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Ein Element des Teufels macht Schüler krank, lässt Lehrer sterben. Niemand tut etwas, weil niemand die Verantwortung übernimmt. Die Wirtschaft bestreitet, Experten verharmlosen, Behörden ignorieren. "Schule tut nicht weh!" So trösten Eltern ihre Kinder beim ersten Schulgang. Für Schrimps Schule wäre das eine Lüge und er weiß es, doch noch glaubt ihm niemand. Erst als der Tod um sich greift, beginnt er - der Lehrer Ole Fedder - zu forschen. Mit Hilfe der Mutter eines erkrankten Schülers spürt er einen Skandal auf, dessen Gift "aus den oberen Etagen der Macht ausdünstet". Schrimp selbst bleibt vom Gift verschont, aber nicht von weiblicher Verführung und auch nicht vom bedrohlichen Tentakel der Macht … Hintergrund: Das Raumluftgift PCB (Polychlorierte Biphenyle), das auf der Liste der weltweit geächteten Umweltgifte steht, wird in öffentlichen Gebäuden und Schulen nicht selten auf raffinierte Weise als unbedenklich deklariert, weil deren Beseitigung und die Folgekosten die öffentliche Hand zu tragen hat. Die Fakten sind jüngste deutsche Gegenwart. Personen und Begebenheiten in der Handlung sind nachempfunden, aber in keiner Weise überzogen dargestellt.
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Seitenzahl: 474
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Maxi Hill
GIFT geschädigt
Umweltgift in deutschen Schulen - und niemand unternimmt etwas. Ein realer Skandal.
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Schüler
Schrimp
Ambrosia
Aaron B.
Schulalltag und eine nicht alltägliche Nachricht
Parallelen
Die Begegnung
Auge in Auge mit dem Elend
Der Außenseiter
Der Direktor
Simone
Die Zusammenkunft
Freundschaft
Der Amtsschimmel
Ohne Zuversicht
Hinter den Kulissen der Macht
Urlaub mit Aha-Effekt
Die Schulkonferenz
Symbiosen
Ein Element des Teufels
Die Kraft der Vielen
Kampf an mehreren Fronten
Ein Unheil kommt selten allein
Niemand ist unfehlbar
Die Abrechnung
Sieg und Niederlage
Nachwort
Maxi Hill
Impressum neobooks
Carstens Wunder-Bar hält nicht, was sie verspricht. Nicht einmal gemütlich ist es hier. Sören Proske schaut durch das Fenster auf den belebten Platz, einen Grund zur Freude hat er nicht.
Er kann sich vorstellen, für die Firma seines Vaters durchs Feuer zu gehen. Aber das jetzt, das hätte er sich nicht vorstellen können. Wenn stimmt, was er jetzt weiß, kann es nur aus Sternbergs Hirn geflossen sein.
Sören mag Sternberg nicht. Der Vizechef der väterlichen Firma ist ein zu harter Hund, der sich bestens darauf versteht, seinen Willen durchzusetzen. Vater schätzt den Vorteil, den einer aus der Politik mitbringt, wenn er in die Wirtschaft wechselt. Aber was hat einer wie Sternberg gegenSchrimp?
Sören Proske streicht mehrmals über den feinen Stoff seiner Hose. Es will ihm nicht einfallen, warum man seinen früheren Lehrer Ole FedderSchrimpnannte. Fedder kam von der Küste. War es das?
Zurückgelehnt und mit ausgestreckten Beinen, umhüllt von bestem Wollstoff mit exakter Bügelfalte, bestellt der junge Mann einen Drink. Seine Erinnerung ist besser als sein Gefühl. Er mochte Schrimp, und er mochte ihn auch wieder nicht. Bio-Lehrer war er und nannte sich selbst einen unbeleckten Bären. Dabei war er ebenso athletisch gebaut wie geschmeidig in jeder Bewegung. Die Mädchen schwärmten von seiner dauergebräunten Haut und vom Blick aus hellen, strahlenden Augen. Die Jungen liebten seine trockenen Witze, die er nie vergaß, gerade dann, wenn der Lehrstoff trocken war.
Wie lange ist das her? Fünf, nein sechs Jahre?
Der Geruch des Nordens kroch Schrimp aus allen Poren. Besonders sein Dialekt mit den plattdeutschen Einlagen und das zuweilen stoppelige Kinn machten den Seebären perfekt. Aber eines fehlte ihm: der Hang nach Geltung, den einer haben sollte, der an einer Eliteschule unterrichtet.
Sören stiert vor sich hin, nimmt versonnen einen Schluck, und jetzt erinnert er sich daran, wie Schrimp in einer Biologiestunde von den kleinen Krustentieren erzählte, die er Schrimps nannte und die er als Junge in seiner Heimat zu puhlen hatte.
Die Schüler hier im Binnenland fanden seine ungeschliffene Art besonders witzig. Und witzig konnte Schrimp sein. Die Unterrichtsstunden waren nie langweilig, wenn auch die Biologie an dieser Schule keine Priorität hatte. Sie war abwählbar im demokratischen System der Prüfungsordnung.
Der Drink gibt Sören einen Geschmack auf der Zunge; süß und bitter zugleich. Es wundert ihn nicht. Es war Schrimp, der das Leben genau so beschrieben hatte: süß und bitter. Er wollte es damals nicht hören. Gebetsmühlenartig wiederholte Schrimp, vom Zensurenhaschen nichts zu halten. Man lerne nicht für Zensuren, man lerne für das eigene Leben.
Und dann hatte er sich freimütig dazu bekannt, keinen Doktortitel zu besitzen, nur den Titel eines Studienrates, den er negiere, den er niemals haben wollte, den er verliehen bekommen habe vom sozialistischen System, weshalb er zuweilen als Protegierter des Systems gegolten habe. Man könne es nehmen wie man wolle. Protegiert wurde er nie, promoviert habe er nie, aber protestiert leider auch nicht.
Warum protestiert er jetzt? Wofür rebelliert einer wie Schrimp?
Skandale offenbaren die Unvollkommenheit der Gesellschaft und die Lernfähigkeit der Demokratie. Nur in Diktaturen herrscht Lautlosigkeit.
Sörens Erinnerung trügt nicht. Genauso sagte es Schrimp damals.
Und jetzt ahnt der junge Mann, warum einer wie Schrimp bei einem wie Sternberg anecken muss …
Vierzehn Monaten zuvor: Das Konrad-Zuse-Gymnasium in Cottbus sah aus wie jedes Jahr im August, wenn die Ferien vorbei waren. Noch bevor er die Schule betrat waren seine Gedanken beim neuen Lehrplan, dem er nichts abgewinnen konnte, außer einem lässigen Heben seiner Schultern. Manchmal gab er Aaron Recht wenn der sagte, er sei ein Pommer und deshalb stur. Selbst dieser idiotische Lehrplan brachte ihm keinen inneren Aufruhr. DiesePottschieterda oben im Ministerium waren seit Jahren unfähig, die Bildung in den Griff zu bekommen. Ein erfahrenerPaukerwie er entschied seit Langem selbst, was den Schülern nutzte und was er getrost beiseitelassen konnte. Es gab kein Zentralabitur mehr, er schrieb die Abituraufgaben selbst und reichte sie zur Bestätigung ein. Erfahrung ist desSkippers bester Kompassund Erfahrung hatte er.
Zum ersten Mal in diesem Sommer hingen die Wolken tief, als stünde Nebel in der Luft. Inka, seine Frau, zählte gewöhnlich die Tage vom ersten Nebel bis zum ersten Schnee. Einhundert. Also müsste es Mitte November schneien? Schrimp grinste in sich hinein. Sonderbare Regeln stellte Inka manchmal auf. Erst kürzlich hatte sie das Schlafzimmer auf den Kopf gestellt, ihre Nase in alle Fächer und Schubladen gesteckt, die Flächen mit feuchten Tüchern bearbeitet, um Resten von Formaldehyd auf die Spur zu kommen. Es sei gefährlich, die Nacht mit dem giftigen Zeug zu verbringen. Formaldehyd sei gefährlich. Als ob er das nicht selber wüsste, er, der Biologe.
Sie hatte kein Formaldehyd geschnüffelt, also zwang sie ihn, die Betten im Neunzig-Grad-Winkel zu drehen, weg mit den Kopfenden von elektrischen Leitungen. Elektrosmog könnte Schuld an ihrer Migräne sein und an ihrer Schlafstörung. Die Hightech-Gesellschaft fordere ihren Tribut. Keiner kenne sein Lebensrisiko. Tausende synthetische Stoffe griffen in die biologischen Lebenssysteme ein. Sogar Mikrowellen brächten die biochemischen Stoffwechselprozesse in gefährlicher Weise durcheinander, hatte Inka gemeint und eine solche Anschaffung strikt abgelehnt. Es war nicht zu bezweifeln: Technische Errungenschaften steigerten den Konsum. Das Paradoxe am Fortschritt war der partielle Rückschritt.
Schrimp fiel es auf einmal schwer zu verstehen, warum er sie sauertöpfisch genannt hatte. Schließlich ging es vielen Menschen ähnlich. Jahrzehnte lang rußten die nahen Kohlekraftwerke ihren braungelben Rauch aus maroden Schloten über das Land, schwärzten die prächtigen Hausfassaden aus vielen Epochen und brachten sie zum Bröckeln. Die Schlote haben ausgehaucht und auch die schweflige Luft vom Gaskombinat Schwarze Pumpe hatte sich verflüchtigt, aber die Menschen der Lausitz klagten über allerlei Gebrechen, junge wie alte.
Der Zehntklässler Sebastian klagte sehr oft über Kopfschmerzen und Übelkeit. Im letzten Schuljahr verging kein Tag, wo der Junge nicht seinen Kopf in den Nacken legte, um das Blut zu stoppen, das ihm zuweilen aus den Nasenlöchern quoll. Schrimp meinte eine Zeitlang, Sebastian sei zu ehrgeizig und habe zu viel um die Ohren. Mehrmals in der Woche marschierte er zur Musikschule, zweimal zum Karate-Training und dann noch die Auftritte mit seiner Band, deren Name ihm mal wieder nicht einfiel. Irgendetwas wie Eichenlaub.
Schrimp hatte stets ein Ohr für seine Schüler, aber er verstand die allzu ehrgeizigen Eltern nicht, die ihren Kindern zu viel abverlangten, gerade, weil sie in diese Schulen gingen.In dieser Gesellschaft könne man nie genug können.Als ob das ein Pauker infrage stellte.
Ein Gedanke klemmte in seiner Brust. Was, wenn er nicht an diese Schule gekommen wäre, damals, als die Welt sich wendete. Nicht nur dieses Land hatte sich gewendet. Es war die Welt, deren Waagschale sich zur untergehenden Sonne neigte. Diese Neigung brachte Gutes und weniger Gutes. Ihn hatte das Gute getroffen. Manchmal gruselte ihn bei dem Gedanken, jeden Morgen in eines dieser altenBacksteinbunkergehen zu müssen, der womöglich die vorletzte Jahrhundertwende miterlebt hatte. Diese hohen, kalten Räume, diese schallenden Laute auf den Gängen, dieses Gefühl klösterlicher Kreuzgänge. Doch das war es nicht allein. Diese, seine Schule, war nicht nur modern. Sie wardieEliteschule der ganzen Region. Hohes Lern-Niveau, hoher Lehr-Anspruch und eine »hohe Hemmschwelle für schlechte Disziplin«. Schrimp grinste. Diese Worte hatte Aaron Barthels geprägt, und ausgerechnet die nahm der ganze Lehrkörper in den Mund, der ansonsten von Aaron Barthels kaum etwas zur Kenntnis nahm. Aaron war seit einiger Zeit als Spinner verschrien. Seine Warnung über die schlechte Luft in der Schule wollte niemand hören. Nicht einmal die Schüler zollten ihm noch den gewohnten Respekt. Im Gegenteil. Hinter vorgehaltener Hand bezeichneten sie ihn als senil, seines bröckelnden Gedächtnisses wegen, für das auch Schrimp keine Erklärung fand.
Das Glas der Außentür war klar und kalt. Am Ende der Woche würden die Spuren unzähliger Hände den Durchblick wieder erschweren. Vor der Tür senkte sich die feuchte Luft zu Boden, dahinter erhob sich hell und warm die gelbe Wand der Eingangshalle zur Begrüßung, freundlicher als an allen anderen Schulen dieser Stadt.
Schrimp ging in langen Schritten die Treppe hinauf. Der Geruch von Farbe stand in den Gängen und im Treppenhaus. Der süßliche Geruch von Terpentin mischte sich mit jenem widerlichen Dunst, den Schrimp nicht ertragen aber auch nicht erklären konnte. Obwohl er vor langer Zeit die Lehrfächer Biologie und Chemie studiert hatte, kannte er keinen vergleichbaren Geruch. Auch der hauptamtliche Chemiker der Schule, Sven Krüger, der trotz seiner Jugend zum stellvertretenden Direktor avancierte, winkte nichtssagend ab. Schrimp konnte auch Krügers Verhalten nicht deuten. Möglich, er war den Gerüchen längst auf der Spur. Wahrscheinlich aber nervte ihn nur die ewige Nörgelei.
Er hörte die Stimmen einiger Jungen unten an der Eingangstür. Sie stiegen plaudernd die Treppen hinauf und kamen mit schlurfenden Schritten den blank gewischten Gang entlang. Die Gesäßtaschen einiger Hosen hingen tief, zu tief. Die Säume schlappten nachlässig über die Hacken der Turnschuhe.
»Guten Morgen«, sagte einer und zog beide Hände aus den Hosentaschen. Das war das Erfrischende hier amKonrad-Zuse. Hier konnte man noch Tugenden spüren.
»Hallo Sebastian«, erwiderte Schrimp. »Wie man sieht, geht 's dir gut.«
»Na super. In den Ferien immer Schr… Herr Fedder.«
Schrimp wusste es. In den Ferien ging es dem Jungen zumeist gut. Daran aber lag das Stocken in der Stimme des Jungen nicht. Bei den Mädchen passierte es höchst selten, dass sie seinen Namen nicht über die Lippen brachten. Es störte ihn nicht, wenn auch die Schüler ihn heimlich Schrimp nannten. Alle nannten ihn so. Nur den Respekt durften sie nicht verlieren, und das war nicht mehr selbstverständlich. Schrimp zeigte den erhobenen Daumen und lachte verschlagen:
»Wollen wir hoffen, dass es so bleibt. Es gibt tolle Projekte in diesem Jahr.«
»Bei Jugend forscht?«
»Da auch.«
Er bewegte den Schlüssel vom Biologie-Kabinett mit einer Drehung und verschwand in seinem Reich.
Auf dem Flur ein heiseres Krächzen. Es kam näher. Tritte stoppten und etwas kratzte an der Tür. Aaron Barthels stand im Türrahmen, nicht gerade fröhlich. Wer ist schon froh, wenn der Ernst des Lebens wieder losgeht. Die schwierigste Etappe des Schuljahres stand bevor. Bis Weihnachten, dann war das Schlimmste überstanden.
Es war alle Male auffällig, dass Aaron immer zuerst zu ihm kam, bevor er sich auf den Tag einließ. Daran hatte sich also in den sechs Wochen Ferien nichts geändert. Schrimp schaute ihn an und begriff wohl zum ersten Mal, dass Aaron tatsächlich ein Problem hatte. Wortlos streckte er seine Hand aus: »Wollen wir uns die Arbeit wieder schmecken lassen?«
»Im Moment schmeckt meine Zunge, als hätte schon jemand darauf rumgekaut.«
»Man sieht 's.«
»Was sieht man?«
»Wenn ich dich ansehe befürchte ich, Gunther von Hagens hat dich auf seiner Liste.«
Die unbedachte Floskel genügte Aaron offenbar, um trotzig seine Stirn zu heben. Irgendwie hatten sich über die Ferien tiefe Falten eingeritzt, doch das Schimpfen gelang ihm noch. »Mich kriegt keiner zu diesem Leichenfledderer, tot oder lebendig. Diese Gesellschaft darf nicht alle Tabus brechen?«
Auch wenn Schrimp ihm zustimmen möchte, auch wenn er mit Aaron zum Für und Wider über das Gubener Plastinarium gerne philosophiert hätte, er wollte ihm nicht auf den Leim gehen. So schnell, wie Aaron gesprochen hat, erstrecht die Härte in seiner Stimme, verriet ihn längst. Schrimp trat einen Schritt auf Aaron zu und zwang ihn, seinem Blick standzuhalten.
»Ich merke schon«, lenkte er ein. »Willst du mir etwas Bestimmtes sagen?«
Aaron rieb seine Hände gegeneinander und stand da, wie die kleinen Jungen vor ihrer Großmutter stehen, wenn sie sich trotzig verweigern.
»Ole, es gibt Fragen, die man sich im Leben besser nie stellt, weil man die Antwort fürchtet.«
Schrimp legte seine Hand auf Aarons nervös zuckenden, weil er ahnte, was in seinem Kollegen vorging. Er ahnte nur nicht, warum das Vergessen so früh bei Aaron Barthels einsetzte. Untypisch für sein Alter und untypisch für einen Beruf, der das Hirn auf Höchstleistung trainiert. Sein Problem konnte von der zeitweiligen Benommenheit rühren, von der Aaron manchmal erzählte. Benommenheit kommt von Durchblutungsschwäche und die wiederum setzt die geistige Leistung auf Sparflamme. Andererseits litt Aaron unter der Häme des Kollegiums. Klar konnte die Luft in der Schule besser sein. Klar ließ bei dem permanenten Geldmangel die Sauberkeit der Räume auch mal zu wünschen übrig. Im Allgemeinen ging es dieser Schule gut. Sie hatten noch stundenweise Putzkräfte. Bei Aaron aber lag das Problem nicht an der Sauberkeit. Es lag tiefer. Oder höher? Erst unlängst hatte Schrimp beobachtet, wie Aaron an den Leuchtstoffröhren herumexperimentierte. Die wurden nicht geputzt. Die sahen gelb und verkeimt aus. Aber gab es nicht genug Dreck auf den Böden und den Fensterborden? Von den Bänken ganz zu schweigen; auf denen tummelten sich jede Stunde verschwitzte Hände.
Aaron glaubte, von den Leuchtstoffröhren kämen Schadstoffe in die Raumluft. Konnte sein. Konnte auch nicht sein.
Aaron Barthels galt im Kollegium als zart besaitete Mimose. Das war seiner pedantischen Art geschuldet, mit der er die Fächer Deutsch und Musik unterrichtete. Schrimp hatte nichts dagegen gesagt und das stieß ihm jetzt bitter auf. Ein wenig forsch versuchte er, der leidlichen Diskussion um Aarons Befindlichkeit zu entgehen und sein feiges Schweigen zu vergessen.
»Du musst sehen, wie du dalängs kommst, aber erwarte nicht, dass ich fromme Sprüche aus dem kleinen Katechismus ablasse. Ich kann nun mal nicht über meinen Schatten springen.«
Aaron hatte verstanden. Er senkte den Kopf und drehte dabei seinen Körper auf den Hacken um. Nicht einmal beim Griff zur Klinke hob er ihn wieder. Es schien, als läge am Boden sein Problem. Als er ging, näselte er ein paar Worte ins Nichts: »Keiner kann über seinen Schatten springen. Aber ich kann auf Dauer mein Gewissen nicht unter den Teppich kehren.«
Die Tür klickte geräuschlos ins Schloss. Aaron war so lautlos wie er gekommen war wieder verschwunden.
Die Menschen sind verschieden, dachte Schrimp. Manche jammern den ganzen Tag, andere schämen sich für ihr Leid. Es war nicht so, dass er Aaron nicht mochte. Er mochte ihn sogar mehr als manch anderen Kollegen. Das lag an der Musik. Er spürte die Wirkung von Musik auf seine Schüler. Wer musizierte, konnte sich besser auf andere einstellen, war sozialer, weniger aggressiv. Musik schien auch ein guter Lernmotor zu sein. Schüler, die ein Instrument spielten, konzentrierten sich im Unterricht besser. Und Aaron hatte einen großen Anteil an der Musikalität der Schüler dieser Schule, die eigentlich eine naturwissenschaftliche Prägung hatte.
Die erste Stunde war wie jedes Jahr Klassenleiterstunde mit allerlei Informationen und Organisatorischem. Nichts für Schrimp, der das Prickeln brauchte, das Köpferauchen der Klugscheißerchen, die sich im verzwickten System der Evolution verhedderten und die sich wohl deshalb nichts so sehnlichst wünschten wie den Glauben an die Schöpfung, der man nicht auf den Grund zu gehen hatte.
In der ersten großen Pause war Schrimp nach frischer Luft zumute. Er ließ die Fenster breit öffnen und trieb die Klasse vor sich her auf den Schulhof, wo ausgerechnet Aaron Hofaufsicht schob. Am Zaun gleich neben der Turnhalle stieg dichter Qualm über den Köpfen der Schüler auf und es schien in der Tat, als ob einige Schüler das Teufelszeug nach anderthalb Stunde Abstinenz bitter nötig hätten. Die Lehrer waren keine Vorbilder. Sie hatten ein Raucherzimmer, aber zuweilen sah man sie mit einem Glimmstängel direkt auf dem Treppenabsatz am Hofeingang stehen.
Aaron rauchte seit einiger Zeit nicht mehr und das war das sicherste Zeichen, dass es ihm nicht gut ging. Schrimp stellte sich neben ihn, biss in einen Apfel und schwieg derweil. Bei dem Pausenlärm war es gut zu schweigen, aber Aaron schwieg, als beachte er Schrimp nicht einmal.
»Tut mir leid, wegen vorhin«, sagte Schrimp irgendwann mit vollem Mund. Aaron rieb wieder seine Hände gegeneinander, wurschtelte in den Taschen seines Jacketts herum und kramte eine kleine gelbe Schachtel heraus, nahm mit zittrigem Griff ein Bonbon und schob es zwischen die blassen Lippen. Erst dann ließ er sich auf Schrimp ein.
»Das wird nicht das letzte Leid bleiben. Glaub mir.«
Irgendetwas hatte Aaron verändert. Das spürte Schrimp.
»Weißt du, wie dein Gesicht aussieht?«
Aaron atmete tief, so wie Raucher tief atmen, wenn sie besonders viel von dem tödlichen Gift benötigten, um ihre Nervosität zu bekämpfen. Aaron aber sog nur den von Eukalyptus getränkten beißenden Speicheldunst bis in die krächzenden Bronchien. Seine Stimme blieb gelangweilt:
»Ich weiß. Fräulein Brown hat es mir schon gesagt: Like raining cats and dogs. Oder so ähnlich.«
Schrimp schickte einen säuerlichen Blick herüber. Auch wenn Aaron mit Englisch rein gar nichts am Hut hatte, verstand er ihn, aber so wie Aaron die Sache interpretierte, hatte er es nicht gemeint. Er hätte das blasse Gesicht als Braunbier und Spucke bezeichnet, nicht als Regen, der für ihn ein Synonym für Übellaunigkeit war. Aaron war nicht übellaunig. Eigentlich nie. Und das war das Beachtliche an diesem Mann. Wer mit einer solchen Frau gestraft ist, dürfte ruhig übellauniger sein.
Nein, mit Hanna wollte niemand gerne zusammen sein. Vermutlich mied man auch Aaron wegen seiner griesgrämigen Frau.
Auch Schrimp hatte mit Aaron nicht wirklichetwas hergemacht. Weder Musik noch Deutsch waren je seine Interessen gewesen, nicht einmal, als seine alten Lehrer an der Waterkant ihn noch denlütten Olenannten. Jede Unterhaltung mit Aaron landete früher oder später bei den Lehrfächern, direkt oder indirekt. Das zumindest hatte sich inzwischen geändert.
Im Winter vor zwei Jahren fanden sie sich plötzlich - und zur Überraschung beider Seiten – im gleichen Hotel auf Rügen wieder. Schrimp erinnerte sich gut. Für den ersten Eindruck war Hanna verträglich gewesen und dennoch spürte man, wie sie Aaron zu dominieren versuchte. Erst war das Zimmer nicht warm genug und Aaron musste eine Auseinandersetzung mit der Reiseleitung führen. Nach ihrem Triumph, als sie daraufhin für den gleichen Preis eine Suite bekamen, hatte Aaron erst recht das Nachsehen. Er musste für sie um die gewohnte Sorte Müsli beim Frühstück kämpfen und um einen besseren Platz im Bus, wenn sie Ausflüge machten.
Das alles ging Schrimp und Inka nichts an, aber abends, wenn sie gemeinsam zum Essen in eines der Restaurants im Ort liefen, ging das Gezeter auch ihnen auf die Nerven. Der Weg – obwohl es ein erholsamer Gang auf der verschneiten Uferpromenade war - dauerte Hanna viel zu lang. Schrimp war da fein raus, aber Inka nicht. Sie musste die Nörglerin ertragen. Er hatte es so eingerichtet, dass er mit Aaron zumeist ein paar Schritte voraus ging. Sie hatten sich einiges zu erzählen, was ihnen im hektischen Schulbetrieb nur selten gelang.
Einmal war bei Aaron der Geduldsfaden gerissen. Er hatte nicht gleich auf eine Bemerkung von Hanna reagiert und sie beschimpfte ihn prompt wegen übler Stimmung, die ihr den Urlaub verderbe.
»Üble Stimmung?«, maulte Aaron in einer Art, die man bei ihm nie vermutet hätte. »Üble Stimmung ist genau das, was du permanent verbreitest.«
Wahrscheinlich schämte er sich vor ihm und Inka für Hannas Art. Bei Fedders ging es nie polternd zu, eher einmal zu sanft für ihr Alter. Und sie ignorierten sich nicht. Im Gegenteil, bei ihnen hatte man das Gefühl, sie konnten sich nicht nah genug sein. Das war dann später auch der Grund für Aarons vorsichtiges Lästern. Immerzu sprach er listig vom Liebesleben der Nacktschnecken, bis Schrimp sich darauf einließ.
»Besser Sex mit einer Nacktschnecke, als eine Gottesanbeterin zu begatten.«
»Was ist an der Gottesanbeterin so schrecklich?«
»Das Liebesleben. Es ist kurz und schmerzlich. Er wird dabei gefressen.«
»Von ihr? «
»In innigster Umklammerung. «
Das Lachen wollte kein Ende nehmen und das war für Hanna Grund genug, wütend das Restaurant zu verlassen und den weiten Weg auf der Strandpromenade von Binz in der Dunkelheit und allein durch den frisch gefallenen Schnee zurück zum Hotel zu stapfen. Seitdem gab es beinahe keinen Tag, wo Aaron und Ole - der von Aaron jetzt auch Schrimp genannt wurde - nicht über die schönste Nebensache der Welt philosophierten. Natürlich stets die anderen Kollegen betreffend, vornehmlich die weiblichen.
Seit einem halben Jahr aber redete Aaron über Impotenz, über das Älterwerden und über Krankheiten, für die man in jungen Jahren allenfalls ein müdes Bedauern übrig hatte.
Sie saßen lustlos in den Bänken, obwohl es die erste Stunde war. Einige hatten ihre Köpfe über ausgestreckten Armen auf den Tisch gelegt. Nicht einmal Schrimps rasanter Schritt und das Schlagen der Tür störte ihr morgendliches Phlegma. Er hatte ganz selten einen Grund über Disziplin zu klagen, im Gegensatz zu anderen Kollegen. Er hatte so seine Methoden.
»Wir drehen hier keine Doku über den Gammelfleisch-Skandal.«
Seine Schüler wussten, was er damit meinte und erst recht, wenn er ihnen eine Drohung mal nicht auf Plattdeutsch zumutete: Nur wer dieser Schule würdig sei, dürfe in diese Schule gehen. Schrimp klatschte hart in seine kräftigen Hände: »Auf geht's. Zeit, die Welt zu retten.«
Kaum einen Sekunde verging, da war von Phlegma keine Spur mehr, da flogen die Blöcke unter die Tische, ratzten zwanzig Stühle über das staubige Linoleum, um unter der Bank eingeklemmt zu werden. Bei diesem Wetter gingen die Schüler – Jungen wie Mädchen - gerne mit Schrimp in die Natur. Erstaunlich war, dass er an diesem Tag mit ihnen ging. Gewöhnlich reservierte er für Exkursionen die Doppelstunden. Heute hatten sie nur eine Stunde Biologie und heute war noch etwas anders.
»Was hat Schrimp gesagt?«
»Was er immer sagt. Zeit, die Welt zu entdecken.«
»Nein«, stritt Sebastian Hamm, »er hat was von retten gesagt.« Sofort flog ihm das Lästern der anderen entgegen.
»Hast wohl deinen Brummkreisel im Schädel mal wieder nicht abgestellt. Warum soll er denn was von retten gesagt haben?«
Auf der Hintertreppe, die über den Schulhof führte, stoppten Schrimps Schritte für einen Moment. Er schaute hinüber zum Damm, der entlang der Spree als Radfernweg ausgebaut worden war. Von hier aus in östlicher Richtung hatte die Schule ihr Biotop. Heute bog er aber nach Westen ein auf den schmalen, nur von Anliegern benutzten Trampelpfad zwischen den von Efeu umrankten Erlen, die Inka so mochte. Wenn die Morgensonne helle Streifen zwischen die dicken Stämme zauberte und die Spree im Dunst des Tages erwachte, geriet Inka regelmäßig ins Schwärmen sooft sie den Weg gemeinsam liefen. Auch er hat dafür ein Auge, aber an diesem Morgen bewegte ihn etwas ganz anderes.
Am Ende des Pfades, da wo der Rest einer kleinen Mauer die Ruine der alten Wollefabrik begrenzte, ließ er die Schüler warten. Schrimp zog einen Wust aus seiner Tasche; ineinandergelegte Atemmasken aus festem Textil und einige Gummihandschuhe.
Männliches Kichern und weibliches Kreischen durchbrach die Stille der Natur. Keines der Mädchen wollte ihr schönes Gesicht mit einer Maske verunstalten, gerade jetzt, wo sie einmal nicht frontal mit steifen Mienen vorihmsitzen mussten. Jetzt waren sie auf Augenhöhe. Jetzt konnten sie ihm schöne Augen machen, ihre Körper strecken und sogar kleine Reize einsetzen. Jetzt heimsten sie jeden Blick von ihm ein, der sie traf und den sie deuteten, wie es einer jeden beliebte. Schrimp blieb hart. Er diskutierte nie lange herum. Jeder hatte einen Atemschutz anzulegen und Handschuhe überzustreifen. Nur diejenigen mit einer Latexallergie durften sich zurückhalten.
Noch war er nicht sicher, ob sie es herausbekommen würden, was er zuerst selbst kaum glauben wollte. Doch sein Verdacht bestand zu Recht. In diesem Sommer gab es reichlich Niederschlag. Zusammen mit dem salzigen Boden und der Wärme hatten die Pflanzen während der Ferienwochen einen rasanten Wachstumsschub erfahren. Jetzt würde kein Mensch mehr achtlos an ihnen vorbeigehen, aber gerade jetzt ging von der Pflanze eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Gesundheit aus.
An der Mauer stand ein beachtlicher Busch einer krautigen Pflanze, die von den Schülern sofort als Korbblütler erkannt wurde. Während Schrimp ihn aus allen Positionen fotografierte, stritten sich die pfiffigsten Schüler bereits über Gattung und Unterart.
»Beifuß«, mutmaßte einer.
»Wermut«, sagte ein anderer. Lehrer Fedder ließ beides nicht gelten. Er verwies auf die behaarten Stängel, die der Wermut nicht aufweise, sowie auf die dunklere und überdies behaarte Unterseite der Blätter. Also auch kein Beifuß.
Da war es wieder, das Köpfe-Rauchen der Klugscheißerchen, das er genoss wie ein alter Krauter seinen Priem. Trotzdem. Er musste schon einen sehr guten Tag haben, wenn er den Quenglern bestätigte, dass es sich um eine Art Traubenkraut handelte. Mehr verriet er nicht. Die ganze Wahrheit würde der Leistungskurs zutage befördern und dem musste er noch eine möglichst harte Nuss übrig lassen.
Für heute ließ er am Rest der Pflanze die Unverzagten verzagen, die Zweifler verzweifeln und die Interessenlosen sich langsam dafür interessieren. Alles wurde protokolliert, aber niemand kannte diese Pflanze: Gedrungen buschig. Dreifach gefiederte Blätter. Verzweigte Stängel, zuweilen rötlich. Fingerförmige, aufrecht stehende ährige Traubenblüte. Und in den Blüten reiften winzige Früchte, die Fedder in kleine Plastiktüten füllen ließ, ebenso wie noch vorhandenen Blütenstaub, Blätter und Stängelteile. Dann war die Stunde zu Ende.
Einer vom Leistungskurs, ein ziemlich redseliger, dicklicher Bursche mit Stoppelhaaren und Nickelbrille, der bei Projektarbeiten nie ein Ende fand und den Schrimp regelmäßig aus der Schule treiben musste, um keinen Zoff mit seinen Eltern zu bekommen, dieser Junge pirschte sich an Schrimp heran. Ob er vielleicht die Teile unter dem Mikroskop betrachten dürfe, er würde schon herausbekommen, worum es sich handelte. Eine Ahnung hätte er schon.
»Kümmt Tiet, kümmt Rat, Tobias«, sagte Schrimp in seinem unverwechselbaren Platt und wenn erup platt snackte, dann war er guter Dinge, das wusste jeder in der Schule. Schrimp schob den Jackenärmel über die Uhr zurück und drängte die Klasse zum Rückmarsch. Nur die Warnung – niemand solle sich einer solchen Pflanze ungeschützt nähern – die gab er allen mit auf den Weg. Dann wies er sie an, Hände und Gesicht zu waschen, bevor sie zur Essenpause gingen.
»Das ist ja wie bei den ersten Menschen.« Die Stimmen maulten weit weg im Zug der Klasse, die grüppchenweise zurücktrottete.
»Wieso? Hatten die ersten Menschen auch schon Lehrer?«
»Nee. Die lebten ja im Paradies.«
Ganz geheuer war Schrimp bei einem gewissen Gedanken nicht. Die Pflanze musste noch stehen bleiben, bis er Tags darauf der Parallelklasse die gleiche Nuss zu knacken vorgesetzt hatte. Aber danach müsste er sofort zum Amt, eine Meldung machen. Heute muss alles gemeldet werden, dachte er und erinnerte sich noch gut an die vermutete Salmonellengeschichte, die im letzten Sommer beinahe ein Chaos ausgelöst hatte. Für jeden unnormalen Stuhlgang, für jede Übelkeit und jeden verqueren Pups wurde ein extra Protokoll angefertigt. Es waren keine Salmonellen, aber der Aufwand war auch kein Problem gewesen. Sicher war sicher. Hier aber ging es auch um die Menschen da draußen, die gutgläubig die Blüten berührten oder gar pflückten.
Schrimp hatte vor, die nächste Pause im Lehrerzimmer zu verbringen, obwohl er dort selten zu finden war. Nicht weil er menschenscheu war. In seinem Kabinett im ersten Stock gab es immerzu etwas vorzubereiten. Diesmal kam er nicht umhin. Am Stundenplan hatte sich etwas geändert. Das war normal für den Schuljahresbeginn und er musste diese Änderung in seinem Plan korrigieren. Neuerdings konnte jeder sein Wehwehchen anbringen, seine Springstunden monieren. Nur auf Fächer mit notwendigen Exkursionen wie eine solche, die er soeben hinter sich gebracht hatte, wurde keine Rücksicht genommen. Den Stundenplan baute Krüger und er baute ihn im Sinne seiner Busenfreunde. Dazu gehörten weder Ole Fedder noch Aaron Barthels und ebenso wenig Fräulein Brown. Das war kein Geheimnis.
Die Atmosphäre im Lehrerzimmer war nicht gut. Stickige Luft und schlecht gelaunte Gesichter. Warum spürte Schrimp sie immer, wenn er von seinen Exkursionen kam? Lag es an den Stimmen der Schüler, die da draußen um einiges freundlicher klangen? Lag es an der sauerstoffreichen Luft in den Auen?
Im Lehrerzimmer war die Luft tatsächlich mies und die Ausdünstung so manch eines Saubermannes tat hier noch das Übrige. Eigentlich müsste man es denen mal sagen, dachte er. Es blieb beim Denken. Es war klüger, den Mund zu halten, wie er es ein Leben lang getan hatte und gut damit gefahren war. Wenn alle anderen der Geruch von Schweiß und Bettwärme nicht störte, warum sollte er das Maul aufreißen und den Groll aller ernten? Nicht einmal Aaron, den die Luft immer störte, monierte sie an diesem Tag.
Schrimp erfasste eine gewisse Situation mit ziemlichem Missmut: Aaron saß am langen Tisch, die Zeitung lag aufgeschlagen vor ihm, doch er döste wie abwesend vor sich hin. Sein flaches, ausdrucksloses Gesicht war ungewöhnlich rosig. Die Ärmel seines geblümten Hemdes waren ordentlich zugeknöpft und reichten bis zur Hälfte über die Handrücken. Fräulein Brown, die Englisch-Lehrerin im biederen Flanellkleid, aß eines der mitgebrachten Frühstücksbrote und hielt die linke Hand fortwährend unter ihr Kinn, um die Krümel aufzufangen. Heiner Bär, der Mathematiker, hob das rechte Knie mitsamt der ausgebeulten Jeans über das linke und beugte sich zum Chemiker Sven Krüger hinüber. Sie sprachen leise miteinander und dennoch hatte Schrimp das Gefühl, alle sollten hören was gesprochen wurde. Es ging um die Stelle des Stellvertreters von Direktor Mudrack, die wegen der anhaltenden Krankheit von Karl Müller zur Disposition stand. Krüger hatte nicht nur große Ambitionen; die Erwartung seines Aufstiegs schien berechtigt zu sein.
Arme Sau!Schrimp war vermutlich nicht der Einzige, der so dachte. Krüger gab sich viel Mühe, die Bitternis seines Lebens zu überspielen. Ein Dummejungenstreich kostete ihn einst sein linkes Auge. Hinter der teuren Designerbrille fiel es kaum jemandem auf. Nur wer es wusste, der sah es auch. Was aber jeder sah, das war die schräge Haltung seines schweren Kopfes, mit der er seinen Nachteil zu korrigieren versuchte. Und was jeder hörte, das war die Großspurigkeit in Krügers Reden.
»Na, Spaziergang beendet?« lästerte der, als Schrimp in der Tür erschien. »Biolehrer müsste man sein.«
»Soviel ich weiß, ist der Aufenthalt an der frischen Luft in einem Sanatorium wie diesem Verordnung«, konterte Schrimp, wohl wissend, was die übrige Schullandschaft der Stadt über das Konrad-Zuse-Gymnasium dachte. Krüger zog seinen Kopf gerade und wandte sich wieder Bär zu.
Als Aaron Schrimp bemerkte, streckte er seinen Körper, als erwachte er soeben aus einem langen Traum. Er zog einen kleinen bunten Schein aus der Tasche und legte ihn neben die Lausitzer Rundschau, direkt dorthin, wo die Lottozahlen der Mittwochsziehung abgedruckt waren. Sein Kopf ging mehrmals hin und her, ehe seine Lippen kaum hörbar formten:
»Nicht eine einzige Zahl stimmt.«
Am anderen Ende des Tisches ruckte Heiner Bär aus seiner Lauerstellung, die er nie aufgab, auch wenn er noch so brisante Gespräche führte: »Tröste dich«, kicherte er lauter als er bisher mit Krüger gesprochen hatte. »Deinem Sohn ging es damals genauso.« Zum Glück hatte er zu sagen unterlassen, was ihm bei Aarons Abwesenheit gerne aus dem Munde rutschte: Die gehören beide nicht an diese Schule. Schrimp wusste es, wie jeder es wusste. Und er sagte nichts dazu, wie jeder nichts dazu sagte.
Aarons Sohn war längst im Auslandstudium. Also konnte er in Mathe so schlecht nicht gewesen sein.
Wütend schlug Aaron die Zeitung zu. Er stand auf, um den Raum zu verlassen. An Schrimp kam er erst einmal nicht vorbei. Der legte großen Wert darauf, Aaron erhobenen Hauptes zu sehen und den Sticheleien, die er bestens kannte, mit Würde entgegenzutreten. Vielleicht aber war es nur seine Wiedergutmachung für die Kränkung ein paar Tage vorher.
Keiner von beiden wusste es in diesem Moment. Es war der Beginn all dessen, was noch folgen sollte und was Folgen hatte. Ganz sacht begann ein kleiner Kampf, der erste, den Schrimp je in diesem Hause führte. Ein Aufbegehren gegen die kleine Gemeinschaft der Verschworenen, die hinter vorgehaltener Hand witzelten, die dem Ruf eines unbescholtenen Menschen schadeten.
»Ich habe von deinem Erfolg gehört«, sagte Schrimp. »Alle Achtung. Du schaffst es noch zum ersten Professor dieser Schule. Eine anerkannte Koryphäe in unseren Reihen. Ehrlich, das täte diesem Hause mal gut.«
Der fragende Blick von Aaron, ehe der den Raum kopfschüttelnd verließ, war Schrimp nicht entgangen, ebenso die klappende Kinnlade von Sven Krüger. Zum Glück war Aaron nicht in der Stimmung zu fragen, was genau Schrimp gemeint hatte. Es wäre ihnen beiden nicht gut bekommen. Aber es hatte gewirkt. Ganz sicher hatte es gewirkt. Und diese Sicherheit verstärkte sich Tage später, als Sven Krüger ohne ersichtlichen Grund um Aaron herumscharwenzelte. Als Schrimp dazukam, ließ er von Aaron ab und begnügte sich damit, Schrimp auf die Pelle zu rücken:
»Schau dir das an.« Er pflanzte sich mit lauerndem Blick neben Schrimp auf und schaute mit schrägem Kopf dahin, wo Schrimp mit verkniffenen Augen und kleiner Schadenfreude hinschaute. Vom Fenster aus konnte man über die Straße auf einen alten Garagenkomplex blicken, an dessen Flanke alte Autoreifen aufgestapelt lagen, von wucherndem Unkraut umgeben.
»Warum ist Unkraut so unverwüstlich, während die edlen Pflänzchen der erstbesten Widrigkeit zum Opfer fallen?« Ob Schrimps Worte zu dem Bild gehörten, das Krüger meinte, oder zu dem Bild, das sich mit Aaron gerade verflüchtigt hatte, war für Krüger nicht auszumachen.
Natürlich kein Unkraut, dachte Schrimp. Wildkraut. Das paukte er den Schülern gehörig ein und das sollte auch er so gebrauchen, trotz übler Absicht. Aber für die üble Absicht wäre Wildkraut sehr unpassend gewesen. Was hatte Krüger wirklich gemeint?
Von irgendwoher war ein nicht sehr neues Auto gekommen, mit Heckspoiler und verbreiterten Felgen. Es hielt mit knatterndem Motor vor dem Haupteingang. Der Fahrer, vermutlich der Freund eines der Mädchen aus der Dreizehn, ließ lässig einen Arm aus dem Fenster baumeln, in der Hand die glimmende Zigarette.
Krüger spurtete neugierig zum kleinen seitlichen Fenster, aber Schrimp hatte nicht sehen können, welches Mädchen wenig später eingestiegen war. Nur das knatternde Geräusch des davonbrausenden Wagens hing noch lange in der Luft.
Er hatte nicht vergessen, wie es war, als er noch zur Penne ging. Kaum, dass jemand ein Fahrrad besaß. Kaum, dass man sich einem Mädchen auf weniger als einen Meter nähern durfte, um nicht beim Direx antanzen zu müssen … Diese Zeit war längst in die Vergangenheit gewichen, nicht die Gedanken. Die heutige Gesellschaft ist erstaunlich großmütig. Jeder darf leben wie er es für richtig befindet. Ein jeder bestimmt sein Risiko selbst, wenn er es denn kennt!
Schrimp steckte eine Hand lässig in die Jackentasche und lief die Treppe hinauf, zurück in sein Kabinett. Fertig war er mit seinen Gedanken noch nicht. Ist es gut so, wie es jetzt ist? Ihm kamen Inkas Worte in den Sinn. Warum jetzt? Hatten sie etwas mit der Freimütigkeit dieser Gesellschaft zu tun, mit dem selbstbestimmten Risiko. Oder vielleicht mit Aaron?
Wenn jeder lebt, wie er es für richtig hält, muss man sich nicht wundern, wenn Unternehmer Produkte in den Markt werfen, die auf Kosten unserer Gesundheit enorme Gewinne abwerfen..
Schrimp schüttelte sich, als müsse er erwachen. Nein. Keine Schwarzmalerei. Seine Gedanken hatten nur etwas mit Inkas Angst vor schadstoffbelasteten Lebensmitteln zu tun.
Vor dem Schrank mit den besonderen Exponaten ließ er diese Art Gedanken endlich davonfliegen. Hier hatte alles Hand und Fuß. Hier war er in seinem Metier. Er zog den weißen Arbeitsmantel über und füllte die gefährlichen Pflanzenteile aus den Plastiktüten vorerst noch getrennt in kleine Dosen, ehe sie als Präparate für das Mikroskopieren aufbereitet werden sollten: Samen, Pollen, Härchen von Stängel, Blättern und Blüten. Das waren dankbare Arbeiten für die wissenschaftlich-praktische Arbeit der Zehner. Im Präparieren schlugen die Zehner sich ziemlich wacker.
Während Margot Scherz sich im angrenzenden Unterrichtsraum mit den neuen Siebenern mühte, legte er selbst die großen Pflanzenteile, detailgetreu ausgebreitet, akribisch in die Presse, nachdem er noch einmal gezoomte Foto-Aufnahmen gemacht hatte. Damit zu warten, wäre Frevel.
Am Freitag war er früher als sonst auf dem Weg nach Hause. Inka hatte ihn gebeten, nicht so langeherumzumurksen,sondern zügig die Schule zu verlassen. Sie hatten sich vorgenommen, ihre Fahrräder, die sie zur Durchsicht gebracht hatten, wieder abzuholen. Am Wochenende stand eine Tagestour mit Freunden um den Spremberger Stausee im Programm, wo immer ein ausgiebiges Mittagessen abfiel, das den Frauen die Zeit am Küchenherd ersparte. Inka war nicht böse, wenn sie mal nicht kochen musste. Sie kochte gut, aber nicht selten hörte Schrimp ihr Klagen von der vielen Zeit, die die Zubereitung eines guten Mahles benötige, um ruckzuck verschlungen zu werden. Gewöhnlich vermutete er hinter Inkas Klage einen Seitenhieb auf seine Art zu essen. Er aß wesentlich schneller als sie und wartete nicht selten ungeduldig auf den Abgesang, um sich den wahrhaft interessanten Dingen zu widmen. Irgendwie hatte Inka auf andere Weise Recht. Hausarbeit war zeitraubend und uneffektiv. Seit die Kinder aus dem Haus waren, hatte sie eine passable Methode entwickelt, um stets Hausgemachtes auf den Tisch zu bringen und trotzdem nicht täglich am Herd stehen zu müssen.
Er nahm den Weg über die Spree, überquerte die Kollwitz-Brücke und lief geradeaus weiter durch den Puschkin-Park. Hier außerhalb der alten Stadtmauer verliefen im Mittelalter die Graben- und Wallanlagen zum Schutz der Stadt. Jetzt gab es hier einen gut gepflegten Grüngürtel um die Altstadt herum. Durch die Reihe der Sträucher und Bäume blinkte das Gegenlicht der hellen Fassaden jener Häuser, die von den Alteingesessenen keines Wortes gewürdigt wurden, die ihn aber, als er hierher gezogen war, geradezu fasziniert hatten. Diese Stadt war gesegnet mit Jugendstilbauten. Das Konservatorium war nur einer von vielen. Früher befand sich dort das einzige Gymnasium der Stadt, vorbehalten für Arbeiter- und Bauernkinder. Ein staatliches Eigentor für jene Proleten, denen der Staat einst die höhere Bildung zukommen ließ. Danach waren deren Kinder keine Arbeiterkinder mehr, standen nun vor den selbst gebauten Schranken und durften sie nicht passieren, um das Werk ihrer Eltern fortzuführen. Dieser Zustand engstirniger Reglementierung hielt viele Jahrgänge an. Schrimp grinste verschlagen. Das gehörte zur Geschichte, die zuweilen kuriose Geschichten erzählt. Vorbei.
Unter den Platanen und uralten Eichen saßen kleine und größere Gruppen Jugendlicher, deren Fahrräder auf der gut gepflegten Wiese wild durcheinander lagen. Am kleinen Hang zur Stadtmauer hin gab es eine Versammlung junger Mütter mit ihren Babys, die im Schutze ihrer Wagenburg die Kleinen stillten oder windelten. Dazwischen tobten ausgelassen zwei Hündchen und hinterließen krankmachende Exkremente, obwohl unweit eine der neuen Hundeservice-Stationen stand, wo man neuerdings eine Tüte für die Entsorgung ziehen konnte. Das Bild der Mütter hätte Inka gefallen, das Bild kotender Hunde wäre nichts für sie. Inka …
Seine Gedanken waren noch nicht zu Ende gedacht, als eine Frau auftauchte, die ihm bekannt vorkam. Keine Frage, sie kam direkt auf ihn zu. Konsequent und ohne lange Floskeln sagte sie in ziemlicher Erregung:
»Herr Fedder. Ist es wahr, dass Sie die Schüler giftige Pflanzen sezieren lassen?«
Vom dunklen Haar der Frau hing eine Strähne über die Schulter nach vorn bis über das Revers des hellgrünen Kostüms. Ebenso hellgrüne Augen versprühten jenen Unmut, den er bei dieser Art Frauen ganz und gar nicht mochte. Diese »Art« war jene, die von der Männerwelt als attraktiv bezeichnet wurde. Was aber war attraktiv an dieser Frau, wenn aus so köstlichen Lippen so grimmige Worte stürzten?
»Guten Tag«, sagte er. »So viel Zeit muss sein. «
»Hamm. Simone Hamm«, sagte sie und schien einen Augenaufschlag lang verwirrt zu sein. Das gefiel ihm. Er suchte in ihrem Gesicht und glaubte, es sähe sogar ein wenig beschämt aus. Das gab sich, als sie weiterzureden begann. »Ich denke, Sie wissen, wie es Sebastian geht. Und ich denke, Sie wissen, was Sie ihm und den anderen Kindern zumuten.«
Weil Schrimp nur still seinen Kopf schüttelte und sich zurechtzufinden versuchte, wurde sie schrill. »Beten Sie zu Gott, dass Basties Zustand nichts mit der Ambrosia-Pflanze zu tun hat. Aber wenn doch, dann treffen wir uns wieder. Schon bald.«
»Woher wissen Sie …?«
»Sie wissen offenbar nicht, was Sie anrichten können.«
Sebastian Hamm war seit diesem Schuljahr im Leistungskurs registriert, obwohl er nicht gerade das stärkste Pferd im Biostall war. Er galt aber bisher nicht als Schürzenkind, das sich an der Mutterbrust ausheulte. Natürlich war Schrimp der Zustand des Jungen bekannt. Natürlich hatte er in diesem Moment nicht im Mindesten daran gedacht. Es ging auch nicht um Mut oder Experimente, es ging um die Fähigkeit, die Natur zu erkennen und die richtigen Schritte einzuleiten, wenn Widrigkeiten erkannt werden. Und das zumindest hatte der Leistungskurs der Elfer inzwischen mit Bravur bewiesen.
»Soweit ich weiß, leidet Sebastian seit Langem unter unerklärlichen Symptomen. Von der Pflanze können die nicht sein, die gibt es erst seit diesem Sommer. Wir untersuchen das Terrain jährlich. Alles, was je dort wuchs, ist katalogisiert …«
»Dann legen Sie ab jetzt einen neuen Katalog an. Kategorie Eins: Wir treffen uns beim Direktor. Kategorie Zwei: Wenn das nichts nützt, ziehen wir zum Schulamt und weiter zum Amtsgericht.«
Die Nachmittagssonne stand schon schräg und schien ihm ins Gesicht. Er blinzelte und vielleicht sah es aus, als belächelte er ihre Sorgen.
»Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen.«
Nicht, dass allein ihre grünen Augen pure Galle versprühten, der Frau war eine gewisse Atemlosigkeit anzumerken. Noch ehe er sie aufklären konnte, die Entdeckung bereits ordnungsgemäß gemeldet und die Pflanzen auf Bitte des Amtes vorschriftsmäßig entfernt zu haben, eilte sie davon. Zurück blieb nur ein ganz gewisser Duft. Kein unangenehmer. Ein süßer, aber dezenter Duft.
Schrimp hob die Nase und ebenso die Schultern und er dachte, da könne er nichts machen. Hysterische Leute gebe es immer. Leute, die überall Gespenster sahen und alles infrage stellen mussten. Herrje, wie viele davon gefährdeten bereits den Alltagsfrieden. Aaron war auch einer von denen. Verständlich. Aaron hatte ein Problem und er suchte nach Schuldigen. Und diese Frau? Hatte auch sie ein Problem und suchte nach einem Schuldigen, ob der ins Raster passte oder nicht?
Aus dem Park kommend schritt Schrimp lang aus, ging am japanischen Teehaus vorbei, das mal wieder restauriert worden war. In boshafter Regelmäßigkeit fiel es den Vandalen zum Opfer, die nichts Besseres mit sich anzufangen wussten, als Unmengen von Unrat zu produzieren, Bierflaschen zu zerschlagen und Leute anzupöbeln. Dagegen warenseineSchützlinge die reinsten Lämmer, auch wenn ihr Wissensdrang zuweilen nervte, auch wenn ihre rosarote Schläue ihm manchmal die grüne Galle bescherte, auch wenn es Eltern gab, die ihren Krösus in Watte packen möchten, wie diese Frau Hamm. Manchmal fragte auch er sich, wie manch ein Schüler es schaffte, all seine Interessen zu bündeln oder gar im Besonderen auszuleben. Sebastian Hamm war so einer. Ob seine Eltern nur zu hohe Erwartungen hatten? Denkbar, bei dieser Mutter. Andererseits lagen gerade Sebastians Hobbys nicht eben dort, wo Menschen wie diese ehrgeizige Grille, die längst seinen Blicken entschwunden war, ihre Kronjuwelen aufzubewahren pflegen. Musikschule ja. Aber Karate-Klub? Oder diese Jazz-Band, vielleicht auch Hip-Hop oder Pop? Schrimp kannte sich da nicht so genau aus und nachdenken wollte er nicht länger, das Wochenende war zu kostbar für unnützen Ärger.
Aaron verbrachte jetzt mehr Zeit mit anderer Lektüre, als mit den vertrauten Klassikern. Er las nicht nur, er vermehrte seine ungewöhnlichen und irgendwie auch heimlichen Handnotizen, die schon einen breiten Ordner füllten. Wenn er gerade nicht in einem medizinischen Ratgeber blätterte, wenn er keines der Chemiehandbücher nach etwas durchforstete, was er auch zu verstehen in der Lage war, dann saß er am Klavier und spielte nervige Etüden. Seine Stakkatos brachten Hanna zur Weißglut, seine Finale grandioso hatten zur Folge, dass sie das Haus verließ und erst am Abend zurückkam, wenn Aaron wieder Vernunft angenommen hatte. Er hielt Hanna nicht davon ab. Ihm behagte das Alleinsein und dann wieder verzweifelte er daran - je nach Tagesform. Es gab schon Tage, da stand er gestiefelt und gespornt im Flur in der Absicht, Ole Fedder aufzusuchen. Wenn die Sache je einen Verbündeten notwendig machte, dann musste es Schrimp sein. Und dann gab es Tage, an denen er nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte. Es ging ihm nicht gut, doch sein Hausarzt hatte keinen Grund dafür gefunden und Hanna hatte immer den gleichen Spruch drauf: »Geh endlich zu einem Spezialisten, oder hör auf zu jammern.«
Er jammerte gar nicht. Im Gegenteil. Er spielte aller Welt den Sorglosen vor, dem niemand seinen Humor nehmen könne.
»Warum gehst du nicht?«, hatte Hanna geschrien.
»Die Zeitschriften in den Warteräumen gefallen mir nicht«, war seine bleierne Antwort. Diese Art Sprüche hatte er von Schrimp gelernt und er bewunderte diese lockere Art. Zu gerne würde er auch so sein, aber zuweilen war sein Zustand nicht zu verbergen. Nicht vor seiner Frau und nicht mehr vor seinen Schülern. Wenn es ihm noch halbwegs gelang, dann in der kurzen Zeit, die er im Lehrerzimmer mit den Kollegen verbringen musste. Zwangsläufig.
Wenn es nur die zunehmende Gedächtnisschwäche wäre, die könnte er irgendwie überspielen. Besorgniserregender für ihn waren die rätselhafte Benommenheit und der quälende Husten. Freilich gab es wegen seiner Zerstreutheit bereits Misstöne im Kollegium. Jeder fühlte sich bedroht vom Entlassungs- und Umsetzungsbestreben des Schulamtes. Gerade wurde noch geklagt und das Urteil war noch gar nicht gesprochen. Auch er sah eine reelle Chance, von einer Umsetzung in den Speckgürtel von Berlin verschont zu bleiben. Aber gegen eine Versetzung an eine Realschule oder Hauptschule hatte er keinen brauchbaren Trumpf in der Hand. Wenn seine Versetzung eintreten sollte, konnte er sich sein profundes Wissen an Literaturgeschichte hinter den Spiegel stecken. Und wer nahm einen Musiklehrer noch ernst.
Nun war er beim Spezialisten gewesen. Ruhiger war er nicht. Man weiß nie, was einem angenehmer ist. Wenn der Arzt nichts unternimmt, oder wenn er alles Mögliche unternimmt. Dieser Arzt unternahmalles Mögliche, wie man so sagt, doch gerade dieser Umstand war beängstigend. Vielleicht musste er sich nun keine Sorgen mehr machen. Vielleicht würde die Computertomografie die Auflösung des Rätsels bringen.
Aaron hatte keine Ahnung, ob die bange Erwartung eine Lösung für sein Problem war. Ganz sicher nicht. Über seine Lippen huschte etwas, was man bei jungen Menschen ein süßes Lächeln nennt. Dieses war ähnlich, aber es war bittersüß. Fatal, was er inzwischen dachte: Im schlimmsten Falle wäre er nicht mehr der Spinner, den sie ihn nannten, seit er diesen unglaublichen Verdacht hatte.
Am Morgen gab es auf dem Stadthallenvorplatz eine Demonstration gegen die Erweiterung des Tagebaues östlich der Stadt. Das Dorf Horno sollte abgebaggert und die Bewohner in nigelnagelneue Häuser umgesiedelt werden. Ganze Wohnsiedlungen sollten neu entstehen. Doch das war kein Ersatz für Landratten mit Geschichte, mit Erinnerungen, mit Liebe zu ihrem bescheidenen Besitz, den sie in entbehrungsreichen Jahren geschaffen hatten, der Mangelwirtschaft zum Trotz. Schlimm für Leute, die keinen so langen Vorausblick auf ihr Leben mehr hatten.
In den Gesichtern sah Aaron eine Sehnsucht, einen Kampfgeist und zugleich Bitternis gegen die Lügen der einst Mächtigen. Der letzte Minister hatte versprochen, Horno zu erhalten. Es gab ihn nicht mehr, diesen Herrn. Sein Versprechen war in den Schubladen unter der Altersdemenz versackt.
Auf einem der mitgeführten Spruchbänder konnte man lesen:Neu Horno - Kein Baum, kein Strauch. Nur lieblos geschichtete Steine ohne Seele.
Von der Einkaufspassage her formierte sich ein Gegenblock aus Männern in Overalls. Vermutlich Kohlekumpel, die durch die Proteste ihre Existenz bedroht sahen. Bürger der Stadt waren nicht viele zu sehen. Die hatten eigene Probleme; was interessierte sie fremdes Leid. Die Kohlegruben ringsum waren den Städtern nicht angenehm, aber sie heizten ihre Stuben.
Aaron hatte ein Weilchen zugehört und gewusst, sie hatten den Mut, weil sie mehrere waren. Ob sie Erfolg haben werden? Wer weiß? Eines Tages wird es in den Geschichtsbüchern stehen, aber ihr Kampf ist auch so nicht umsonst, dachte er. Das nächste Mal würde Vattenfall, der Energieriese, der die Lausitzer Braunkohle AG geschluckt hatte, genauer prüfen, vorsichtiger sein.
Wenn er doch selbst den Mut aufbrächte, für sein Problem zu kämpfen, konsequenter zu sein. Nein. An Konsequenz fehlte es ihm nicht. Es fehlte ihm das Zeug, sich aufzulehnen gegen einen unsichtbaren Feind. Wer seinen Feind nicht kennt, kennt nicht die Mittel, ihn zu bekämpfen.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
»Es geht doch längst nicht mehr um Kohle«, sagte die vertraute Stimme dicht an Aarons Ohr. Schrimp jetzt jetzt oft zu Fuß zur Schule. Auch ihn ließen die verbrecherisch hohen Spritpreise entdecken, wie heilsam das tägliche Laufen war, und zuweilen, wenn ihr Unterricht zur gleichen Stunde begann, trafen sie sich genau an dieser Stelle.
»Die dünne Kohleschicht lohnt die Hebung gar nicht. Es geht um den Kies, mit dem man diverse Löcher füllen kann. «
Aaron stutzte. Kies ja, aber war damit Sand gemeint? Er hatte keine Zeit, zu Ende zu denken.
»Hier geht es längst um einen Präzedenzfall. Widerstand darf sich hier zu Lande nicht lohnen. Die Obrigkeit ist ja auch nicht dumm. Hätte der Kampf der Hornoer Erfolg, würden ihm weitere Proteste folgen. «
Dass es ausgerechnet Schrimp war, der ihn in seinem Denken bestärkte, wunderte Aaron an diesem Tag noch. Sein Wundern zauberte ein Liedchen in sein Denkerstübchen, ein sorbisches, das er nicht über die Lippen ließ.Gott hat die Lausitz geschaffen, aber der Teufel hat die Kohle darunter versteckt.
Auf dem Weg zur Schule sprach er mit Schrimp von den Denkmälern der Zeitgeschichte, den alten Häusern, die seit Jahrhunderten weitervererbt worden waren, von der Kirche und ihrem Glockenturm und von den Gräbern, die man umzusetzen hätte. Darüber nachzudenken war nicht schwer. Es waren abstrakte Gedanken. Weit weg von der eigenen Haut.
Dem Kampf der Hornoer Bürger zollten die Männer unisono Respekt. Tief im Inneren überprüften sie sich selbst und jeder wusste von sich, dass Kämpfe immer Wunden hinterließen.
»Ich würde mein eigenes Haus nicht einmal im Koma verlassen«, polterte Schrimp, wie er zumeist gewöhnliche Worte für ungewöhnliche Dinge benutzte. Aber sicher, ob es so käme, sei er sich nicht.
Aaron begann zu husten und es war ihm, als reiße der Schmerz die Seele aus seinem Leib. Vor Schrimp wollte er stark sein, aber schon nach hundert Metern verlor er den Kampf der Eitelkeit. Die Atemnot wurde immer grässlicher und zuweilen gesellte sich dieser Auswurf dazu, der jeden abstieß, der es miterleben musste. Nicht Schrimp. Der war nicht zimperlich, der hatte immer einen Witz auf den Lippen, ermunternd, nie entmutigend.
»Dieses Lied solltest du mal Doktor Gehricke vorsingen. Nicht gerade die angenehmste Koloratur.«
»Zu spät«, keuchte Aaron. »Ich meine, dein Rat kommt zu spät. Ich war dort. Den Gehricke gibt es nicht mehr. Sein Nachfolger hat mich zur Untersuchung in einer dieser Röhren überwiesen. Acht Wochen Wartezeit.« Aaron hob zwei Finger zwischen erbärmlichem Husten. »Zwei … zwei Wochen hab ich erst weg.«
Während der letzten Jahre hatte Aaron mit dem Gedanken gespielt, seine Klassiker in eben dieser Form zu behandeln, die seine Schüler als annehmbar erachteten. Bei den ersten Versuchen glaubte er, es wäre für alle ein Segen, doch dann litt er wie ein Hund. Die Wahrheit, dass die Jugend seinen Literaturunterricht satt hatte, Klassiker sowieso und ganz besonders seineweitschweifige Tiefgründigkeit –was ein ähnlicher Widerspruch war, wie die Jugend selbst widersprüchlich war - ließ ihn erkennen, dass er ein guter Literaturkenner war, aber kein guter Didaktiker.
Weil sie keinen Respekt für den Stoff hatten, den er sie lehrte, hatten sie auch keinen vor ihm. Im Wissen darum, dass sie ihn nur ertrugen, erfüllte er seine Pflicht umso akribischer. Geradezu penetrant stellte er ihnen die schwierigsten Fragen, ließ sie Konspekte erstellen, sammelte sie ein, versah sie mit grandiosen Bemerkungen und glaubte, es ihnen und seiner Rechtfertigung schuldig zu sein.
Die Ironie der Kollegen entging ihm nicht. Aaron bezweifelte nicht, dass sie fehl am Platze war und dass manch andere Wissenschaft die gleiche Ironie verdiente. Von ihm kam darüber kein Wort. Er übte sich in Bescheidenheit, die seine Geburt ihn gelehrt hatte. Und er übte sich in Dankbarkeit, weil er bei jeder Lektion selbst an Wissen gewann. Es wunderte ihn nicht, dass ihm fünfundvierzig Minuten nie reichten, um die Erkenntnis zu erzielen, die der jungen Generation nottat und ihm selbst noch einen Gewinn brachte.
Die Klasse saß gelangweilt in den Bänken. Die Jungen stützten ihre müden Köpfe, die Mädchen hielten sich gerade. Nicht einer von ihnen hörte erwartungsvoll zu, wie Aaron Barthels die Handlung in Kürze zusammenfasste:
»Heinrich Faust, ein angesehener Forscher …«
»Und Lehrer«, quakte einer müde dazwischen, »so einer kann nur Lehrer sein.«
Das Raunen der Übrigen übertönte Aarons Rede, bis er zu husten begann, so heftig, dass selbst den unsensibelsten Menschen eine Gänsehaut überfuhr. Solange er sich zurückzog, herrschte Totenstille im Raum, und auch später versanken die Münder stumm in einem Gemisch aus Mitleid und Befürchtung.
»Also, Faust zieht Bilanz seines Lebens und kommt zu folgendem Fazit: Als Wissenschaftler weiß er nicht genug und als Mensch ist er unfähig zu genießen. In dieser verzweifelten Lage verspricht er Mephisto seine Seele, sofern es ihm gelingen sollte, ihn aus der Unzufriedenheit und Ruhelosigkeit zu befreien. Mephisto führt Faust in eine Welt zwischen Banalität und Mysterien und verstrickt ihn in eine teuflische Liebschaft mit Gretchen.«
Zur Vorsicht hustete Aaron noch einmal und formulierte das Stundenziel: »Heut geht es wie angekündigt um den Weltanschauungsmonolog. Sie hatten die Aufgabe, die Elemente zusammenzutragen. Was also ist die Situation?«
»Elemente? Haben wir jetzt Chemie?« Das war Sebastian Hamm. Irgendwie war Aaron noch nicht richtig wach, aber irgendwie spürte er auch eine innere Unruhe.
»Stell dich nicht dümmer als du bist. Ja, Elemente, genau wie in Chemie und in Musik. Aber lenke nicht wieder ab mitdeinerMusik. Ich weiß, dass du dort in deinem Element bist, aber hier spielt gerade eine andere Musik.«
Eisiges Schweigen. Dann Aaron Barthels profundes Wissen:
»Faust konstatiert drei Erkenntnisschritte: Erstens – Naturerkenntnis. Was war darunter zu verstehen?«
»Nicht durch Bücher und Wissenschaften, sondern durch Erfahrung und Genuss«, wusste ein Mädchen.
»Sag ich doch schon immer«, hielt einer der Jungen dazwischen.
»Dann bitte, Gerd-Rainer. Sagen Sie, wie Faust es formulierte.«
»Ick denke Goethe war det?«
»Bitte, wir können das auch in einer Klausur klären.«
Ein Mädchen rettete die Situation: »Ich glaube, Faust zweifelte am Erkenntniswert, weil er weit davon entfernt war zu erklären, was die Welt im Innersten zusammenhält.«
»Richtig. Und Gretchen? Was sagt Gretchen, als sie ihre kleine Welt erkennt?«
»Bin doch ein arm' unwissend Kind.«
»Gut. Selbsterkenntnis heißt, dass er selbst Teil der Natur, der vielfältigen Triebe und Kräfte ist. Und nun die Welterkenntnis.«
Aaron blickte in die Runde, aber in diesem Moment wusste er nicht mehr, was er gesagt und was er gefragt hatte und irgendwie nahm die Benommenheit wieder von ihm Besitz, von der er in den Ferien geglaubt hatte, sie sei überwunden. Wie von fern hört er die Stimme eines Mädchens:
»Der Mensch ist zwar zum Höheren befähigt –den Göttern nah und näher –aber sein Taumel zwischen Begierde und Gefahr belädt ihn mit Schuld.«
»Sehr gut Tanja. «
Wenn es Tanja war, durfte er davon ausgehen, dass es seine Richtigkeit hatte. Aaron blickte aus dem Fenster dem Lauf der Straße folgend, die nach Süden strebte und sich langsam im Dunst des Tages verlor. Er kehrte der Klasse den Rücken. Sein Atem ging flach und stockend, seine Knie schwankten schwerfällig. Mit bebenden Lippen rezitierte er sanft und eindringlich bis zu jenem Schluss, ohne sich darum zu scheren, ob man ihm zuhörte:
»…ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft …«
Getuschel in den Bankreihen. Unruhe hinter dem Rücken des Lehrers. Sogar die wenig Gelehrsamen hatten begriffen, wo der Fehler bei Aaron Barthels Rezitation lag. Wie konnte er gut und böse verwechseln? Irgendetwas hatte Kratzspuren auf Aaron Barthels profundem Wissen hinterlassen.
Eine Stubenfliege, vielleicht die letzte des Jahres, hatte sich verirrt und brummte bedrohlich über den Köpfen der Klasse, huschte zurück zur kühlen Scheibe, um wie magnetisiert haften zu bleiben. Nach gewisser Zeit wiederholte sie das letzte Spiel ihres Lebens. Zwischendurch kreiste sie unter der Zimmerdecke und zuweilen auch vor Schrimps Gesicht. Ein hämisches Grinsen der Jungen und das Warten, was jetzt passieren würde. Pure Abscheu aus den Gesichtern der Mädchen. Schrimp spürte das Gemisch der Empfindungen. Die Schüler wussten nicht, was sie tun sollten und was nicht. Sie hatten längst gelernt, dass Schrimp nichts wiederholte, und das zumindest war ärgerlich wenn er einen seiner Witze machte. Er machte jetzt keinen Witz, er hatte eine Idee.
»Fangt sie ein, aber zerdrückt sie nicht.«
Für einen Moment entglitt ihm die Ruhe, die gewöhnlich in seinem Unterricht herrschte. Das Tohuwabohu begann. Tobias, der dickliche Knabe mit der Nickelbrille, hechtete sein Übergewicht über den schmalen Körper seines Banknachbarn Jens und drohte ihm das Genick zu brechen. Schrimp ging dazwischen.
»Das war schlapp, wie ein Sturmsack bei Windstärke zwei.«
Ein Unfall hätte ihm gerade noch gefehlt. Nicht auszudenken, wenn einer dieser untertrainierten Plumpsäcke noch Schaden anrichtete. Es war genug, wenn eine der Mütter Gift und Galle über ihn auskippte. Es waren gewisse Privilegien, die das Leben dirigierten. Das Privileg der Abstammung, das die Mütter pflegten und zugleich das Privileg, sich eine Meinung zu bilden, ohne die geringste Ahnung zu haben.
Seine Hand kreiste im großen Bogen durch die Luft und das Brummen war verstummt. Er hatte das Biest. Nun kam es nur darauf an, dass er sich nicht blamierte und der Störenfried nicht wieder entwischte.
»Schnappt euch ein Mikroskop und schaut sie euch an.«
Wieder war Tobias trotz beachtlicher Körperfülle der Erste am Instrumententisch, während Schrimp die Fliege, die ermusca domesticanannte, solange mit seinen Fingerspitzen an den Beinen festhielt, bis der Objektträger aufgelegt war.
»Obwohl sie so winzig ist, verfügt sie über einen hochkomplizierten Steuerapparat. Komplizierter als jedes andere von Menschenhand konstruierte Fluggerät.«
Das Tierchen sah unter dem Mikroskop nicht nur riesig aus, es schien durchscheinend und gerade deshalb gespenstisch zu sein. Besonders auf die Mädchen wirkte es jetzt bedrohlicher als im Flug.