbeiten. Er bemerkte Ash’s abgehackten Atem, aber es kam ihr kein einziger Laut über die Lippen. Er kannte genug Männer – auch aus seiner Gang – die beim Nähen einer Wunde ohne Betäubung lauthals schrien. Ash aber saß nur steif da und vereinzelt rannen ihr Schweißperlen über die Stirn. Er bewunderte die junge Frau. Als er fertig war desinfizierte er die Wunde nochmals und verband sie steril. Das sollte soweit passen.
„Fertig.“ Ben begutachtete zufrieden sein Werk.
Ash entspannte sich wieder – morgen würde sie ziemlich verspannt sein, falls es noch ein Morgen gab. Sie hatte sich sosehr auf ihren Atem konzentriert, dass sie nicht mal mitbekommen hatte, dass Ben die Wunde bereits wieder verbunden hatte. Es hatte auch aufgehört zu bluten.
„Danke – ähm, das war sehr nett von dir.“ was anderes fiel Ash im Moment nicht ein.
„Gern geschehen. Jake hat dir ein paar Decken mitgebracht. Es ist hier unten trocken und du bist von uns ungestört. Ich glaube, du solltest jetzt versuchen etwas zu schlafen. Ich werde nach oben gehen zu Lizzy und mich auch ein wenig schlafen legen – sofern sie mich jetzt noch lässt.“ lächelte Ben müde. „Wenn du was brauchst, sag den anderen Bescheid. Sie wissen, wo ich bin und du stehst sozusagen unter meinem Schutz.“
Ben wollte sich bereits die Stiegen rauf begeben, als er Ash von hinten hörte: „Warum tust du das? Ich bin eine völlig Fremde für dich?“
Ben drehte sich nicht um: „Keine Ahnung. Vielleicht um mir etwas Menschlichkeit zu bewahren für mein kleines Mäuschen.“ meinte nach kurzem Zögern. Dann ging er hinauf und schloss leise die Tür hinter sich.
Mäuschen – so hatten ihre Brüder sie auch immer genannt. Irgendwie rief das Wort einen wohligen Schauer in ihrem Bauch hervor.
Ash lehnte noch immer an der Wand. Der Keller war in den sanften Schein der Öllampe gehüllt, die man ihr stehen gelassen hatte. Sie breitete die Decken aus und nahm sich ihren Rucksack als Polster. Ein so bequemes Lager hatte sie schon einige Zeit nicht mehr gehabt. Aber sie wollte nicht naiv sein. Nur weil diese ihr unbekannte Gang jetzt nett zu ihr war hieß das noch lange nicht, dass sie ihr nicht gefährlich werden würden und sie einfach wieder gehen lassen würden. Außerdem würden sie bestimmt eine Gegenleistung wollen für ihre Verpflegung. Und sie hatte nichts anzubieten. Nur sich selbst. Und das würde sie niemandem geben. Niemandem. Auch keinem Mann, der behauptete eine 4-jährige Tochter zu haben.
Ben löste Kate als Wache vor Lizzy’s Zimmer ab. Leise betrat er das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Durch die morschen Holzbalken vor den Fenstern waren die ersten Sonnenstrahlen zu erkennen. Er fühlte sich hundemüde.
Lizzy lag noch genauso da, wie er sie verlassen hatte. Er streifte sich seine Jeans von den Beinen und legte sich neben Lizzy auf das provisorische Lager. So müde er auch war und ihm die Augen brannten, so wenig konnte er jetzt plötzlich schlafen. Er war viel zu aufgewühlt. Dieses Mädchen faszinierte ihn irgendwie. Sie war stolz. Das sah man in ihren grün funkelnden Augen. Aber irgendwie auch dumm – sie gehörte offenbar nirgends dazu und war noch dazu unbewaffnet. In dieser Welt auf sich alleine gestellt und noch dazu unbewaffnet durch die Gegend zu ziehen war entweder extrem dumm oder sie war extrem mutig. Nie jemanden zu haben, der einem den Rücken frei hielt. Immer auf Anspannung zu leben. Das konnte man doch nicht ewig so aushalten. Oder doch?
Irgendwann übermannte Ben doch noch die Müdigkeit. Er sank in einen tiefen und traumlosen Schlaf, sodass er nicht mal merkte, dass Lizzy neben ihm bereits am Wachwerden war.
Ash’s Kehle fühlte sich an wie die Wüste selbst. Nicht gerade besser wurde dieses Gefühl durch den Traum, den sie offensichtlich gerade durchlebte. Sie hörte deutlich, wie sie in etwas Trockenes hineinbiss und sich das trockene Etwas in ihrem Mund geräuschvoll zwischen ihren Zähnen zerrieb. Oder war sie das gar nicht selbst?
Ash versuchte sich zu konzentrieren und herauszufinden, ob sie tatsächlich noch träumte oder eigentlich schon wach war. Nach einigen Schluckversuchen wurde ihr klar, dass nicht sie diejenige war, die kaute. Das trockene Gefühl in ihrem Hals verbesserte dieses Bewusstsein jedoch nicht wirklich. Ash beschloss der Sache auf den Grund zu gehen und setzte an, sich umzudrehen. Diesen Versuch quittierte ihr Körper allerdings mit einem heftigen Schmerz, der ihr sofort durch die linke Seite fuhr. Ash keuchte laut auf.
„Tut dir was weh?“ hörte Ash eine helle und offensichtlich sehr junge Stimme fragen. Das weckte endgültig ihre Neugierde und mit zusammengebissenen Zähnen schaffte sie es, sich langsam umzudrehen und aufzusetzen. Sich an der Wand abstützend wartete sie, bis die schwarzen Punkte vor ihren Augen aufhörten herum zu tanzen. Ash war verdutzt. Etwa einen Meter entfernt saß ein kleines Mädchen mit braunen hüftlangen Haaren und denselben warmen braunen Augen, die sie zuvor in Ben’s Gesicht gesehen hatte, und kaute gedankenverloren auf Crackern herum. Daher das Geräusch.
„Warum guckst du denn so?“ fragte das kleine Mädchen. „Außerdem ist es unhöflich Fragen nicht zu beantworten sagt Daddy immer,“ setzte sie selbstsicher hinzu.
Jetzt war Ash wirklich perplex. Sie räusperte sich, um eine feste Stimme zu bekommen und antwortete: „Da hast du schon recht. Ich war nur eben überrascht, ein kleines Mädchen wie dich hier bei mir zu sehen. Um deine Frage zu beantworten – ja, mir tut die linke Seite weh. Wie heißt du denn?“
„Das darf ich niemand Fremden sagen. Und du bist fremd.“ kam es trotzig zurück.
Tja, das konnte Ash jetzt wohl kaum leugnen.
„Weißt du was, ich verrate dir mal wie ich heiße und dann kannst du mir ja ein paar Fragen stellen. Dann bin ich vielleicht nicht mehr ganz so fremd und du könntest dir überlegen, ob du mir auch deinen Namen sagen willst.“ meinte sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
Die Kleine überlegte angestrengt, während sie auf einem Cracker herumkaute. Nach ungefähr einer Minute meinte sie schließlich doch neugierig: „Na gut, aber du fangst an. Wie heißt du denn?“
„Ich bin Ash. Eigentlich heiße ich Ashley, aber ich mag es lieber, wenn die Leute Ash zu mir sagen.“ antwortete Ash wahrheitsgetreu.
„Aha. Und warum hast du ein Wehweh?“ fragte die Kleine weiter.
„Mich hat in der Nacht ein Granatensplitter erwischt. Ein Mann namens Ben war so nett und hat sich um meine Wunde gekümmert und sie genäht. Ich hoffe, dass es bald nicht mehr wehtun wird.“ Ash war der Meinung, dass es besser war die Wahrheit zu sagen. Die Kleine wirkte durchaus so, dass sie mit so einer Aussage etwas anfangen konnte.
„Daddy hat mich auch schon mal genäht. Das ist dann gleich viel besser geworden. Er kann sowas gut. Das macht immer er, wenn sich einer wehtut.“ erzählte die Kleine munter.
„Ben ist dein Daddy? Dann musst du Lizzy sein, stimmt’s?“ fragte Ash sanft.
Kauend nickte die Kleine.
In dem Moment hörte Ash, wie die Kellertür oben geöffnet wurde. Lizzy und sie blickten beide nach oben. Ben kam mit einem anderen Mann und einer Frau herunter.
„Lizzy, wir suchen dich schon überall. Du sollst doch immer sagen, wenn du deine Erkundungsgänge machst! Das habe ich dir schon hundert Mal gesagt.“ Ben wollte tadelnd klingen, aber nachdem sich die Kleine sofort an seine Brust schmiegte, war jede angedachte Schärfe aus seinem Ton verschwunden.
„Ich wollte ja nur schauen, wie die Frau ausschaut, der du geholfen hast. Kate hat es mir erzählt.“ säuselte die Kleine. Es war ganz offensichtlich, dass sie ihren Vater sehr leicht um den Finger wickeln konnte.
„Du und deine Neugierde, mein Mäuschen,“ lachte Ben leise und drückte Lizzy einen Kuss auf die Stirn.
Ash hörte ein leises Räuspern hinter der friedlichen und intimen Kulisse, die Ben und Lizzy abgaben. Die Frau namens Kate machte einen Schritt auf Ben zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ash versuchte gar nicht erst etwas zu verstehen. Stattdessen blieb sie am harten Blick von Jake hängen. Sie hielt dem Blick stand und starrte genauso hart zurück. Ben hatte den Blickwechsel offenbar mitbekommen und drehte sich zu Jake um: „Jake, bring Lizzy nach oben und gib ihr Frühstück!“ Es war weniger eine Frage als vielmehr eine Anweisung.
Jake schnaubte Ben ungläubig an: „Warum ich? Das kann ja wirklich Kate machen – Babysitten ist doch wirklich Frauenarbeit!“
Ben schloss genervt die Augen, bevor er Lizzy leise etwas zuflüsterte. Die Kleine presste die Lippen hart aufeinander und nickte ihrem Vater kurz zu, bevor sie die Treppen hinaufflitzte.
Langsam drehte sich Ben zu Jake um, nur um dann umso schneller seine Faust in Jake’s Gesicht niederschnellen zu lassen, der dem plötzlich kommenden Schlag nicht mehr ausweichen konnte und in die Knie ging. „Das war keine Bitte,“ stellte er gefährlich ruhig fest, „und jetzt will ich, dass du nach oben verschwindest!“
Ohne Jake einen weiteren Blick zu zu werfen drehte er sich wieder um zu Ash. Jake rappelte sich murrend auf und verschwand die Treppen nach oben. Nachdem die Tür geräuschvoll zugeknallt war atmete Ben leise durch. „Kate, hilf mir bitte mit der Öllampe. Ich möchte mir ihre Wunde ansehen.“ Kate kam mit der Öllampe näher und Ben kniete vor Ash nieder. Ash verkrampfte sofort und drückte sich an die Wand. „Komm schon, gerade eben in deinem Blickduell mit Jake warst du noch mutig. Wenn ich dich hätte beseitigen wollen, hätte ich dich Jake überlassen. Lass mich die Wunde kontrollieren!“ meinte Ben bemüht sanfter. Ein leichtes Lächeln spielte auf seinen Lippen. Es erreichte aber nicht seine müden Augen.
Ash versuchte sich etwas zu entspannen. Es hatte so keinen Sinn. Ben hatte recht – wenn er sie loswerden wollen hätte, dann würde sie nicht mehr hier sein. Zögernd schob sie ihr Shirt an der linken Seite ein wenig hoch. Ben grinste: „Ist doch gar nicht so schwer! Kate, komm mal näher mit der Lampe.“ Kate trat ein wenig näher und zog scharf Luft ein, als sie die Wunde sah, nachdem Ben den Verband abgemacht hatte. Auch Ash versteifte sich augenblicklich wieder. Allerdings nicht wegen des Anblickes, sondern vielmehr da sie ein stechender Schmerz durchfuhr. Leise stöhnte sie auf und ließ ihren Kopf zurück an die Wand sinken. Sie schloss die Augen und versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen, als Ben begann die Wunde wieder zu säubern. Jedes Mal, wenn sie versuchte die Augen zu öffnen wurde ihr augenblicklich schwarz vor Augen und alles begann sich zu drehen. Also ließ sie die Augen einfach geschlossen und blieb dabei, sich auf ihren Atem zu konzentrieren.
Sie spürte wie Ben’s raue Hände sanft einen neuen Verband um ihre Mitte wickelten und ihr dann vorsichtig die Schweißperlen von der Stirn tupften. „Du hast es schon überstanden,“ flüsterte er leise. Ash hörte, wie sich jemand leise von ihr entfernte. Vorsichtig wagte sie die Augen zu öffnen. Ben saß vor ihr und beobachtete sie aufmerksam. Kate war verschwunden.
„Die Wunde hat sich entzündet. Das war leider zu befürchten. Du wirst bald zu fiebern beginnen. Wir haben leider keine Medikamente, mit denen ich dir die Schmerzen oder das Fieber nehme könnte. Ich befürchte, du wirst die nächsten Tage so durchstehen müssen, oder…“ Ben wollte den Satz nicht zu Ende bringen. Ash nahm es ihm ab: „… oder sterben. Keine Angst, ich bin mir meiner Lage durchaus bewusst. Ohne dich hätte ich vermutlich nicht mal den letzten Tag geschafft.“ Ash sah Ben mit ihren großen grünen Augen an. Sie sahen müde aus, ein wenig glasig bereits vom Fieber, das langsam in ihren Körper kroch. Außerdem meinte Ben, so etwas wie Resignation und Angst vor dem, was kam zu entdecken. Irgendwie verspürte er den Drang, ihr diese Angst nehmen zu wollen. Langsam hob er seine Hand und führte sie vorsichtig in Richtung ihrer Wange. Er wollte sie nicht verschrecken. Ash blickte ihn verwirrt an, was ihn in der Bewegung innehalten ließ, noch bevor er ihre Wange erreicht hatte. Er ließ die Hand wieder sinken und sah sich ein wenige peinlich berührt nach der Flasche mit Wasser um, die Kate hiergelassen hatte. Mit einem Blick, der so etwas wie „Sorry, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist…“ sagen wollte öffnete er die Flasche und hielt sie Ash hin.