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Ich bin Gilby... ihr kennt mich ja schon, den rothaarigen Nordjungen aus Midgard. Meine Erschafferin hat kein Erbarmen und schickt mich weiter durch die Welten Yggdrasils. Aber ich will mich nicht beschweren, denn ich habe es mir ja so gewünscht. Naja, fast. Dass es manchmal so abenteuerlich und gefährlich wird, habe ich mir nicht träumen lassen. Aber ich lasse mich nicht entmutigen. Ich drehe weiterhin an den Prophezeiungen und führe erfolglose Diskussionen mit Odin. In der Zeit des dreijährigen Fimbulwinters wird aus mir, dem Nordjungen, ein junger Nordmann, dem die größte, alles entscheidende Aufgabe bevorsteht: Ragnarök.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Vorspann
Loki
Midgard
Schwarzalbenheim
Dvalin
Muspelheim
Zurück
Odin
Gilbys Traum
Fimbulwinter
Wigrid
Auf dem Schlachtfeld
In der Siedlung
Wiedersehen
Nachspann
Sehnsüchtig wartete Gilby auf wärmende Sonnenstrahlen, welche den Schnee schmelzen ließen. Es war längst Zeit, Kräuter zu sammeln, doch unter der dicken Schneedecke regte sich kein Leben. Dieser Winter war kalt und dauerte an. Mond um Mond verging, ohne dass sich etwas tat. Stattdessen schneite es weiter und wurde beständig kälter. Immer häufiger fegte ein eisiger Wind über das Land und wirbelte den liegenden Schnee umher.
Nach weiteren Monden ohne Besserung schlich sich bei Gilby die Furcht ein, dass dies der Anfang des dreijährigen Winters war, von dem die Norne Skuld ihm berichtet hatte. Die Frostriesen rüsteten sich früher als erwartet für Ragnarök. All seine Bemühungen, dies zu verhindern, waren gescheitert. Doch dieses war der erste Winter. Es war noch Zeit. Vielleicht war noch nichts verloren.
Mühsam suchte Gilby unter dem Schnee nach Holz, um die Hütte zu beheizen. Er fand immer weniger. Auch das Essen wurde rar. Es gab keine Kräuter und die Ziegen gaben nur noch wenig Milch, weil auch sie unter dem Schnee kaum noch etwas zu zupfen fanden. Manchmal löste Gilby von den vereisten Baumstämmen die Rinde und brachte sie den Tieren zum Knabbern mit.
Gilby warf etwas Holz in die Esse und rieb sich die Hände über dem Feuer. Seine Mutter Sirid hatte sich in ein Fell gehüllt und schaute zu.
Es musste etwas geschehen. Er konnte nicht tatenlos abwarten. Einen drei Jahre andauernden Winter, der immer heftiger wird, würde niemand in der Siedlung überleben. Nur was sollte er machen? Durch den hohen Schnee konnte er nicht zu Yggdrasil. Wahrscheinlich würde er dort ohnehin niemanden antreffen.
Wäre er doch nicht nach Balders Tod so garstig zu Loki gewesen. Wenn einer helfen könnte, wäre es vielleicht der Feuergott. Denn der wollte Ragnarök ebenso wenig wie Gilby. Aber Loki wurde von den Göttern gejagt und würde sich nicht blicken lassen.
Gilby trat vor die Hütte in die eisige Kälte. An einem Unterstand erblickte er einen Bottich. Darin befand sich das Blut einer geschlachteten Ziege. Eine Idee keimte in ihm auf. Er schaute in das Gefäß. Das Blut war gefroren. Gilby schleppte das Fass in die Hütte und stellte es neben die Esse.
„Was machst du?“, fragte Sirid.
„Ich brauche das Blut. Es muss flüssig werden“, antwortete Gilby und ging wieder hinaus. Auf einer freien Fläche trat er den Schnee fest. Mit einem Stock malte er riesengroß Kenaz hinein, die Rune des Feuers. Es brauchte nur zwei Striche, die sich links zu einer Spitze trafen. Gilby trieb breite Furchen in das Symbol. Das Blut war inzwischen getaut, so dass er es hinein gießen konnte. Die Flüssigkeit gefror sofort und leuchtete rot in dem weißen Schnee. Gilby hoffte, dass neuer Schnee die Rune nicht zu schnell bedecken würde. Vor allem hoffte er, Loki würde sie sehen und seinen Hilferuf verstehen.
Eine Weile harrte er noch in der Kälte aus, bevor er wieder in die Hütte trat.
Sirid stellte gerade eine Suppe aus spärlichen Zutaten auf den Tisch, als die Tür polternd aufgerissen wurde.
„Was fällt dir jetzt schon wieder ein?“, donnerte Odin los, der sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hatte, sich als Wanderer zu verkleiden.
Sirid fiel auf die Knie und Gilby kam gar nicht erst dazu, eine Antwort zu geben.
„Denkst du, ich weiß nicht, wem das da draußen gilt?“, brüllte Odin. „Dachte ich mir doch, dass du gemeinsame Sache mit dem Feuergott machst.“
„Lass das Schimpfen“, mahnte Gilby den Allvater. „Der Winter ist so lang und kalt. Ich muss etwas tun.“
„So, und das ist ausgerechnet nach dem Listigen zu schreien.“
„Es mag sein, dass Loki listig ist. Aber im Gegensatz zu dir, will er Ragnarök nicht“, wandte Gilby ein.
„Du redest wie immer dummes Zeugs, Nordjunge. Loki ist derjenige, welcher Ragnarök vorantreibt. Er und seine Brut. Und du!“
„Du hast bei den Nornen nicht zugehört“, sagte Gilby kopfschüttelnd.
„Du hörst mir nicht zu. Dein Versprechen steht noch aus. Du wolltest den Fenriswolf zurück bringen. Und? Wo bleibt er?“
„Das werde ich. Sobald du erkannt hast, dass es falsch war, ihn zu fesseln. Und ich die Möglichkeit und Zeit dafür habe. Dafür brauche ich Loki.“
„Dir ist nicht zu helfen, Nordjunge. Loki wird auch dein Untergang sein.“ Damit verließ Odin die Hütte und sprang auf sein achtbeiniges Pferd. Bevor sich das Tier in die Lüfte erhob, ließ er von Sleipnir die Rune zertrampeln.
Eine Fliege verirrte sich in die Hütte.
„Loki?“, fragte Gilby hoffnungsvoll.
Doch die Fliege surrte nur nervös herum und landete im Feuer. Betrübt blickte Gilby in die Flammen, aus denen sich plötzlich der Feuergott erhob.
„Loki!“, schrie Gilby auf. „Komm da raus! Du verbrennst.“
Galant stieg Loki aus den Flammen und grinste verschmitzt.
„Brrr… war mir kalt. Ich musste mich erstmal aufwärmen. Kein Wetter für Fliegen. Außerdem verbrenne ich nicht. Schon vergessen, wer ich bin?“
„Der Feuergott“, antwortete Gilby.
„Na also. Das Feuer ist mein Freund. Ich hab die Rune Kenaz gesehen, bevor Sleipnir sie zerstörte. Sie galt mir, nicht wahr?“
Sirid sprang auf. „Ist das Loki Laufeyson?“, fragte sie verblüfft.
„Ja, das ist Loki“, antwortete Gilby mit Stolz in der Stimme. Ein Gott in der spärlichen Hütte gehörte schließlich nicht zur Tagesordnung und heute wurde sie bereits von zweien aufgesucht.
Loki legte eine Hand vor die Brust und verbeugte sich. „Sehr erfreut“, säuselte er.
„Ach Loki, bin ich froh, dass du da bist“, freute sich Gilby. „Was können wir nur tun? Der Winter will nicht enden. Ich glaube, Ragnarök wird kommen.“
„Ach, und deswegen willst du wieder mit mir reden?“
Gilby ignorierte den Einwand. „Hast du eine Idee?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Ich hab immer Ideen. Nur meistens missfallen sie“, witzelte Loki.
„Wo ist Balder eigentlich hingekommen?“, brannte es Gilby zunächst auf der Seele.
„Er ist bei meiner Tochter Hel. Er starb ja nicht im Kampf. Also muss Odin auf Balder in Walhalla verzichten.“
„Das ist gut.“ Gilby wusste, dass der edle Lichtgott es bei der Hel gut haben würde.
„Ja, seine Frau Nanna ist auch bei ihm. Sie starb vor Kummer über seinen Tod. Muss Liebe schön sein“, fügte Loki ironisch hinzu.
„Oh! Aber dann sind sie wenigstens zusammen. Denkst du, dass Balders Tod Ragnarök einläutet, wie es die Prophezeiung vorsieht?“, wollte Gilby wissen.
„Wir haben doch darüber gesprochen, Gilby. Es sind viele andere Dinge geschehen, die Ragnarök vorantreiben. Und das weißt du auch. Die Prophezeiung hat Risse bekommen. Vieles kann nicht mehr so eintreten, wie es weisgesagt wurde.“
„Ja, so ähnlich sagte auch Skuld“, erinnerte sich Gilby.
„Du machst dir wegen Balders Tod immer noch Vorwürfe. Glaube mir, dieser Winter wäre genauso lang, wenn Balder noch leben würde.“
„Wir müssen nach Muspelheim“, platzte es Gilby unvermittelt heraus.
Loki blickte ihn schief an. „Ins Land der Feuerriesen? Weil es dir hier zu kalt ist?“
„Nein Gilby. Denk nicht weiter darüber nach“, rief Sirid.
„Surt wird mit seinem Feuerschwert die Welt verbrennen. Das erzählte mir Skuld. Das können wir nicht zulassen.“ Gilby schaute abwechselnd zu seiner Mutter und Loki.
Der Feuergott guckte Gilby an, als wäre er nicht ganz bei Sinnen. „Was bitte gedenkst du gegen einen Feuerriesen zu unternehmen? Seine Größe übertrifft alles, was du bisher gesehen hast. Selbst die Frostriesen sind Winzlinge dagegen. Und wie willst du die Hitze Muspelheims ertragen? Mir macht sie nichts. Aber du würdest zerschmelzen wie ein glühendes Stück Kohle.“
„Da hörst du’s“, triumphierte Sirid, die eine böse Vorahnung hatte. Sie kannte ihren Sohn.
Gilby senkte betrübt den Kopf. „Ich kann meine Mutter sowieso nicht allein lassen. Sie wird erfrieren und verhungern. Es gibt schon jetzt wenig zu heizen und zu essen.“
Loki ging zur Esse und bewegte seine Hand. Die Flammen loderten auf und brannten heftig auf den spärlichen Holzscheiten.
„Dieses Feuer kann nur durch mich wieder gelöscht werden. Damit wäre die Sache mit dem Erfrieren schon mal aus der Welt“, unkte Loki. „Ihr werdet eure Ziegen schlachten müssen. Die verhungern und erfrieren ohnehin. Nutzt also besser deren Fleisch, statt die drei Tropfen Milch. Das Fleisch wird sich in der Kälte lange halten.“
„Dann gehen wir nach Muspelheim und legen Surt das Handwerk?“, fragte Gilby euphorisch nach.
„Nein“, riefen Sirid und Loki aus einem Mund.
„Es ist zu spät, Gilby. Der Weltenbrand ist nicht mehr aufzuhalten“, sagte Loki.
Gilby blickte beide abwechselnd an. „Wir können nicht tatenlos auf Ragnarök warten. Das könnt ihr doch auch nicht wollen.“
„Nun, mir sind einige Weissagungen auch nicht fremd“, antwortete Loki. „Surt wird das Feuerreich erst verlassen, wenn die Welt anfängt zu beben. Das ist der Beginn von Ragnarök. Es öffnen sich Risse. Darauf wartet der Feuerriese und wird erst dann aus Muspelheim austreten können. Bis dahin ist er in seinem eigenen Reich gefangen und züchtet für seinen großen Auftritt seine Armee heran – Muspels Söhne. Sie kommen über Bifröst und bringen die Regenbrücke zum Einstürzen.
„Bis dahin können wir nicht warten. Dann ist es wirklich zu spät“, seufzte Gilby.
„Wir bleiben hier“, bestimmte der Feuergott. „Du solltest dir erst ein Bild von Midgard machen, statt durch die Welten zu toben. Hier in deiner Siedlung ist es friedlich, aber…“
„Nein“, unterbrach Gilby ihn. „Hier auch nicht. Meinem Vater Andvari wurde vorgeworfen, geklaut zu haben. Hat er aber nicht. Man nahm ihn einfach gefangen und opferte ihn dem Meeresriesen Ägir. Aber er ist jetzt im Totenreich bei Ran und dort geht es ihm gut.“
„Da hatte er Glück. Aber du siehst, welch Fehler die Menschen hier schon begehen. Woanders ist es noch viel schlimmer. Ich möchte dir mehr von Midgard zeigen. Dann wirst du verstehen, dass auch die Menschen Ragnarök vorantreiben.“
„Aber wie soll das gehen?“, fragte Gilby. „Wir können nicht einfach durch Midgard reisen. Man wird dich sehen. Heimdall erkennt jede Ameise von seiner Himmelsburg. Und Odin schickt seine Raben Hugin und Munin aus.“
„Deine Besorgnis überrascht mich. Du wolltest ja eigentlich nichts mehr mit mir zu tun haben“, schmunzelte Loki. „Du vergisst, dass ich mich verwandeln kann.“
„Ach ja? Ich soll in der Kälte durch den Schnee stapfen, während du dich als Fliege in meinem Ohr wärmst?“
„Die Idee ist nicht schlecht. Doch so kommen wir nicht voran. Ich verwandele mich in einen Adler.“
„Das hilft mir wenig.“
„Dich verwandele ich auch.“
„Nein! Niemals!“ Gilby hob abwehrend die Hände. „Ich lasse mich von dir nicht in einen Adler verwandeln.“
„Wer spricht denn von einem Adler?“, grinste Loki. „Du wärst sowieso fluguntüchtig und müsstest das Fliegen erst lernen. Ich verwandele dich in einen Hasen.“
Gilby wuschelte sich seinen roten Schopf. Machte der Feuergott sich über ihn lustig?
„Du fliegst also durch die Lüfte und ich soll als Hase durch den Schnee hoppeln? Hast du dir das so gedacht?“
„Gilby, Gilby. Ich dachte, du wärst schlauer“, runzelte Loki die Stirn. „Du bist meine Beute.“
Gilby riss die Augen auf. Der Feuergott musste übergeschnappt sein.
„Vergiss es. Ich hing schon einmal in den Krallen eines Falken, als Freya mich über das Nordmeer flog. Das hat mir gereicht.“
Loki zuckte die Achseln. „Wenn dir was Besseres einfällt, dann lass hören. Ich finde, ein Adler mit einem Hasen in seinen Fängen ist vollkommen unauffällig. Niemand wird auf die Idee kommen, dass es Loki und Gilby sind, die über Midgard kreisen.“
„Du hast dabei nicht bedacht, dass die Menschen hungrig sind. Sie werden dich mit Pfeil und Bogen abschießen.“
„Dem werde ich auszuweichen wissen.“
„Trotzdem wirst du mich nicht in einen Hasen verwandeln.“
„Maus geht auch. Nur könnte ich dich dann ausversehen verschlucken.“ Amüsiert zwirbelte Loki an seinen Bartspitzen.
„Du verwandelst mich in gar nichts. Wer macht das rückgängig, wenn dir was passiert? Außerdem will ich weder Hase noch Maus noch sonst was sein.“
Sirid hatte das Gespräch der beiden still verfolgt. Jetzt mischte sie sich wieder ein: „Ich wünsche nicht, dass Sie meinen Sohn verwandeln, Herr Laufeyson. Gilby muss sich nicht verstecken. Wenn Sie nicht gesehen werden dürfen, ist es nicht unser Problem.“
Loki blickte Sirid missmutig an. „Dann soll es auch nicht mein Problem sein, Midgard vor dem Untergang zu bewahren.“
Gilby fragte sich, wo er nur hereingeraten war. Was hatte er angezettelt? Es ging anfangs doch nur um seinen Vater.
„Ist es für mich gefährlich, wenn du mich verwandelst?“
„Gilby!“, rief Sirid entsetzt auf.
„Es tut etwas weh. Aber nur einen kleinen Moment“, sagte Loki.
„Ich werde erfrieren, wenn du mit mir durch die eisige Luft fliegst.“
„Ach was. Du bekommst von mir ein dickes Hasenwinterfell.“
„Werden wir miteinander sprechen können?“
„Du willst schon vorher alles abklopfen, wie? Du weißt doch, dass ich als Fliege sprechen kann. Also auch als Adler. Dir allerdings werde ich diese Fähigkeit nicht anzaubern“, beschloss Loki. „Es wird angenehm für mich sein, nicht von deinen ewigen Fragen genervt zu werden.“
„Das ist ungerecht“, maulte Gilby.
„Ich nenne es erholsam.“
„Wann können wir los?“
Loki grinste selbstsicher. „Ich bin hier.“
„Gilby, nein. Das ist verrückt. Mach das bitte nicht“, bettelte Sirid.
„Ich muss, Mutter. Es wird bestimmt nicht lange dauern und ich bin wieder bei dir.“
„Sehr gute Entscheidung“, sprach Loki und bewegte seine Hand.
Gilby wollte aufschreien. Schmerzen jagten durch seine Glieder als seine Knochen schrumpften, doch kein Laut drang aus ihm heraus. Dann war es auch schon vorbei.
Zufrieden schaute der Feuergott auf den Hasen, der unsicher auf seine Mutter zu hoppelte. Sirid schlug ihre Hände vors Gesicht. Tränen kullerten aus ihren Augen, während sie über das Fell des Tieres strich.
„Komm gesund zurück, mein Junge“, flüsterte sie.
Loki fasste den Hasen unsanft im Nackenfell und setzte ihn vor der Hütte in den Schnee. Gilby wollte maulen, doch nur ein kümmerliches Quieken verließ seine Kehle.
„Hm… ich hätte einen Schneehasen aus dir machen sollen. Naja, auch ein Gott kann nicht an alles denken“, murmelte Loki.
Gilby bereute bereits, sich auf die Verwandlung eingelassen zu haben. Es entsprach nicht seinem Sinn, sich nicht äußern zu können. Zu weiterem Nachdenken hatte er keine Zeit mehr. Statt Loki hockte ein riesiger Adler vor ihm, der seine Flügel spannte und Gilby mit den Krallen ergriff.
Schon befand sich Gilby in den Fängen des Raubvogels hoch über Midgard. Schnell, aber sanft glitt das Tier durch die Luft. Loki hatte ihn wirklich mit einem dicken Fell ausgerüstet. Er fror überhaupt nicht.
Gilby betrachtete die weiße Einöde unter ihm und fragte sich, was der Feuergott ihm zeigen wollte. Außer einer Schneelandschaft, in der sich ab und an eine kleine Siedlung einfügte, gab es nichts zu sehen. Der Adler bewegte sich nach Süden. Etwas grün unterbrach hier und da die weiße Fläche und gewann an Überhand, je weiter der Adler flog.
Gilby hätte gern gefragt, was dies zu bedeuten hat, doch brachte er kein Wort hervor.
„Wir nähern uns dem Feuerreich und es wird wärmer. Deswegen wird der Schnee weniger“, erklärte Loki, als hätte er Gilbys Gedanken gelesen.
In Gilbys Hasenkopf rotierte es. Gerne hätte er sich die Löffel geschrubbt, doch das ließ seine Position nicht zu. Bedeutete dies, dass im Norden Midgards der Winter einfach nur länger andauerte? Es hieß doch, der dreijährige Winter vor Ragnarök würde über ganz Midgard kommen. Gilby verfluchte den Feuergott, ihm das Sprechen nicht angezaubert zu haben und knurrte vor sich hin.
„Herrlich, diese Ruhe“, freute sich Loki, dem das Knurren nicht entgangen war.
In der Ferne sah Gilby eine größere Siedlung. Schwarze Rauchschwaden stiegen von dort in den Himmel hinauf. Der Adler senkte seinen Flug, als er sich dem Ort näherte. Einige der Hütten brannten lichterloh. Dazwischen rannten schreiende Menschen, die von anderen mit Schwertern und Keulen verfolgt wurden. Gilby schloss die Augen, nachdem er ansehen musste, wie eine Frau erschlagen wurde und mit blutendem Kopf liegen blieb.
„Das wollte ich dir zeigen“, sagte Loki. „Die Menschen in der Siedlung verweigerten Wegelagerern eine warme Mahlzeit und werden von ihnen überfallen.“
„Geh runter“, rief Gilby in Gedanken. „Wir müssen ihnen helfen.“
Tatsächlich senkte der Adler den Flug und hackte den Verfolgern in die Köpfe. Wild schlugen sie mit ihren Waffen um sich, doch Loki verstand es, geschickt auszuweichen. Gilbys kleines Hasenherz setzte vor Angst fast aus. Wehrlos war er den Fängen des Adlers ausgeliefert und sein Körper schleuderte mit den Attacken hin und her, dass ihm schwindelig wurde.
Loki griff weiter an und hieb den Wegelagerern mit seinem Hakenschnabel blutige Wunden in die Köpfe bis die Schurken sich zurückzogen.
„Verflucht, was hab ich falsch gemacht, dass du in Gedanken zu mir sprechen kannst?“, schimpfte Adler-Loki.
Er kreiste noch einmal über die zerstörte Siedlung, um sich weiter nach Süden abzuwenden. In dem Moment traf ihn ein Pfeil, er kreischte auf und segelte mit ausgebreiteten Schwingen herunter. Den Hasen hielt er weiter fest in den Krallen, die er erst kurz vor dem Boden öffnete. Gilby plumpste auf die Erde und der Adler landete über ihm. Der Hase hoppelte unter dem Flügel hervor und blickte entsetzt auf den verletzten Adler. Der schaute den Hasen mit trüben Augen und weit geöffnetem Schnabel an.
„Schnell, verwandele mich zurück“, rief Gilby in Gedanken.
„Ich… muss…mich… erst… selbst…“, stammelte Loki und blieb regungslos liegen.
Zwei junge Menschen näherten sich.
„Ich glaube, der Adler ist tot“, sagte der Junge.
„Aber der Hase lebt. Er guckt so traurig. Und irgendwie verzweifelt“, stellte das Mädchen fest.
„Helft!“, rief Gilby. „Wir sind Loki und ein Nordjunge.“ Gilby wusste nicht, ob die Menschen ihn hören würden und machte zur Unterstützung wilde Bocksprünge.
„Was hat er denn?“, fragte das Mädchen. „Als ob er uns was sagen möchte.“
„Hm… der Adler hat die Schurken vertrieben und seine Beute dabei nicht losgelassen. Das ist merkwürdig“, überlegte der Junge.
Gilby klopfte mit dem Hinterlauf mehrfach auf den Boden. Er hatte mal beobachtet, dass Hasen es so machen.
„Ich glaube, er will uns wirklich etwas sagen.“ Der Junge beugte sich zu dem Adler herunter und fühlte ihn ab. „Er ist nicht tot. Sein Herz schlägt noch“, stellte er fest.
Gilby klopfte wieder.
Der Junge zog seine Tunika aus und übergab sie dem Mädchen.
„Ich ziehe den Pfeil heraus und du presst die Tunika schnell auf die Wunde“, beauftragte er seine Gefährtin.
Vorsichtig löste er den Pfeil aus dem Körper des Adlers. Sofort sickerte Blut in das Federkleid und das Mädchen stoppte schnell die Blutung mit dem Stoff.
Gilby malte unbeholfen mit seiner Vorderpfote einen Krähenfuß in die Erde und stupste den Jungen mit der Nase an.
Der Junge guckte verblüfft. „Das ist Algiz, eine mächtige Schutzrune. Wieso kennt denn der Hase das?“
„Das ist doch jetzt egal“, sagte das Mädchen. „Algiz hat auch Heilkraft. Ich probiere mal was aus.“
Mit dem Finger nahm sie Blut aus den Federn auf und malte Algiz auf den Kopf des Adlers.
Gilby klopfte aufgeregt.
Der Adler blinzelte mit den Augen und schloss den Schnabel.
„Er reagiert“, rief das Mädchen erfreut.
„Bist du kräftig genug, dich zurück zu verwandeln?“, fragte Gilby.
Statt des Adlers befand sich plötzlich der Feuergott an dessen Platz. Das junge Menschenpaar wich erschrocken zurück.
„Verwandele mich auch zurück. Sofort!“, kommandierte Gilby.
Loki hob die Hand und der Hase wurde wieder Gilby.