Girlcrush - Florence Given - E-Book

Girlcrush E-Book

Florence Given

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Beschreibung

Florence Given ist längst nicht mehr ausschließlich ein Internetphänomen. Ihr erstes Buch »Frauen schulden die gar nichts« war ein großer Bestseller. »Girlcrush« ist ihr erster Roman, der gleich auf Platz 1 der Sunday-Times-Bestsellerliste einstieg. Eine heiße und wahnsinnig aktuelle Geschichte über sexuelle Befreiung und das Verhalten geschlechtsreifer Millennials im 21. Jahrhundert.  Eartha befindet sich auf einer verrückten und verführerischen Erkundungstour durch das heutige London, nachdem sie ihren toxischen Boyfriend endlich verlassen hat. Sie beginnt ihr Leben als offen bisexuelle Frau und wird gleichzeitig zu einer viralen Sensation auf Wonderland, einer Social-Media-App, auf der Menschen ihr Traum-Selbst online projizieren. Nur: Die Distanz zwischen ihrem Online- und ihrem Offline-Ich wird immer größer, bis etwas passiert, das sie in die totale Selbstzerstörung führt und Eartha vor die Wahl stellt. Welche Version von sich selbst soll sie auslöschen?

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Florence Given

Girlcrush

Roman

Aus dem Englischen von Pauline Kurbasik

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Florence Given

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Florence Given

Florence Given, 1998 geboren, ist eine in London lebende Künstlerin und Autorin, die vor allem aus den sozialen Medien bekannt ist. Ihre wiedererkennbaren, knalligen Illustrationen stehen für feministisches Empowerment. Über eine beeindruckende Follower*innenschaft auf Instagram macht sie auf Themen rund um Schönheitsideale, Gender und Sexualität aufmerksam.

Die Übersetzerin

Pauline Kurbasik lebt und übersetzt in Bonn aus dem Englischen und Französischen, u.a. Neal Shusterman, Karine Lambert, Abbie Greaves und Lizzy Dent, und unterrichtet an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf Literaturübersetzen.

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Über dieses Buch

Eartha befindet sich auf einer verrückten und verführerischen Erkundungstour durch das heutige London, nachdem sie ihren toxischen Boyfriend endlich verlassen hat. Sie beginnt ihr Leben als offen bisexuelle Frau und wird gleichzeitig zu einer viralen Sensation auf Wonderland, einer Social-Media-App, auf der Menschen ihr Traum-Selbst online projizieren. Nur: Die Distanz zwischen ihrem Online- und ihrem Offline-Ich wird immer größer, bis etwas passiert, das sie in die totale Selbstzerstörung führt und Eartha vor die Wahl stellt. Welche Version von sich selbst soll sie auslöschen?

Inhaltsverzeichnis

Motto

Widmung

Prolog

Kapitel 1  PROPHYLAKTISCH EINEN RUNTERHOLEN

Kapitel 2  SCHIEFE FRAUEN

Kapitel 3  PHAEDRA

Kapitel 4  DER TRACEY EMIN DES TECHNO

Kapitel 5  ERDRUTSCH

Kapitel 6  FUCKBOYS HABEN KEIN GENDER

Kapitel 7  DAS HÄTTE IN DEN ENTWÜRFEN BLEIBEN KÖNNEN

Kapitel 8  HELLES, STRAHLENDES WESEN

Kapitel 9  MUSS ICH MIR EINEN STRAP-ON KAUFEN?

Kapitel 10  MONA

Kapitel 11  @HAILEY3000 SOLL DAS MAUL HALTEN

Kapitel 12  ENGAGEMENT!

Kapitel 13  ALLES IST MÖGLICH

Kapitel 14  SLINKY’S

Kapitel 15  KISSING THE PINK

Kapitel 16  SEXISTISCHES MARKETINGKONZEPT

Kapitel 17  DADDY iST DA

Kapitel 18  VERTRAGSVERPFLICHTUNGEN

Kapitel 19  MORGENATEM

Kapitel 20  PROBLEMATISCH

Kapitel 21  DOPPELGESICHTIGE FLEISCHLIEBHABERIN

Kapitel 22  VORÜBERGEHEND TOT

Kapitel 23  ICH BIN ENTTÄUSCHT VON DIR

Kapitel 24  STIMME EINER GENERATION

Kapitel 25  SCHMUTZIGE SLIPS

Kapitel 26  #MORETIMEONLINE

Kapitel 27  TAINTED LOVE

Kapitel 28  ALS HÄTTEST DU ZWEI SEITEN

Kapitel 29  AUS MEINER HAUT RAUSKRIECHEN

Kapitel 30  DIE ZUKUNFT IST FEMINISTISCH PHALLISCH

Kapitel 31  SELTSAME JUNGE FRAU

Kapitel 32  ALLES, WAS ICH WAR, GEHÖRT JETZT EUCH

Wonderland existierte von 2018 bis 2030

DANKSAGUNG

Kleine weiße Rechtecke spiegeln sich in ihren Augen. Die Leute sind alle tief im Internet versunken. Sie nehmen nicht wahr, was um sie herum oder vor ihnen passiert, alle stillen ihre Sehnsucht nach Anerkennung mit ihren Handys.

Für alle Frauen,

die Teil von uns sind.

September 2030

 

Hi, Wonderland.

Eartha hier, von einem Fake-Account.

Die »echte« Eartha.

Ich will euch mitteilen, dass ich nicht verrückt bin. Dass ich keine Lügnerin bin. Sondern dass ich von den Mächtigen missbraucht wurde. Und dass ich Wonderland dem Erdboden gleichmachen will.

Wie ich das anstellen will?, fragt ihr euch bestimmt. Mit dem letzten bisschen Macht, das mir noch bleibt: der Wahrheit.

Kapitel 1 PROPHYLAKTISCH EINEN RUNTERHOLEN

Wonderland-Follower*innen: 1303 

Ich bin mir einfach total sicher, dass ich für etwas Größeres als mein jetziges Leben bestimmt bin. Was macht man als Frau, wenn man Sex haben will – aber nicht mit dem eigenen Freund? Ist das normal? Geil sein, aber nicht auf ihn. Sich nach mehr sehnen, aber nicht von ihm. Ich bin mir sicher, dass die Beziehung mit Matt nicht nur meine Energie frisst, sondern auch die Klimakrise krass verschlimmert: Um ihm aus dem Weg zu gehen, bringe ich halb volle Müllbeutel runter. Und ich kann nur eine gewisse Anzahl an Zigarettenpausen machen, bis sogar dem naivsten Mann auffällt, dass ich ihm aus dem Weg gehe. Mein Vibrator hängt immer am Ladegerät und ich mache mir Sorgen, weil ich so viel Strom verbrauche. Auch beim Gedanken an meinen Wasserverbrauch bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich vor dem Schlafengehen besonders ausgiebig dusche, um keinen Sex mit ihm zu haben. Wenn ich Glück habe, schläft er tief und fest, wenn ich ins Bett komme. Falls er doch noch wach ist, erkläre ich ihm, ich sei zu müde. Ein einfaches »Nein« bringe ich nicht über die Lippen, vor allem dann nicht, wenn er getrunken hat – also fast jeden Tag.

Ich habe angefangen, die Alkflaschen in der Wohnung zu verstecken. Ich stelle sie in den Schrank mit den Putzsachen. Den hat Matt noch nie aufgemacht – kein Wunder. Wenn er nach den Flaschen fragt, sage ich, er hätte sie schon ausgetrunken. Wenn wir keinen Sex haben, ignoriert er mich am nächsten Morgen oder stürmt aus der Tür, ohne sich zu verabschieden. Manchmal hole ich ihm prophylaktisch einen runter, damit es keinen Streit gibt. Ich frage mich, wie viele Frauen ihren Freunden vorsorglich einen runterholen, um »ihn zufriedenzustellen«?

Meine Grandma hat damals genau diese Worte gewählt und dabei gezwungen gelächelt. Dabei hat sie uns immer wieder Bratkartoffeln auf die Teller geladen, als ich bei einem Sonntagsessen gefragt habe, wo Grandpa sei. Er war später bestimmt so wie immer rotzevoll aus dem Pub nach Hause gestolpert und sie hatte ihm dann direkt sein Abendessen aufgewärmt. Die Worte »Ich Dummerchen!« haben ihr immer auf der Zungenspitze gelegen, sie war allzeit bereit, sich zu entschuldigen oder die Schuld für Dinge auf sich zu nehmen, die ihn ärgerten. Das Wort »Entschuldigung« ist dieser Frau häufiger über die Lippen gekommen als ein Lachen. Die Frauen in meiner Familie machten und machen exzellente Öffentlichkeitsarbeit für die Männer in unseren Leben, die uns im Stich gelassen haben. Wir lügen für sie, wir verraten nicht, wo sie sich wirklich aufhalten, belügen uns selbst und sogar die Menschen, die uns am wichtigsten sind, um unseren Ruf zu schützen. Um den Mann zu schützen.

Heute Nachmittag habe ich mich in der Wohnung meines*r besten Freund*in Rose eingeigelt, damit ich nicht zu Hause sein muss. Es handelt sich um eine ehemalige Sozialwohnung, die die vielen Pflanzen in einen gemütlichen Dschungel verwandelt haben – mit weiß getünchtem Boden und Möbeln, die Rose selbst aufgearbeitet hat. In letzter Zeit habe ich mich gar nicht mehr wie ich selbst gefühlt. Habe angefangen, mich wie auf Autopilot zu betrachten, habe beobachtet, dass sich mein Körper gar nicht mehr im Einklang mit meinen Gedanken, Gefühlen und Wünschen befindet. Ich lebe stattdessen, um ihm zu gefallen – um sämtliche unangenehmen Gefühle zu absorbieren, damit er sie nicht fühlen oder sich gar einer schmerzhaften Selbstreflexion unterziehen muss. Ich erledige sämtliche Beziehungsarbeit sowie alles logische Denken für ihn, wie eine Vogelmutter, die Nahrung für ihr Junges hochwürgt. Matt hat seit ein paar Tagen nichts im Haushalt gemacht? Na, er ist halt beschäftigt und ich habe ja gerade eine halbe Stunde Zeit. Er hat mich betrunken angebrüllt? Na, er war wohl müde und ich überempfindlich. Ich trage sein Leben und meine Beziehung wie einen schlecht sitzenden Pullover, der mal mein Lieblingspulli war, dann aber in der Wäsche eingelaufen ist. Er passt nicht mehr und kratzt, aber ich kann ihn einfach nicht wegwerfen. Ich hänge irgendwie fast schon an diesem unbequemen Leben. Ich habe Angst, dass ich allergisch auf etwas oder jemand Neuen reagieren würde.

Obwohl sich seine Berührungen inzwischen fremd anfühlen. Wenn ich mich nachts umdrehe und seine Hand auf meiner Schulter oder seinen Schwanz spüre, der sich in meinen Rücken bohrt, verschließt sich alles in mir, als wäre ich eine Anemone. Ich habe das Gefühl, ich führe ein Doppelleben: eins als selbstbewusste Feministin und ein anderes als leere Hülle einer Frau, die sowohl Mutter als auch Freundin eines erfolglosen DJs ist, der es mit der Körperhygiene nicht so genau nimmt und sich selbstbewusst als »Tracey Emin of Techno« bezeichnet. Er wackelt bei seinen Sets so wild mit dem Kopf, dass ich befürchte, dieser könnte eines Tages abfallen. Gerne würde ich romantische Filme dafür verantwortlich machen, dass ich bei dieser peinlichen Kreatur bleibe – aber die Frauen in meiner Familie sind daran schuld – sie haben mir vorgelebt, wie und wen ich zu lieben habe.

Ich habe das Gefühl, ein Teil von mir spaltet sich ab, wenn ich mit ihm zusammen bin, während ich schrumpfe und mich selbst kleinmache. Nur mit Freund*innen wie Rose fühle ich mich wie die echte Eartha. Vielleicht sind meine Freund*innen gerade die einzigen Personen, bei denen ich wirklich ich sein kann. Rose reißt mich aus meinen Gedanken, um mich zu fragen, ob wir das, was wir gerade schauen, wirklich weiterschauen sollen. Ich nicke bloß. Bitte, lass es die ganze Nacht lang so weitergehen, damit ich nicht zu dem Mann zurückmuss, mit dem ich freiwillig zusammengezogen bin. Ich frage mich, wie lange ich meine Wirklichkeit noch verdrängen kann.

»Diese Frauen sollten einfach alle miteinander ficken!«, sagt Rose mit dem charmanten irischen Akzent, schüttelt their Kopf und streicht sich ein paar schwarze Strähnen aus den Augen, während they auf dem riesigen Sofa in dem winzigen Wohnzimmer fernsieht.

»Ist das so?«, frage ich. Ich habe Rose nicht zugehört, weiß aber, dass they eine Antwort erwartet.

»Was meinst du mit ist das so? Hast du denn gar nicht zugeschaut?«

They grinst höhnisch und pausiert die Sendung.

»Genau, diese Mädels …« Rose zeigt mit einer Bierflasche auf den Bildschirm. Their Finger sind voller Silberringe, die meisten von Frauen, mit denen they geschlafen hat, auf einem steht nur Dad. Eine einzelne silberne Kreole steckt in Roses linkem Ohr und ein weißes Feinripphemd umschmeichelt sanft die perfekten Brüste. Seitdem ich Rose kenne, trägt they keinen BH und rasiert sich auch nicht, weil they »der Natur ihren Lauf« lassen will. Von Zeit zu Zeit muss ich Rose dran erinnern, dass ein Deo nach wie vor eine Daseinsberechtigung hat. Alles, was Rose macht, macht they hundertprozentig; selbst jetzt erklärt they mir wütend haarklein die Sendung, während Bier über their Kinn rinnt …

»Sie konkurrieren alle miteinander um ein Date mit diesem …« They zeigt auf den Mann im Anzug. »Diesem hässlichen Langweiler. Das macht mich so krass traurig. Die Frauen sind so gemein zueinander, während sie nach seiner Aufmerksamkeit gieren. Wie wilde Tiere. Gemeinsam erschnüffeln sie die eine Frau, die eine Bedrohung darstellt, und machen sie langsam mürbe, um deren Chancen zu verringern.«

Es kommt selten vor, dass Rose – die alte Seele – sich so über etwas aufregt, das they normalerweise als »grässlich modern« und »erschreckend heterosexuell« beschreiben würde. Ich würde Rose gern erklären, wie ironisch ich das finde, aber dann würde they nur mit einem Witz über meine Beziehung kontern. Deswegen halte ich den Mund.

»Die ist so hinterhältig. Für wen hält sie sich? Für was Besseres?«, sagt Rose und äfft die Mädels auf dem Bildschirm nach. »Was bedeutet ›was Besseres‹ überhaupt? Und dann BÄM«, they schlägt mit der Hand auf den Paletten-Couchtisch, die Ringe klimpern, »versuchen die anderen Frauen, sie loszuwerden, reden schlecht über sie, lassen sie nicht mehr mitmachen. Das erinnert mich an die Schulzeit.« Rose schwenkt den Bierrest im Glas; they schaut traurig und nimmt einen Schluck.

Rose und ich haben uns in der Schule kennengelernt, als they als neue*r Schüler*in hinzugestoßen ist; they war von Irland nach England zum Vater gezogen, der »in Sünde lebte«. Ich war damals mit den Mädels befreundet, die Personen wie Rose auslachten. Neben diesen Mädchen im Unterricht zu sitzen, bot mir den Schutz, der mir zu Hause fehlte. Bis zu dem Tag, an dem ich – ohne triftigen Grund – ebenfalls von ihnen als Opfer auserkoren wurde. Daraufhin taten Rose und ich uns zusammen. They ist einer der stärksten Menschen, die ich kenne. They musste sich nie als homosexuell oder non-binär outen – das erledigten Körpersprache und Auftreten für them. Rose interessierte sich einen Dreck dafür, was andere Menschen von they hielten. Die Mädels an unserer Schule mieden Rose wie die Pest, als wäre queer zu sein ansteckend, aber Rose war das völlig egal. Bald schon übte they eine nahezu unwiderstehliche Anziehung auf mich aus. Alles an Rose faszinierte mich. Ich könnte mir heute immer noch in den Hintern treten, wenn ich an all die verschwendeten Jahre denke, in denen ich versuchte, in der grauen Masse unterzutauchen, wo ich doch das einzig Wahre direkt vor mir hatte. Oder besser gesagt hinter mir; ein non-binäres, sonderbares Wesen aus der letzten Reihe, dem völlig egal war, was die anderen von der Blazer-und-Krawatte-Kombination der Jungs anstatt Strickjacke und Rock als Uniform hielten. Ich war – und bin bis heute – fasziniert von Rose. Und ich habe them – oder irgendwem sonst – nie den anderen Grund für unsere verspätete Freundschaft verraten: Ich hatte mich auch deshalb von Rose distanziert, weil ich nicht zugeben konnte, dass ich heimlich in them verliebt war. Ich weiß immer noch nicht so genau, was das bedeutet hatte, ich habe nie lange darüber nachgedacht. Ich bin seit meinem neunzehnten Lebensjahr mit Matt zusammen, er ist mein erster Freund.

Rose drückt wieder auf Play und fährt mit dem Vortrag fort: »Warum sind die so gemein zueinander? Das verstehe ich einfach nicht!«, sagt they, während zwei Mädels auf dem Bildschirm bei einer Party über eine Konkurrentin lästern. Ich sehe, wie noch mehr Frauen dazukommen, und meine Augen werden glasig. Ich wende den Blick ab und schaue auf die zersprungene Glaskonsole, auf der der Fernseher steht, und dann auf die weißen Wände.

»Was würde denn passieren, wenn die Mädels von den Produzent*innen ermuntert würden, gemeinsame Sache zu machen? Sie würden schnell alles durchschauen, oder nicht? Aber es geht doch genau darum: Frauen sollen miteinander rivalisieren, weil sie sich schlechter ausnutzen lassen, wenn sie sich zusammenschließen. Sie würden dann bemerken, dass männliche Aufmerksamkeit nicht nur wertlos, sondern im Überfluss vorhanden ist. Die Mädchen würden verstehen, dass der Mann eigentlich gar nicht so toll ist, dass Frauen gar nicht so schlimm sind und dass sie sich besser gegenseitig anmachen sollten, als aufeinander rumzuhacken …«, antworte ich und überrasche mich damit selbst.

»Wir sprechen immer noch über die Sendung, oder?«, fragt Rose und zieht vielsagend die Augenbrauen hoch. Ich wechsele das Thema.

»Meinst du das ernst? Du weißt wirklich nicht, warum Frauen miteinander konkurrieren? Und du willst mir ernsthaft weismachen, du hattest nie das Gefühl, mit einem anderen Menschen in Konkurrenz zu stehen?«, frage ich.

»Ehrlich gesagt … nein.«

Rose fährt sich mit den Fingern durchs kurze dunkle Haar, legt den Arm auf den Kopf und dreht sich zu mir. Ich habe das »Roses-Pose« getauft, weil es so gefährlich heiß aussieht. Damit strahlt Rose so mächtiges Charisma aus, dass selbst die toughsten Frauen dahinschmelzen wie warme Butter.

»Ich glaub, ich bin zu lesbisch für Konkurrenzgehabe. Warum sollte ich mich auf passiv-aggressive Streitereien mit einer Frau einlassen, wenn ich sie ebenso gut küssen könnte?« Rose zuckt mit der moralischen Autorität einer Person die Schultern, die noch nie einen Mann gedatet hat. Ich schaue auf den Hals meiner Bierflasche und fahre sanft mit den Fingern über den Rand.

»Ich glaube, du hast nur noch nie mit einer anderen Person konkurriert, weil sich die anderen Leute immer um dich reißen. Du bist dieser Typ«, sage ich, greife über Rose hinweg, schnappe mir die Fernbedienung und schalte den Fernseher aus. »Du kannst dir die Rosinen aus dem Kuchen picken, deswegen kannst du dich einfach immer entspannen. Die Frauen kommen zu dir, weil du … weil du einfach Rose bist!«

Rose grinst, nimmt das Kompliment an und legt es neben den Tausenden anderen ab, die they im Jahr bekommt, schnappt sich anschließend die Fernbedienung und drückt auf Play.

»Also dann!«, rufe ich, während ich aufstehe und mich innerlich auf meinen Aufbruch vorbereite, als ich von einem tiefen, lang gezogenen Heulen unterbrochen werde, das aus dem Zimmer von Roses Mitbewohnerin kommt.

»Was ist das denn?«

Ich drehe mich um und blicke argwöhnisch in den Flur, von dem beide Zimmer abgehen.

»Pscht!«, sagt Rose, bringt mich mit einem auf die Lippen gelegten Finger zum Schweigen und stellt den Fernseher lauter. Das Geräusch wird kräftiger, tiefer und gleichmäßiger. Als mir klar wird, dass das Geheule Ausdruck sexueller Lust ist, setze ich mich höflich wieder.

»Hat Billy Besuch? Ich habe niemanden gesehen.«

Ich verziehe das Gesicht. Rose antwortet nicht und konzentriert sich voll und ganz auf das doch derart verhasste TV-Format. Ich drehe mich wieder um, um in den Flur zu schauen, und Rose neigt den Kopf in meine Richtung, hebt die Augenbrauen.

»Oh«, sage ich, als es endlich klick macht. »Das erinnert mich daran, dass ich meinen Vibrator aufladen muss, wenn ich nach Hause komme.«

Ich taste auf dem cremefarbenen Baumwollsofa nach meinem Handy, um eine neue Notiz zu erstellen.

»Wieso das denn? Was ist denn mit diesem Penis an einem Körper, den du zu Hause hast? Erledigt der das nicht für dich?«, fragt Rose grinsend.

»Mein ›Penis‹ spielt später ein Set«, sage ich und nehme einen Schluck von meinem warmen, bitteren Bierrest.

»Wie … läuft’s denn so? Ich wollte schon eher fragen, aber … du weißt schon«, sagt Rose, wie Freunde das eben machen, wenn sie wissen, dass man nicht über etwas reden möchte. Halbherzig. Äußerst halbherzig.

»Gut. Läuft gut. Hat sich alles ein bisschen verändert, seitdem wir zusammengezogen sind, aber es ist schon in Ordnung«, sage ich und nicke so schnell, als müsste ich mich selbst von meiner Antwort überzeugen.

Rose lächelt verhalten und blickt wieder auf den Fernseher. Ich spüre das Schweigen zwischen uns, als Billys Gestöhne irgendwann aufhört. Hinter uns öffnet sich die Schlafzimmertür. Billy kommt raus, eingewickelt in die Bettdecke, die hinter ihr über den Boden schleift, als wäre sie eine lesbische Königin aus der Vergangenheit. Sie kommt auf uns zu.

»Hey, Earthy-Wurthy!« Die Hand, mit der sie es sich gerade in ihrem Zimmer besorgt hat, fährt mir durchs Haar und strubbelt es in mein Gesicht.

»Rooooose, hast du Batterien für mich?«, fragt Billy weinerlich.

Rose dreht sich um und antwortet: »Nein, und ich schaue gerade diese Sendung, also Ruhe bitte!« Dann dreht they sich wieder um und guckt weiter.

»Verstehe, sehr freundlich«, murmelt Billy und dann flüstert sie mir augenzwinkernd zu: »Eartha, gib mir mal die Fernbedienung, o.k., Liebes?«

Billy hält immer noch die Bettdecke um sich gewickelt fest, damit sie nicht nackt vor uns steht.

»Na sicher«, sage ich und greife über Roses Schoß, um mir die Fernbedienung zu schnappen. Rose reißt sie mir aus der Hand.

»Sie nimmt die Batterien raus«, sagt Rose und dreht sich um, um Billy einen bösen Blick zuzuwerfen.

»BILLY!«, sage ich und blicke sie missbilligend an.

»Ich muss jetzt einfach kommen!«, antwortet sie und zuckt die Schultern.

»Was? Du bist nicht gekommen? Warum kaufst du dir nicht so einen wiederaufladbaren Dildo, so wie Eartha?«, fragt Rose schnippisch.

»Egal, dann mache ich es mir eben analog«, murmelt Billy. Sie dreht sich um und schirmt sich mit der Bettdecke ab, die wie ein riesiger weißer Verkehrskegel auf ihrem Kopf thront, aus dem oben ihre festen Afrolocken herausspringen, während sie sich wieder in ihre schwitzige Lusthöhle zurückzieht und dabei melodramatische Schmolllippen macht.

»Warte«, sagt Rose genervt.

Der Pylon bleibt stehen.

»Du kannst sie haben. Aber du MUSST sie mir zurückgeben.« Rose fummelt die Batterien aus der Fernbedienung. Billy dreht sich um und nimmt sie.

»Ja, mach ich, keine Sorge.« Sie nickt folgsam.

»Und denk ja nicht, ich hätte nicht bemerkt, dass du auch Batterien aus den Uhren klaust.« Rose zeigt auf einen orangefarbenen Wecker, der auf der Seite liegt, auf dem Palettentisch, das Batteriefach ist geöffnet.

»Ich weiß nicht, wie ihr beiden das macht«, sage ich, während Billy weggeht, sich dabei erst mit der Decke in der Tür verheddert, bevor sie sie schließt.

Mich erstaunt der unbefangene und lockere Umgang zwischen zwei Personen, die ich einmal dabei beobachtet habe, wie sie sich auf einem Pooltisch fast ins Nirvana gefingert haben.

»Wie wir was machen? So etwas nennt sich Kompromiss, Eartha.« Aus Roses Stimme lässt sich heraushören, dass they mich für recht unbedarft hält.

»Nein, ich meine, dass du mit deiner Ex zusammenwohnst! Bei dir wirkt das unkomplizierter als bei mir – und ich wohne mit meinem richtigen Freund zusammen.«

»Das liegt daran, dass du mit einem Mann zusammenlebst, Eartha. EINEM MANN. Einem fucking Mann! Du hast mit einem Mann nichts gemeinsam.«

»Habe ich wohl, wir hören dieselbe Musik«, sage ich, blicke zu Boden und vergrabe das Gesicht in den Händen.

»Nein, so was meine ich nicht. Ich wollte sagen, dass Männer einfach ganz anders sind. Sie kommunizieren anders, haben andere Vorstellungen von ihren Pflichten im Haushalt, andere …«

»Okay, verstehe! Wo wir gerade bei Männern sind: Ich sollte mich auf den Weg machen.«

»Warum? Ich dachte, dein ›Penis‹ würde heute irgendwo auflegen.«

Aus Roses Mund hört sich das Wort Penis so komisch an, vielleicht, weil they noch nie einen im Mund hatte.

»Ja, macht er später auch, aber er hat den ganzen Tag lang bei seinem Kumpel im Studio gearbeitet, deswegen wird er beim Nachhausekommen Hunger haben.« Zum zweiten Mal erhebe ich mich zum Gehen, sammele meine Taschen ein.

»Beim Nachhausekommen Hunger haben … Sorry, seit wann hast du ein Kind?« Ich zucke die Schultern und gehe durch den Flur zur Wohnungstür. »Viel Spaß mit deinem Männerbaby!«, ruft mir Rose hinterher.

Billys gedämpftes Stöhnen dringt nun wieder aus ihrem Zimmer. »Wo wir gerade bei seltsamen Wohnarrangements sind: Viel Spaß, deiner Ex beim Solosex zuzuhören«, antworte ich.

Ich gehe zurück zu meiner Wohnung, um mich um meinen »Penis« zu kümmern.

Kapitel 2 SCHIEFE FRAUEN

Wonderland-Follower*innen: 1302 

Ich atme tief ein, dann stecke ich den Schlüssel ins Schloss und setze ein Lächeln auf, bevor ich die Tür öffne.

»Hallo«, sage ich beim Eintreten.

Keine Antwort. Ich bin erleichtert. Ich schaue auf die Digitaluhr am Backofen: 19:38 Uhr. Ich bin ein bisschen spät dran. Er sollte inzwischen von der Arbeit zu Hause sein. Ich schmeiße meinen Einkaufsbeutel auf einen der beiden Stühle am Küchentisch und gehe zur Spüle, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Ich entdecke eine Flasche Rotwein ohne Verschluss auf der Arbeitsplatte und halte sie gegen das Licht. Leer. Ich schmeiße sie in den Mülleimer. Wie hat er die denn gefunden?

Unsere Wohnung ist winzig. Er ist vor ein paar Monaten eingezogen, weil Mr Dahku meine Miete erhöht hat und Matt meinte, es wäre preiswerter und einfacher, wenn wir zusammenwohnen. Allerdings hat die ganze Aktion unsere Probleme eher in einen Schnellkochtopf gesteckt. Der Preis für meine günstigere Miete ist ein verstopfter Kopf.

Wir leben zusammen in einer 1,5-Zimmer-Wohnung, aber die Wand zwischen Küche und Schlafzimmer ist ein Witz, deswegen handelt es sich eigentlich nur um einen Raum. Ich mache die Wohnung in meinen Erzählungen gern etwas größer, damit alle Leute denken, dass es bei mir besonders gut läuft. Mein Freund und ich leben gemeinsam in einer Wohnung mit Balkon in Central Olympia! Er ist DJ, ich bin Künstlerin! Unser echtes Leben lasse ich bei diesem Marketing-Pitch außen vor – Matt hat noch nie Geld für ein Set bekommen. Ebenso verschweige ich die Tatsache, dass unsere Zentralheizung derart unzuverlässig ist, dass wir nur mit voll aufgedrehtem, geöffnetem Backofen heizen können und dass es sich bei unserem »Balkon« eigentlich um das Dach des Gebäudes unter uns handelt, das wir uns außerdem noch mit dem Paar von nebenan teilen – zwei Streithähnen, die sich anschließend mit aggressivem Sex zu »Tainted Love« von Soft Cell wieder versöhnen.

Ich gehe ins Schlafzimmer und schalte meine Nachttischlampe mit den Fransen ein. Feng-Shui ist in diesem Schuhkarton schwierig, aber ich habe es trotzdem geschafft, eine Nachttischlampe an jede Bettseite zu quetschen, um die negative Energie auszugleichen, weil wir quasi im selben Zimmer kochen und vögeln. Oder zumindest mal gevögelt haben. Unser Bett ist überladen mit Kunstpelz, Kissen mit Windmühlenmuster und Krümeln, weil ich oft im Bett arbeite und esse. Am Fuße des Bettes steht ein bodentiefer Spiegel, er lehnt an der Wand und im Rahmen steckt ein neonpinker Flyer, den ich mal für eins von Matts unbezahlten Sets entworfen habe. Ich ziehe den pinken Samtstuhl unter meinem Schreibtisch hervor, der neben dem Bett steht, und starre meine Collagen an, die alle mit Tesa ganz vorsichtig an die Wand geklebt sind, damit ich keinen Stress mit meinem Vermieter bekomme. Einige Collagen sind fertig, andere halb fertig, aber auf allen sind Frauen abgebildet. Ich habe meine Einrichtung nach seinem Einzug nicht großartig verändert, aber er hat sich nicht weiter beschwert. Doch ab und zu lässt er »zufällig« seinen Laptop aufgeklappt stehen, wenn er zuvor an seiner Pinterest-Pinnwand mit dem Titel »Futuristic Berlin Interiors« gearbeitet hat.

Ich zeichne mit dem Bleistift eine Linie aufs Papier und verbinde die Rundung einer Frauenhüfte und ihren Oberschenkel; eine Multimedia-Arbeit, die ich heute früh begonnen habe. Ich blicke auf die Farben, die Schnipsel aus Zeitschriften, den Glitzer, Stoffproben und Schriften auf meinem Schreibtisch. Ich will eine Bewegtbildsequenz erschaffen, die aus einem mehrschichtigen Materialmix besteht, aber erst einmal muss ich diese Frau malen, bevor ich sie zum Leben erwecke. Ich höre Schlüsselgeklimper an der Wohnungstür und die Linie, die ich gerade zeichne, verrutscht. Rasch radiere ich meinen Fehler vom Blatt und wische die Gummikrümelchen weg. Die Wohnungstür fällt ins Schloss und ich erbebe. Er ist zu Hause. Shit. Ich habe völlig vergessen, die Nudeln und die Sauce zu kochen, die ich auf dem Heimweg gekauft habe.

»Hey, Babe, du bist aber spät zu Hause«, rufe ich in den Flur.

»Hey«, sagt er.

Dann folgt ein dumpfes Geräusch – seine Tasche landet auf dem Boden. Ich verdrehe die Augen. Noch etwas, das ich später wegräumen muss. Wir haben die Garderobe nicht nur zur Deko.

»Ich bin hier …«, rufe ich aus dem Schlafzimmer.

Ich setze erneut an, will die Linie zwischen Hüfte und Oberschenkel zeichnen. Keine Antwort. Ich höre, wie Schränke zugeschlagen und geöffnet werden, darauf folgt passiv-aggressives Grunzen und Stöhnen, als er Zutaten erblickt, die er sich selbst zubereiten muss. Ich kralle die Zehen in den Schuhen zusammen. Ganz ruhig, Eartha, beschwöre ich mich. Ich verkneife mir die Frage »Was ist denn los?« und zeichne weiter. Wenn er mir etwas sagen will, kann er zu mir kommen.

Brrr

Brrr

Mein Telefon vibriert, ich ziehe es aus der Hosentasche. Mein Gesicht wird vom Bildschirm erhellt.

Textnachricht von Rose an Eartha

20:01

Hey Love, tut mir leid, dass ich heute so fies über Matt gesprochen habe. Ich weiß, dass er ein echt toller Typ ist. Ich will einfach nur das Beste für dich, deswegen rede ich immer ganz offen mit dir. Hab dich lieb.

20:01

Und: Zwei Frauen von The Bachelor haben sich geküsst!!

Ich lächele und schreibe:

Textnachricht von Eartha an Rose

20:02

Süße, mach dir keine Sorgen. Matt behandelt mich super, nur …

Ich werde von etwas unterbrochen, das an mir vorbeifliegt und neben meinen Füßen auf dem Boden landet. Ich betrachte das Wurfgeschoss und sehe ein Paar ausgeblichene schwarze löchrige Boxershorts. Ich höre das Kreischen des Duschkopfes, dann das zischende Wasser, das lauter wird, während sich langsam Druck aufbaut. Auch in mir wächst der Druck, und zwar schneller als beim Wasser, während er seine ganzen Klamotten wie Kanonenkugeln durch die Tür pfeffert.

Gürtel.

Klong.

Jeans.

Plumps.

Schuhe.

Plumps. Plumps.

Kleingeld.

Klirr.

Ich lösche den letzten Satz an Rose.

Textnachricht von Eartha an Rose

20:02

Hey Süße*r, mach dir keinen Kopf. Ich weiß, dass du immer für mich da bist. Und schick mal ein Bild von den Frauen …

20:04

… damit ich es für meine Collagen benutzen kann!

Ich zeichne weiter, während er duscht, und freue mich über das Ergebnis. Ich halte es vor mir in die Höhe und kneife die Augen zusammen, um herauszufinden, wo das Bild zwischen den ganzen Collagen und buntem Papier hängen soll, auf die ich Wörter und Gesichter gekritzelt habe. Dieses Werk hier verdient einen Platz vorn und in der Mitte. Gerade, als ich es an die Wand kleben will, reißt es mir eine nasse Hand aus den Fingern. Ich drehe mich um.

»Entschuldige bitte?«, sage ich sarkastisch.

Er lehnt im Türrahmen, den sein Kopf fast berührt, hat ein weißes Handtuch um die Hüften gewickelt, sein Haar ist klitschnass und rabenschwarz von der Dusche. Er fährt sich mit der freien Hand hindurch und entblößt einen kleinen, baumelnden Kreuzohrring. Er blickt auf das Bild. Ich warte auf sein Feedback.

»Sie sieht ein bisschen schief aus, oder?«, sagt er und gibt mir das Bild zurück, ohne mich anzuschauen.

Das Papier ist jetzt gewellt und nass. An den Seiten prangen große, feuchte Fingerabdrücke. Ich schüttele den Kopf über seinen übergriffigen Ratschlag und frage mich, ob es nicht effektiver wäre, meine Wut in meiner nächsten Collage zu verarbeiten.

»Das ist genau so gewollt, sonst hätte ich sie anders gezeichnet. Frauen haben das Recht, durch eine schiefe Brille gesehen zu werden – und zwar ohne sexuellen Hintergedanken!«, erkläre ich ein wenig zu defensiv.

Er soll nicht merken, dass er dich verletzt hat, Eartha.

»Auf mich wirkt sie aber schon sehr sexy«, entgegnet er.

Ich will ihn daran erinnern, dass Brüste nicht nur sexy sind. Dass sie andere, lebenswichtige Aufgaben erfüllen und nicht nur für Tittenficks gut sind. Aber ich schlucke meine Gedanken runter, wieder einmal.

»Wie war es bei der Arbeit?«, frage ich, als er mit dem Rücken zu mir dasteht und den Kleiderschrank öffnet. Ich erschaudere. Was für eine Ironie, dieses Yin-und-Yang-Symbol, das auf der Schulter eines Mannes verewigt wurde, der noch nie im Leben Ausgeglichenheit bewiesen – aber einmal ein fürchterliches Gedicht darüber geschrieben hat.

»Gut … was hast du so getrieben?«, fragt er desinteressiert.

»Hab ein paar Geburtstagscollagen angefertigt, Auftragsarbeiten, und bin gerade erst von Rose zurückgekommen.«

»Cool, cool …«, sagt er und nickt. »Also, gibt’s nichts zum Abendessen?«

»Nein. Ich bin selbst gerade erst zurückgekommen, keine fünf Minuten vor dir.«

Ich verschränke die Arme.

»Aber ich habe den ganzen Tag gearbeitet.«

»Ich auch«, sage ich und starre an die Wand.

»Ja, geeeeenau.« Er dreht sich um und betrachtet die Wand über meinem Schreibtisch. »Du hast deine tollen Collagen oder so zusammengeklebt.« Er verdreht die Augen und zeigt damit deutlich, dass seine Kunst wichtiger ist als meine.

Er dreht sich wieder um, um den Inhalt des Kleiderschranks zu inspizieren, den wir uns auf einer Stange teilen. Meine Klamotten hängen links, seine rechts.

»Genau … und du hast wahrscheinlich deine dämlichen Remixe oder so zusammengemischt«, sage ich, während ich aufstehe, um mich auf den Schreibtisch zu setzen – meine Beine baumeln runter.

Er ignoriert mich, schiebt die Kleidung aber aggressiver auf der Stange umher. Ich ertrage die schlechte Stimmung nicht, die sich zwischen uns zusammenbraut, deswegen gehe ich zu Matt und stelle mich hinter ihn.

»Zumindest habe ich echte Kunden«, witzele ich und versuche, mit witzigem Sarkasmus die Stimmung aufzulockern.

Ich lege ihm die Hände auf die Hüften und küsse seinen Rücken flüchtig. Er dreht sich um, um mir ins Gesicht zu schauen, nimmt meinen Kopf zwischen die Hände und küsst mein Haar.

»Heute muss ich mich tatsächlich für ein Set fertig machen, also bist du nicht meine einzige Kundschaft.«

»Das war ein Witz. Wo legst du noch mal auf?«, frage ich. Vom Fußende meines Bettes aus sehe ich, wie er seine Klamotten nach rechts schiebt und meiner Schrankseite gefährlich nahe kommt.

»Sam hat mir den Gig besorgt, weil er einfach eine Barfrau angequatscht hat. Glaube, sie würde ihn gern ficken, deswegen hat sie mir ein Set in ihrem Pub in South Olympia klargemacht, um ihn zu beeindrucken.«

»Oh, daten sich die beiden?«

Er schüttelt den Kopf und grinst.

»Nee, Sam hält sie hin …«

»Hm, findest du das nicht irgendwie fies?« Ich lache ungläubig.

»Nee, eigentlich nicht.«

Er entspannt sich, atmet tief aus und beugt sich zu mir runter.

»Schau mal, Schätzchen, ich weiß, ›It’s a man’s world‹ und so, dies, das. Und ich bin doch Feminist! Aber die Alte ist Barfrau und verdient mehr Geld als ich, von wegen Machtgefälle.«

Interessanter Gedanke von einem Mann, der es »seltsam« findet, dass meine Mum lieber einen besser bezahlten Job als Geld von meinem Dad will. Er blickt mich wütend an und zieht dann eine Augenbraue hoch. In diesem Moment bin ich mir sicher, dass mich noch nie jemand dermaßen angewidert hat.

»Matt, ihr arbeitet beide in der Gastronomie. Wahrscheinlich verdienst du genauso viel wie sie; das hat rein gar nichts mit Machtdynamik zu tun. Halt einfach den Mund.«

»Du verstehst es einfach nicht. Du bist ja nicht in der Musikbranche, da muss man so etwas von Zeit zu Zeit machen …«, erklärt er gepresst, während er aufsteht, die Arme zur Decke streckt und wieder zur Garderobe stampft.

Ich mache mich hinter seinem Rücken über ihn lustig, wiederhole lautlos »du bist ja nicht in der Musikbranche«, während ich Grimassen schneide. Er schaut inzwischen meine Klamotten durch. Meine Tops und Kleider interessieren ihn nicht, doch dann hat er etwas gefunden, das ihm gefällt: Er nimmt ein T‑Shirt vom Bügel.

»Boah, kann ich mir das ausleihen?« Er schreit fast, obwohl ich direkt hinter ihm sitze. Er stellt sich vor unseren Spiegel und zieht es sich über. Seine Tattoos lugen aus den schwarzen Ärmeln heraus.

»Moment, welches Shirt ist das? Ich seh es nicht richtig.«

»Das von Fleetwood Mac«, sagt er und dreht den Kopf von links nach rechts, während er sich von allen Seiten darin betrachtet. Er dreht sich um, um mich anzublicken, und ich erkenne das T‑Shirt.

»Hm, das ist eins meiner Lieblingsshirts!«, seufze ich und kräusele die Nase.

Ich habe dieses Shirt im College im Kunstunterricht mit Siebdruck hergestellt. Den Veranstaltungsort habe ich mir ausgedacht: Fleetwood Mac, live at The Titty Twister. Ich mag es so gerne, weil es mich an Mum erinnert. Sie hat in meiner Kindheit immer Stevie Nicks nachgemacht. Vor dem Spiegel, singend im Auto, beim Essenkochen und mit einem Schal umherwirbelnd, wenn sie Gäste zum Abendessen eingeladen hatte. Sie war immer stolz darauf, die perfekte Gastgeberin zu sein. Nur bei Partys erlaubte Dad ihr zu glänzen. Sein Chronisches Fatigue-Syndrom zwang ihn oft in die Knie, dann trank er noch mehr als sonst, eine Abwärtsspirale. Mum liebt es, die schicken Gläser rauszuholen, auf die sie monatelang gespart hat, legt die von ihrer Großmutter geerbten Fransentücher auf die Tische und zündet in jeder Ecke eine nach Patschuli duftende Kerze an. Nicht dieses billige Vanillezeugs, was du so magst, davon wird einem ja schlecht, ruft sie immer. Genau wie ich besteht der Lebenssinn meiner Mum darin, anderen zu gefallen. Wenn alle anderen glücklich sind, kann sie auch glücklich sein. Sie kann sich nicht entspannen, wenn die Energie in einem Zimmer auch nur ein winziges bisschen komisch ist. Als ich noch jünger war, hat mich das wütend gemacht, aber als ich älter wurde und mich ausführlich mit Psychologie beschäftigt hatte, habe ich erkannt, dass sie wahrscheinlich gelernt hatte, auch die zartesten Schwingungen wahrzunehmen, weil sie es musste. Grandpa war Alkoholiker und seine Stimmungsschwankungen unberechenbar. Und auch Mum heiratete so einen Mann, ließ sich scheiden und versöhnte sich (zumindest halbwegs) wieder mit ihm.

Matt streicht mir die losen Haarsträhnen hinter die Ohren. Er findet das romantisch. Ich schüttele den Kopf, damit seine Hand verschwindet.

»Bitteee, leih es mir. Ich verspreche dir, dass ich gut drauf aufpasse.«

Ich betrachte seinen dämlichen kleinen Ohrring, der beim Reden hin- und herbaumelt, als würde er sich – genauso wie ich – danach sehnen, Matt loszuwerden, und nur noch widerstrebend an einer Kette hängen.

»Na gut. Aber das T‑Shirt ist ein Unikat. Pass gut darauf auf.«

Er lehnt sich fester an mich und lächelt.

»Ich verspreche es«, sagt er, küsst mich auf den Kopf und ich schließe die Augen.

Hoffentlich habe ich wegen meiner Großzügigkeit etwas gut bei ihm … obwohl ich nicht genau weiß, was ich von einem Mann mit Löchern in den Boxershorts erwarten kann, der sechzig Pfund in den Miesen ist und einmal pro Woche ein Set im Pub spielt – weil jemand der Barfrau romantische Versprechen gemacht hat.

Ich setze mich wieder an meinen Schreibtisch, während er vor der Garderobe steht und sich eine Hose aussucht, und lade meine letzte Collage bei Wonderland hoch. Ich mache ein Bild davon – die nassen Fingerabdrücke an den Rändern sind zu erkennen – und verfasse eine von Matt inspirierte Bildunterschrift:

Die Fingerabdrücke sind eine Metapher für Männer, deren UnAcHtSaMen WoRtE Spuren bei Frauen und deren Kunst hinterlassen, ihre Selbstwahrnehmung für immer zerstören. Warum müssen Männer überall ihre Spuren hinterlassen?

Ich spiele ein bisschen mit dem Bild und den Hashtags. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er meine Wonderland-Seite nicht checken wird – es interessiert ihn einfach nicht. Auf der Plattform habe ich schon einen Kommentar von einer Followerin.

@VeronicaEscher so cool!

Ich habe mein Profil bei Wonderland vor etwa einem Jahr angelegt und es als Portfolio für meine Collagen verwendet, mit denen ich in Läden abgewiesen wurde. Dort sagte man mir, diese Collagen wären »zu feministisch«, um sie bei ihnen zu verkaufen. Seitdem ist einiges passiert – ich habe um die 1300 Follower*innen und wenn ich mir all diese Menschen in einem Zimmer vorstelle, macht mir das ziemlich Angst. Ich bin auf Wonderland aber nicht ganz so aktiv wie alle anderen. Rose flirtet dort mit Frauen und speichert vegane Rezepte, weil they eines Tages ein eigenes Café eröffnen möchte; Matt macht auf Wonderland Werbung für seine Remixe auf Noisecloud und lädt dort Selfies von sich hoch, blinzelnd samt Baumelohrring; Mum entflieht auf der Plattform ihrem wahren Leben und tut so, als wären Dad und sie glücklich und zufrieden – trotz der Scheidung. Sie lädt Bilder hoch, wo sie neben ihm lächelt, obwohl er betrunken und grantig auf seinem Stuhl sitzt. Ich weiß nicht, wie die großen Influencer*innen Wonderland nutzen, wie sie mit ihren Follower*innen sprechen und ihre Informationen mit Millionen Menschen teilen. So nutze ich Wonderland nicht. Ich habe dort ein Selfie hochgeladen, damit es – nun ja – ein bisschen persönlicher wirkt. Aber keine Bilder von Matt. Ich glaube, mein Freund würde meiner feministischen »Marke« nicht guttun.

»Ooo OOoooo, Girlpower!«, ruft Matt herablassend, macht eine Faust, die er auf und ab bewegt, während er über meine Schulter auf mein Telefon schaut. Ich gehe auf die Toilette und will dortbleiben, bis er abhaut. Als ich am Bett vorbeigehe, gibt er mir einen Klaps auf den Hintern. Mein Poloch zieht sich zusammen.

»Bis später.«

Ich will ihn anklagend anschauen, doch er sieht wirklich sehr gut aus. Er ist vielleicht der schrecklichste Mann, dem ich je begegnet bin, aber auch der erste, den ich jemals geliebt habe. Wir haben uns kennengelernt, als ich nach einem Collegetag in der Innenstadt rumgehangen habe. An einem Sommerabend, an dem Rose und ich uns mit einer riesigen Flasche Cider vom Kiosk abgeschossen haben. Matt hat ein Portishead-T‑Shirt getragen, deswegen war er der Richtige, klar, und ich musste ihn einfach küssen. Wir sind seit sechs Jahren zusammen. Das muss doch irgendwas bedeuten. Irgendwas muss ich doch an ihm finden, oder?

»Wann bist du heute Abend zu Hause?«, frage ich.

»Gegen Mitternacht, vermute ich.«

»Okay, liebe dich!«, sage ich aus Gewohnheit. Nicht, weil ich es fühle.

»Liebe dich auch!«, antwortet er, schließt die Tür und ich nehme mein Handy, um Rose zu schreiben.

Textnachricht von Eartha an Rose

21:53

Mein Penis ist endlich weg.

21:53

Hat Billy denn die Batterien zurückgegeben?

Textnachricht von Rose an Eartha

21:55

Nein. Die Kleine hat jedes Gerät auseinandergenommen, das sie finden konnte.

21:55

(Bild von Billy, die auf die Arbeitsplatte klettert, um Batterien aus dem Rauchmelder zu nehmen)

21:56

Wenn ich bei einem Brand sterbe, weißt du jetzt, wer schuld ist …

Ich lache und denke daran, wie Billy in ihrem Deckenumhang ins Schlafzimmer gewatschelt ist.

Ping.

Jemand hat mir auf Wonderland geschrieben. Ich lächele und mein Herz klopft schneller.

@sallylovesthesea Hi Eartha, hatte heute die Geburtstagskarte für meine Freundin in der Post. SO TOLL! Sie wird den Delfin grandios finden, der aus der Vagina kommt! (Danke, dass du keine Fragen gestellt hast, das ist ein Insider …) Ich bitte sie, dich zu verlinken, wenn sie es postet. Deine Sachen verdienen einfach ein RIESIGES Publikum.

Ich antworte mit ganz vielen Kuss-Emojis, bedanke mich bei ihr und schließe mein Telefon an das Ladekabel auf dem Nachttisch an. Ich bemerke, dass mein Nagellack etwas abgeblättert aussieht, und greife in die Schublade meines Nachttischs, wühle mich durch Zopfgummis, olle Vibratoren und Nagellacke, um eine Farbe zu finden, die mir gefällt. Ich nehme zwei kleine Flaschen raus. »Liquorice Black« und »Bubblegum Pink«. Ich weiß einfach nicht, was ich schöner finde. Ich halte mir eine Hand vors Gesicht und stelle mir die verschiedenen Farben auf den Nägeln vor.

Warum sollte ich einen Kompromiss eingehen, wenn mir beide gefallen? Ich entscheide mich, jede Hand in einer anderen Farbe zu lackieren.

Kapitel 3 PHAEDRA

Wonderland-Follower*innen: 1298 

Mein Gehirn ist erschöpft von meinem Körper und mein Körper von meinem Gehirn. Beide wollen dieses Bett nie wieder verlassen. Ich kann mich einfach nicht bewegen – er ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen. Sollte sich Wachsein so schwer anfühlen? Würden mir Eisentabletten helfen? Oder vielleicht sollte ich mal echte Orangen essen, anstatt mir einmal die Woche verkatert eine Brausetablette aufzulösen?

Ich drehe mich um, blicke auf das perfekt aufgeschüttelte Kissen neben mir, auf dem niemand geschlafen hat, und verspüre einen Schmerz in meinem Inneren. Wo ist er? Im Spiegel erhasche ich einen Blick auf mich, zusammengesackt am Bettrand. Ab welchem Punkt bin ich selbst daran schuld? Ab wann muss ich Verantwortung dafür übernehmen, dass ich diesem Mann ermöglicht habe, mich fertigzumachen? Ich habe mir diesen Mann ausgesucht. Was sagt das über mich aus? Ich schaue auf mein Telefon, keine Antwort von ihm.

Textnachricht von Eartha an Matt

23:29

Hey, soll ich noch auf dich warten?

00:02

Wollte nur fragen, ob bei dir alles in Ordnung ist.

02:07

Matt, lebst du noch?

Ich drehe mich um, um mein Gesicht in seinem Kissen zu vergraben; sämtliche Schreckensszenarien zu seinem Verbleib und warum er nicht antwortet, schießen mir durch den Kopf. Vielleicht hat er die Barfrau gevögelt, von der er erzählt hat, vielleicht ist er bei einer Orgie gelandet und irgendein Groupie kam vorbei, um ihm einen zu blasen. Aber so berühmt ist er doch gar nicht. Wahrscheinlich hat er nur eine Line zu viel gezogen und ist nach dem Set bei Sam gelandet. Sam wohnt in South Olympia und dort hat er auch das Set gespielt. Das klingt plausibel. »So wird es wohl gewesen sein«, höre ich mich laut sagen.

Mit dieser Erklärung im Kopf kann ich mich aufraffen, in die Küche zu gehen und mir Vitamin C in Wasser aufzulösen. Meine Tätigkeit als Hausmädchen erschöpft mich. Nichts von alldem passt zu meiner Idee, mich als »Feministin« zu bezeichnen. Wie lautet noch gleich dieses Zitat? Ich denke darüber nach, während ich eine staubige Tablette in ein Glas Wasser drücke. Das Zitat, wonach moderner Feminismus eine Falle ist, weil Frauen den Speck nicht nur herbeischaffen, sondern ihn auch noch braten müssen? Ich habe es so satt, immer Mädchen für alles zu spielen und andere Menschen deswegen anlügen zu müssen. Wie sähe denn die Wahrheit überhaupt aus?

Hi Leute, voll nett, dass ihr euch nach Matt und mir erkundigt, ja, ich teile mir jetzt einen Schuhkarton mit einem mittellosen Männerkind, das ich bekoche und hinter dem ich herräume. Aber ist schon o.k.! Ich liebe es … äh ihn! Ich bin total glücklich mit ihm, habe mein Leben im Griff und bin eine echt gute Feministin – wirklich! Möchtet ihr eine Orange?

Ich merke, dass mir so viel fehlt im Leben. Irgendwas stimmt einfach nicht. Es ist, als wäre mir mein eigenes Leben entglitten. Wo ist mein Feuer hin?

Während sich die Tablette auflöst, drehe ich mich um und betrachte meinen kleinen Raum auf dieser Erde. Ich kneife die Augen zusammen und schätze den Abstand zwischen Bett und Küche. Wenn ich es wirklich wollen und häufig üben würde, könnte ich mir wohl im Bett die Zähne putzen und von da aus im Waschbecken ausspucken. Ich nehme mein Handy. Immer noch keine Nachricht von ihm. Ich checke sein Wonderland und es ist ungewöhnlich still dort. Keine Interaktionen. Und niemand hat ihn auf irgendwelchen Posts markiert. Keine Spur von ihm …

Irgendwo verspüre ich neben meiner Enttäuschung auch Erleichterung, weil ich mich ab heute nicht mehr schuldig fühlen oder fragen muss, ob ich mich in dieser Beziehung wirklich wohlfühle. Heute habe ich einen triftigen Grund, wütend auf ihn zu sein. Es ist schön, wenn man eine Sache oder Person hat, auf die man zeigen und die man beschuldigen kann. Den Freund, die Regierung, irgendeinen Planeten – Pluto von mir aus. Das entbindet einen von der Verantwortung für das eigene Leben. Ich bin nicht schuld, er ist schuld.

Ich muss mich konzentrieren, um mich von Matts Funkstille abzulenken. Das fühlt sich so tragisch an. Ich warte auf eine Antwort von meinem Freund, den ich als Mensch nicht mal mag. Ich muss ihn einige Stunden lang aus meinem Kopf verbannen. Deswegen fange ich an, an einem Auftrag für ein neues veganes, nachhaltiges Deodorant zu arbeiten – den Kontakt hatte mir Billy besorgt. Das Paar, das es auf den Markt gebracht hatte, war sich in Sachen Grafikdesign für Social Media gar nicht einig und anstatt ganz offen zu sagen, dass sie zwei verschiedene Videos bräuchten, um beide zufriedenzustellen, habe ich versucht, etwas Verbindendes in ihrer Doppelvision zu finden – typisch Scheidungskind. Die Frau will etwas Sinnliches und Botanisches, der Kerl hingegen etwas Postmodernes und Verspieltes. Beide haben genickt, als der jeweils andere Part die »gemeinsame Vision« beschrieben hat, um dann mit der eigenen, völlig entgegengesetzten Vision zu kontern. Ich glaube, das ist eine besondere Art der Konfliktlösung: gegenseitige Verleugnung.

Mein Schreibtisch steht neben dem Bett, aber das Sonnenlicht scheint auf die Wand, an die ich meine Collagen klebe, deswegen bleichen sie mit der Zeit etwas aus. Langsam sieht das Ganze aus wie zusammenkopierte Speisekarten, die man im Schaufenster eines Dönerladens sieht: sonnengebleichte Döner und Falafel.

Ich hatte mich einige Stunden lang in die Welt der Orchideen und deren weibliche Pendants vertieft, weil ich das sowohl sinnlich als auch postmodern fand, als mein Handydisplay aufleuchtet.

Mum ruft an.

Immer noch nichts von Matt.

Niedergeschlagen gehe ich dran. »Hi, Mum.«

»Hi, Liebes, alles gut bei dir? Wie geht es Matt?«, fragt sie und hat schon an meiner Stimme gehört, dass etwas nicht stimmt.

In meinem Kopf führe ich eine kurze Kosten-Nutzen-Analyse durch, ob ich ihr erzählen soll, wie ich mich wirklich fühle. Dass Matt heute Nacht nicht nach Hause gekommen ist. Dass er als Freund eine riesige Enttäuschung ist. Dass ich keine Ahnung habe, wo er ist, und ich nicht weiß, ob ich ihn noch liebe – nach all den Scheißjahren, die er mir beschert hat. Aber ich will das Fass nicht aufmachen. Und außerdem kenne ich Mum: Wenn ich ihr nur die kleinste Kleinigkeit erzähle, wird sie alles wissen wollen.

»Dem geht es gut! Er hat sein erstes Set in diesem Pub gespielt …«

Sie fällt mir direkt ins Wort.

»Jaaa, genau, das habe ich gestern Abend auf Sams Wonderland-Seite gesehen! Ich habe mir das ganze Set angeschaut. Sah toll aus. Nur der Veranstaltungsort wirkte ein wenig runtergekommen, oder?«

Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht. Ich habe Sams Wonderland-Seite gestern Abend nicht gecheckt und dieses Video meines eigenen Freundes nicht gesehen, warum habe ich mir die Seite nicht angeschaut, obwohl ich wusste, dass Matt mit ihm unterwegs war? Oder hat Sam sie vor mir versteckt? Ich widerstehe dem Drang, aufzulegen und nach Updates zu suchen.

»Matt sagt, dass der Barbesitzer ihm einige regelmäßige Slots angeboten hat; ich glaube, das wird was.«

Ich denke mir das alles gerade aus. Wie erbärmlich von mir.

»Habe ich richtig gesehen, dass er eins deiner selbst gestalteten T‑Shirts getragen hat, Liebes? Toll, dass er dich so unterstützt. Ganz ehrlich, ich bin so neidisch auf euch zwei.«

Ich gehe lachend darüber hinweg.

»Ich finde es wirklich großartig, dass er immer interessante Artikel teilt, bei denen Frauen im Vordergrund stehen – das kannst du bei Männern in meinem Alter vergessen. Bei deinem Dad kann ich mich auf den Kopf stellen, er liest einfach nichts von dem, was ich ihm zuschicke …«, spricht sie weiter. Ich verschweige ihr, dass sie von genau den Artikeln spricht, die ich ihm regelrecht aufgezwungen habe, nachdem er mich Bitch genannt hatte, weil ich wollte, dass er den Toilettensitz runterklappt.

Etwas Klebriges hängt zwischen uns in der Luft, nachdem sie ihr armseliges Liebesleben erwähnt hat. Das hat sie, weil sie meinen Vater einfach nicht verlässt. Wir wechseln das Thema und ich frage nach ihren Bewerbungen bei lokalen Geschäften. Anschließend ist es schwer, noch Gesprächsthemen zu finden, die uns nicht unangenehm sind, also nichts mit ihrem Ex-Mann – meinem Dad – zu tun haben. Bevor sie auflegt, bittet sie mich, Matt von ihr zu grüßen. Ich stimme durch zusammengebissene Zähne zu und mache mich wieder an die Arbeit.

Gerade, als die Sonne hinter einer Wolke verschwindet und sich das Zimmer verdunkelt, schwindet meine Konzentration und ich blicke auf die Uhr oben rechts auf meinem Laptop: 13:14 Uhr. Die vegane Deomarke hat mir heute früh bereits drei E-Mails geschickt und mich gebeten, die Collage für ihre Social-Media-Kanäle zu optimieren – auf völlig unterschiedliche Arten. Ich schicke ihnen einfach die PDF, die ich zum dritten Mal optimiert hatte, und tue so, als hätte ich die Änderungen schon eingepflegt, um die sie mich gebeten haben.

Wir finden es beide toll, aber wir glauben, wir müssen uns heute zusammensetzen.

Reicht es, wenn wir dir bis morgen, EOD, Bescheid geben?

Ich klappe den Laptop zu und ziehe einen Beutel unterm Schreibtisch hervor. Heute früh habe ich Rose eine Matt-SOS-Nachricht geschickt und Rose meinte, ich solle in den Café-Co-Working-Space kommen, in dem they sich hochgearbeitet hat. Neulich wurde they in einem Bericht einer Lokalzeitung sogar »Rosey« genannt und als gute Seele des Ladens bezeichnet. Ich nehme mir vor, Rose häufiger damit aufzuziehen.

Ich gehe die Treppe am Kanal hoch und sehe, als ich beim Café ankomme, dass ein paar Tech-Typen zu dem Tisch schlurfen, an dem ich immer sitze. Sie wollen gerade ihre Laptops abstellen, als Rose wie aus dem Nichts aus dem Café gerannt kommt, ein Handtuch aus der Schürzentasche zieht und es auf den Tisch schmeißt, ehe sich die Männer setzen können.

Die Sonne scheint Rose ins Gesicht und they schirmt sie mit der Hand ab, dreht sich dann zu mir um. Als ich they dabei beobachte, wird mir klar, dass ich von Rose einfach nie genug bekomme. Wie kann man diese Liebe beschreiben? Irgendwo zwischen romantisch und platonisch, eine geschwisterliche, liebevolle, ganzheitliche, undurchdringliche Beziehung, die uns verbindet und schützt. Ich renne grinsend zu Rose, they umarmt mich fest und hebt mich dabei hoch.

»Babe, was ist los? Ich geb dir einen aus, was möchtest du?«, fragt they mich und legt den Arm um mich.

»Wie immer«, antworte ich. Rose flitzt ins Café und bewegt sich dabei schneller als jeder andere Mensch auf diesem Planeten.

Ich setze mich hin und betrachte die bunten Buchläden, Cafés und kleinen Geschäfte mir gegenüber. Ich drehe mich um und schaue, ob Rose drinnen Hilfe benötigt, aber they hat meine Bestellung an ein neues Mädel weitergegeben, das an der Espressomaschine steht – Rose lehnt nun am Tresen, streicht sich mit den Fingern das Haar zurück und lässt dann den Arm auf dem Kopf liegen. Rose ist so schlank und irgendwie flüchtig. Verführung gelingt Rose so mühelos wie Atmen. They stellt einen Fuß auf einen Stuhl … Oh no, Rose macht die Pose. Irgendwer wird ein Aneurysma bekommen.

Rose kommt mit einem Klappstuhl unterm Arm und einem Tabakbeutel in der Hand wieder nach draußen und setzt sich zu mir in die Sonne. »Wenn du hier bist, bist du auch Teil der Freakshow. Ich finde es super, wenn nicht nur ich angestarrt werde«, murmelt Rose und eine nicht angezündete Selbstgedrehte wackelt zwischen their Lippen.

»Rose, hör mal auf mit dem Selbstmitleid, von wegen Freakshow. Die Leute starren dich an, weil sie denken, sie hätten gerade Leonardo DiCaprio aus seiner Zeit als Teenieschwarm gesehen. Außerdem fickst du einfach alle mit deinen Blicken«, seufze ich.

Rose zündet sich die Kippe an und nimmt einen Zug, lehnt sich mit dem Kopf an das sonnige Fenster des Cafés. They blickt mich von der Seite an und will mir einen Arm um die Schulter legen. Aber dann wird they abgelenkt: Zwei Mädchen gehen vorbei und werden von Rose abgecheckt. Beide Mädels drehen sich nach Rose um.

»Okay … ja, vielleicht liegt es daran«, sagt Rose, bläst Rauch aus dem Mund und lacht. »Egal, Schluss jetzt mit mir und meiner Flirterei, bitte, danke. Was hat der ›Penis‹ jetzt schon wieder gemacht? Wie war es gestern Abend? Du bist heute eine wahre Meisterin im Fragenausweichen, kann das sein?«

»Er ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen«, erkläre ich sachlich.

»Scheiße. Das tut mir leid«, sagt Rose und reißt sich zusammen.

»Schau mich nicht so an. Sag bloß nicht ›das habe ich dir doch gesagt‹. Bitte nicht!« Ich fuchtele mit einem Finger vor Roses Gesicht rum.

»Wann hab ich das denn gesagt? Du weißt doch, dass ich Männern im Allgemeinen misstraue – das muss erst mal einer widerlegen. Ich kann nichts dafür, dass ich eine weise alte Seele bin!«, beteuert Rose, um die Anspannung zu lindern.

Ich habe das Gefühl, alle starren mich an: der Typ dahinten, der seinen riesigen Hund spazieren führt, die Frau, die ihr Klapprad aufschließt, der Mann, der das Fenster seines Buchladens mit einem Putztuch reinigt. Sogar der Hund des Kerls fixiert mich. Ich habe das Gefühl, die ganze Straße weiß, wie schlecht es mir geht. Dass ich eine Möchtegernfeministin mit einem kack Freund bin, die sich von ihm scheiße behandeln lässt.

»Also, ich bin mir sicher, dass er dir schreibt, sobald er kann. Vielleicht hat er sein Telefon verloren!« Rose erfindet Ausreden für einen Mann? Das ist krass. Ich muss Rose ganz schön leidtun.

»Du musst mich nicht verarschen. Meinst du das ernst? Sein Telefon verloren?«, sage ich und male beim letzten Satz Anführungszeichen in die Luft.

Ich nehme mein Handy raus und gehe auf Wonderland. Der Pub hat den Abend noch einmal gepostet und Matt hat den Post vor einer Stunde mit einem Feuerlöscher-Emoji kommentiert. Soso! Er hat sein Handy also nicht verloren. Ich schüttele den Kopf und starre auf mein Display – immer noch besser als Roses besorgte Blicke.

Während ein Tablett und die Getränke auf unseren Metalltisch poltern, sehe ich weiter hinten auf der Straße etwas Fuchsiafarbenes aufblitzen und erblicke eine Frau mit pinkem Haar. Sie bleibt vor der Apotheke stehen, einen Steinwurf von unserem Tisch entfernt. Ich hatte immer gedacht, dass Leute mit bunten Haaren nach Aufmerksamkeit gieren, wie ein menschlicher Textmarker, der stärker auffallen will als alle anderen. Aber diese Frau hat etwas Magnetisches an sich. Sie trägt ein oversized T‑Shirt mit Kniestrümpfen und hohen, klobigen Plateauschuhen aus Lackleder. Ihr Look ist ganz schön extravagant für einen Apothekenbesuch; es sieht so aus, als hätte sie die Schuhe gestern Abend für eine Party angezogen. Vielleicht stimmt das auch? Schön für sie. Ich glaube, dass ich noch nie jemanden gesehen habe, der …

»Eartha!«, brüllt Rose.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Rose schaut zur Apotheke, sieht, was mich ablenkt, und grinst.

»Was denn?«, blaffe ich abwehrend.

»Sieht gut aus, oder?«, erwidert Rose.

»Mir gefällt ihre Frisur«, antworte ich und blicke auf meinen Schoß.

Rose zuckt die Schultern und schiebt meinen Iced Latte auf dem Unterteller zu mir.

»Maisie hat das hier für dich nach draußen gebracht, aber du hast es gar nicht bemerkt, weil du dieses Mädchen angestarrt hast.«

Wir sitzen da, trinken unseren Kaffee und genießen die Aussicht, bis ich wieder diese Frau mit den pinken Haaren entdecke – sie verlässt gerade die Apotheke, rückt ihre Kopfhörer zurecht, wiegt den Kopf zur Musik, als würde die Welt ihr gehören. Sie dreht sich um und läuft in unsere Richtung, während sie mit einer Hand eine Papiertüte festhält und mit der anderen mit den Fingern schnipst.

Moment …    Ist das …?

       Trägt sie da …

 Das kann doch nicht sein?

            AufgarkeinenFall.

Wie zum Teufel …?

»Eartha, was ist los?« Rose legt mir eine Hand auf die Schulter.

»Das Mädel trägt das T‑Shirt, das ich entworfen habe; Matt hatte es gestern Abend an«, antworte ich.

Ich habe es Matt gestern Abend gegeben …

Und es gibt nur ein einziges davon.

»FUUUUCK«, kreische ich.

Rose legt mir eine Hand auf den Oberschenkel und drückt mich, um mich zu beruhigen.

Fuck it.

Nicht mit mir.

Ich schlage die Hand weg. Es kann einfach nicht sein. Jemand muss das T‑Shirt nachgedruckt oder das Design geklaut haben. Ich springe auf. Mein Körper ist überwältigt von einer verwirrenden Mischung aus Faszination, Verlangen und Wut über den ekelhaften Charakter dieses … Energiebündels. Gott! Ich renne zu ihr, um sie mit meinem Verdacht zu konfrontieren. Sie will gerade die Straße überqueren, ich laufe hinter ihr her.

»ENTSCHULDIGUNG!«, rufe ich.

Sie dreht sich um und blickt mich ängstlich an. Ihre Haut schimmert oliv und ihre Augen sind tiefbraun. Sie trägt noch den Eyeliner von gestern Abend, der inzwischen verschmiert ist. Wie schafft sie es, auch mit einem Kater so gut auszusehen? Sie nimmt die Kopfhörer ab und stoppt die Musik auf ihrem Telefon.

»Hi, ich wollte dich nicht erschrecken. Mein*e Freund*in und ich fanden nur dein T‑Shirt so toll. Woher hast du das?«, frage ich, um Zeit zu schinden.

»Oh, ähm …«, sagt sie, mustert mich dabei von Kopf bis Fuß, taxiert die Verrückte, die gerade über die Straße gehetzt ist, um sie anzusprechen.

»Das gehört mir eigentlich gar nicht. Das ist von einem Typen, mit dem ich heute Nacht Sex hatte.« Sie lacht. »Er hat mir seine Nummer nicht gegeben, weil ich aus dem Haus seines Kumpels abgehauen bin. So eine Nacht war das … Aber er meinte, ich könnte es behalten. Cool, oder?«

Ich bemerke diesen postkoitalen Glow, den ihre perlmuttschimmernden Poren ausstrahlen.

»Hatte er …«

Mir bleiben die Worte im Hals stecken. Ich kann sie nicht aussprechen.

»Hatte er … zufällig so einen kleinen baumelnden Ohrring?«, bringe ich heraus und schirme die Augen vor der Sonne ab.

»Da muss ich kurz überlegen …«, sagt sie, blickt in die Ferne und versucht wahrscheinlich, sich meinen Freund Matt vorzustellen. »Ich glaube schon! Ein kleines Kreuz oder so? Oder vielleicht einen Spatzen? Ich weiß nicht. Er hat gestern aufgelegt! Ich bin mit paar Freund*innen zu seinem Gig gefahren. Kennst du ihn?«, antwortet sie neugierig.

Eartha.

Jetzt nicht weinen.

Auf keinen Fall jetzt weinen.

»Ich kenn den tatsächlich. Der Typ, mit dem du gefickt hast, ist mein Freund und das ist mein T‑Shirt«, sage ich und verzichte aufs Luftholen, damit ich nicht in Tränen ausbreche.

Sie sieht völlig entgeistert aus. Sie öffnet den Mund, dann schließt sie ihn wieder. Sie wird blass.

»Ich … ich bin total geschockt … Ich wusste nicht, dass er eine Freundin hat. Es tut mir so leid«, sagt sie leise.

Erleichterung.

»Wenn du es nicht wusstest, musst du dich auch nicht schuldig fühlen. Wir sind seit sechs Jahren zusammen, also hat er nicht einfach vergessen, es zu erzählen. Mir tut es leid, dass du Sex mit einem verlogenen Betrüger hattest!«

»Es tut mir leid, dass dein Freund ein verlogener Betrüger ist!«

Sogar ihr Fluchen klingt wie ein Gedicht, wie kleine Vögel, die vor dem Fenster erwachen. Die Frau ist eine lebendige Sirene. Vielleicht hat sie Matt so aus der Monogamie gelockt? Wem will ich da eigentlich was vormachen? Natürlich war das nicht das erste Mal. Dann frage ich mich, warum ich nicht verletzt bin. Das alles sollte mich komplett umhauen. Ich sollte mich nach vorn beugen, mich mit den Händen auf die Knie stützen und heulen und schluchzen. Oder? Vielleicht gipfelt einfach jede einzelne Enttäuschung der letzten sechs Jahre in diesem Moment. Er hat mich mit einer unglaublich faszinierenden Frau betrogen, deren Schönheit sogar mich aus dem Konzept bringt. Ich fühle mich überhaupt nicht schlecht. Die Angst, die ich hatte, weil er nicht nach Hause gekommen ist, ist wie weggeblasen. Weil ich jetzt weiß, wo er gestern Abend war. Ich fühle mich frei. Ich schaue mir die Tüte aus der Apotheke an, die sie in der Hand hält. Ich vermute, dass es sich um eine Pille danach handeln könnte.

»Ist das …?« Ich zeige auf die Tüte.

Verschämt versteckt sie sie.

»Nur, um auf Nummer sicher zu gehen.«

»Er kann mich nicht mal respektvoll betrügen, er hätte mich auch mit etwas anstecken können?«

»Oh, er hat schon ein Kondom benutzt! Aber … ich traue diesen Typen nicht. Einige streifen sie heimlich ab, bevor sie kommen.«

Kurz sieht sie panisch aus, als ihr klar wird, dass sie ja über meinen Freund spricht.

»Es tut mir so leid. Ich hätte merken müssen, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Er meinte, Thema seiner Kunst sei, dass Frauen das Recht haben, ›durch eine nicht sexuelle Brille betrachtet zu werden‹.«

»