Gier nach Erfolg - Ceren Uçar - E-Book

Gier nach Erfolg E-Book

Ceren Uçar

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Beschreibung

Nick hängt in der Luft. Er hat keine Ahnung, wer er ist, woher er kommt oder wer seine Eltern waren. Alles, was er weiß, ist, dass sein Vater Chirurg war und die Gier nach Erfolg ihn in den Wahnsinn trieb. Allein Adoptivmutter Evelyn kennt Nicks Geschichte, weigert sich aber, sie ihm zu erzählen – bis heute. Um mehr zu erfahren, studiert Nick Medizin, wie einst sein Vater. An der Universität trifft er auf Professor Lingus, der sein Mentor wird. In anregenden Zwiegesprächen lernt Nick von ihm Elementares über Körper und Geist, was ihm auf seiner Reise zu sich selbst zu Gute kommt... Parallel verläuft Jamies Geschichte. Die Journalistin führt ein glückliches Leben: Sie hat einen liebevollen Ehemann, einen Job als Journalistin und verdient gutes Geld. Als ihr Mann ihr jedoch eines Tages vorschlägt, mit ihm ein waghalsiges Experiment zu starten, wendet sich das Blatt. Jamie wird fortan von Schuldgefühlen geplagt und möchte nur noch eines: aussteigen!

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CEREN UÇAR

GIER

NACH ERFOLG

ROMAN

Dachbuch Verlag

1. Auflage: April 2019

Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien

ISBN 978-3-903263-01-7eISBN 978-3-903263-11-6

Copyright © 2019 Dachbuch Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Autorin: Ceren Uçar

Lektorat: Nikolai Uzelac

Satz: Daniel Uzelac

Umschlaggestaltung: Daniel Uzelac

Umschlagfoto: mimagephotography/elements.envato.com

Autorenfoto: Petra Halwachs

Druck und Bindearbeiten: Rotografika, Subotica

Printed in Serbia

Besuchen Sie uns im Internet

www.dachbuch.at

Zwei wichtigen Freundinnen gewidmet:Karin Wambacher und Renata Stallinger.

Für mich seid ihr die Verkörperung von Erfolg.

Inhalt

NICK, 2017

JAMIE, 1991

NICK, 2017

JAMIE, 1991

NICK, 2017

JAMIE, 1991

NICK, 2017

JAMIE, 1991

NICK, 2017

JAMIE, 1991

NICK, 2017

JAMIE, 1991

NICK, 2017

JAMIE, 1991

NICK, 2017

JAMIE, 1991

NICK, 2017

JAMIE, 1991

NICK, 2017

JAMIE, 1991

NICK, 2017

JAMIE, 1991

NICK, 2017

JAMIE, 1992

NICK, 2017

JAMIE, 1992

NICK, 2017

JAMIE, 1992

NICK, 2017

JAMIE, 1992

NICK, 2017

JAMIE, 1992

NICK, 2018

JAMIE, 1992

NICK, 2018

JAMIE, 1992

NICK, 2018

JAMIE, 1992

NICK, 2018

JAMIE, 1992

NICK, 2018

JAMIE, 1992

NICK, 2018

JAMIE, 1992

NICK, 2018

JAMIE, 1992

NICK, 2018

NICK, 2017

Sie packte meine Schultern und rüttelte mich heftig. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ein Erdbeben erleben. Der Raum drehte sich und mein Zeitgefühl ging verloren. Ich dachte, die Welt wäre stehen geblieben. Valentina warf eine violette Mappe aus Kunststoff auf mich. Danach einen Stift. Auch ein Glas schleuderte sie nach mir, welches gegen die Wand prallte. Hunderte von Splittern fielen auf den Boden. Einer, der sich wie ein ungewolltes Teil von all den anderen getrennt hatte, strich über meinen Finger. Ich blutete. Das tat weh! Valentina schien es gar nicht zu bemerken, denn sie war mit dem Herumschmeißen von Gegenständen noch nicht fertig.

Ich hörte sie schreien: »Das kannst du nicht machen!«

Valentina lief so rot an, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Ich ging ein paar Schritte zurück, als ich merkte, wie mir schwindelig wurde und lehnte mich an die Wand. Meine Mitbewohnerin war eine tolle Persönlichkeit, die hin und wieder ihre Aggressionen rauslassen musste. Sie wurde wütend, wenn sie sah, dass ich mich verzweifelt und einsam fühlte. Das passierte, wenn mir einfiel, wer ich war und woher ich kam. Wenn Valentina grantig wurde, sah ich mir ihre langen schwarzen Locken an, die sie schwungvoll hin und her warf. Einmal nach links, dann nach rechts. Danach nach vorne und hinten. Meine beste Freundin hatte wundervolles Haar, so buschig wie die Mähne eines Löwen, und überdies eine dunkel glänzende Hautfarbe. Ihre länglichen Nägel waren schön gefeilt und sie hatte gepflegte, volle, verführerische Lippen, die sie gern mit einem weinroten Lippenstift ausmalte. Sie kam ursprünglich aus Rio de Janeiro und war die bewundernswerteste Fotografin, die ich je zu sehen bekam.

Valentina lebte seit einer langen Zeit in London. Ihre Fotografien waren hervorragend. Ihre Art der Veranschaulichung war lebendig und gefühlvoll – keine einfache Darstellung. Man konnte sie sich stundenlang ansehen und fragen, was sich dahinter verbarg. Doch Valentina verriet kaum jemandem ihre Geschichten. Sie meinte, die müsste man sich selbst ausdenken.

»Das ist auch das Spannende an der ganzen Sache, nicht die Schilderungen dahinter«, erklärte sie, während sie mir einzelne Fotografien zeigte, die wir bewunderten, als wären sie von Annie Leibovitz geschossen worden, einer der bestbezahlten und bekanntesten Fotografinnen der Welt. Dies war aber nicht die einzige Art von Erzählungen und Gedanken, die sie den Menschen mitteilen wollte. Sie meldete sich auch in anderen Bereichen zu Wort. Wenn sie etwa Petersiliensaft trank, das geschmackvollste Getränk in ihren Augen, nahm sie für dessen Beschreibung Wörter in den Mund, die einem nie einfallen würden. Sie dichtete beinahe, während sie ihre Eindrücke schilderte.

An diesem Abend spürte ich eine enorme Spannung zwischen uns. Ich hatte Schuldgefühle, als ich zusah, wie eine mächtige Wut in ihr aufstieg. Ich hockte mich hin, schloss meine Augen und steckte meinen blutenden Finger in den Mund.

Ihre Stimme, die in meinen Ohren wie ein Orchester klang, hallte im ganzen Raum: »Hör auf damit!«

»Mein Blut…«, fing ich an und verzog mein Gesicht. »Es schmeckt wie Popcorn«, fügte ich hinzu, als wäre ich ein Gourmet, der sein fachmännisches Urteil ablegte.

»Was?«, rief sie und schaute mich verblüfft an.

»Ich sagte, dass mein Blut wie Popcorn schmeckt«, wiederholte ich meinen Satz und blickte drein, als hätte mich der Geschmack angeekelt.

Daraufhin schüttelte sie den Kopf, nahm ihre Jacke vom verschmutzten Boden und ging aus der Wohnung. Valentina war enttäuscht von mir. Sie fühlte sich veräppelt. Nachdem sie die Tür hinter sich zugeknallt hatte, dachte ich nach. Ob sie wohl recht hatte? Ich stand hastig auf, um Ordnung zu schaffen. Die Scherben versuchte ich mit meiner zittrigen Hand aufzusammeln. Da ich noch immer meinen blutenden Finger im Mund hatte, musste ich mit einer Hand arbeiten, was eine große Herausforderung war. Währenddessen hatte ich meine Kindheit vor Augen und ich spürte eine Leere in mir. Ich war nichts als eine einsame, blutende, auf sich allein gestellte Hand, die sich durch das Leben kämpfte. Doch Valentina war der Meinung, dass ich besondere Fähigkeiten hätte.

»Nick… Weißt du eigentlich, was in dir steckt? Du besitzt ein großes Vermögen. Eine riesige Schatztruhe verbirgt sich in dir. Wenn du deine Stärken richtig anwenden würdest, hättest du jetzt einen anderen Status in der Gesellschaft und viel Anerkennung gewonnen«, erklärte Valentina am Abend davor, während sie gierig mit der Gabel in ihrem Shrimps-Salat stocherte.

Leute, die mich gut kennen, nennen mich Nick, obwohl mein voller Name Nicholas Parker lautet. Seit Jahren musste ich mir von meinen Freunden – besonders von Valentina – anhören, dass ich ein hervorragendes Gedächtnis hätte. In meinem Körper geschahen Vorgänge, die ich nicht definieren konnte. Zum Beispiel wusste ich oft wie etwas schmeckte, ohne es zuvor probiert zu haben. Erstaunlicherweise konnte ich Düfte aus der Ferne wahrnehmen und die feinsten Details beschreiben. Zusätzlich konnte ich genau sagen, woher der Duft kam und welchem Gegenstand oder welcher Person ich ihn zuordnen musste.

»Hör’ zu, Nick… Ich finde es nicht in Ordnung, dass du dich selbst nicht ernst nimmst. Du besitzt Eigenschaften, die sich viele Leute wünschen würden und dann fängst du erst recht nichts damit an. Du kannst…«, begann sie und ich vollendete den Satz in meinem Kopf: »…ein ganzes Stück in seine Bestandteile zerlegen, ohne es auch nur anfassen zu müssen… « Valentina sprach ja die richtigen Worte aus, aber ich wollte ihre Feststellungen über meine Intelligenz nicht akzeptieren.

»Himmel, wie oft soll ich es dir noch sagen? Das ist reiner Zufall«, widersprach ich sofort, »nur eine Gunst des Schicksals.«

Ich seufzte, warf die Scherben weg, schloss die Tür und verließ die Wohnung. Als ich durch die Straßen von London schlenderte, setzte ein erfrischender Regen ein, der auf meine Schultern prasselte. Die einzelnen Tröpfchen konnte ich auf meiner Haut spüren. Es fühlte sich so an, als ob jemand permanent mit seinen Fingern leicht auf meine Schultern tippen würde.

Ich fragte mich selbst, warum ich nur so seltsam war und richtete meinen Blick auf die Menschen, die an mir vorbeihuschten. Sie hielten ihren letzten heißen Kaffee des Tages in den Händen und liefen nach Hause. Manche von ihnen hatten keinen Regenschirm dabei und hatten es besonders eilig. Ich sah auf den nassen Boden und versuchte solide Schritte zu machen, um den festen Grund, der mir eine gewisse Sicherheit gewährte, unter meinen Füßen besser spüren zu können. Dann schaute ich auf und sah in den Himmel. Ein Tropfen nach dem anderen fiel auf mein Gesicht. Sie kullerten mir über Nase und Wangen.

»Genau das bin ich«, sprach ich zu mir, »eine Lücke. Ein Spalt zwischen Himmel und Erde und ich weiß nicht, wo ich hingehöre…« Das Außergewöhnliche in mir brachte mich manchmal in Schwierigkeiten. Nicht ganz verstanden zu werden, war für mich eine Hürde. Wenn mich Geistesblitze überfielen und ich von innovativen Gedanken umhüllt wurde, dann bekam ich unerträgliche Kopfschmerzen. Anders zu sein war mühsam. Tatsache war, ich musste mit diesem Gefühl klarkommen und lernen damit umzugehen. Hin und wieder geriet ich in Situationen, in denen ich bewusst versuchte, gewöhnlich zu sein. Mich von anderen nicht zu unterscheiden und meine Fähigkeiten zu verbergen, war nicht so leicht, wie es sich anhörte. Ich erklärte meinen Freunden nicht, dass ich das Innere einer Frucht sehen konnte, wenn sie plötzlich in Gedanken vor meinen Augen auftauchte. Ich war fähig, die exakte Länge, Breite und sogar den Geschmack einer brasilianischen Papaya zu erkennen, obwohl ich nie zuvor eine probiert hatte. Es war einfach verblüffend! Ich konnte, wie erwähnt, sogar ihr Inneres sehen: das Fruchtfleisch, die Kerne und ihre Farben. Das war für mich gleichzeitig eine Last, die ich nicht ertragen konnte, denn das Bild ging nicht fort, auch wenn ich es mir noch so sehr wünschte. Ich konnte zwar Gegenstände sehen und analysieren, aber ich hatte nicht die Fähigkeit sie zu steuern. Meinem Gehirn konnte ich nicht den Befehl geben, dass es jetzt genug wäre und ich keine Früchte mehr sehen wollte. Sie gingen dann, wenn sie bereit waren zu gehen. Und das passierte rund um die Uhr. In manchen Momenten hatte ich Szenen in meinem Kopf, bei denen ich glaubte, ich hätte sie zuvor schon mal erlebt. Eine Art Déjàvu, verwirrend und aufregend zugleich. Manchmal dachte ich, dass ich mir Erinnerungen und Gedanken nur einbildete, aber dann gab es wieder Augenblicke, in denen sie so real waren. Oft war ich überzeugt von ihnen… Hatte ich diese Antwort schon mal gehört? Hatte ich diese Erfahrung zuvor gemacht? Ich flüchtete deshalb vor diesen Erlebnissen und wollte keine ähnlichen mehr durchmachen. Hoffnungslos beschloss ich, diese Begabung den Menschen, die sich in meiner Umgebung befanden, nicht zu zeigen.

Als der Regen aufhörte, änderte ich meine Strecke und entschied, ausnahmsweise nicht in das Casino – ein Ort, an dem ich Zuflucht finden konnte – zu gehen. Normalerweise verbrachte ich viel Zeit dort, aber an jenem Tag war mir nicht danach. Wenn Valentina und ich einen heftigen Streit hinter uns hatten, war es für mich sehr entspannend, den Leuten zuzusehen, wie sie sich in Kartenspiele hineinsteigerten. Ich hatte Freiraum, konnte Zeit für mich verbringen und mitmachen. Das Mitmachen ließ ich jedoch meistens bleiben. Es war amüsanter, nicht an einem Platz festgebunden zu sein. Mehrere Male erkannte ich, dass das Casino der realen Welt sehr ähnlich war. An manchen Tagen sah ich, wie Menschen hinausgeworfen und verletzt wurden, weil sie sich geprügelt hatten und als Verlierer den Raum verlassen mussten. Große und starke Männer verwandelten sich zu schwachen, sensiblen Kerlen. Am Anfang war ich schockiert, doch mittlerweile war ich gegen dieses Leid immun und spürte keine Bedrückung mehr.

Mein Weg führte mich zu Evelyn Smith Jackson, einer wunderbaren Frau. Sie war ein Teil von mir. Meine andere Seite. Mein eigentliches »Ich«. Evelyn war der einzige Mensch, der wusste, woher ich kam und wohin ich gehörte. Sechzig Jahre hatte sie hinter sich, aber trotzdem war sie bildschön für ihr Alter. Sie war klein, etwas mollig und hatte graue Locken, besaß braune Augen, eine kleine Nase und zarte, niedliche Hände. Sie hatte eine Aura, die einem die Seele erwärmte. Diese bescheidene Dame öffnete mir nun die Tür und zeigte mir wieder einmal ihr hübsches Lächeln.

»Schön, dass du gekommen bist. Komm’ rein, mein Junge!«, rief sie überrascht und machte mir den Weg zum Wohnzimmer frei.

Evelyn trug eine braune Hose und einen dünnen violetten Pullover, der ihr wie angegossen passte. Sie war die einzige Person in meinem Umfeld, die mich großgezogen hatte und mir stets mit Rat und Tat zur Seite stand. Dafür war ich sehr dankbar, denn ich hatte keine Familie und wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich niemanden gehabt, der mich verstand und dem ich mich öffnen konnte. Zwar war mir schon als kleiner Junge bewusst, dass ich keine Eltern hatte, den genauen Grund dafür kannte ich aber nicht. Evelyn sprach ungern über sie. Wenn ich sie fragte und wissen wollte, wo meine Mutter und mein Vater waren, erklärte sie, dass sie Schmetterlinge gewesen wären und nur wenige Wochen gelebt hätten. Danach fingen sie ein neues Leben als andere Falter an. Eine Zeit lang glaubte ich, meine Eltern wären tatsächlich Schmetterlinge gewesen. Später erzählte Evelyn, dass der Sensenmann sie geholt hätte. So wusste ich, dass sie nicht mehr am Leben waren und das der Grund war, weshalb Evelyn mich adoptiert hatte. Meinen Geburtsnamen hatte sie jedoch nicht geändert.

Übrigens wusste auch Evelyn über meine Talente Bescheid. Vor vielen Jahren hatte sie erkannt, dass ich ein besonderer Mensch war und wundervolle Fähigkeiten besaß. Evelyn bestand darauf, dass sie wundervoll waren, denn nur sie wusste, wie sie sich entwickelt hatten. Eines Abends erklärte sie, dass ich im Alter von vier Jahren das Lesen und Schreiben erlernt hätte. »Du warst ein aktives Baby und lerntest viel schneller dazu, als ein durchschnittlich begabtes Kind.«

Als ich klein war, trainierte ich regelmäßig mein Gehirn. Dies machte ich, indem ich auf die Idee kam, ein Buch umzudrehen und die Sätze verkehrt zu lesen. Das war erst der Beginn, dann subtrahierte oder addierte ich die einzelnen Buchstaben von- und miteinander. Nach einer gewissen Zeit fing ich sogar an, ganze Reihen von ihnen mit anderen zu multiplizieren. Ab und zu konnte ich äußerst bemerkenswerte Berechnungen durchführen und sah Mathematik so aus einem anderen Blickwinkel. Aus den Buchstaben konnte ich sogar Quadratzahlen machen, indem ich die Summe eines Schriftzeichens in einem ganzen Satz bildete und sie quadrierte. Ich zerlegte und fügte sie wieder zusammen, als wäre ich der Meister der Zahlen.

»Du warst ein intelligenter, einzigartiger, kleiner Mann«, erinnerte sich Evelyn und gab mir einen feuchten Kuss auf die Stirn. Wir saßen im Wohnzimmer und machten es uns bequem. »Was bedrückt dich?«, wollte sie wissen, während sie ihre Hand an der Hose abwischte.

Zu Besuch kam ich jede Woche, vor allem, wenn es mir nicht gut ging oder ich einen Gesprächspartner brauchte. Evelyn war mein Wegweiser. Eine Landkarte, die mir die korrekte Richtung zeigte, wenn ich mich in meiner Welt verirrte.

»Erzähl‘ es mir«, forderte sie mich auf und hörte auf, ihre Hose von Staub zu befreien. Evelyn hatte eine lebendige, angenehme und kräftige Stimme.

Ich schlug meine Hände über den Kopf und lehnte mich zurück, als hätte ich genug Zeit, über dieses Thema zu reden. Ich musterte Evelyn. Sie hatte mehr als sechzig Vertiefungen in ihrem Gesicht und das war schon eine Menge für eine Dame in ihrem Alter. Es waren kurze, unregelmäßige, feine Linien in ihrer Haut, die unter ihren Augen Platz gefunden hatten.

Jahrelang hatte ich kein Problem mit zahlreichen mathematischen Formeln und konnte sie immer anwenden, doch ich kannte keine Formel für mich und die Erlösung von meinen Qualen. Das wollte ich Evelyn sagen und meine Sorgen loswerden. Ich wollte zwar, wagte aber nicht die Worte, die auf meiner Zunge lagen, auszusprechen. Ich wusste, was in ihr steckte und was sie sich durch den Kopf gehen ließ. Ihre Haltung, Blicke, Gedanken und ihren Atemrhythmus konnte ich aus der Ferne ablesen. Jede Bewegung, die sie machte, hatte einen tieferen Sinn.

Ich saß eine Weile da und schaute mich in der Wohnung um. Während ich das tat, dachte ich an meine Kindheit. Ich versuchte, mir meine Mutter und meinen Vater vorzustellen. Ich fragte mich, was für Eltern ein intelligentes Geschöpf wie ich haben musste. Wie sahen sie aus? Welche idiosynkratischen Merkmale hatten sie? Wie hatten sie sich kennengelernt? Woher kannten sie Evelyn? Auf all diese Fragen wollte ich Antworten, aber bislang fühlte ich mich nicht bereit dafür. Ich konnte nicht von heute auf morgen alles um mich herum möglicherweise einstürzen lassen. Ich benötigte noch ein wenig Zeit, um mich psychisch vorzubereiten. Während ich mir diese Gedanken durch den Kopf gehen ließ, hörte ich Evelyn meinen Namen rufen. Ich zuckte zusammen und ihre Stimme holte mich zurück. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, wollte sie wissen und schaute mich erschüttert an.

Ich warf ihr einen kurzen Blick zu und lächelte. Anschließend stand ich auf, denn ich wollte nach Hause gehen. Ich teilte Evelyn mit, dass ich ein andermal wiederkommen würde.

Am nächsten Tag ging ich in ein Café, ich musste mein inneres Gleichgewicht wiederfinden. Ich beobachtete meine Umgebung. Beeindruckt schaute ich die Menschen an, wie sie sich um mich herum bewegten. Innerlich wollte ich wissen, ob sie es tatsächlich so eilig hatten, wie sie taten. Langsam führte ich meinen Melissensaft zum Mund und nippte an ihm.

Die Melisse ist eine Pflanze, die Heilwirkung besitzt und äußerst beruhigend wirkt. Woher ich diese Information hatte, konnte ich nicht genau sagen, aber der Saft erinnerte mich an meine Zeit als Student an der Universität von Oxford. Eine Professorin, die in großem Maße mickrig und anspruchsvoll war, trank dieses Getränk, wenn sie sich von der Vorlesung erholen wollte. »Ich muss mir jetzt einen Melissensaft gönnen«, fauchte sie dann, als wären wir kleine Kinder, mit denen sie nicht klarkam. Es wunderte mich daher nicht, dass sich diese Pflanze in meinem Unterbewusstsein verankert hatte.

Vieles, was ich einmal gehört hatte, vergaß ich nie wieder. Ich speicherte die Information in meinem Gehirn und irgendwann, wenn ich sie brauchte, holte ich sie hervor und wandte sie an… Wieso bin ich so anders und fühle mich wie ein Botschafter, der an diesem Ort eine diplomatische Rolle übernimmt und eigentlich von einem anderen Planeten stammt? In der Tat fühlte ich mich so, als würde ich aus einer anderen Welt kommen. Wie sagte Arthur Schopenhauer, der deutsche Philosoph, Autor und Hochschullehrer? »Zwischen dem Genie und dem Wahnsinnigen ist die Ähnlichkeit, dass sie in einer anderen Welt leben, als der für alle vorhandenen.« Musste ich mich so sehr von ihnen unterscheiden? Von den Menschen, die alle – mehr oder weniger – gleich waren? Eines stand fest: Ich fühlte mich zwiegespalten, als bestände ich aus zwei halben Äpfeln, die von zwei unterschiedlichen Sorten stammten und daher auch nicht zusammenpassten. Ich kannte weder meine Eltern noch hatte ich Freunde. Valentina war die Ausnahme. In puncto Sozialisierung war ich schlecht und hielt mich ungern in Menschenmengen auf. Ich war eine unnahbare Person, die sich kaum mit anderen umgab. Meine Haltung und mein Sinn für Humor unterschieden sich sehr von der Norm. Meine Sichtweisen und Meinungen zu diversen Themen waren ungewöhnlich. Obwohl ich meine Jugendzeit hinter mich gebracht hatte, konnte ich nicht mit Gewissheit sagen, ob ich mich dadurch verändert hatte. Ich konnte mich einfach nicht anpassen und fühlte mich desorientiert.

Einsam und verlassen hockte ich hier im Café. Die Sonne strahlte. Ich spürte die Wärme auf meinen Wangen. Um meinen Kopf zu entleeren, schloss ich die Augen und ruhte mich aus. Es fühlte sich so an, als wollte ich aus meinem Gedankenkäfig ausbrechen. Es war nicht leicht, so viel Wissen zu besitzen. Manchmal hatte ich keine Energie mehr und wünschte mir für einen einzigen Tag lang durchschnittlich zu sein. War das denn zu viel verlangt? Plötzlich fiel mir ein, dass ich heute ein Erstgespräch hatte! Da ich meinen Master in Medizin machen wollte, hatte ich mich an einer Universität beworben und wurde nach kurzer Zeit zu einem Gespräch eingeladen. Evelyn bestand darauf, dass ich weiterstudieren sollte und empfahl mir eine bestimmte Einrichtung. »Ich finde, die wäre für dich geeignet«, meinte sie und drückte mir Broschüren in die Hand, worauf Zulassungsvoraussetzungen und Kontaktadressen standen. Nachdem ich meine Unterlagen abgeschickt hatte, rief mich eine Dame an, die für die Betreuung der Bewerber verantwortlich war. Sie lud mich zu einer Veranstaltung, die an der Universität stattfinden würde, ein. Sie hatte gemeint, dass wir uns dort gleich persönlich kennenlernen könnten.

Ich warf einen Blick auf meine goldene Armbanduhr, die ich von Evelyn zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag bekommen hatte und stellte fest, dass ich spät dran war. Sofort bat ich um die Rechnung, zahlte und begab mich auf den Weg. Ich war zu warm angezogen und mein brauner Anzug machte mir das Leben zur Hölle. Ich schwitzte am ganzen Körper. Zusätzlich musste ich mich beeilen, um pünktlich anzukommen. Ich erwischte die U-Bahn und machte den ersten großen Schritt zu meinem Ruhm, von dem ich Tag und Nacht träumte.

Als ich vor der Hochschule stand, fragte ich mich, ob es eine weise Entscheidung gewesen war, mich interviewen zu lassen. Schließlich wollte ich massiven Erfolg erzielen und an einer Universität war es für mich schwierig, dies zu erreichen. Ich wollte mehr als einen Abschluss und einen Beruf. Ich wollte kein gewöhnlicher Mensch sein, der jeden Tag eine gewisse Anzahl von Stunden in einem Unternehmen zubrachte. Dieser Weg passte einfach nicht zu meinem Charakter. Wie sagt man so schön? Um groß werden zu können, musst du groß denken. Den Erfolg musste ich tatsächlich fühlen und ich dachte, in Lehreinrichtungen wäre es für ein talentiertes Wesen wie mich unmöglich dies zu erreichen. Es war unangemessen mich nach anderen, und damit meine ich die Lehrenden, zu richten. Ihre Wünsche zu erfüllen, ihre Aufgabenstellungen zu lösen und Noten zu bekommen, die sie für passend hielten, war nicht meine Interpretation von Erfolg. Selbstverständlich lernte man viel dazu und erweiterte sein Wissen, aber ich bevorzugte meine Energie und Zeit für andere Dinge zu nutzen, schließlich war beides unheimlich kostbar. Wie sagte Steve Jobs, der große Kopf der Computerindustrie? »Eure Zeit ist begrenzt. Vergeudet sie nicht damit, das Leben eines anderen zu leben.«

Meine Entscheidungen selbst zu treffen und das zu machen, was ich für richtig hielt, war für mich von großer Bedeutung. Evelyn hatte mir erzählt, dass mein Vater Arzt und meine Mutter Journalistin gewesen waren. Ich wollte in die Fußstapfen meines Vaters treten, Medizin studieren und seinen Weg weitergehen. Hatte ich deswegen den Wunsch, bekannt zu werden? Zwar war ich an Hochschulen bislang unzufrieden gewesen, doch gab es keine Alternative und ich musste weitermachen.

Als ich vor dem Eingang stand, inhalierte ich die kühle Luft und hielt inne. Dann machte ich einen Schritt auf das Gebäude zu, öffnete die Tür und trat ein. Die Eingangshalle war riesengroß und perfekt eingerichtet. Ich drehte mich einmal um mich herum und betrachtete jeden Winkel des Raumes. Anschließend marschierte ich weiter und bemerkte, dass sich nur wenige Leute im Eingangsbereich aufhielten. Langsam näherte ich mich den Stiegen, die so edel aussahen, dass sie mich wie ein Magnet an sich heranzogen. Daneben stand ein kleiner stilvoller Springbrunnen, der mich aus der Fassung brachte. Er war blendend schön. Ich gönnte mir einige Minuten und bewunderte die Dekoration um mich herum, als würde ich eine Reihe von Kunstwerken betrachten. Dann stieg ich langsam eine Stufe nach der anderen hinauf, bis ich mich in der zweiten Etage befand. Vis-à-vis von mir war eine junge, langhaarige, hellhäutige Frau, die für die Registrierung zuständig war. Sie saß, mehr oder weniger gelangweilt, an einem Tisch und notierte Namen und Adressen. Ich näherte mich und fragte sie höflich, wo die Veranstaltung stattfände. Sie hatte eine relativ hohe, mädchenhaft piepsige, aber gleichzeitig zarte Stimme, die mir ein angenehmes Gefühl gab. Die Frau zeigte auf die Tür, die zum Event führte. Dann schrieb sie meinen Namen und meine Adresse auf. Ihre Schrift ähnelte der venezianischen Renaissance-Antiqua. Sie hatte einen spannungsvollen, lebhaften und harmonischen Stil, der sich durch die abgerundeten Übergänge zu den Serifen, den keilförmigen Ansätzen und den Kursiven kennzeichnete. Nachdem sie mit dem Schreiben fertig war, bedankte ich mich und ging zur Tür.

Verschiedene Stände von Universitäten aus ganz London, die sich präsentieren wollten, waren hier vertreten. Ich befand mich mitten in einem Gewirbel von Menschen, denen ich mich nicht zuordnen konnte. Einige waren zur Gänze glücklich und grinsten vor Freude, andere waren laut und machten sich bemerkbar. Dass ich über die Deprimierten, die nicht genau wussten, weshalb sie herkamen und was sie machen sollten, nicht hinwegschauen konnte, war auch keine Überraschung. Ich nahm die Atmosphäre mit allen Sinnen wahr. Der Raum war groß und hell. Die Wände waren dunkelrot gestrichen und auf dem Boden lag ein langer weißer Teppich. Ich fühlte mich wie auf einer Gala. Nachdem ich eine Weile von der Umgebung abgelenkt war, riss ich meine Augen weit auf und hielt nach dem richtigen Stand Ausschau. Kurz darauf bemerkte ich ihn und ich quetschte mich durch die Menschenmasse. Als ich ihn erreichte, blieb ich vor ihm stehen und musterte jede Einzelheit, als wäre ich ein Qualitätsprüfer. Ich verringerte die Distanz zwischen der zuständigen Dame und mir, bis ich salopp vor ihr stand. Sie blickte hoch, nahm ihre ovale Brille ab und schenkte mir ein Mikrolächeln, das nur ein paar Millisekunden dauerte. Eine Zeit lang starrte ich sie an und konnte meinen Blick nicht abwenden. Diese Frau hatte ein wunderschönes, makelloses, strahlendes Gesicht. Ihre Haut war unbeschreiblich schön und die funkelnden Augen waren himmlisch. Sie war schlank, hatte ein attraktives Dekolletee und weibliche Rundungen. Sie lächelte erneut und reichte mir ihre Hand. Ich wischte meine feuchten Hände am Anzug ab und schüttelte wild ihre zarte, warme Hand.

»Guten Tag! Ich heiße Nicholas Parker. Ich habe mich bereits beworben und möchte im Herbstsemester meinen Master anfangen«, brachte ich mühevoll über meine Lippen, während ich ihre Hand weiterhin eifrig schüttelte. Als ich ihren Namen flüchtig von ihrem Schild ablesen konnte, fügte ich vorsichtig »Frau Monahan« hinzu und ließ ihre Hand los.

Sie hatte lange schwarze Haare, die sie zu einem Zopf gebunden hatte. Dazu trug sie einen kurzen braunen Rock und ein weißes Hemd. Sie hatte die längsten Finger, die eine Frau nur haben konnte. Ihre Hände waren weich und dünn. Ich fand sie unfassbar hübsch.

Frau Monahan fing an, mich zu mustern, hob ihre perfekt gezupfte Augenbraue und meinte: »Natürlich kann ich mich an Sie erinnern, Herr Parker. Es wäre unverschämt von mir, einen Kandidaten wie sie zu vergessen. Setzen Sie sich«, bot sie charmant an und deutete auf den freien Platz vor mir. »Haben Sie irgendwelche Fragen über unsere Universität, die Sie eventuell beschäftigen«, erkundigte sie sich und schaute dabei auf ihre lackierten Nägel, als würde sie die französische Maniküre kontrollieren wollen.

Ich hatte mich schon öfter an Hochschulen beworben und mir wurde selten eine außergewöhnliche Frage gestellt. Jedes Mal fragte man mich, ob ich etwas Spezielles wissen wollte. So verliefen die Interviews nun mal. Sie waren alle gleich. In der Vergangenheit war ich an vielen Universitäten gewesen, doch ich musste sie alle nach wenigen Monaten verlassen und meine Ausbildung unterbrechen. In unregelmäßigen Abständen wechselte ich von einer Hochschule an die nächste. Die Vorlesungen waren qualvoll und immer wieder musste ich mir Sachen anhören, die ich bereits kannte. Ich musste den Leuten etwas vorspielen und tat so, als ob ich vieles nicht wüsste. Dieses Spiel – so nannte ich es jedenfalls – spielte ich überall. Irgendwann war es dann aber soweit und wie eine Raupe, die sich früher oder später zu einem Schmetterling entwickelte, entpuppte ich mich und zeigte mein wahres Gesicht. Das war eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die ich mit meinen Eltern hatte. Das Genie, das sich in ihnen verbarg, schlüpfte aus mir – dem Kokon – heraus. In Vorlesungen widersprach ich den Professoren und erklärte den Studenten, was sie ihnen eigentlich beibringen wollten. Ich forderte sie mit meinen Fragen heraus und nur allzu oft konnten sie keine Antworten finden. Das machte natürlich einen schlechten Eindruck und man fing an, einen gewissen Hass auf mich zu entwickeln. Weder durfte ich mich zu Wort melden, noch mich bei Unklarheiten an sie wenden. Auch die Jüngeren ließen mich eine Antipathie spüren und so war ich einmal mehr der unbeliebte Student. Im Hinterkopf festigte sich so der Gedanke, dass eine Hochschule nicht der richtige Ort für mich war.

Frau Monahan stellte ich keine zusätzlichen Fragen. Ich schüttelte den Kopf und verneinte ihre Erkundigung. Sie war davon wenig begeistert und versuchte, das Gespräch weiterzuführen. Sie wollte wissen, weshalb ich mich für das Studium geeignet sah. In diesem Augenblick hätte ich sie mit meinem Selbstbewusstsein und meinem Wissen überzeugen können. Wahrlich, ich wollte es tun, aber stattdessen redete ich in halben Sätzen und konnte ihr nichts Aussagekräftiges über mich mitteilen.

»Warum sollten wir uns für Sie entscheiden?«, wollte sie wissen und faltete ihre Hände. Diese Frage gehörte ebenfalls zu meinen Favoriten. Die Frage sollte nicht lauten »Warum?«, sondern »Warum nicht?«.

Statt ihr meine Stärken und Schwächen aufzuzählen, beschloss ich herauszufinden, was sie über mich dachte und presste die subjektive Wahrnehmung aus ihr heraus, als wäre sie eine reife Zitrone, die ich in den Entsafter drückte.

»Frau Monahan, wenn Sie mir erlauben, möchte ich wissen, was Sie über mich denken. Sie haben bestimmt meine Unterlagen unter die Lupe genommen. Ich bin mir sicher, dass Sie meine vollständige Bewerbung überprüft haben. Glauben Sie, dass ich für Ihre Universität nützlich sein könnte? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch und entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit… Um mich anders auszudrücken: Habe ich das Potenzial?«

Ihren Gesichtsausdruck zu beobachten, welcher sich in wenigen Sekunden veränderte, bereitete mir unheimlich große Freude. Unerwartete Erkundigungen verwirrten Menschen und genau das war soeben passiert. Frau Monahan hatte mit dieser Frage nicht gerechnet. Sie richtete sich ein wenig auf und räusperte sich.

»Das ist eine äußerst interessante Frage, Herr Parker. Sie scheinen großes Vertrauen in sich selbst zu haben. Um ehrlich zu sein denke ich, dass Sie sozial sind und bemerkenswerte Fähigkeiten besitzen, aber ob Sie unsere Anforderungen erfüllen und sich durchkämpfen können, das bleibt Ihnen selbst überlassen. Wir haben einen guten Ruf und dementsprechende Erwartungen«, konterte sie und richtete ihren Blick auf die Broschüren.

Als Frau Monahan ihre Sätze aneinandergereiht hatte, hatte ich auf ihre schneeweißen Zähne geschaut. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie sie dreimal täglich putzte – in der Früh, zu Mittag und am Abend. Wahrscheinlich auch zwischendurch, wenn sie etwas gegessen hatte. Ihre Antwort war nicht überraschend. Ich hatte zuvor geahnt, wie sie reagieren würde. Haltung und Blicke verrieten viele Worte. Langsam und ohne jegliche Eile spielte ich mit den Kugelschreibern, die vor mir lagen. Ich schob sie lässig hin und her.

Ich blickte auf, lächelte herzlich und antwortete: »Es ist mir klar, dass Sie bestimmte Erwartungen und Voraussetzungen haben, die Bewerberinnen und Bewerber erfüllen müssen. So ist es überall, in jeder Branche. Doch stellen Sie sich vor, jemand wie ich müsste in ein System passen und kann es aber nicht, weil er die Voraussetzungen nicht erfüllt, denn er ist schlicht und einfach anders als andere Menschen«, erklärte ich, während sie die Broschüren ordnete, die auf dem Tisch lagen.

Frau Monahan war überrascht und wusste nicht, wovon die Rede war. Sie hob ihren Kopf, schaute mich verwirrt an und runzelte die Stirn. Ich hingegen fokussierte erneut meinen Blick auf die Kugelschreiber. Ich dachte an meine Eltern, die für meinen Zustand verantwortlich waren. Was immer meine Eltern auch getan hatten, ich war mir sicher, dass ihr Handeln der Grund für meinen gegenwärtigen Zustand war und innerlich hoffte ich darauf, dass sie vielleicht doch eines Tages auftauchen, ihre Schuld eingestehen und mich um Verzeihung bitten würden.

Sind sie dafür verantwortlich, dass ich mich in dieser Welt verloren fühle? Sind sie schuld daran, dass ich so merkwürdig bin und eine seltsame Verhaltensweise aufweise? Kann man überhaupt etwas wieder gut machen? Wenn ja, könnte ich meinen Eltern verzeihen oder ist es zu spät? Als ich an meine Eltern dachte, hörte ich plötzlich auf, mit den Kugelschreibern zu spielen und schaute Frau Monahan an. Sie verzog ihr Gesicht und ich bemerkte ihren verzweifelten Ausdruck. Sie wusste nicht, warum ich so reagierte. Dass ich mich erneut an meine außerordentlichen Eltern erinnert hatte, verdarb mir die Stimmung. Ich bedankte mich bei Frau Monahan und schaute sie mit glasigen Augen an. Dann stand ich hastig auf und wandte ihr den Rücken zu.

»Herr Parker! Einen Moment, bitte. Setzen Sie sich hin. Ich möchte mit Ihnen reden«, bettelte sie mich beinahe an.

Nachdem sie das gesagt hatte, drehte ich mich wieder um und beugte mich zu ihr. Natürlich war mir klar, dass sie nicht wusste, was ich zum Ausdruck bringen wollte, aber sie wurde emotional. Sie wollte mich als Student an ihrer Universität.

»Vielen Dank, Frau Monahan. Ich werde es mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen und ihnen meine endgültige Entscheidung mitteilen«, sagte ich in einem ernsten Ton und wandte mich zur Tür.

Nach dem Gespräch mit Frau Monahan beschloss ich, wieder meine Adoptivmutter zu besuchen. Während Evelyn in der Küche Tee zubereitete, machte ich es mir auf einem grünen Stuhl, der handgefertigt war, bequem. Ich lehnte mich zurück und zündete eine kubanische Zigarre an. Gelegentlich paffte ich Zigarren. Besonders dann, wenn ich nachdenken wollte. Evelyn kam in den Raum und stellte ein Tablett mit zwei Tassen auf den Tisch. Diesmal hatte sie ein gelbes, luftiges Kleid an. Nachdem sie das Tablett abgestellt hatte, setzte sie sich neben mich. Evelyn musterte mich und wollte wissen, warum ich so nachdenklich war.

»Was hast du denn, Nick? Möchtest du es mit mir teilen? Was bedrückt dich in letzter Zeit so sehr, dass du kaum noch lächelst?«, fragte sie neugierig und nahm einen Schluck von ihrem Tee.

Erst blieb ich still, doch dann beschloss ich mich zu öffnen und ihr mein Problem mitzuteilen. Ich drehte mich zu ihr, hielt ihre Hand, die faltig war und blickte starr in ihr Gesicht.

»Du weißt, dass ich dich mehr als alles andere auf der Welt liebe. Du hast mich großgezogen. Du weißt, wer und wie ich bin. Außerdem bist du immer für mich da, wenn ich Hilfe brauche. Findest du nicht, dass die Zeit gekommen ist? Bist du nicht der Meinung, dass es nun doch so weit ist und wir ein ernstes Gespräch führen sollten? Ich bin nicht mehr der kleine Nick«, sagte ich, während ich ihre Hand tätschelte.

Evelyn wusste, was ich meinte – ich wollte endlich all die Details über meine Vergangenheit erfahren. Ich hätte ihr tagelang zuhören können und das war ihr bewusst. Zappelig und ruhelos saß ich da und wartete auf ihre Antwort. Sie wirkte nicht sehr begeistert, als hätte sie zuvor geahnt, dass diese Frage auftauchen würde. Ich versuchte die Atmosphäre aufzulockern. Ich nahm ihr Kinn sanft in meine Hand, hob es hoch und lächelte sie an.

»Ich war immer treu, habe jedes Wort befolgt und all deine Wünsche erfüllt. Ich denke, dass ich ein braver Junge war. Nie könnte ich dir wehtun. Ich bin dankbar, dass ich dich habe, aber trotzdem möchte ich so viel von dir wissen. Ich glaube, dass ich das verdient habe«, sagte ich von mir selbst überzeugt.

Evelyn nickte und setzte sich aufrecht hin. Ein paar Tränen kullerten über ihre farblosen Wangen. Sie wusste, dass es keinen Ausweg gab. Wir waren in einer Sackgasse und sie konnte das Thema nicht mehr wechseln. Evelyn sprach kaum ein Wort über meine Familie. Ab und zu hatte ich versucht, ein Gespräch aufzubauen, doch sie mochte es nicht, wenn ich zu viel hinterfragte. Sie unterbrach mich jedes Mal und teilte mir mit, dass das unverschämt von mir wäre. »Wie kannst du nur so viel reden!«, rief sie dann zornig und setzte der Unterhaltung damit ein Ende. Doch in diesem Augenblick hatte sie kein Recht, so zu reden, was ihr definitiv nicht leichtfiel. Also stand sie auf, nippte an ihrem Tee, der mittlerweile abgekühlt war und suchte nach den richtigen Worten. Sie sortierte sie sorgfältig in ihrem Mund, als würde sie ihren Wortschatz durch ein Sieb filtern und unerwünschte Ausdrücke zurückhalten. Verzweifelt ging sie auf und ab. Zum ersten Mal wirkte sie so aufgeregt. Dann blieb sie stehen und richtete ihren Blick auf mich.

»Bist du dir sicher, dass du die Geschichte hören willst?«, vergewisserte sie sich.