Giftblut - Fabienne Gschwind - E-Book

Giftblut E-Book

Fabienne Gschwind

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Beschreibung

Firrland ist eine wilde vulkanische Insel zwischen Spitzbergen und Grönland. Es wäre ein idyllischer Ort, wenn dort nicht eine Gift- und Drogensekte alles beherrschen würde. Helga, die Enkelin der Hohepriesterin, wird aus ihren Studien gerissen und gezwungen, deren Nachfolge anzutreten. Als dann die Göttin Elyyr selbst erscheint und Helga befiehlt, eine moderne Armee aufzubauen, um die Welt zu erobern, wird es brenzlig. Um die Dinge weiter zu verkomplizieren, wird ein Raumschiff entdeckt, das unter der Insel vergraben ist ... was hat der Außerirdische, der dort lebt, vor? Giftblut ist ein rasanter Science-Fiction-Roman. Er spielt in der wunderschönen Landschaft der Arktis.

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Seitenzahl: 440

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Texte: © Copyright by Fabienne GschwindUmschlaggestaltung: © Copyright by Fabienne Gschwind

Verlag:Fabienne GschwindBelgium

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Inhaltsangabe

Firrland ist eine wilde vulkanische Insel zwischen Spitzbergen und Grönland. Es wäre ein idyllischer Ort, wenn dort nicht eine Gift- und Drogensekte alles beherrschen würde.

Helga, die Enkelin der Hohepriesterin, wird aus ihren Studien gerissen und gezwungen, deren Nachfolge anzutreten. Als dann die Göttin Elyyr selbst erscheint und Helga befiehlt, eine moderne Armee aufzubauen, um die Welt zu erobern, wird es brenzlig. Um die Dinge weiter zu verkomplizieren, wird ein Raumschiff entdeckt, das unter der Insel vergraben ist ... was hat der Außerirdische, der dort lebt, vor?

Giftblut ist ein rasanter Science-Fiction-Roman. Er spielt in der wunderschönen Landschaft der Arktis.

Vorwort

Für die jüngere Generation:

Bitte beachten Sie, dass das Buch im Jahr 2009 spielt und Smartphones zu dieser Zeit gerade erst eingeführt wurden.

Jahr 1984

"Und?" Nichuas Augen glühten vor Neugierde. "Ja, sie hat es, die kleine Helga hat es!", antwortete eine junge Krankenschwester. Sie betrat atemlos die Stube, ohne ihre Robbenstiefel auszuziehen.

"Ich habe ihr unauffällig etwas Elyyrblut auf den Handrücken getropft. Aber nichts! Sie hat nicht geschrien oder einen Ausschlag bekommen. Nicht einmal mit dem Blut in höchster Konzentration."

Nichua, die Hohepriesterin des Elyyr-Kults, nickte nachdenklich. "Meine Enkelin hat die Toleranz. Sie könnte meine Nachfolgerin werden. " Sie verstummte wieder, tief in Gedanken versunken. Die Angesprochene, immer noch vollständig bekleidet, sagte nur: "Ich glaube kaum, dass Sabrina es zulassen wird, wenn sie erfährt, wer wir sind. Sie ist doch viel zu zivilisiert."

"Dann wird sie es nicht erfahren. Ich muss die Quatrik zusammenrufen, es gibt eine Menge zu besprechen."

Das Quatrik bezeichnete die drei Personen, die direkt mit der Hohepriesterin zusammenarbeiteten und bei der Verwaltung halfen. Nichua war die Hohepriesterin des Elyyr-Kultes und hatte damit die Befehlsgewalt über den gesamten Kult, zu dem ausnahmslos alle 5000 Einwohner Firrlands sowie die etwa 2000 Ausland-Firrländer gehörten. Damit war sie defacto Staatspräsidentin von Firrland.

Die Bewohner von Firrland verehrten die Göttin Elyyr. Im Gegensatz zu anderen Religionen stellte Elyyr keine unsichtbare Macht dar, sondern wurde als Person verehrt. Bei allen Zeremonien spielte ein Getränk namens "Elyyrblut" eine wichtige Rolle. Es wurde aus giftigen Beeren gebraut. Von klein auf tranken die Kinder es in winzigen Dosen, um sich daran zu gewöhnen. Denn nur wer Elyyrblut trinken konnte, durfte höhere Positionen im Kult einnehmen. Die wichtigste Voraussetzung war jedoch, dass sie lernten, in der Wildnis von Firrland zu leben.

Firrland war eine große Insel zwischen Spitzbergen und der Arktis. Vor langer Zeit erloschene Vulkane durchzogen die Insel, und diese Gebirgskette bestimmte das einzigartige Klima Firrlands. Während die Ostküste von einem schwachen Ausläufer des warmen Golfstroms umspült wurde, versank die Westküste im Winter buchstäblich unter Packeis.

Auch Nichuas Familie lebte auf dieser Insel. Ihr erwachsener Sohn Sunnio, seine norwegisch-schweizerische Frau Sabrina und jetzt ihre neugeborene Tochter Helga, Nichuas Enkelin.

Sie alle lebten in der Nähe der Nordspitze der Insel. Hier traf die warme Strömung auf das kalte Wasser des Arktischen Ozeans. Der Shellia-Gletscher wurde von der Wasserströmung wie abgeleckt. Viele Klimatologen, Glaziologen und andere Forscher besuchten Shellia, das kleine Dorf in der Nähe des Gletschers, um dieses Phänomen zu untersuchen. Sunnio und seine Frau Sabrina betrieben die berühmte Forschungsstation „Zivik“, die von vielen Forschern als Basis genutzt wurde.

Die kleine Helga, die vor ein paar Tagen geboren wurde, würde dort aufwachsen.

Es war Abend und Nichua hatte es geschafft, die Quatrik noch am selben Tag zusammenzurufen. Alle saßen um den Esstisch in der Stube. Seit dem Tod ihres Mannes lebte Nichua alleine und ihr Haus wurde als Treffpunkt für solche Zusammenkünfte genutzt. Für größere Versammlungen dieser Art wurden die Höhlen im Shell-Wald oder eine alte Kupfermine in der Mitte der Insel genutzt.

Die Hohepriesterin schaute sich um; zu ihrer Rechten saß Murik. Seine Inuit-Abstammung war deutlich zu sehen, denn die meisten Firrländer waren hellhäutig. In der Quatrik hatte er die Rolle des Winterjägers inne. Zu Nichuas Linken saß Ajoischa, sie war die Sommerjägerin. In der Vergangenheit gab es eine genaue Rollenverteilung zwischen dem Winterjäger und dem Sommerjäger. Der Winterjäger war das Oberhaupt der Jäger, wenn die ewige Nacht hereinbrach. Der Sommerjäger übernahm die Führung im Sommer, wenn das Licht vorherrschte. Heute ist diese starre Aufteilung zugunsten einer flexiblen Arbeitsweise aufgegeben worden.

Dies war auch der Grund, warum der Elyyrkult trotz seiner Altertümlichkeit immer noch die Oberhand hatte. Der Kult war offen für Veränderungen und passte sich an, ohne die alten Traditionen zu vergessen. Im Gegensatz zu vielen Völkern in anderen Regionen verlangte der Kult von seinen Mitgliedern, dass sie neue Fähigkeiten erlernen. Wenn möglich, wurde von ihnen sogar erwartet, dass sie die Insel verließen und mit neuem Wissen zurückkehrten.

Das dritte Mitglied war Kimuk Strallodjsen, ein Halbdäne. Vor einigen Monaten hatte er sein Medizinstudium in Dänemark abgeschlossen und war nach Shellia zurückgekommen, um eine Praxis zu eröffnen. Noch während seines Studiums war er von dem alten Medizinmann zu seinem Nachfolger auserkoren worden.

"Also gut, fangen wir an. Helga Oser wurde vor ein paar Tagen geboren. Eine der Krankenschwestern im Krankenhaus hat es geschafft, sie auf ihre Toleranz zu testen. Sie hat die stärkste Verträglichkeit, die ich je bei einem Säugling gesehen habe! Selbst unverdünntes Elyyrblut hat nicht einmal eine Rötung auf ihrer zarten Haut hinterlassen."

Die anderen rissen die Augen auf.

"Wir müssen sie also ausbilden", sagte Murik.

"Sabrina wird dem widersprechen", warf Ajoischa spontan ein, "sie ist zivilisiert. Sie hat sich immer geweigert, bei uns mitzumachen. Und nennt uns einen hinterwäldlerischen Jägerverein. Wir müssen ständig Sunnio decken, damit er bei allem mitmachen kann."

Nichua erhob ihre Stimme: "Es ist allgemein bekannt, dass Sabrina nichts von unserem Glauben und unseren Traditionen wissen will. Aber sie ist eine nette und hilfsbereite Person, sie wird von allen respektiert."

Sie sah sich im Raum um. "Aber wenn es um ihre Tochter geht, wird sie kaum tolerant sein. Da stimme ich dir zu."

Alle nickten. Sabrina Kultika-Oser war seit Jahren mit Sunnio verheiratet und lebte in Shellia, wo sie zusammen mit Sunnio die Zivik-Basis leitete. Sie hatten es geschickt verstanden, die Leitung mit Sunnio zu teilen. Jeder von ihnen kümmerte sich um seinen eigenen Bereich, verfügte aber über so viel Wissen, dass der andere kurzfristig einspringen konnte. Trotz ihrer Vorbehalte gegenüber verschiedenen Firrland-Traditionen war sie bei den Einheimischen beliebt. Sie hatte eine norwegische Mutter und einen Schweizer Vater. Sie war viel gereist und wusste eine Menge.

"Um Helga zu unterrichten, müssen wir den Kult von Elyyr tarnen."

Nichua stand auf und griff nach dem Mantel, der an dem Stuhl hinter ihr hing. Langsam legte sie ihn auf ihre Schulter. Mit dieser förmlichen Geste deutete sie an, dass sie etwas Wichtiges zu entscheiden hatte. Die anderen drei setzten sich aufrechter hin, alle waren überrascht, niemand hatte eine wichtige Entscheidung in dieser Sitzung erwartet.

"Nach reiflicher Überlegung habe ich beschlossen, dass der Elyyrkult für Außenstehende und zivilisierte Menschen wie ein Jäger- und Naturverein aussehen soll. Die Welt wird kleiner, Forscher laufen herum, Touristen kommen mit ihren Kameras. Aber unsere Rituale waren schon immer geheim. Wir hatten in all den Jahrhunderten nie Probleme, sie geheim zu halten, weil praktisch jeder in Firrland in sie eingeweiht ist. Und diejenigen, die es nicht sind, haben zu viel Angst vor uns, als dass sie sich in unsere Angelegenheiten einmischen würden."

Kimuk und die anderen nickten. Der Kult war nicht so friedlich, wie er auf den ersten Blick schien. Menschenopfer und Jagden auf Grabräuber oder Forscher, die ein wenig zu tief in die Geschichte Firrlands eingedrungen waren, waren keine Seltenheit. Murik dachte an das Massaker vor gut vierzig Jahren, als russische Soldaten auskundschafteten, ob sie auf Firrland einen arktischen Stützpunkt errichten könnten. Während ihres Aufenthalts hatten sie eine junge Frau vergewaltigt. Diejenigen, die bei dem ersten Angriff nicht umgekommen waren, starben an seltsamen Krankheiten oder vergiftetem Essen. Zwei Mitglieder waren sogar nach Russland geschickt worden, um den letzten Soldaten dort zu töten.

Aber auch die Rituale, bei denen Blut eine zentrale Rolle spielte, sowie die Kämpfe zwischen Mensch und Tier schienen in der modernen Welt völlig fehl am Platz und hätten bei Bekanntwerden sicherlich einen Shitstorm ausgelöst. Verbesserte Telekommunikation, hochauflösende kleine Kameras und zunehmender Tourismus machten es von Jahr zu Jahr schwieriger, den Kult zu verbergen.

"In den Augen der kleinen Helga und aller anderen Menschen werden wir einfach naturverbundene Menschen sein. Es wird so aussehen, als würden wir das uralte Wissen, wie man in der Natur überlebt, an unsere Kinder weitergeben."

Kimuk war plötzlich begeistert: "Wir könnten kleine Wochenendkurse oder Camps organisieren und die Nichtmitglieder dafür bezahlen lassen, dass wir sie unterrichten."

Die anderen schienen von dieser Idee nicht begeistert zu sein, und Nichua wechselte das Thema.

"Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich Helga als meine Nachfolgerin ausbilden werde. Es würde Sinn machen, denn sie hat die stärkste Toleranz der letzten Generationen. Aber ich befürchte, dass Sabrina einen schlechten Einfluss auf sie haben wird. Sunnio kann ich nicht ausbilden, seine Toleranz ist nicht stark genug."

Nichua wollte eigentlich weitermachen, aber ein Kreischen ließ ihr fast das Trommelfell zerplatzen. "Verdammt noch mal! Was war das?", keuchte Kimuk. Dann sah er die verzückten Gesichter seiner drei älteren Kollegen.

Ihm brach der kalte Schweiß aus, als er begriff, was das bedeutete. Langsam drehte er sich um. Doch seine Angst verflog schlagartig und ein tiefes Glücksgefühl durchflutete ihn.

Hinter ihm stand Elyyr.

Die Göttin, die im Kult verehrt wurde, war selbst gekommen. Sie war größer als ein durchschnittlicher Mensch und strahlte ein weißes Licht aus. Ihr Gesicht war überirdisch schön. Nichua verneigte sich tief vor ihr und lächelte, als würde er eine alte Bekannte wiedererkennen. Die Göttin erschien gelegentlich bei großen und wichtigen Zeremonien. Nichua war ihr schon häufiger begegnet. Immer wieder berichteten Mitglieder von Begegnungen mit ihr in der Wildnis. Gelegentlich suchte sie auch Mitglieder auf und beauftragte sie mit Missionen. Aber dass sie zu einem einfachen Quatrik-Treffen kam, war äußerst selten. Es musste mit Nichuas Ankündigung zu tun haben.

"Ich spürte, dass Helga bereits eine große Toleranz zeigte. Eine Toleranz, wie sie seit Hohepriester Mantia kein Neugeborenes mehr gezeigt hat. Nichua, ich möchte, dass du Helga als deine Nachfolgerin akzeptierst. Sollte sie alle Prüfungen und auch die Hohepriesterliche Weihe überstehen, wird sie die mächtigste Hohepriesterin seit Jahrhunderten werden..."

Elyyr zögerte und schien zu überlegen, bevor er fortfuhr: "Wenn der technische Fortschritt so weitergeht wie bisher, wird die kleine Helga den Kult in eine neue Zukunft führen. Und Firrland wird mächtiger werden als je zuvor. Du wirst den Vorschlag des Medizinmannes ausführen. Die Besucher werden nicht eingeweiht. Aber sie werden einen speziellen Trank zu sich nehmen, der sie an mich bindet. Ich werde dir das Rezept schicken."

Und mit einem weiteren Kreischen verschwand sie wieder.

Kimuk gelang es schließlich, seinen Kiefer zu schließen. Er hatte Elyyr noch nie in echt gesehen und war überwältigt von dem Glücksgefühl, das noch intensiver wurde, als sie ihre Befehle sprach.

Nichua setzte sich verzückt zurück und strahlte: "Gut, damit ist die nahe Zukunft und auch meine Nachfolge geregelt. Ich werde sie regelmäßig "impfen", um sie noch mächtiger zu machen. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wie wir Helga ohne das Wissen ihrer Mutter taufen können. Und wie wir den ganzen Kult umwandeln und geheim halten können, und wie wir mit diesem speziellen Trank Touristen an Elyyr binden können."

Elyyrs Befehl musste natürlich ausgeführt werden, und niemand dachte daran zu hinterfragen, was genau Elyyr mit "binden" meinte.

Nur Ajoischa stöhnte: "Die nächsten Jahre werden bestimmt anstrengend."

Fast drei Monate später war es dann soweit und die Taufe von Helga war fest eingeplant. Sabrina wollte sich im Dorf die Haare schneiden lassen und musste gleich danach zu einem Treffen mit einem Hotel in Shellia fahren. Eine ganze Forschungsgruppe würde anreisen, und die Zivik war zu klein, um sie alle unterzubringen. Sabrina musste sich um die letzten Details der Unterkunft kümmern. Für diese Zeit würde sie Helga ihrer Großmutter Nichua zum Babysitten geben. So wie sie es gelegentlich tat, wenn sie im Dorf einkaufen ging oder etwas zu erledigen hatte. Gelegentlich kam Nichua zum Babysitten zur Zivik oder nahm Helga mit zu sich nach Hause.

Sabrina war erstaunt, wie sich die alte, mürrische Nichua so plötzlich in eine liebevolle Großmutter verwandelt hatte. Aber sie war froh über jede Hilfe, die sie bekommen konnte. Sunnio war oft unterwegs, um sich um die vielen Expeditionen zu kümmern, die in Firrlands Natur unterwegs waren, und sie waren auch damit beschäftigt, den Bau einer neuen, moderneren Basis zu planen. Es mussten Gelder beschafft werden und viele Gespräche mit Investoren waren notwendig. Schließlich hatte Nichua nie wieder etwas von dieser seltsamen Religion erwähnt, die hier in Firrland praktiziert wurde. Wo die Einheimischen eine Gottheit namens Elyyr verehrten. Selbst als Sabrina ihren Wunsch geäußert hatte, Helga protestantisch zu taufen, hatte Nichua zugestimmt und gesagt, sie könne in Shellia eine kleine Taufzeremonie organisieren. Sabrina war von dieser Idee nicht begeistert, denn die kleine Holzkirche, die von einem Missionar gebaut worden war, war ziemlich heruntergekommen. Doch keine Woche später las Sabrina in der Zeitung, dass der Stadtrat von Shellia beschlossen hatte, die etwas heruntergekommene Kirche zu renovieren. Was für ein Zufall! dachte sie bei sich.

Aber was sie nicht wusste. Der Stadtrat von Shellia, oder kurz gesagt, die Regierung von Firrland, wurde von Nichua geleitet. Was sie anordnete, war gleichbedeutend mit einem Befehl von Elyyr, und jeder würde alles auf den Kopf stellen, um die Befehle zu befolgen. Alle Elyyr-Mitglieder waren so, Elyyrs oder Nichuas Befehle waren verbindlich, es löste eine unbeschreibliche Welle der Freude in ihnen aus, dem Hohepriester oder der Gottheit zu dienen. Und sie würden alles tun, um die Befehle zu befolgen. Niemand hatte jemals diese Euphorie in Frage gestellt. Warum sollten sie auch? Elyyr war eine Gottheit, mit ziemlicher Sicherheit die einzige wirkliche Gottheit, die auf der Erde existierte, also war es normal, dieses Glücksgefühl zu empfinden, wenn man etwas für sie tat.

Aber dieses Mal konnte Sabrina ihre Tochter nicht zu Nichuas Haus bringen. Es war Dienstagnachmittag und  anscheinende hatte Nichua heute eine Art "Brettspielnachmittag" in Shellias Mehrzweckhalle. Sabrina war zwar überrascht, als sie das hörte, denn sie hatte noch nie etwas von Spielenachmittagen gehört. Aber sie dachte nicht weiter darüber nach, schließlich wusste sie nicht, was die alten Leute auf einer abgelegenen Insel fast auf der Höhe von Grönland den ganzen Tag taten.

Neugierig betrat sie das große Gebäude. Das war gleichzeitig Turnhalle, Festsaal und Versammlungsort. Tatsächlich hatte sich in einem Nebenraum ein kleiner Club älterer Damen und Herren versammelt. Auf verschiedenen Tischen waren Spiele verteilt. Kaffee und Kuchen wurden serviert, und die Atmosphäre war friedlich und ruhig.

Nichua, Ajoischa und Murik saßen um einen Tisch und spielten eine Art Würfelspiel mit kleinen geschnitzten Figuren und Knochen.

Nach einer kurzen, herzlichen Begrüßung stellte Sabrina Helgas Maxi-Cosi neben den Tisch. "Vorhin ist sie eingeschlafen. Wenn sie Hunger hat, hier ist ihr Fläschchen und hier sind ein paar Windeln."

Nichua lächelte gutmütig.

Mit dem Gefühl, dass Helga in guten Händen war, verließ Sabrina das Haus.

Die drei älteren Leute setzten sich wieder hin und spielten weiter, die schlafende Helga neben ihnen.

In diesem Moment ertönte ein kaum hörbarer, hoher Pfeifton durch das eine Fenster. Das war das Zeichen, dass Sabrina fast im Friseursalon angekommen war.

In wenigen Sekunden änderte sich alles. Ruhig und doch hastig standen die drei auf. Ebenso wie die zwei Dutzend Spieler. Jacken und Pullover wurden ausgezogen und darunter trugen alle ihre traditionelle Kleidung. Murik ging in die angrenzende Turnhalle und schaute hinein. Fast 200 Menschen warteten dort in der Dunkelheit und in Stille. Die Halle war geschmückt und man hatte versucht, sie den Shell-höhlen ähnlich zu machen. Die Shell-Höhlen waren der Ort, an dem normalerweise Rituale durchgeführt wurden. Auf Muriks Signal hin machten sich alle bereit. Ein paar Öllampen wurden angezündet, um den Feuereffekt von Fackeln zu imitieren, ohne jedoch die Brandgefahr zu erhöhen. Die Musiker gingen in Position. Die 200 Personen waren die wichtigsten Personen des Kultes. Die Taufe eines zukünftigen Hohepriesters war etwas ganz Besonderes und etwas, das man vielleicht nur einmal in seinem Leben sehen würde. Sogar FirrTV war anwesend, um alles aufzuzeichnen, damit alle, die nicht dabei sein konnten, den wichtigen Moment miterleben konnten. Es waren viele Vorkehrungen getroffen worden, damit Sabrina diese Aufnahmen niemals zu Gesicht bekommen würde.

Nichua zog ihr Kleid über den Kopf, darunter kamen Seehundfellhosen und die Ksinik zum Vorschein, eine ärmellose Weste aus dickem Leder, die die Elyyr-Mitglieder praktisch immer trugen.

Eigentlich war es noch Winter, und die traditionelle Winterkleidung der Hohepriesterin bestand aus der dunkleren Robbenfellhose und einer weißen Jacke aus Eisbärenfell. Aber da die Zeremonie drinnen stattfand, hatte Nichua beschlossen, einen Kompromiss zu schließen. Auch Murik und Ajoischa zogen die ihnen zugedachte Kleidung an. Schließlich band sich Nichua ein Amulett um die Stirn. Es war eine geschmiedete Elyyrka, das Symbol von Elyyr, ihrer Göttin. Es hatte in der Mitte eine Lanze und zwei hauerartige Bögen.

"Wo zum Teufel ist Kimuk?", fragte Murik besorgt. Er wusste, dass der Arzt heute Morgen mit einem Kleinflugzeug notfallmäßig in ein anderes Dorf geflogen war.

"Ich hoffe nur, er kommt rechtzeitig, der Zeitplan ist furchtbar eng", jammerte Ajoischa, als sie hinter einem Vorhang ihre schön geschnitzte Speerschleuder und ihren Köcher mit Wurfspeeren hervorholte.

Nichua war noch dabei, ihren braunen Mantel anzulegen. Er war sehr alt; schon ihre Großmutter und Urgroßmutter hatten ihn besessen. Man nannte ihn den "Mammutmantel", aber niemand glaubte ernsthaft, dass er aus Mammutleder gefertigt war.

Plötzlich hörten sie das Rattern eines Schneemotorrads. Ein paar Sekunden später stand Kimuk in der Halle. Er warf den Praxisschlüssel seiner Assistentin zu, die ihn gefahren hatte.

"Mach schon mal alles fertig, ich komme gleich", rief er ihr zu. "Tut mir leid, ich hatte keine Zeit, nach Hause zu gehen und meine Sachen zu holen." Er blickte an sich herunter. Er trug eine Skihose und einen Wollpullover über seinem Hemd.

"Heute Morgen musste ich aus dem Bett springen und direkt ins Flugzeug steigen ... Aber auf dem Rückweg habe ich etwas improvisiert." Er zog sich das Hemd über den Kopf. Auf seiner Brust und seinen beiden Schulterblättern prangte ein gemalter Elyyrka-Rim, die schöne, verschnörkelte Version des Elyyr-Symbols. "Tigit hat es mir im Flugzeug mit einem wasserfesten Stift gemalt ..."

Ajoischa nickte anerkennend: „Das Mädchen hat eine ruhige Hand. Kann ihm jemand eine Hose geben?", bemerkte sie dann. Und sofort setzte sich jemand, der etwa gleich groß war, auf den Boden und bot Kimuk seine Robbenfellhose an.

"So, jetzt geht's los!" Nichua hob Helga vorsichtig aus der Wiege, das Kleinkind öffnete blinzelnd die Augen, lächelte und schlief wieder ein.

Nichua ging in die Eingangshalle, wo sich die Doppeltüren zur Turnhalle öffneten. Sie nahm ihr Messer in die Hand, und wie es Tradition war, formierten sich die anderen drei hinter ihr in einer Rautenform. Gemeinsam betraten sie die Turnhalle

Die 200 Menschen, die gestanden hatten, kauerten sich respektvoll hin. Die "Klöpfer", wie sie die Musiker nannten, die auf menschlichen Schädeln trommelten, stimmten den traditionellen Rhythmus an, begleitet von einigen Knochenflöten.

Nichua und das Quatrik schritten durch die Reihe der Anwesenden nach vorne, wo ein improvisierter Altar errichtet worden war.

Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr rasselte Nichua ziemlich unwürdig die Worte der Begrüßung herunter und nahm einen kleinen Schluck Elyyrblut. Das übliche Ritual verlangte normalerweise einen dreifachen Segen für Elyyr, aber Nichua hatte nur abgewunken:

"Wenn ich drei Gläser trinke, verfalle ich in einen Rausch. Sabrina würde das merken, also muss es so gehen."

Nun legte die Hohepriesterin Helga auf das Rentierfell, während sich die Gemeinschaft zu einem Gesang erhob. Nichua stand über Helga und hob ihr Messer.

"Wir gehen jetzt zur Weihe über ... bitte!", drängte sie die Musiker und Umstehenden, die sofort eine andere Melodie zu summen begannen. Die eigentliche Weihe hätte über 3 Stunden gedauert, aber jetzt mussten sie alles in einer Stunde abspulen, um dann wieder in ihre Rollen zu schlüpfen.

"Möge Elyyr uns unsere Eile verzeihen...", sagte Nichua nachdenklich.

Doch dann dröhnte ein furchtbares Geräusch durch den Raum und Elyyr stand in der Halle.

"Ich vergebe euch und werde die Weihe selbst abkürzen", sagte sie ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen zu den in Ehrfurcht erstarrten Mitgliedern.

Natürlich hatten fast alle erwartet, dass Elyyr auftauchen würde. Das zeigte, dass Helga wirklich eine mächtige Hohepriesterin sein würde!

Elyyr schwebte näher an den Altar heran und übernahm die notwendigen Weihungen und Segnungen, aber sie kürzte alles ab, so dass sie in 12 Minuten fertig war. Helga hatte die ganze Zeit mit großen Augen zu der funkelnden Gottheit aufgeschaut.

Schließlich beendete Elyyr das Ritual und sah zu Nichua: "Hohepriesterin, übernimm wieder. Es ist Zeit für dein erstes Geschenk!" Mit diesen Worten verschwand sie und ließ alle in Ektase zurück.

Die Hohepriesterin nahm ihr Messer wieder zur Hand und schnitt sich vorsichtig ein kleines Stück ins Handgelenk. Dann ließ sie die Blutstropfen auf Helgas Lippen tropfen und sprach: "Hier ist mein erstes Geschenk für dich: mein eigenes Blut. Es enthält das Wissen und die Fähigkeiten aller Hohepriester vor dir.“

*

Jahr 2009:

Helga saß in ihrer kleinen Wohnung in der Schweiz über den Tisch gebeugt und studierte sorgfältig das Skript für die letzte Geologieprüfung.

Schaute man sich Helgas bisherigen Lebenslauf an, könnte man glauben, dass ihre Ausbildung sinnlos durcheinander gewürfelt war: eine Lehre als Hausmeisterin, gleichzeitig eine kaufmännische Lehre mit Fachmatura und dann ein dreijähriges Bachelorstudium in Meteorologie, Geologie und Glaziologie.

Aber wenn man sich Helgas Ziel ansah, machten die unterschiedlichen Ausbildungen durchaus Sinn.

Schließlich würde Helga die Forschungsstation ihrer Eltern in Firrland übernehmen. Ein Wunsch, den sie schon von klein auf hatte, als sie mit ihrem Vater Expeditionen vorbereitete, ihrer Mutter bei der Buchhaltung zusah und auch Schneemotorräder oder Heizungen reparierte.

Als Helga das Kapitel beendet hatte, lehnte sie sich entspannt zurück und betrachtete das große Bild des Zivik-2, das an der Wand prangte.

Wegen des großen Zustroms von Forschern und nicht zuletzt wegen der enormen finanziellen Unterstützung hatten Helgas Eltern eine neue Forschungsstation bauen lassen. Zivik-2 stand direkt neben den Gebäuden von Zivik-1 und fügte sich mit seiner modernen Architektur in die Landschaft ein. Die warmen Quellen, die bereits Zivik-1 mit Wärme und Strom versorgt hatten, beheizten nun auch die neue Station. Das kuppelförmige Plexiglasdach war das Wahrzeichen von Zivik-2 und wurde von der NASA finanziert, die dort Experimente für zukünftige Marsmissionen durchführte.

Das Dach sammelte Sonnenenergie, speicherte Wärme und hielt Wind und extremen Wetterbedingungen stand. Die Station hatte bereits internationalen Ruhm erlangt. Leider musste Sunnio die Station seit mehrere Jahre lang allein leiten, da Sabrina zunehmend an schwerer Osteoporose litt und nach zwei Oberschenkelhalsbrüchen beschlossen hatte, das harte Leben in Shellia aufzugeben und nach Bergen in Norwegen zu ihrer Schwester zu ziehen. Dort half sie, so gut sie konnte, und kümmerte sich um Verwaltungsangelegenheiten. Sie war froh, dass Helga bald alles übernehmen würde.

Helga streckte ihre Arme aus und wollte gerade das letzte Kapitel beginnen, als es an der Tür klingelte.

Es war neun Uhr abends und Helga stand verwundert auf. Sie wusste nicht, wer sie besuchen gekommen war. Oder war es der Nachbar, der den Staubsauger zurückforderte?

Doch als Helga durch das Guckloch schaute, sah sie drei Männer. Einer war Europäer, aber die zwei anderen hatte neindeutig irische Züge.

Helga spannte sich an, eine tief sitzende Angst erfasste sie und schlimme Erinnerungen wurden wach.

Immer noch durch das Guckloch schauend, beobachtete sie, wie der Firrlander seinen Ärmel hochkrempelte und ihr seine Elyyr-Tätowierungen auf dem Unterarm zeigte.

Heilige Scheiße, dachte Helga....

Helga war sechzehn gewesen, als sie das wahre Gesicht der Elyyr-Sekte durchschaut hatte. Als Kind war alles in Ordnung gewesen, alles war ein großes Spiel. In der Schule hieß das Fach "Firrländische Traditionen und Folklore“. Hier wurde alles über Elyyr erzählt. Und auch in kleinen Theaterstücken wurden Zeremonien und Rituale nachgespielt. Schließlich sollten die Kinder ihre Vorfahren und ihre Kultur nicht vergessen müssen. Die Spiele wurden auch nach der Schule fortgesetzt. Zum Spaß, wie sie sich gegenseitig erzählten. Schließlich wollte niemand, dass die Traditionen aussterben:

Sie hatte regelmäßig Elyyrsblut getrunken und gelacht, wenn die anderen zusammenbrachen. Sie hatte Elyyr spielerisch mit den anderen Kindern angebetet, und sie hatten kleine Weihungen und Opfer durchgeführt. Die Lehrer und die Ältesten lasen ihnen Geschichten vor. Ihr Vater hatte immer mitgemacht, aber Helga hatte schnell verstanden, dass ihre Mutter die Firrland-Traditionen nicht mochte. Also schwieg sie über das, was sie tat, und sowohl ihre Großmutter Nichua als auch ihr Vater sagten, es sei alles in Ordnung. Und so war sie immer tiefer hineingerutscht. Die anderen Kinder nannten sie "zivilisiert" - ein Schimpfwort - weil sie keine reine Firrländerin war, aber sie wollte es ihnen zeigen!

Sie hatte alle Prüfungen bestanden. Die Sommerjägerprüfung mit neun und die Winterjägerprüfung bereits mit fünfzehn. Aber mit sechzehn würde sie in ein Internat in der Schweiz ziehen, denn ihre Mutter wollte, dass sie ein anderes Leben als nur die Firrland Wildnis kennenlernte. Helga freute sich auf dieses Abenteuer. Schon am Sonntag würde sie fliegen.

Doch als sie am Freitagnachmittag nach der Schule - es war der letzte Schultag - mit den anderen Teenagern Überlebenstechniken übten, kam Nichua.

Helga erinnerte sich gut: Nichua war ganz in der traditionelle Tracht gekleidet, sie sah imposant aus, wie ein Steinzeithäuptling. Ein Ledermantel wehte um ihre Schultern und alle kauerten sich vor ihr zusammen. Der ganze Ort wurde still. Helga wurde bewusst, wie viele Menschen dort waren, viel mehr als nur ein paar Kinder und Jugendliche. Helga verstand es nicht. Warum zum Teufel kauerten sich alle vor ihrer alten Großmutter? Nur sie und Nichua standen noch. Dann nickte Nichua und alle standen auf und bildeten einen losen Kreis um die beiden Frauen.

Nichua hatte ein geschmiedetes Messer gezogen und richtete es auf Helga: "Helga, Elyyr hat dich zur künftigen Hohepriesterin auserkoren. Noch in dieser Nacht wirst du zur Priesterin geweiht werden. Wir haben alles lange genug vor dir und deiner Mutter verborgen. Du bist alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Die Wahrheit über uns. Die Wahrheit über dich."

Als Nichua ihr sagte, dass sie nun zur Priesterin geweiht würde, hatte sie nicht verstanden. Priesterin? Was sollte das denn sein? Natürlich kannte sie die Mythologie um Elyyr und wusste aus dem Geschichtsunterricht, dass damals ein Hohepriester über alle befohlen hatte...., aber das war Geschichte ... das war doch lange nicht mehr so? Oder doch nicht?

Plötzlich fügte sich in Helgas Kopf alles wie ein Puzzle zusammen. Die Schuppen fielen ihr von den Augen. Ihre Großmutter war die Hohepriesterin der Sekte, sie würde ihre Nachfolgerin sein. Plötzlich ergab alles einen Sinn ... Sie war so versteinert von der Erkenntnis, dass man ihr alles vorgegaukelt hatte, dass sie unwillkürlich mitging. Sie folgte Nichua und den anderen ein Stück weiter in den Wald hinein auf eine Lichtung, wo viele weitere Firrländer warteten.

Hinter ihr hörte sie jemanden murmeln: "Pff, ich verstehe wirklich nicht, warum Nichua eine Halb-Firrländerin zur Hohepriesterin wählt... sie ist zu schwach dafür!"

Damit war Helgas Ehrgeiz geweckt, und sie war fest entschlossen, Priesterin zu werden, koste es, was es wolle, um allen zu zeigen, dass sie eine echte Firrländerin war.

Das Spiel wurde zu bitterem Ernst. Giftige Beeren und andere Kräuter ließen Helga in Trance fallen. Aber sie konnte sich an fast alles erinnern, wenn auch nur vage; an den Blutdurst der Mitglieder, wenn die Opferung stattfand, und an die Trommler, die ihre menschlichen Schädel bearbeiteten. Für alle schien es völlig normal zu sein, auch für ihre Kollegen, die immer geschworen hatten, es sei alles nur ein Spiel.

Das Tätowieren kam Helga wieder in den Sinn, als Nichua ihr die Symbole Elyyr und dein Rang einer Priesterin auf den Unterarm und das Brustbein tätowiert hatte. Denn bis dahin hatte sie keine Tätowierungen, im Gegensatz zu allen anderen. Ihre Mutter war immer dagegen gewesen.

Die Worte ihrer Großmutter hallten noch in ihrem Kopf nach: "Nein, es ist kein Spiel. Es war nie ein Spiel. Wir mussten deine Mutter anlügen und damit auch dich. Aber jetzt bist du alt genug, um die Wahrheit zu erkennen. Du trägst das Erbe Elyyrs, du wirst die zukünftige Hohepriesterin sein."

Aber der beängstigende Teil kam erst danach.

Nichua hatte sich tief ins Handgelenk geschnitten, und während sie noch unter Drogen stand, hatte Helga das Blut getrunken. Es hatte sich so normal angefühlt, und wie in einer Art Rückblende sah sie diese Szene immer wieder vor sich.

Und dann wurde ein gefangener Bär auf sie losgelassen, aber sie erinnerte sich nur noch schemenhaft daran. Der Bär stand vor ihr, und auf seinem ganzen Körper blitzten Punkte wie Zielscheiben auf. Helga wusste genau, wo sie mit ihrem Speer zustechen musste. Alle jubelten und feuerten sie an, als wäre es das Normalste der Welt, dass sie einen Gladiatorenkampf gegen einen Bären bestreiten würde. Schließlich war der Bär tot, und alle kamen, um Helga zu gratulieren. Es war die vorletzte Prüfung gewesen, die letzte würde während der Weihe zur Hohepriesterin stattfinden.

Alles hätte ein Drogentraum sein können, aber es gab mehr als genug Videos und andere Aufnahmen von der Zeremonie und dem Kampf.

Erst später, als die Wirkung der Drogen nachließ, wurde Helga alles klar: Ihre Welt brach zusammen. Sie war in einer Sekte aufgewachsen, und die Mitglieder hatten alles vor ihr verborgen. Ihre Großmutter war die Hohepriesterin und sie sollte das Erbe antreten. Es war eine Sekte, die eine Gottheit verehrte, Gift trank und Blutopfer brachte. Die Mitglieder wurden mit Drogen und Giftmischungen betäubt. Wer wusste schon, welche anderen Missbräuche stattfanden!!!

Nach diesem "Zwischenfall" gab es natürlich großen Streit in der Familie. Sabrina war wütend auf Nichua und Sunnio. Sie ging zur Polizei und erstattete Anzeige gegen Nichua. Schließlich hatte sie ihre Tochter unter Drogen gesetzt und tätowiert. Helga hat nie erfahren, was auf der Polizeiwache passiert ist, nur dass nichts weiter passiert war…

Sabrina kam zurück und redete auch auf Helga ein: Das war eine Sekte, man hatte sie reingelegt! Sie musste so schnell wie möglich verschwinden, sonst würde sie in die Fänge dieser Drogenmafia geraten. Helga wusste sehr wohl, was Sekten sind und welche Macht sie über ihre Mitglieder haben. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun, man hatte sie gegen einen Bären kämpfen lassen! Sie hätte sterben können, aber alle hatten sie nur angefeuert. Diese Leute mussten krank sein. Damit packte sie ihre Sachen und verließ Firrland so schnell wie möglich. Nur ihr Vater tat ihr leid, er war so stolz auf sie und er glaubte an den ganzen Elyyr-Mist.

Sie war dann auf ein Internat gegangen, und die Wut über diese ganze Elyyr-Lüge war langsam verblasst - genauso wie ihr Heimweh nach Firrland zunahm.

Helga lernte, in Städten zu leben, ins Kino zu gehen und mit vielen Menschen Straßenbahn und Bus zu fahren. Aber die Wildnis von Firrland ließ sie nicht mehr los. In ihrem tiefsten Inneren gab es einen wilden Ruf, als ob sie nie wieder glücklich sein würde. Alles in ihr sagte ihr, dass sie am falschen Ort war.

Zwei Jahre lang kehrte sie nicht zurück. Und ignorierte alle Briefe ihrer Großmutter, die sie aufforderte, wenigstens zum Reden zurückzukommen. Doch dann war das Heimweh zu groß und sie beschloss, es zu versuchen, vielleicht ließe sich eine Lösung finden. Schließlich wollte sie ihr Leben nicht im Exil verbringen, denn sie liebte Firrland.

Und tatsächlich war Nichua überglücklich, dass sie zurückkam, und war überhaupt nicht böse auf sie, sie machte sich sogar Vorwürfe und entschuldigte sich. "Ich hätte es nicht so machen sollen, es war ungerecht von mir, dich auf diese Weise zur Priesterin zu machen, ohne dich vorher in allem zu unterweisen."

Nichua bat Helga, sich nicht von ihrer Kultur und ihren Vorfahren abzuwenden.

Helga erklärte sofort, dass sie sich niemals einer Sekte unterwerfen würde und dass sie sich eine andere Hohepriesterin suchen sollte. Nichua nickte wieder freundlich und bot ihr an, mit den Elyyr-Mitgliedern weiter zu üben, ohne an den Ritualen teilzunehmen.

Helga war fassungslos; sie hatte erwartet, verbannt zu werden. Doch stattdessen wurde ihr angeboten, einfach so weiterzumachen wie bisher und nur am „Club-leben" teilzunehmen. Ein tiefes Glücksgefühl hatte sie durchströmt.

Nun konnte Helga weder wissen, dass Nichua die Entschuldigung mit einem Schauspieler einstudiert hatte, noch dass der Quatrik und alle anderen eifrig daran gearbeitet hatten, Helga doch noch zurückzuholen. Wie auch immer, sie hatten keine Wahl: Elyyr wollte Helga als Hohepriesterin sehen, also musste es getan werden. Vielleicht konnten sie es auf die einfache Art machen.

Nach dem Gespräch war fast alles wie vorher. Helga übte wieder mit ihren Kollegen Überlebens- und Buschtechniken oder unternahm mit ihrem Vater mehrtägige Ausflüge. Allerdings wurde sie nie wieder in eine Zeremonie oder ein Ritual einbezogen..

Helga war glücklich, sie hatte einen Kompromiss gefunden und alles schien in Ordnung zu sein.

Doch im letzten Jahr erhielt sie vermehrt Briefe oder inzwischen auch E-Mails von ihrer Großmutter, in denen sie gefragt wurde, ob sie sich nicht vorstellen könne, Hohepriesterin zu werden.

Helga leugnete jedes Mal und war von den Briefen genervt. Schließlich rief sie an und sagte noch einmal deutlich, dass sie sich nie wieder mit dem Elyyr-Kult einlassen würde. Das war vor drei Monaten gewesen.

...und jetzt standen sie vor ihrer Tür!

Ihre Hand zitterte. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie die Tür öffnen sollte oder nicht. Aber eine tiefe Gewissheit ergriff sie: Wenn sie sie nicht öffnete, würde sie Firrland nie wieder sehen, nicht viel sehen können. Sie würde getötet werden. Sie hatte keine andere Wahl, als die Tür zu öffnen. Wie selbstverständlich traten die Männer ein und Helga schloss die Tür hinter ihnen. Alle vier versammelten sich in dem kleinen Wohnzimmer. Ein paar Atemzüge lang herrschte eine unheimliche Stille, dann sprach der Mann aus Firrland: "Abtrünnige Priesterin, Elyyr selbst hat uns geschickt, um dich zurückzubringen ..."

Er sprach weiter, es war nicht das normale umgangssprachliche Firrländisch, das sowieso ganz und gar nicht wie eine indo-europäische Sprache war. Es war rituelles Firrländisch. Die Unterschiede waren nicht groß, beide Sprachen konnte man ohne Mühe verstehen. Aber das rituelle Firrländisch hatte etwas sehr Unheimliches und Ursprüngliches an sich. Die Firrländer sprachen von endloser Freiheit, göttlicher Macht, wilder Natur, unbezähmbaren Wintern. Dies waren die einleitenden Sätze, die vor einer Weihe gesprochen wurden. Sie brachten Helgas Inneres auf eine Weise zum Zittern, wie sie es noch nie zuvor getan hatte.

Dann reichte er ihr eine Phiole. "Die Hohepriesterin schickt es dir; es soll ihr vorletztes Geschenk sein. Trink es!" Er fügte diesen seltsamen Worten nichts mehr hinzu und hielt Helga das Fläschchen hin.

Es war Blut darin, das erkannte Helga sofort. Sie fürchtete sich nicht davor, schließlich gehörte es zu den Traditionen, ein wenig Blut von erlegten Tieren zu trinken. Als kleines Kind hatte Nichua ihr immer kleine Gläser mit Blut zu trinken gegeben. Vielleicht war es der Gifttrank Elyyrsblut, aber sie hatte ihn oft getrunken, zusammen mit ihren Freunden. Dann hatte sie gelacht, wenn ihre Kameraden nach den kleinsten Schlucken in Krämpfe ausbrachen.

Wie in einem Akt des Trotzes griff sie nach dem Gefäß und trank es in einem Schluck aus.

Der metallische Geschmack war ihr vertraut, aber sie konnte ihn keinem bestimmten Tier zuordnen.

"Was für ein Tier war das?", fragte sie aus Neugierde.

"Es ist das Blut der Hohepriesterin, deiner Großmutter."

Helga dachte an die Priesterweihe; auch dort hatte sie ihn getrunken.

"Warum?", fragte sie plötzlich mühsam, weil etwas in ihr vorging. Das Blut breitete sich aus, floss in ihre Blutbahn, durchdrang die Blut-Hirn-Schranke und ließ ihre Augen für einen Moment schwarz werden. So wie schon einmal bei ihrer Priesterinnenweihe. Dann war es vorbei, aber ihre Sicht veränderte sich.

Es war, als ob dieser Schluck eine Tür zu einem Teil ihres Gedächtnisses geöffnet hätte. Eine neue Dimension erfüllte sie: Jahrhunderte alte Erinnerungen, die immer in ihr geschlummert hatten, erwachten. Wie in einer Rückblende verwandelten sich die beiden Männer und ihre Stube.

Diese Situation war schon mehrmals vorgekommen. Manchmal war Helga dabei männlich, manchmal weiblich, manchmal stand sie einer einzelnen Person gegenüber, manchmal einer Horde von Elyyr-Jägern, die steinzeitliche Speere schwangen.

"Abtrünniger Priester, Elyyr schickt uns, dich zurückzubringen...", hörte sie die Worte immer wieder. Sie sprach sie sogar selbst aus.

Verfolgungsjagden, fliegende Speere, hetzende Hunde, Messer und Pfeile. Kurze Szenen blitzten auf wie in einem Filmtrailer, meist war sie die Jägerin, in einigen Fällen erlebte sie ihren eigenen Tod.

Dann waren die Visionen vorbei.

„Dienstagnachmittag ist dein Rückflug reserviert."

In der Hand des Firrländers erschien ein elektronisches Flugticket.

"Und wenn ich nicht komme?" Helga war wieder sie selbst. "Was ist, wenn ich genug habe von diesem Elyyr-Mist. Ich muss nicht zurück, die Erde ist so schon groß genug, um darauf zu leben."

Ein Achselzucken und die Antwort: "Wenn du nicht zurückkommst, töten wir dich! Elyyr hat es uns befohlen!"

Es war keine Drohung, sondern eine sachliche Feststellung.

"Ihr seid nicht in Firrland, hier gehört die Polizei nicht zur Elyyr-Sekte. Du wirst im Gefängnis landen."

Wieder ein Achselzucken: "Dann gehe ich ins Gefängnis."

Es war ihm bitterernst. Der Mann würde sie töten und dann zur Polizei gehen, um sich zu stellen.

Helga versuchte einen anderen Trick: "Ich kann nicht einfach so gehen. Was ist mit meiner Wohnung, mit meinen Papieren? Dann muss ich mich noch exmatrikulieren und meine Krankenkasse und meinen Telefonanbieter kündigen."

"Morgen hast du deine letzte Prüfung, du hast also drei Tage Zeit, um zu packen, was du brauchst. Patrick wird sich um alles andere kümmern. Schließlich gibt es auf Firrland auch Internet und Telefon."

Er wies mit einer Geste auf den Mann neben sich, der noch kein Wort gesagt hatte, und wiederholte auf Englisch: "Patrick wird dir helfen alles zu organisieren".

Der Europäer meldete sich zu Wort und sagte auf Schweizerdeutsch: "Ja, wir werden uns um alles kümmern."

Patrick selbst hatte keine Ahnung, was vor sich ging.

Die zwei Firrländer hatte vor drei Stunden an seiner Wohnungstür geklingelt. Dabei hielt einer einen Metallzylinder in der Hand. Als Patrick, ein junger Anwalt, noch überlegte, ob er die Tür ganz öffnen sollte, erschien plötzlich ein Hologramm neben ihm. Es war eine Göttin, eine wunderschöne, mächtige Göttin. Ein Glücksgefühl, wie er es noch nie erlebt hatte, durchströmte ihn. Er war sofort bereit, alles zu tun, was die fremde Person von ihm verlangte. "Tu alles, was meine Dienerin dir sagt."

Patrick hatte freudig genickt und das Glücksgefühl verwandelte sich in einen Zwang. Aber es war kein unangenehmer Zwang, denn er war überglücklich darüber. Er würde alles für diesen Fremden tun, koste es, was es wolle.

Er kannte Firrland von seinen Wanderurlauben vor zwei Jahren, die er dort mit seiner Frau verbracht hatte.

Als das Paar ankam, wurde ihnen ein Tageskurs angeboten, in dem sie grundlegende Dinge über die Wildnis lernen konnten. Das Angebot war äußerst verlockend und mit den anderen wenigen Touristen - denn das Firrland war noch ein Geheimtipp unter Wanderern - hatten sie daran teilgenommen. Es war sehr bereichernd gewesen. Die Firrländer waren freundlich, zeigten ihnen giftige Pflanzen und warnten sie vor der einen oder anderen Gefahr. Sie bekamen Karten mit eingezeichneten Gebieten, in denen es etwas Besonderes zu sehen gab, und anderen, in die man besser nicht gehen sollte; seien es gefährliche Sümpfe oder einheimische Heiligtümer. Der Kurs endete mit einem einfachen Kräutersaft und köstlich duftenden Keksen, wobei man sich gemütlich mit den Einheimischen unterhielt. Er hatte keine plötzliche Veränderung bemerkt, aber etwas hatte sich verändert.

Jetzt stand er im Wohnzimmer einer Fremden, er hatte nicht verstanden, worüber die beiden gesprochen hatten, aber der Tonfall ließ vermuten, dass es um Leben und Tod ging. Und er hatte gerade zugestimmt, die Wohnung dieser Frau zu räumen und alle administrativen Schritte zu unternehmen, damit sie ausziehen konnte.

"So einfach ist das also. Entweder ich komme mit oder ich werde getötet?"

"Ja."

"Womit?" Helga wusste sonst nicht, was sie erwidern sollte. Der Mann hob seine Jacke und enthüllte einen geschmiedeten Dolch.

Weitere Flashbacks durchfluteten sie und sie sah sich selbst, wie sie jemandem die Kehle aufschlitzte. Mehrere Male...viele Male....

Nun, es gab keine andere Wahl, und Helga beschloss, sich geschlagen zu geben. Sie schnappte dem Firrländer das Ticket aus der Hand.

"Okay, sag deiner dummen Göttin und meiner senilen Großmutter, dass ich zurückkomme. Ich werde es persönlich mit ihnen besprechen. Die werden noch was erleben!" Sagte sie trotzig.

Der Firrländer lächelte leicht und nickte respektvoll.

"Ich werde deine Nachricht weiterleiten, abtrünnige Priesterin.“

*

Helga balancierte ihren Speer kurz aus und schleuderte ihn dann nach vorne. Der kurze Wurfpeer traf das Ziel punktgenau.

Eigentlich war der Speer kein richtiger Speer, sondern ein dünner, armlanger Speer, eher wie ein Pfeil.

Da sie vor einem Jahr Bogenschießen als Sportfach an der Universität belegt hatte, hatte Helga einen Schlüssel zum Schießkeller. Nachdem sich der Bogenschießlehrer davon überzeugt hatte, dass die Firrland-Speerschleuder nicht mehr Schaden anrichtet als ein Pfeil auf der Zielscheibe, durfte auch sie damit üben.

In Firrland war das Bogenschießen nicht sehr verbreitet. Die Speerschleuder war die übliche Jagdwaffe. Sie war eine Weiterentwicklung der normalen Speerschleuder, die nur eine Verlängerung des Arms war. Die Firrland-Speerschleuder bestand normalerweise aus zwei Teilen, die mit Sehnen zusammengebunden waren. Beide Teile wurden zusammengefaltet und der Wurfspeer daran befestigt. Beim Wurf entfalteten sie sich und katapultierten den Wurfspeer viel weiter als eine normale Speerschleuder. Wie beim Bogen hatte sich im Tannenland eine große Vielfalt von Typen entwickelt. Helga benutzte derzeit die kleine, zweiteilige Sommerwerfer, wie sie genannt wurde, weil sie für den Wald gebaut war, wo es wenig Platz zum Ausholen gab, und auch nicht so weit schießen musste. Beim Rückzug nach dem Wurf konnte der Werfer direkt in die Ausgangsposition zurückgebracht und mit einem neuen Wurfspeer versehen werden.

Es gab auch die Winterschleuder, diese war dreiteilig und länger. Danach gab es verschiedene andere Typen, die z.B. eine zusätzliche Drehung wie bei einer Schleuder ermöglichten.

Ein weiterer Speer krachte in das Ziel. Ich kann bald an den Olympischen Spielen teilnehmen. Zu schade, dass Präzisionsspeerwerfen keine Disziplin ist, dachte sie vergnügt und warf einen weiteren Speer ... oops, einen Robin Hood, verdammt. Helga hatte den anderen Speer gerade in der Mitte gespalten.

Sie hatte keine dieser seltsamen Flashbacks mehr gehabt, aber irgendwie hatte sie sich verändert. Während der Prüfung war sie konzentrierter denn je gewesen und jetzt diese grandiose Leistung im Speerwurf. Sie hatte das Gefühl, immer genau zu wissen, wo sie war, als ob sie ein eingebautes GPS hätte. Schon als Kind hatte sie solche Gefühle gehabt, aber jetzt war es noch ausgeprägter. Ab und zu sah sie helle Farbflecken auf den Körpern der anderen, genau wie beim Kampf mit dem Bären.

Helga wusste nicht, was vor sich ging, aber es gefiel ihr.

Patrick hatte sie am Mittag von der Universität abgeholt. Er hatte bereits ihre Kündigung geschrieben und war zur Gemeinde gegangen, um alle notwendigen Informationen und Formulare zu besorgen, um sich abzumelden.

Er hatte Fotos von den Möbeln gemacht, die Helga nicht mehr mitnehmen wollte, und er hatte bereits eine Spedition angerufen, um den Transport von Helgas anderen Habseligkeiten zu organisieren. Schließlich hatte sie ihn gefragt: "Warum tust du das überhaupt?

Er hatte sie mit einem entrückten Blick angesehen. "Ich weiß es nicht genau, aber es ist das Richtige für mich, und es macht mir Spaß. Ich war noch nie so glücklich", war seine vage Antwort gewesen.

Sie schaute auf die Uhr, es war neun Uhr abends, Zeit für Helga, nach Hause zu gehen.

Es waren viele Leute auf der Straße, schließlich war es Freitag, außerdem war es ein schöner Frühsommertag und es war noch hell draußen.

Als sie ein Stück weiter die Straße hinaufging, kamen ihr zwei Männer entgegen. Sie waren zu dieser frühen Stunde sichtlich beschwipst. Einer von ihnen versuchte scherzhaft, ihr den Weg zu versperren.

Schließlich hatte Helga genug, sie schubste den Mann und drückte mit ihrem Ellbogen auf einen der hellen Flecken auf seinen Rippen. Der Mann keuchte plötzlich auf und fasste sich an die Brust, als er zusammensackte. Der andere Mann schien schockiert zu sein, er schien nicht einmal zu denken, dass Helga schuld war.

"Du hättest das Zeug nicht trinken sollen, komm schon...", er zerrte seinen Kumpel zu einer Bank.

Helgas Wut schlug zunächst in Besorgnis um, aber der Mann war wieder in Ordnung. Und er verlangte von seinem Freund mehr Schnaps.

Die leuchtenden Punkte, die sie sah, waren wahrscheinlich eine Art Nervendruckpunkte, dachte sie und fragte sich, wie es möglich war, so etwas zu sehen.

*

Helgas Kindheit:

"Los, schneller, sonst gibt es keine Flammen." Die fünfjährige Helga und einige andere Gleichaltrige rieben fleißig an ihrem Holzstück und versuchten, damit ein Feuer zu machen. Helga dachte sehnsüchtig an Streichhölzer oder ein Feuerzeug. Damit hätte sie in Sekundenschnelle ein schönes Feuer entfacht. Aber der Teenager, der sie heute anleitete, ließ nicht locker. "Du darfst erst wieder Streichhölzer und Feuerzeuge benutzen, wenn du ohne sie ein Feuer machen kannst. Und vergiss nicht, früher durftest du nur Werkzeuge benutzen, die du selbst hergestellt hast."

Noch vor ein paar Jahren war der Elyyr-Kult - oder „Firrland Survival and Bushcraft Club“, wie er in der Öffentlichkeit genannt wurde - viel strenger gewesen. Man lernte nur dann, einen Speer zu werfen, wenn man seinen eigenen Speer gebaut hatte. Genauso wie man ein Messer nur tragen durfte, wenn man es selbst geschmiedet hatte. Kinder und Jugendliche mussten sich mit selbst hergestellten Stein- oder Knochenwerkzeugen begnügen.

So war es auch mit Kleidung oder Pelzen. Zuerst musste man das Tier erlegen, dann musste man lernen, wie man das Leder herstellt, bis man schließlich seine eigene Jägertracht tragen durfte.

Heute waren die Menschen viel liberaler. Schon ein Kind durfte ein Tier mit dem Messer ausnehmen, auch wenn es es noch nicht geschmiedet hatte. Erst bei einem weiteren Ausflug, bei dem die Jüngsten mehrere Tage im Wald blieben, um Metallerze zu sammeln und eine grobe Schmiede zu bauen, lernten sie die Kunst des Schmiedens. Wenn auch nur auf elementarer Ebene.

Denn heute war es für Elyyr-Mitglieder nicht mehr möglich, ihre eigenen Pistolen oder Gewehre zu schmieden. Man war dazu übergegangen, ihnen dieses Wissen nur noch theoretisch zu vermitteln. Genauso war es mit GPS und anderen High-Tech-Geräten, die ebenfalls erlernt werden mussten.

Die älteren Mitglieder beklagten sich, dass es immer mehr zu pauken gäbe. In der Vergangenheit war man mit wenig ausgekommen: Fischen, Jagen, Speerwerfen, Feuermachen, Unterschlupfbau, Orientierung an den Sternen, Kräutersammeln, ein bisschen Schmieden, ein bisschen Gerben, Fährtenlesen und andere Überlebens- oder Bushcraft-Kenntnisse.

Doch heute ist eine ganze Reihe neuer Kenntnisse hinzugekommen: Interpretation von Satellitenkarten, Navigation, moderne Waffen, Erste Hilfe und Medizin, Reparatur von Schneemotorrädern, moderne Kommunikationstechniken und vieles mehr.

Für die jüngere Generation war dieses umfangreiche Lernen nicht schwierig. Aber die Alten, die es gewohnt waren, nur Grundtechniken zu erlernen und diese dann im Laufe ihres Lebens zu perfektionieren, fanden es äußerst schwierig, mitzuhalten. Doch Nichua duldete keine Nachlässigkeit; alle Mitglieder mussten von allem ein bisschen können und sich einige besondere Fähigkeiten und Kenntnisse aneignen.

"Es raucht", jubelte eines der Kinder und versuchte sofort, die kleine Flamme zu verstärken, aber sie ging wieder aus. Die anderen Kinder versuchten umso mehr daran, als Erste das Feuer anzuzünden und so das Lob der Leiter für sich einzuheimsen. Natürlich wollten sie auch den Strafen entgehen, die sie bekommen würden, wenn sie sich schlecht anstellten oder etwas falsch machten. Helga fand die Strafen nicht so schlimm und verstand nicht, warum ihre Kameraden davor zitterten.

"Du bist zivilisiert, du verstehst das nicht", sagten sie ihr. Helga hasste das, denn "zivilisiert" war im Firrlandischen ein Schimpfwort. Sie hielt es für eine Unverschämtheit, so genannt zu werden, nur weil sie zur Hälfte Europäerin war, und gab sich deshalb immer besonders viel Mühe, besser zu sein als die anderen.

Nichua wusste das, und sie war es, die die anderen Anführer anwies, Helgas Ehrgeiz und den Wettbewerb mit den anderen Kindern anzustacheln. Dies geschah zum Teil dadurch, dass sie Helgas Ausrüstung sabotierten - wie sie es heute taten, als sie ihr ein weiches Holz gaben. Denn sie war viel besser als die Kinder in ihrem Alter, und das war typisch für die Nachfolge der Hohepriester. Das konnte man in den Archiven nachprüfen, wo genau die Fortschritte, Leistungen und Schwächen aller Mitglieder festgehalten wurden - und niemand war mit fünf Jahren so weit fortgeschritten wie Helga.

Im hinteren Teil des Waldes waren die hohen Pfiffe von Jägern zu hören, als eine Gruppe von Jugendlichen ihre Treibjagd übte.

Helga schaute auf ihre selbstgebastelte Jägerpfeife hinunter, die um ihren Hals baumelte. Es war bereits die vierte, die sie aus einem Zweig und einem Grashalm hergestellt hatte. Inzwischen konnte sie die richtigen Töne auch ohne Hilfsmittel pfeifen. Es war so natürlich für sie, als ob sie es schon immer getan hätte.

Die Pfiffe der Jäger waren eine Sprache für sich. Es gab drei Tonhöhen, die jeweils kurz oder lang gepfiffen wurden. Aus den verschiedenen Kombinationen ergab sich ein kleiner Wortschatz.

Helgas empfindliche Ohren nahmen jetzt nur noch eine vertraute Kombination wahr: hoch-kurz, mittel-kurz, hoch-lang. Das bedeutete "Sichtkontakt mit der Beute".

In diesem Fall wurde die Beute von einem anderen Teenager gespielt.

Was Helga nicht wusste, war, dass der Junge, der die Beute spielte, dies als Strafe tun musste. Sie wusste auch nicht, dass der einfache Helm mit Geweih, den er trug, nicht nur dazu diente, ihn als Beute zu kennzeichnen, und auch nicht das dicke Lederkleid. Der Helm war in der Tat gut gepolstert. Die anderen Elyyr-Jäger schossen tatsächlich mit stumpfen Speeren auf ihn. Ihre Köpfe hinterließen bei jedem Jäger einen charakteristischen Abdruck, wenn sie auf die Lederkleidung trafen.

Die Jagd war kein Spiel. Der fliehende Junge wurde von seinen Kollegen gejagt, bis er völlig erschöpft war oder sie ihn irgendwie anders erwischten. Wie ein echtes wildes Tier wurde er an eine Stange gebunden und zurück zum Platz gebracht.

Es war schon spät, als die Jagdgesellschaft auf diese Weise zurückkehrte.

Helga war schon längst von ihrem Vater abgeholt worden. Die anderen Kinder sowie alle anderen anwesenden Elyyr-Mitglieder, die bis zu diesem Zeitpunkt geübt hatten, versammelten sich um die Truppe.

Der gefesselte Junge wurde grob zu Boden geworfen, doch er gab keinen Laut von sich. Die Jäger blickten zu den Ältesten, die die ganze Jagd beaufsichtigt hatten. Ajoischa warf einen Blick auf die Stoppuhr.

"Wir haben um 16 Uhr angefangen, also haben Sie sechs Stunden gebraucht."

Das war zu viel, denn in dem kleinen Trainingswald sollte man eine Beute, selbst gut versteckt, in der Hälfte der Zeit fangen.

"Binde ihn los und breite das Kleid aus."

Der Junge wurde losgebunden und von seinem dicken Kostüm befreit. Sein Kopf war gerötet, aber er grinste hämisch. Er hatte seine Sache gut gemacht, obwohl ihm die Schande, so ins Lager zurückgeschleppt worden zu sein, deutlich ins Gesicht geschrieben stand.

Die Ältesten bewerteten nun, wie viele Speere geworfen worden waren und wie viele überhaupt getroffen hatten. Sie diskutierten eine Weile miteinander, während die Jungen Wasser tranken und sich gegenseitig auf die Schultern klopften.

"Kommen wir zur Auswertung: Ina hat von sieben Schüssen dreimal getroffen, lag aber immer hinter den anderen und brach eine Stunde vorher wegen Schwäche ab. Schlecht. Mauk hat nur vier Speere geworfen. Aber er war es, der mehrmals die Beute aufspürte und den anderen ihre Position richtig pfiff und sie leitete. Gut."

Die anderen fünf Jugendlichen wurden abwechselnd kritisiert oder gelobt. "Thomas traf nur einmal von sechs Schüssen und wurde von der Beute hart in den Bauch getroffen, als er versuchte, sie zu Boden zu bringen. Im richtigen Leben wäre das eine tödliche Wunde gewesen. Sehr schlecht. Und nun Anit, die Beute. Er hat sich die ganze Zeit wie ein Rentier benommen und wurde insgesamt elf Mal getroffen. Alles in allem hielt er acht bewaffnete Jäger sechs Stunden lang auf Trab und verwundete einen tödlich. Die Beute hat gewonnen, die Jäger haben einen schweren Verlust erlitten und hätten die Jagd wahrscheinlich abbrechen müssen.

Thomas wäre im echten Leben vermutlich getötet worden, und er wird entsprechend bestraft. Mauk wird ebenfalls bestraft. Grund: schlechte Leistung. Und eine allgemeine Bestrafung für die Verlierer."

Anit, der das Rentier spielte, stand auf und ließ sich von den anderen Mitgliedern feiern, denn es kam selten vor, dass die Beute gewann. Meistens wurde es innerhalb der normalen Zeit "erlegt" und zurückgebracht. Bestrafungen wurden immer ausgesprochen. Eine Beute, die innerhalb einer Stunde gefangen wurde, blieb meist noch mehrere Stunden an der Stange angebunden, während die Jäger ihren Triumph feierten.