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Ballet meets Fantasy. Ein düster-romantisches Debüt über eine verfluchte Tänzerin und eine Liebe, die nur im Schatten existieren kann. Tanzen war immer Emberlyns Traum. Und als sie in die berühmteste Balletttruppe von ganz New Kora aufgenommen wurde, dachte sie, ihr Traum hätte sich erfüllt. Stattdessen ist sie in einem Alptraum aufgewacht. Denn die Tänzerinnen von Malcolm Manrow's Marvellous Marionettes heißen nicht nur Marionetten, sie werden durch einen dunklen Fluch buchstäblich zu lebenden Puppen gemacht. Malcolm kann jede ihrer Bewegungen kontrollieren. Abend für Abend muss Emberlyn an seinen Fäden tanzen, Erleichterung bringen ihr nur die kurzen Momente in den Armen ihres Tanzpartners, einer Gestalt aus Schatten, die der Puppenspieler beschwört. Emberlyn hasst dieses Leben, sie würde alles für ihre Freiheit geben. Nur ahnt sie noch nicht, wie hoch der Preis ist … Dunkle Magie, fesselnde Liebe und brennender Zorn. Ein mitreißendes Romantasy-Debüt für alle Fans von Stephanie Garber und Adalyn Grace. Exklusiver Content der deutschen Ausgabe: ein alternatives Ende zusätzlich zum Originalende!
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Seitenzahl: 553
Veröffentlichungsjahr: 2025
E. V. Woods
Roman
Ballet meets Fantasy
Tanzen war immer Emberlyns Traum. Und als sie in die berühmteste Balletttruppe von ganz New Kora aufgenommen wurde, dachte sie, ihr Traum hätte sich erfüllt. Stattdessen ist sie in einem Albtraum aufgewacht. Denn die Tänzerinnen von Malcolm Manrow’s Marvellous Marionettes heißen nicht nur Marionetten, sie werden durch einen dunklen Fluch buchstäblich zu lebenden Puppen gemacht. Malcolm kann jede ihrer Bewegungen kontrollieren. Abend für Abend muss Emberlyn an seinen Fäden tanzen, Erleichterung bringen ihr nur die kurzen Momente in den Armen ihres Tanzpartners, einer Gestalt aus Schatten, die der Puppenspieler beschwört. Emberlyn hasst dieses Leben, sie würde alles für ihre Freiheit geben. Nur ahnt sie noch nicht, wie hoch der Preis ist …
Dunkle Magie, fesselnde Liebe und brennender Zorn. Ein Romantasy-Debüt der Extraklasse!
E. V. Woods ist eine britische Autorin, die schreibt, seit sie denken kann. Ihre erste Kurzgeschichte entstand, als sie sechs Jahre alt war, ihren ersten Romanentwurf beendete sie mit fünfzehn. Schreiben ist für sie wie Atmen. Mit «Girls of Dark Divine» erscheint nun ihr Debüt, ein Romantasy-Roman, der perfekt ihre Vorlieben spiegelt. Die Geschichte ist ebenso düster wie magisch, ebenso hoffnungsvoll wie zornerfüllt. Mehr Informationen sind auf ihrer Homepage (evwoodsauthor.com) und auf Instagram (@evwoodsauthor) zu finden.
Ulrike Gerstner wurde nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Anglistik (und einiger Zeit in der Freiberuflichkeit) Lektorin beim LYX-Verlag, wo sie über zehn Jahre die unterschiedlichsten Projekte betreute. Mittlerweile ist sie zu ihren Wurzeln zurückgekehrt und arbeitet wieder auf eigene Faust als Übersetzerin und Lektorin.
Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel «Girls of Dark Divine» bei Delacorte Press, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Girls of Dark Divine» Copyright © 2025 by E. V. Woods
Redaktion Silvana Schmidt
Karte © Jensine Eckwall
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München, nach dem Original von Delacorte Press/Random House Children’s Books/Penguin Random House LLC
Coverabbildung Tomasz Majewski
ISBN 978-3-644-02462-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Mum
In ihrem Kern ist «Girls of Dark Divine» eine Geschichte über eine missbräuchliche Beziehung, es werden also einige sehr dunkle Themen behandelt. Obwohl es keinerlei sexualisierte Gewalt gibt, enthält das Buch Szenen, in denen den weiblichen Figuren die Entscheidungsgewalt über ihren Körper genommen wird, und zutiefst unangenehme Momente, in denen der männliche Antagonist seinen Besitzanspruch auf sie mit physischer Gewalt unterstreicht.
Manipulation und Gaslighting werden ebenfalls im Laufe des Buches dargestellt, zudem gibt es kurze Beschreibungen von Verwesung, was für einige unangenehm zu lesen sein könnte. Bitte achte auf dich, während du liest, und sei dir bewusst, dass es okay ist aufzuhören, wenn das nötig ist.
Und jetzt, wo das gesagt ist, hoffe ich, dass du dich gern in der Dunkelheit des Théâtre de Feu verlierst … Wir sehen uns auf der anderen Seite.
E.V. Woods, August 2025
Ein unbequemer Tod
In den staubigen Gängen unter dem Theater hatte sich ein seltsames, atemloses Schweigen herabgesenkt. So dicht und schwer wie die Schatten, die diesen Ort heimsuchten, hatte sich die Stille ausgedehnt, bis die erhabenen, lauschenden Wände sie nicht mehr eindämmen konnten.
Bis die Schreie begannen.
Emberlyns Kopf zuckte hoch, als das Kreischen die Luft durchschnitt und die Ruhe des Schlafsaals durchbrach. Sie schnappte sich den Stapel aufgeklappter Landkarten auf ihrem Bett und stopfte sie unter die Matratze, sprang hoch, riss die Tür auf und spähte in den nächtlichen Korridor hinaus. Das schwache Licht, das von den Wandleuchtern ausging, zitterte, als ob es durch den Lärm gestört würde, und flimmerte in der Dunkelheit. Emberlyns Blut rauschte ihr in den Ohren, als die Schreie in ein gellendes Wehklagen übergingen.
Plötzlich hörte sie Schritte. Emberlyn starrte die blasse, weiß gekleidete Gestalt an, die am Ende des Korridors erschien.
Jia. Die jüngste der Marionettes rannte auf sie zu, Tränen glänzten auf ihren Wangen.
«Emberlyn!», schluchzte Jia.
«Was ist denn los? Warum schreien sie?»
«Es ist wegen Heather.»
Emberlyn stockte der Atem. Augenblicklich löste sich jeder Anflug von Ärger in Luft auf. Vor ihren Augen drehte sich alles, als sie in den Korridor trat und zuließ, dass Jia ihre Hand ergriff.
«Bring mich zu ihr», drängte Emberlyn.
Der Geruch von Staub und geschmolzenem Wachs stieg ihr in die Nase, als sie gemeinsam durch die Dunkelheit liefen. Je näher sie dem Gemeinschaftsraum kamen, desto deutlicher hörte sie die Rufe ihrer Schwestern. Das Kreischen war zu einem gelegentlichen bitteren Schluchzen verklungen, das von einem leisen Stöhnen durchbrochen wurde.
Sie spürte die Abwesenheit von Heathers honigsüßer Stimme wie ein Gewicht in ihrem Magen.
Fünf Augenpaare wandten sich Emberlyn zu, als sie und Jia in den Raum stürmten. Ihre Schwestern, die Marionettes, hatten sich im Gemeinschaftsraum um eine Gestalt geschart, die zusammengerollt zu ihren Füßen lag. Heathers blassblaues Nachthemd war um sie herum aufgefächert und mit einer feinen Schicht Staub von den Dielen bedeckt. Das Feuer im Kamin prasselte, aber Emberlyn spürte keine Wärme, als sie die Gesichter der anderen Marionettes betrachtete, die zu kummervollen Grimassen verzogen waren.
Rosalyn und Miriam starrten auf den Boden, den Blick von ihrer toten Schwester abgewandt. Anushka hatte die Arme um Ida geschlungen, die das Gesicht in Anushkas dichter dunkler Mähne vergraben hatte, und ihre Schultern bebten unter hemmungslosen Schluchzern.
Dann traf Emberlyn der Geruch, und sie stolperte zurück.
So roch der Fluch der Marionettes – die Fäulnis, die das Mädchen auf dem Boden von innen heraus zerfressen hatte und aus ihrem Leib entwich. Ätzend. Sauer. Wie altes, in Essig eingelegtes Gemüse, mit einer Nuance von etwas weitaus Schlimmerem. Ein eisiger Friedhof in der Nacht. Ein Sarg, der sich nach hundert Jahren öffnet, nachdem er zugenagelt wurde.
Emberlyn hielt sich den Mund zu, ihre Kehle war schmerzhaft eng. In ihrem Kopf drehte sich alles, während sie gegen das Zucken in ihrem Magen ankämpfte und sich zusammenriss.
«Sie ist einfach umgefallen.» Anushkas Stimme zitterte, klang heiser und gepresst. «Sie sagte, sie fühle sich seltsam, ist aufgestanden u-u-und einfach … umgestürzt.» Sie schüttelte den Kopf, als Ida einen weiteren gedämpften Schrei an ihrem Hals ausstieß.
Kummer griff nach Emberlyns Herz, aber er kam nicht weit, sondern prallte gegen eine Wand aus Eis, die die Glut erstickte, bevor sie richtig entflammte. Sie musste diejenige sein, die unerschütterliche Stärke verkörperte, während ihre Schwestern um sie herum zusammenbrachen. Als die am längsten leidende Marionette musste sie für sie stark sein. Doch als sie auf den zusammengekrümmten, regungslosen Körper vor ihr hinunterblickte, konnte Emberlyn nicht anders.
Sie dachte an Esme. Sie war die Allererste der Marionettes gewesen und die Einzige von ihnen, die an diesem Fluch gestorben war. Bis jetzt.
Sie dachte daran, wie auch Esme plötzlich zusammengebrochen war und sich vor ihren Augen auflöste, als die Dunkelheit die letzten Atemzüge aus einer Brust stahl, die lautlos zum Stillstand kam. Sie erinnerte sich an das tief klaffende Gefühl, dass ihre zerbrechliche Welt in zwei Teile zerfiel, während sie die sterbende Hand der einen umklammerte, die sie durch diese grausame Existenz geleitet hatte. In ihrem eigenen brennend heißen Griff war diese Hand allmählich immer kälter geworden.
Das Davor und das Danach. Das Mädchen, das sie geliebt hatte, und die erste Leiche, die sie begraben musste. Wie sehr sie gehofft hatte, dass es die letzte sein würde.
Emberlyn spähte durch den Raum. Sie fand Aleida zusammengekauert in dem Sessel neben dem Kamin, die Arme um die Knie geschlungen, den Körper von dem Haufen am Boden weggelehnt, während der Schimmer der Flammen sanft ihre braune Haut küsste. Ihr dickes, dunkles Haar war in einem zerzausten Zopf über eine Schulter geworfen, der so aussah, als hätte sie ihn mit den Händen verzweifelt durchgekämmt. Sie blickte zu Emberlyn hoch.
In ihren dunklen Augen spiegelten sich die gleichen Erinnerungen wider, als sich die Geschichte vor ihnen wiederholte.
Emberlyn löste den Blick von Aleida, trat einen Schritt vor und ließ sich neben Heather auf die Knie sinken. Sie wappnete sich gegen den Geruch und knirschte verzweifelt mit den Zähnen, um die Bilder beiseitezuschieben, die er in ihr weckte. Jeden wachen Moment hatte sie damit verbracht, die Eindrücke zu verdrängen, hatte hoffnungslos und verzweifelt versucht, das alles zu vergessen. Sie streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern durch das honiggoldene Haar, das sich wie tote Schlangen über den Boden ringelte. Sie schob die Strähnen aus Heathers Gesicht.
Ein Schrei brach aus Miriam heraus, und sie rannte aus dem Zimmer, ihr Geheul hallte durch den Korridor. Emberlyn erschauderte, richtete ihre Aufmerksamkeit aber auf den Körper ihrer Schwester.
Heather sah aus, als wäre sie schon seit einem Jahr tot und nicht erst seit einer Minute. Ihre Lippen hatten sich zurückgeschält und legten Zähne und eine geschwärzte, geschwollene Zunge frei, die ihr grotesk aus dem Mundwinkel baumelte. Ihre verkrusteten Augen starrten ins Leere, von dem gewohnten Leuchten war keine Spur mehr zu entdecken. Ihre Haut spannte sich straff über den ausgeprägten Wangenknochen, und unter ihrer hauchdünnen, fast durchscheinend weißen Haut verästelten sich kreuz und quer schwarze Adern. Emberlyn griff nach Heathers kalter Hand und hielt sie fest.
Im Korridor waren schwere Schritte zu hören. Emberlyn sprang auf, als die Marionettes dorthin huschten, wo sie am weitesten von der Tür entfernt waren und eine seltsame Trauerformation hinter dem Leichnam ihrer Schwester bildeten. Sie strichen ihre Röcke glatt, wischten sich die Tränen aus dem Gesicht und verschränkten die Hände hinter dem Rücken, die Augen auf den Boden gerichtet. Emberlyn reckte das Kinn, richtete ihren Blick auf die Tür und lauschte mit klopfendem Herzen, als die Schritte lauter wurden. Näher kamen.
Die Marionettes hielten den Atem an, als der Puppenspieler ihren Gemeinschaftsraum betrat.
«Was ist lo…? Oh, um Himmels willen!»
Malcolm Manrow rümpfte die Nase, als er auf der Schwelle stehen blieb und mit seiner imposanten Gestalt den Rahmen ausfüllte. Seine Hand wanderte zu seiner Brusttasche, aus der er ein goldbesticktes Taschentuch zog und es sich vor die Nase presste, während er missmutig die Stirn runzelte. Als sein Blick auf die leblose Gestalt auf dem Boden fiel, verzog er den Mund unter seinem akkuraten Schnäuzer.
Manche würden Malcolm Manrow als gut aussehend bezeichnen. Manche wünschten sich, dass das entwaffnende Lächeln, das seine Augen so oft zum Leuchten brachte, auf sie gerichtet wäre, dass sie sich im Glanz seiner perfekt geraden, perlweißen Zähne sonnen könnten. Ohne Frage, er konnte unendlich charmant sein, wenn er es wollte. Wenn er die Leute dazu bringen wollte, Dinge über ihn zu glauben, die einfach nicht stimmten. Aber für Emberlyn – und für den Rest der Marionettes – war er abscheulich. Er war ein grausamer Puppenspieler, der ihre unsichtbaren Fäden in der Hand hielt.
Malcolm schob seinen Daumen in den aufwendig verzierten Kummerbund und seufzte.
«Noch eine? Das ist äußerst lästig.» Seine Stimme war wie Eis: schlüpfrig, hart. Kalt. Malcolm betrachtete Heather noch einen Moment lang und schüttelte gereizt den Kopf, bevor er den Blick auf die anderen Marionettes richtete. Einen Wimpernschlag lang musterte er sie eingehend. Ihre Schultern waren gebeugt, sie hielten den Atem an, als würden sie es nicht wagen, ohne seine Erlaubnis ein Geräusch zu machen. Verärgert schüttelte er erneut den Kopf. «Jetzt werde ich Zeit damit verschwenden müssen, jemanden zu suchen, der ihren Platz einnimmt.»
Emberlyn schnappte bei seinen Worten nach Luft. Bei diesem Geräusch heftete sich Malcolms Aufmerksamkeit auf sie. Sie erstarrte, funkelte ihn aber dennoch finster an.
Verdutzt wandte er sich ab und schritt auf die Marionettes zu, während er sein Taschentuch wieder in die Brusttasche stopfte und vorsichtig in die Luft schnupperte. Sie wichen zurück, als er sich näherte, auch Emberlyn, trotz der Wut, die in ihrem Blut tanzte. Malcolm blieb neben Heather stehen, und die Furchen in seiner Stirn wurden tiefer, während er mit den Händen über sie strich, als würde er seine Verbindung zu ihr prüfen. Er legte nachdenklich den Kopf schief, bevor er sich hinunterbeugte und ihr Kinn packte, um ihr langsam zerfallendes Gesicht zu sich zu drehen.
«Fass sie nicht an!» Emberlyn schrie entsetzt auf und machte mehrere Schritte nach vorne, ehe ihr bewusst wurde, was sie da tat. Einige ihrer Schwestern streckten die Arme aus, um sie aufzuhalten. Doch als Malcolm zu ihr aufsah, schoss die Angst durch ihr Herz, und sie blieb stehen. Sein Blick verhärtete sich, und sie senkte den Kopf, um auf den Boden zu starren, während ihr die Hitze ins Gesicht stieg.
Sie spürte, dass Malcolm sie unverwandt anstierte. Eine stumme, unterdrückte Panik erfüllte den Gemeinschaftsraum, als die Marionettes zwischen ihr und Malcolm hin- und herschielten. Sie wappneten sich für das, was nun folgen würde.
Plötzlich richtete er sich auf, stieg über den Leichnam und ging auf Emberlyn zu. Eine schneidende Kälte durchflutete ihre Adern, als sie den Kopf hochriss und in die zusammengekniffenen, blutunterlaufenen Augen blickte, die von unzähligen Nächten zeugten, die er in einem Schleier aus Alkoholdunst verbracht hatte. Sie stolperte zurück, als die Marionettes sich dicht um sie scharten, obwohl sie alle wussten, dass sie sie in Wahrheit gar nicht verteidigen konnten.
Malcolm stampfte unaufhaltsam vorwärts, bis seine Kleidung Emberlyns Fingerspitzen streifte. Sie hatte abwehrend die Hände ausgestreckt und suchte mit wildem Blick nach einer Fluchtmöglichkeit. Gegen ihren Willen wirbelte Emberlyns Kopf zu ihm herum. Das Ding, das Heather getötet hatte – der Fluch, der durch die Adern der Marionettes toste und sie zwang, ihrem Puppenspieler zu gehorchen –, loderte auf. Sie fauchte, fixierte aber mit klopfendem Herzen den Boden, als Malcolm die Finger um ihr Gesicht legte.
«Sieh mich an», befahl er. Emberlyns Blick richtete sich schlagartig auf ihn. «Du weißt, was zu tun ist, nicht wahr?», fragte er mit ruhiger Stimme.
Emberlyn schluckte, und der Fluch löste sich gerade so weit, dass sie nicken konnte, während ihr Körper in seinem Griff zitterte. Malcolm betrachtete sie noch einen Moment lang und beobachtete die Tränen der Angst, die in ihren Augenwinkeln wuchsen, mit einer unangenehmen Art der Befriedigung. Schließlich lächelte er. Dasselbe Lächeln, mit dem er sich in der Welt durchsetzte. Das Lächeln, das die Frauen in Ohnmacht fallen ließ und Emberlyns Kehle mit Galle füllte.
Sie hasste ihn. Sie hasste das widerwärtige Scheusal, das unter seiner Oberfläche lauerte. Sie wünschte, die Welt könnte ihn jetzt sehen. Sie wünschte, sie wüssten alle, wer er wirklich war.
«Gut. Ich vertraue dir, dass du dich darum kümmerst.»
Er ließ Emberlyns Kinn los, aber bevor sie aufatmen konnte, strich er mit dem Daumen über ihre Wange und wischte ihr die Tränen weg.
«Ich bin froh, dass es nicht meine Primaballerina war. Meine feurige Emberlyn.»
Emberlyn war sich sicher, dass er das unregelmäßige Klopfen ihres Herzens spüren konnte. Sie wusste, dass er es hören konnte und sich in dem Geräusch suhlte. Er schwelgte in ihrer Angst. In der Macht seiner Kontrolle.
Plötzlich drehte er sich um und zog die Hand so schnell weg, dass Emberlyn zusammenzuckte und ein leises Wimmern ausstieß. Aleida drückte sich sofort an ihre Seite und hielt ihren Arm fest, während Malcolm auf die Tür zuschritt.
«Ich brauche Zeit, um die Details für die morgige Aufführung auszuarbeiten», rief er über die Schulter. «Mit einer Marionette weniger wird es ein Trauerspiel werden. Ganz zu schweigen davon, dass ich mich jetzt schon um die Vorbereitungen für das Vortanzen kümmern muss. Ihr Mädels seid noch mein Tod, ganz im Ernst.» Malcolm blieb auf der Schwelle stehen, halb im Schatten des Korridors, halb im flackernden Licht des Gemeinschaftsraums. Er drehte sich um und schenkte ihnen allen ein letztes charmantes Lächeln. «Und, Mädels? Passt auf, dass es euch nicht erwischt.»
Die Mädchen standen schweigend hinter ihm, nur das Flüstern ihrer Atemzüge durchbrach die Stille. Emberlyn ballte die Fäuste, um das Zittern zu stoppen.
Sie fragte sich, ob sie es jemals lebendig hier herausschaffen würde oder ob auch sie eines Tages das Mädchen sein würde, das zu Füßen ihrer Schwestern im Staub lag.
Ein mitternächtliches Begräbnis
«Es ist Zeit aufzubrechen», verkündete Emberlyn in den mit Leid erfüllten Gemeinschaftsraum, nachdem sie stundenlang so getan hatten, als läge Heathers Leichnam nicht nur wenige Schritte von ihren Füßen entfernt.
Sie hatte gewartet, bis die Dunkelheit die Stadt geschluckt hatte, ehe sie den Marionettes befahl, ihre Reisemäntel anzuziehen und die Kapuzen aufzusetzen, damit ihre Gesichter nur noch als bloße Umrisse im Schatten zu sehen waren. Sie schwiegen. Nachdem die Zeit der Tränen verstrichen war, waren sie in eine Schockstarre versunken. Sie bereiteten sich auf das vor, was nun zu tun war.
Mit einer Laterne in der Hand führte Emberlyn die Marionettes die steinernen Stufen zur Hintertür des Manrow Theaters hinauf und öffnete die Riegel. Lautlos schwang die Tür nach innen. Sie trat als Erste in die Nacht und hielt in der Gasse Ausschau nach Personen, die sich in den Schatten versteckten.
Selbst um Mitternacht fand New Kora keinen Schlaf. Das leise Brummen von Automobilen und das Knirschen von Reifen auf dem feuchten Pflaster rauschte durch die Stadt und vermischte sich mit dem Geschrei und Gelächter betrunkener Stimmen. Das grelle Lichtermeer des Theaterviertels ergoss sich in den Himmel, wo die sternenklare Nacht und der Schein des Mondes die Oberhand gewann. Es lag eine gewisse Schärfe in der Luft, als die Sommerwärme vor den gefletschten Zähnen des Herbstes zurückschreckte.
Emberlyn winkte, und die Marionettes folgten ihr auf Zehenspitzen nach draußen. Rosalyn und Miriam hielten ihre tote Schwester zwischen sich und stützten sie so, dass sie zu stehen schien. Sie starrten stur geradeaus und weigerten sich, Heather oder einander anzusehen, als ob das die Aufgabe erleichtern würde.
Emberlyn achtete auf die nervösen Gesichtsausdrücke ihrer Schwestern, die nicht von den Schatten verborgen waren – das Glitzern einer Träne, das Zittern der Unterlippe. Ihr Blick fiel auf Aleida, die sie einen Herzschlag länger als die anderen betrachtete, um aus ihrer ruhigen Miene Kraft zu schöpfen. Die Spannung in Emberlyns Magen löste sich ein wenig, als Aleida ihr leicht zunickte.
«Wir gehen zum Chord Park», sagte Emberlyn entschlossen und schaute jede ihrer sechs Schwestern nacheinander an, wobei sie sich weigerte, ihren Blick auf die erschlaffte siebte fallen zu lassen. Sie standen steif und schweigend da, während sie ihr zuhörten. «Sobald wir diese Gasse verlassen, befinden wir uns auf der Hauptstraße des Theaterviertels, und man wird uns sehen. Also geht zügig, aber rennt nicht, und lasst euch nicht ins Gesicht schauen. Behaltet eure Kapuzen auf und die Spaten versteckt. Miriam, Rosalyn.» Sie schwankten unbehaglich unter dem Gewicht von Heathers Körper. «Sagt mir Bescheid, wenn ihr eine Pause braucht. Sie muss aufrecht bleiben.»
Ihre Kapuzenköpfe nickten kurz.
Emberlyn drehte sich um und blickte die Gasse hinunter, dorthin, wo sie in das Licht des Theaterviertels eintauchte. Die weiche Stelle, an der ihr Hals auf das Schlüsselbein traf, zitterte im Takt ihres flatternden Herzschlags. Die kühle Nachtbrise, die sich mit der abgestandenen Luft in der Gasse vermischte, sorgte dafür, dass sich ihre Kehle zusammenzog. Sie schluckte, nickte und blickte wieder zu den Marionettes.
«Lasst uns gehen», sagte Emberlyn, und die Marionettes eilten in die Nacht hinaus.
Drei Marionettes gruben, während die anderen über Heathers Leiche verharrten und im Schein einer flackernden Petroleumlampe eine sonderbare Totenwache hielten. Die Bäume warfen knorrige Schatten, die mit langen, spitzen Krallen dorthin ragten, wo das Licht nicht hinkam.
Emberlyn hatte keine Ahnung, was sie tun würden, wenn man sie entdeckte, aber sie hielt stillschweigend Wache, während ihre Schwestern arbeiteten, denn es war besser, das Unheil heranrücken zu sehen, als es sich von hinten anschleichen zu lassen. Jia weinte still vor sich hin, perlmutterne Tränen auf den Wangen.
Der Chord Park war ein Grüngürtel, der ein paar Straßen vom Theaterviertel entfernt lag, wie eine schwärende Wunde, die in die Stadt geschlagen worden war. Sie waren ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen dort angekommen. Zwar hatten ein paar Leute die Augenbrauen hochgezogen und waren stehen geblieben, um die kuriose Schar vermummter Gestalten anzustarren, die so schnell gingen, dass sich ihre Mäntel hinter ihnen bauschten, aber niemand hatte sie angesprochen. Falls jemand die zusammengesackte Erscheinung für ungewöhnlich hielt, die mit den Füßen über das Pflaster schleifte und von zwei Verhüllten umklammert wurde, so machte er sich nicht bemerkbar.
Aber fernab von neugierigen Blicken, in den Tiefen des Chord Parks, fühlte es sich an, als würden auch die Bäume die Marionettes beobachten. Miriam, Ida und Anushka ächzten und schnauften, als sie den Boden bearbeiteten, und Emberlyn stellten sich die Nackenhärchen auf, während Rosalyn, Jia und Aleida ebenfalls Wache hielten. So wie der Wind durch die Bäume pfiff, klang es wie ein verschwörerisches Flüstern. Die Blätter schienen vor Wut zu zittern, wie um ihre Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck zu bringen, gegen ihren Willen der mitternächtlichen Beerdigung beizuwohnen.
Emberlyn drehte sich um und blickte auf Heathers Leichnam, halb in der Erwartung, Esme an ihrer statt dort liegen zu sehen. Die Parallelen zwischen den Nächten waren erschreckend, und jede Erinnerung grub sich tiefer in ihre Brust und riss sie weiter auf. Sie verbannte die Gedanken in die Abgründe ihres Geistes, während sie auf die nächste Schwester starrte, die ihr genommen worden war.
Sie hatten Heather unbedeckt liegen lassen, und selbst in der tiefen Nacht – nur erhellt vom flackernden Schein von Emberlyns schwacher Laterne und einem schmalen Streifen Mondlicht, das durch das Blätterdach über ihnen fiel – konnte sie erkennen, wie sehr der Fluch ihre Schwester angegriffen hatte. Sie konnte sehen, wie sehr er das Mädchen mit der honigweichen Stimme bereits veränderte.
Ihre Augen waren in zwei dunkle Höhlen gesunken, ihre Lider verschrumpelt. Die Schwärze, die ihre Zunge anschwellen ließ, war auf dem Weg in den Chord Park herausgesickert, hatte sich in die Risse ihrer Lippen geätzt und war an ihrem Kinn heruntergelaufen, als hätte sie Tinte geschluckt. Ihr Körper begann zu zerfallen, ein dünner Staubschleier überzog ihre Haut und schimmerte im Mondschein. Es würde noch schlimmer werden, das wusste Emberlyn. Die Verwesung würde Heather auffressen, bis sich ihre Haut vollends auflöste und nur noch Muskeln und Knochen übrig blieben. Es war nötig, sie zu begraben, um das nicht mit ansehen zu müssen – sonst würden ihre Schwestern die Erinnerung daran nie loswerden. Sie wandte sich ab, und Übelkeit brodelte in ihrem Magen. Aber da war noch etwas anderes, etwas Dunkles und Vertrautes, das sich in ihr regte. Aber sie drängte es weg.
Wie immer ignorierte sie die Präsenz des Fluchs in ihrem Inneren, die Seuche, die ihre Organe wie ein Schraubstock umklammerte – die durch ihr Blut tanzte und in jede Pore einsickerte. Wenn Malcolm den Fluch nicht beschwor, schlummerte er; etwas, das sie ignorieren konnte, wenn sie es wollte. Doch sobald er seine Puppen zum Tanzen aufforderte, übernahm der Fluch die Kontrolle, bis all ihre Gliedmaßen zu Phantomen wurden, über die sie keine Gewalt hatte. Emberlyn hatte keine Chance, selbst zu entscheiden, wie sie sich bewegte, und konnte sich nicht dem widersetzen, was er von ihnen verlangte.
«Emberlyn?», rief Miriam, ihre Stimme klang schwach vor Erschöpfung.
Emberlyn riss den Blick von der Baumgrenze los und ließ ihn zu dem leeren Grab schweifen. Das klaffende Loch, das sie für ihre Schwester ausgehoben hatten.
«Tiefer», sagte sie zu Miriam. Rosalyns Miene wurde verkniffen, aber sie und Miriam gruben unter Emberlyns wachsamer Führung still weiter, bis diese ihre Hand hob und nickte.
Emberlyn zog Heathers Kapuze wieder über ihr Gesicht und verabschiedete sich leise von ihr, als der Stoff sie umschloss. Dann ließen die Marionettes Heather gemeinsam an den Rändern ihres Mantels in die Erde sinken und geleiteten sie unter großen Anstrengungen zu ihrer letzten Ruhestätte. Sie konnten ihr die Augen nicht schließen, damit sie schlafen konnte, denn es war nur noch wenig von ihren Lidern übrig.
Sobald der Geruch der feuchten Erde und der welken Blätter den Gestank des Fluchs aufzehrte, der Heathers Leben dahingerafft hatte, nahm Emberlyn Anushka den Spaten ab und begann, die Erde selbst in das Grab zurückzuschaufeln. Aleida griff sich den Spaten von Rosalyn, die zu Boden gesackt war. Auch die übrigen Marionettes brachen zusammen, während Aleida und Emberlyn gemeinsam eine weitere ihrer Schwestern begruben.
Sobald Heather fort war, klopften sie die Erde fest und bedeckten den aufgewühlten Boden mit Gestrüpp. Mit bebender Brust starrten sich die Marionettes an. Ihre Atemwölkchen vermischten sich, als sie sich an den Händen fassten, die Augen schlossen und gemeinsam über Heathers Grab ein Gebet flüsterten.
Möge sie im Jenseits Frieden finden, möge sie frei sein von dem Fluch, an einem besseren Ort als hier. Möge sie den Weg zurück in das Zuhause finden, nach dem sie sich stets gesehnt hat, befreit von den Schnüren, die sie an den Puppenspieler und seinen nie endenden, grausamen Tanz banden.
Schweigend entfernten sich die Marionettes. Sie folgten ihren eigenen Pfaden durch die Bäume zurück zum Theaterviertel, wo MALCOLM MANROW’S MARVELLOUS MARIONETTES in dicken schwarzen Lettern auf einem Schild zu lesen sein würde.
Nach und nach schlichen sich die Marionettes davon, bis nur noch Emberlyn und Aleida über dem Grab standen und sich aus den Tiefen ihrer Kapuzen lange in die Augen schauten.
Sie lasen im Gesicht der jeweils anderen.
Sie waren nicht bereit zurückzukehren.
«Das hat Heather nicht verdient», sagte Aleida und starrte auf den Hulliver River, die Hauptader, die durch New Kora floss. Emberlyn und sie saßen am Rande des Stegs, die Beine baumelten über dem tiefen Wasser. Der Fluss schwappte sanft gegen das Ufer, und das Geräusch umgab die zitternden Mädchen, die ihre Mäntel eng um sich gewickelt und ihre Kapuzen hochgeschlagen hatten, um ihre Gesichter zu verbergen. «Ich hatte gehofft, dass das, was mit Esme passiert ist … einmalig bleibt. Dass es keiner anderen zustoßen würde.»
«Es hat sich gelohnt zu hoffen, aber jetzt kennen wir die Wahrheit. Genau das, was wir vermutet haben – dieser verdammte Fluch wird uns am Ende alle töten», erwiderte Emberlyn verbittert.
Aleida nickte verzagt, als sie sich der Realität ihrer Entdeckung bewusst wurden – ihre Vermutung, dass der Fluch sie eine nach der anderen vernichten würde, hatte sich als Wahrheit in den Stein ihrer Herzen geätzt. Aber Emberlyn blieb gleichmütig, ihre Miene unbewegt. Wenn sie zu lange nachdachte – darüber, dass die letzten Funken Hoffnung darauf, sie und Aleida könnten das überleben, im Keim erstickt worden waren –, würde sie daran zerbrechen.
Es war so kalt, dass Emberlyn sicher war, dass sich Eiskristalle an den Haaren auf ihrem Arm festkrallen würden, aber sie wollte nicht gehen. Sie war nicht bereit, ins Theater zurückzukehren, wo Heathers Abwesenheit niederschmetternd sein würde. Wo sich Esmes Abwesenheit aufs Neue erdrückend anfühlen würde. Der Schmerz, noch eine Schwester zu verlieren – die Qual, zuzusehen, wie eine von ihnen zerbrach –, war mehr, als irgendjemand ertragen konnte.
Hier draußen, an der frischen Luft, Seite an Seite mit ihrer besten Freundin, konnte sie ihren Schmerz fast vergessen. Hier draußen konnte sie fast vergessen, dass sich das klaffende Loch in ihrer Brust, in dem Esme einst gelebt hatte, wieder öffnete.
Emberlyn starrte aufs Wasser. Die schwachen Lichtstrahlen auf der anderen Seite des Flusses tanzten auf der Oberfläche wie schimmernde Bänder aus Seide, ein Kontrast zu der endlosen Dunkelheit darunter.
«Ich vermisse sie. So sehr. Ich verbringe die Hälfte meiner Zeit damit, nicht an sie zu denken, aber Heather zu verlieren, hat alles wieder aufgewühlt.»
«Ich weiß. Ohne sie … Ich weiß nicht, ob …» Aleida brach ab.
Esmes entschiedene und doch sanfte Führung hatte ihnen beiden geholfen, sich an ihr Schicksal zu gewöhnen, eine der Marionettes zu sein. Es zu akzeptieren. Sie hatte sie im Arm gehalten, während sich die Erinnerungen an ihr Leben, bevor sie zu Malcolms Eigentum wurden, langsam auflösten. Esme half ihnen, ihre Albträume zu vertreiben, und drückte sie noch fester an sich, wenn sie sie nicht ganz verjagen konnte. Emberlyn hatte es geschafft, einige ihrer Erinnerungen zu behalten, auch wenn sie nur verschwommen waren, doch die anderen hatten nicht so viel Glück.
Selbst als die anderen Mädchen im Laufe der Jahre hinzukamen, waren es die drei – das Dreieck im Zentrum des Chaos, das die unglaubliche Last trug, den anderen beizubringen, sich an ein Leben anzupassen, das sie verachteten. Egal wie schwer es wurde, sie hielten durch. Sie waren stark, weil sie einander hatten.
Esme war die Allererste von Malcolms Marionettes. Und die Erste von ihnen, die starb und das Dreieck ohne eine seiner scharfen Kanten zurückließ.
Emberlyn sah auf ihre Schuhe, die knapp über dem Fluss baumelten, während ihre Gedanken abschweiften. Die ersten paar Tage ohne Esme – als die Gewissheit über ihren Verlust immer präsenter wurde – hatten sich wie ein Traum angefühlt. Ein Albtraum, aus dem Emberlyn am liebsten schreiend aufgewacht wäre. Aber wenigstens war Aleida immer bei ihr gewesen. Sie war immer da, um sie aus den dunkelsten Winkeln ihrer eigenen Gedanken herauszuholen. Ganz gleich, wie stark Aleida von ihrer Trauer überwältigt wurde, sie konzentrierte sich immer auf Emberlyn und verdrängte ihre eigene Verzweiflung, um die ihrer Schwester zu lindern.
Für einen Moment würde sie von Dankbarkeit für Aleida überwältigt. Dafür, dass diese hoffnungslosen Momente durch die Liebe ihrer besten Freundin gemildert wurden, bevor Emberlyn wieder von ihrer Traurigkeit verschluckt wurde.
«Ich habe nicht glauben wollen, dass es wieder passiert. Ich habe die Zeichen gesehen. Die allmählich krummer werdende Haltung, die Erschöpfung in ihren Augen … Ich habe so sehr gehofft, dass es nicht das war, was ich befürchtete. Heathers Symptome waren denen von Esme ähnlich, aber sie zerfiel nicht auf die gleiche Weise. Nach einer Weile dachte ich, dass sie es vielleicht bezwungen hatte oder dass es etwas ganz anderes war. Eine Art Krankheit, von der sie sich erholen würde.» Emberlyn schüttelte den Kopf, ihr Atem wurde vom Wind gestohlen, während die Trauer, die sie zu unterdrücken versuchte, in ihrer Kehle kribbelte. «Ich schätze, die Hoffnung war naiv von mir. Der Fluch muss bei jedem von uns anders wirken. Er tötet uns alle zu seinen Bedingungen.»
«Warum?», fragte Aleida wehmütig. «Warum bringt er uns um?»
Emberlyn hatte sich das auch schon gefragt. Malcolm hatte ihnen nur wenig über den Fluch erzählt, nur, dass sie ihm gehörten, damit sie nach seinem Willen auftreten und er sich an ihren Talenten und Fähigkeiten bereichern konnte. Als er jünger war, wollte er Ensembleleiter werden, hatte er ihnen eines Abends verraten, als der Alkohol seine Zunge lockerte. Er hatte einen Weg gefunden, um seinen Erfolg und seinen Reichtum zu sichern, um seine Träume zu verwirklichen. Wenn er vorsichtig genug war, wenn er sich nicht zu weit vorwagte, wenn er es sich nur bis zu einem gewissen Grad erlaubte, berühmt und bekannt zu werden, konnte er mit dem, was er tat, durchkommen. Schon seit Jahren war er damit davongekommen.
Emberlyn konnte nicht sagen, wie genau er diesen Fluch beherrschte, aber sie wusste, dass er seine Macht immer weiter ausbaute. Er hatte es geschafft, die Grenzen der Kontrolle so weit zu verschieben, dass die Marionettes niemandem von ihrem Fluch, Malcolm oder dem, was passiert war, erzählen konnten, der nicht schon im Bilde war. Malcolm hatte auch betont, dass es ein Fehler wäre, wegzulaufen. Er hatte ihren Fluch so stark werden lassen, dass er es merken würde, wenn sie zu fliehen versuchten, und sie sofort zurückziehen würde. Dass er es durch die unsichtbaren Fäden, die sie an ihn banden, spüren würde. Dass es eine Strafe geben würde. Emberlyn konnte nicht sicher sein, ob er die Wahrheit sagte oder ob es nur eine Taktik war, um sie in Schach zu halten. Sie konnte nur hoffen, dass sein Einfluss nicht so weit reichte, wie er behauptete, dass er, wie beim Tod ihrer Schwestern, keine wirkliche Kontrolle darüber hatte.
Aber es schien, als wüsste Malcolm noch nicht, wie er verhindern konnte, dass ihm diese Macht durch die Finger glitt. Er hatte keine Ahnung, wie er den Fluch davon abhalten konnte, seine wertvollen Marionettes zu verbrennen, sie mit seiner schieren Brutalität zu verzehren.
Noch ehe Emberlyn Aleidas Frage beantworten konnte, erschraken die beiden Marionettes, als das Geräusch von Rädern den Boden unter ihnen erschütterte und das unwillkommene Grollen eines Motors durch die Luft dröhnte. Sie sahen sich an und zogen sich so weit wie möglich in ihre Kapuzen zurück, bis das Auto vorbeifuhr und das Geräusch wieder verstummte.
«Wir sollten so spät nicht mehr hier draußen sein», sagte Aleida, spähte über ihre Schulter und atmete aus, als das Automobil aus ihrem Blickfeld verschwand. «Ich will nicht riskieren, dass Malcolm wütend wird, wenn wir zu lange weg sind.»
«Wann haben wir sonst die Gelegenheit, vom Theater wegzukommen? Außerdem ist er jetzt bestimmt schon betrunken. Es tut gut, einfach mal durchzuatmen. Für ein paar Momente keine Marionette zu sein.» Wie um ihren Standpunkt zu bekräftigen, nahm Emberlyn einen kräftigen Atemzug. Hier am Hulliver River schmeckte die frische Luft voller. War eher von Salz als von Staub durchdrungen.
Aleida wandte sich von der Straße ab. Einige Augenblicke erfüllte nur das Plätschern des Flusses gegen die Betonmauer die Stille.
«Du weißt, was das bedeutet, nicht wahr?», flüsterte sie, ihre dunklen Augen groß und eindringlich, als sie zu Emberlyn blickte.
Der Schmerz verzog ihren Mund zu einem makabren Lächeln. «Der Fluch tötet uns, und zwar nicht in der Reihenfolge, in der wir uns zusammengeschlossen haben. Jede von uns könnte die Nächste sein.» Sie schluckte die Angst hinunter, die in ihrer Kehle aufstieg. «Das könnte aber auch bedeuten, dass wir noch Jahre übrig haben, du und ich. Wir wissen es einfach nicht.»
Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen den Mädchen. Bis Aleida ihre nächsten Worte so leise flüsterte, dass Emberlyn sie fast nicht hörte. «Vielleicht holt er mich als Nächste.»
«Bitte sag so etwas nicht.» Emberlyns Stimme brach. Aleida stieß einen erstickten Laut aus und sprang auf die Füße. Emberlyn erhob sich ebenfalls, als Aleida begann, hin und her zu tigern.
«Ich habe es so, so satt, Ember.» Aleidas Stimme zitterte. «Ich habe es satt, für Malcolm zu tanzen, nicht essen zu können, was ich will, immer nur dorthin zu gehen, wo er es mir erlaubt, und nirgendwo anders hin. Ich bin es leid, das Gefühl zu haben, dass mein Körper nicht zu mir gehört, diese … diese … Fäulnis in mir. Ich bin es leid, Angst zu haben, ich bin das Theater leid, ich bin es leid, nichts anderes tun zu können, als für unsere Schwestern eine tapfere Miene aufzusetzen. Ich will, dass sich etwas ändert. Ich halte es hier nicht länger aus.»
Emberlyn beeilte sich, ihre Arme um Aleida zu legen, die in Tränen ausbrach. Sie schluchzte in den schweren Stoff von Emberlyns Mantel und zitterte, als der Kummer sie überwältigte. Aleida hatte sie oft genug gestützt – jetzt war es an Emberlyn, ihre Freundin vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren.
«Ich weiß, ich weiß», murmelte Emberlyn, über den Klang von Aleidas Verzweiflung hinweg.
«Ich halte es nicht mehr aus», wiederholte Aleida. Ihre Stimme war gedämpft und entrückt. Schwermütig, als hätte sie aufgegeben.
Emberlyn schob sie sanft von sich weg, damit sie sie ansehen konnte, aber Aleida senkte den Kopf, und ihr Schluchzen verklang zu einem Schniefen. Emberlyn legte ihre Hand unter Aleidas Kinn und zwang sie, sie anzusehen. Beim Anblick von Aleidas blutunterlaufenen Augen drehte sich ihr der Magen um.
«Wir können versuchen zu entkommen», raunte Emberlyn. «Wir können versuchen, unser Leben zurückzugewinnen.»
Aleida starrte sie einen Moment lang an, bevor sie ein schrilles Lachen ausstieß, bei dem Emberlyn zusammenfuhr. Aleida löste sich und schüttelte den Kopf.
«Oh, Ember.» Sie trat einen Schritt zurück. «Ich liebe dich wie eine echte Schwester, aber manchmal muss ich über deine Naivität lachen.»
«Nein, hör zu, ich habe mir die Landkarten angesehen, um den besten Weg nach draußen zu fin…»
«Komm schon», unterbrach Aleida. «Lass uns zurückgehen. Es hat keinen Sinn, in der Kälte zu trauern.»
Emberlyn biss sich auf die Zunge, aber sie ließ sich vom Flussufer wegführen. Gemeinsam traten sie den langsamen Weg zurück zum Manrow Theater an, durch leere Straßen, in denen sich die Dunkelheit sammelte.
Einige Minuten lang schwiegen sie, die Augen auf das funkelnde Sternenlicht jenseits der hoch aufragenden Gebäude gerichtet, bevor Emberlyn es erneut versuchte.
«Wir können nicht wissen, wie umfassend dieser Fluch gewirkt ist, das gebe ich zu.» Aleida schüttelte erneut den Kopf, blieb aber stumm. «Vielleicht sagt Malcolm die Wahrheit und ist in der Lage, uns aufzuspüren, wohin wir auch gehen, und uns zurückzuholen, wenn wir uns zu weit von ihm entfernen.» Emberlyn ballte die Fäuste in ihren Taschen. «Ich habe mich damit abgefunden, dass wir keine Ahnung haben, was passiert, wenn wir fliehen, weil niemand es bislang versucht hat. Zu groß ist die Angst vor Malcolms Drohungen. Keine von uns ist je weit genug aus Malcolms Fängen herausgekommen, um zu wissen, ob man sich aus seinen Stricken befreien kann.»
Aleida starrte mit angespanntem Kiefer auf ihre Füße. Emberlyn nahm ihr Schweigen als Ermutigung und fuhr fort.
«Aber ich weigere mich zu glauben, dass es keinen Ausweg aus der Sache gibt. Wenn wir weit genug weg sind, bevor Malcolm merkt, dass wir weg sind, hat er vielleicht keine Kontrolle mehr über uns. Der Fluch könnte versagen. Und vielleicht löst er sich eines Tages einfach in Luft auf.» Das war die Theorie, auf die sie jede einzelne ihrer zaghaften Hoffnungen setzte. Sie griff nach Aleidas Ellenbogen, als sie weitergingen. «Wir könnten unser Leben zurückbekommen, Aleida. Ist das nicht das Risiko wert, Malcolms Zorn auf sich zu ziehen?»
«Glaubst du wirklich, Malcolm würde uns erlauben, so wie jetzt durch New Kora zu spazieren, wenn wir alle einfach … davonlaufen könnten?» Sie schüttelte Emberlyns Arm ab, während sie sprach.
Emberlyn schnaubte, sprang nach vorne und drehte sich um, um sich Aleida in den Weg zu stellen. «Er kontrolliert uns durch Angst, genauso wie er es mit seinem Fluch tut. Sieh uns jetzt an. Sieh dir an, wo wir sind. Was soll uns jetzt denn aufhalten?»
Aleida schüttelte traurig den Kopf, als sie abrupt zum Stehen kam. «Uns ist nichts passiert, Emberlyn, weil wir nichtweglaufen werden», sagte sie mit einer Stimme, die vor Trauer überquoll. Ihr Blick wanderte an Emberlyn vorbei ins Leere. «Es gibt einen Grund, warum er uns erlaubt, das Theater zu verlassen, um unsere Schwestern zu begraben. Ich glaube, er sagt die Wahrheit, wenn er behauptet, dass er uns jederzeit zurückholen kann, dass er den Moment erkennt, in dem wir es wagen, und uns dafür bestraft. Gott weiß, was er uns dann antun wird. Ich für meinen Teil möchte das nicht herausfinden.»
Emberlyn spürte, wie ihre Schultern absackten. Sie verstand diese Angst. Ja, wirklich – dieses unergründliche Grauen, das nur wenige Zoll jenseits eines Fluchtversuchs wartete. Sie hatte Nacht für Nacht mit dieser Angst getanzt, in den Augenblicken, in denen sie sich sicher fühlte zu fliehen. Aber schon im nächsten Moment hatte die Angst vor dem, was Malcolm tun könnte, ihre Krallen durch Muskeln und Fleisch getrieben und sie dort festgehalten, wo sie zusammengerollt in ihrem Bett lag. Völlig erstarrt. Unfähig, sich zu retten.
Der Fluch der Marionettes sorgte dafür, dass sie immer unversehrt blieben. Er sorgte dafür, dass sie bei jedem Schmerz das Bewusstsein behielten, heilte jeden blauen Fleck und jede Schnittwunde nur wenige Augenblicke, nachdem sie sich an der Oberfläche gebildet hatten. Damit die Marionettes nie weniger als perfekt aussahen. So zeigten ihre Körper nie die Spuren des verdorbenen Kerns, der sich unter Malcolms charmanter Oberfläche verbarg. Es widerte Emberlyn an, wenn sie daran dachte, was Malcolm ihnen antun würde, wenn er sie bei einem Fluchtversuch erwischte. Wie er sie foltern könnte, ohne das Versprechen, sie mit dem Tod zu erlösen.
Der Schrecken hatte sich bereits so tief in ihre Knochen gegraben, dass sie sich fast wie betäubt fühlte. So sehr, dass sie bereit war, sich ihm zu stellen. Denn was, wenn es ihnen gelang zu entkommen? Was, wenn Emberlyn recht hatte und die Angst vor dem, was sein könnte, und nicht vor dem, was tatsächlich war, zwischen ihnen und ihrem Leben stand?
«Lohnt es sich nicht, es zu riskieren? Ich meine, denk doch nur einmal darüber nach. Wir könnten aus New Kora verschwinden, die Hilfe finden, die wir brauchen, und sie dann mitbringen, um den Rest unserer Schwestern zu retten. Dann könnten wir nach Itzak gehen und deine Familie finden …»
Aleida hob die Hand, in ihrem Blick ein flehender Appell an Emberlyn, aufzuhören. «Bitte, nicht. Du weißt, dass ich mich nicht an meine Familie erinnern kann. Es gibt nichts, was ich noch habe, keine einzige Erinnerung. Der Fluch hat sie mir vor langer Zeit geraubt.»
Emberlyn schluckte, scharrte mit den Füßen und schwieg.
«Außerdem», fuhr Aleida fort, «haben sie keine Ahnung, dass etwas nicht stimmt, dank der Briefe, die Malcolm uns schreiben lässt. Sie halten uns doch für verrückt, wenn wir mit diesen wilden Behauptungen bei ihnen auftauchen.»
«Vielleicht ja auch nicht! Alles ist möglich», platzte Emberlyn heraus und gestikulierte energisch. «Ich bin bereit zu gehen, aber ich warte auf dich, Aleida. Ich gehe nur zusammen mit dir weg. Wir müssen einfach tapfer sein.»
Aleida starrte sie an, Schmerz kroch durch ihre Miene. Emberlyn schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln. Aufregung und Erwartung, was alles möglich wäre, pochten gegen ihren Brustkorb und durchzuckten sie wie Feuer.
Hoffnung. Flucht.
Ein Leben ohne Malcolm.
«Lass es uns tun», flüsterte Emberlyn. «Lass uns abhauen. Nur du und ich.»
Doch Aleida runzelte die Stirn. «Wie kannst du nur daran denken, unsere Schwestern zu verlassen?»
Emberlyns Brust schnürte sich zusammen.
Sie wollte sie nicht verlassen. Sie hatte jede von ihnen beschützt, als sie in dieses Leben gezwungen wurden. Sie hatte sie jede Nacht in den Arm genommen, wenn sie aufgewacht waren und nach ihren Familien und ihrem verlorenen Leben geschrien hatten. Esme hatte dasselbe getan – sie hatte sie festgehalten, bis all die Gesichter aus ihren Köpfen verschwunden waren und die Marionettes sich kaum noch daran erinnern konnten, um wen sie geweint hatten. Sie liebte sie alle von Herzen.
Emberlyn schaute auf ihr Handgelenk hinunter. Ein dünnes, bronzenes Armband drückte gegen ihre Adern. In das Metall waren Buchstaben eingraviert, die einen Namen verkündeten, den sie nicht kannte. Florisa. Es gehörte zu einer Person, von der sie sicher war, dass sie sie einmal geliebt hatte, an die sie sich aber nicht mehr erinnern konnte. Jemanden, den sie vielleicht finden könnte, wenn sie nur mutig genug wäre, sich auf die Suche zu begeben. Sie rieb mit dem Daumen darüber und spürte die Einkerbungen des Namens. Kraft durchflutete sie.
«Wenn wir alle zusammen versuchten zu fliehen, kann ich dir garantieren, dass wir innerhalb von sechs Stunden wieder in seinen Fängen wären und bis zur Besinnungslosigkeit gefoltert würden. Wenn wir allein sind, nur du und ich, haben wir eine bessere Chance. Sobald wir wissen, dass es für uns sicher ist, kommen wir zurück und holen sie. Wir könnten Alarm schlagen und irgendjemanden schicken, um sie zu retten. Wenn wir sie dafür jetzt im Stich lassen, kann ich damit leben.»
Aleida blinzelte, bevor sich ein trauriges Lächeln auf ihr Gesicht schlich. Sie trat um Emberlyn herum. «Nun, ich kann es nicht. Ich lasse sie nicht einen Moment mit ihm allein», hauchte sie. «Das ist es nicht wert, dass Malcolm sie für unsere Flucht bestrafen könnte.»
Emberlyn drehte sich auf dem Absatz um und sah zu, wie Aleida sich von ihr entfernte, während die klaffende Wunde in ihrer Brust, die Esme hinterlassen hatte, pochte. Aleida wandelte wie ein Gespenst in die Dunkelheit, die Schatten der Nacht verschluckten sie, als sie den Straßen zurück zum Theater folgte. Zurück zu Malcolm und dem endlosen Tanzen – zu dem Leben, das sie unweigerlich führen mussten. Emberlyn nahm einen tiefen Atemzug. Schließlich folgte sie Aleida, einen zögernden Schritt nach dem anderen.
Das war noch nicht das Ende der Geschichte. Das durfte es nicht sein, nicht wenn sie jetzt wussten, dass sie langsam in die endlose Nacht des Todes getrieben wurden. Emberlyn musste Aleida überreden, mit ihr zu gehen, bevor der Fluch sie beide vollständig verschlang. Bevor er ihren Verstand, ihre Körper, ihre Seelen zerstörte – all das, was Malcolm ihnen wegnehmen wollte. Sie mussten genug Abstand zwischen sich und ihn bringen, damit sein Fluch sie nicht mehr kontrollieren konnte.
Wenn sie nicht flohen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten, welche Schwester als Nächstes fallen würde.
Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass der Tod sie holte.
Der Tanz der Marionettes
Emberlyns Erinnerung an ihr Leben, bevor sie eine Marionette wurde, setzte sich aus einzelnen Bruchstücken zusammen. Während den anderen alles gestohlen wurde, hatte Emberlyn kleine Scherben behalten, deren Ränder gezackt waren wie Teile eines zerbrochenen Spiegels. Nicht wiederzuerkennen und doch vertraut. Aus nächtlichen Gesprächen wusste sie, dass sie die Einzige war, die es geschafft hatte, etwas aus ihrer Vergangenheit zu bewahren, und sei es noch so brüchig. Sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete, warum es nur ihr so erging, aber sie hatte die Absicht, die Teile nie wieder loszulassen. In ruhigen Momenten spielte sie das, woran sie sich erinnern konnte, immer wieder in ihrem Kopf ab, wie den Refrain ihres Lieblingsliedes.
Ein Stadthaus in einer verschlafenen Straße. Das Quietschen eines Eisentors, das sich schließt, ein Schlüssel, der im Schloss der Eingangstür klimpert. Ein kleines Theater am Rande einer belebten Stadt, vor einem Hintergrund aus dunkelorangefarbenen Bäumen. Zerbrochen, aber vertraut.
Sie wusste, sie hatte nicht viel, doch sie wusste auch, dass sie glücklich gewesen war, mit einem Kopf voller Träume und Ziele. Da war keine Angst in ihrem Herzen, wenn sie versuchte, sich an ihr früheres Leben zu erinnern, auch wenn die Gesichter ihrer Familienmitglieder wie verschmierte Malereien aussahen. Sie dachte wieder an das Armband, das sie nur bei sich trug, wenn sie sicher war, dass Malcolm es nicht zu sehen bekam. Ihre Finger wanderten zu ihrem Handgelenk und strichen über die nackte Haut, wo sie es immer trug.
Sie erinnerte sich ans Tanzen.
Sie erinnerte sich an das Hochgefühl, wenn sie ihre Arme zur Decke streckte, an die Stille in den Reihen mit den Samtstühlen, an den gewölbten Rücken und an die gestreckten Zehen. Die befriedigende Dehnung in ihren Gliedern, die geschlossenen Augen, wenn die Musik, die sie nicht mehr rekonstruieren konnte, über Berggipfel hinwegschwoll. Die Harmonie, wenn sie sich im Takt mit anderen Tanzenden bewegte, als wären sie ein lebendiger Fluss – aber deren Gesichtszüge vage blieben, auch wenn einige von ihnen ihre Freundinnen und Freunde gewesen sein mussten.
Die Welt verschwamm, als sie sich drehte und drehte, das Publikum verschmolz mit der Kulisse, die Kulisse wiederum mit der Dunkelheit des tobenden Publikums. Sie wirbelte und wirbelte und …
Und Malcolms Augen auf ihr. Hungrige Augen.
Verzehrende Augen.
Sie hatte berühmt werden wollen. Es war ein Feuer der Sehnsucht, das man nicht vergessen konnte und das durch den Nebel brannte, der jetzt über ihr waberte. Ein tiefes und verzweifeltes Verlangen nach so vielen Dingen. Ihr Name auf Plakaten weit und breit und auf den Lippen von Fremden. Das verzückte Schweigen des Publikums, das ungläubig auf die Magie blickte, die ihr Körper erzeugte, wenn sie allein auf der Bühne tanzte. Emberlyn hatte gewollt, dass die Welt sich ihr zu Füßen legte.
Das meiste davon war wahr geworden. Aber sie hatte es sich nicht so gewünscht. Niemals so.
«Willst du Ruhm, Mädchen?», hatte Malcolm ihr aus den Schatten zugeflüstert. «Ich sehe das Potenzial in dir. Ich könnte aus dir die größte Tänzerin machen, die die Welt je gesehen hat.»
So wie er sie aus der Dunkelheit heraus beobachtete und ihr alles versprach, was sie wollte, gab es nur eine Antwort, die sie ihm hatte geben können. Und ihre Worte hatten ihr Schicksal besiegelt.
«Mehr als alles andere», hatte sie dem Schattenmann zugeflüstert.
Malcolms raubtierhaftes Grinsen war noch breiter geworden. «Das ist alles, was ich hören wollte.»
Sie hatte nicht gewusst, worauf sie sich einließ. Sie hatte nicht gewusst, dass sie ein Monster einladen würde.
Emberlyn starrte sich im Ankleidespiegel an, ihre vernichtenden Worte dröhnten ihr in den Ohren. Ihre Augen waren blutunterlaufen, weil sie sich die ganze Nacht herumgewälzt und mit den Scherben der Erinnerungen gekämpft hatte, die sich durch ihr Herz bohrten. Ihre blasse Haut hatte einen kränklichen Ton angenommen.
Esme war weg.
Heather war auch nicht mehr da.
Emberlyn hingegen war noch hier.
«Zehn Minuten bis zur Vorstellung.» Die Stimme des Bühnenarbeiters drang durch die Tür, und Emberlyn schüttelte ihre Trance ab.
Sie saß an einem Schminktisch in einem von Spiegeln gesäumten Raum, und das Licht überwältigte ihre Sinne. Die Marionettes waren damit beschäftigt, ihren eleganten Outfits den letzten Schliff zu verpassen, dunklen Lidschatten aufzutragen und Rot auf die Lippen zu malen. Es herrschte keine freudige Erregung unter diesen schönen Tänzerinnen. Es gab kein helles Lachen und keine Witze, die hin und her geworfen wurden, wie Emberlyn es aus ihrem alten Leben in Form von unbestimmten Klangschnipseln kannte. Hier gab es nur das Gemurmel einer gedämpften Unterhaltung. Das Akzeptieren dessen, was gleich geschehen würde. Eine tiefe, erdrückende Trauer, die sie überfiel, wenn sie aus Versehen auf Heathers leeren Stuhl schauten; ein Anblick, der alles in den Hintergrund drängte.
Emberlyn tauchte ihren Finger in einen Tiegel mit zerstoßenen Rosenblättern und tupfte die Paste ein letztes Mal auf ihre Lippen, bevor sie ihre Erscheinung überprüfte. Sie runzelte die Stirn und zupfte wütend an den feuerroten Locken, die ihr bis zur Taille fielen. Ihr Haar war immer noch nicht gut genug, immer noch zu wild.
«Komm. Lass mich.» Aleida erschien neben ihr und schob Emberlyns Hand beiseite. Das Mieder von Aleidas cremefarbenem Kleid glitzerte im Licht der Garderobe, was ihre Haut zum Leuchten brachte, und der Duft ihres Rosenparfüms kitzelte in Emberlyns Nase. «Du musst mit deinen Fingern sanft hindurchfahren, etwa so. Ich zeige es dir jeden Abend», sagte sie mit einem kleinen, tadelnden Lächeln. Emberlyn begegnete Aleidas warmem Blick im Spiegel und ließ sich in ihren Stuhl zurücksinken.
«Mein Haar gehorcht mir nicht», seufzte sie.
«Das würde es, wärest du netter und hättest es nicht wie einen Laubhaufen beharkt.»
Emberlyn konnte sich ein kleines Lachen nicht verkneifen, bevor sie wieder in Schweigen verfielen. Sie sah Aleida dabei zu, wie sie ihre Locken trennte, bis sie ihr sanft über die Schultern fielen.
«Ist zwischen uns alles okay?», flüsterte Emberlyn. Sie hatte nicht aufgehört, über ihren Austausch gestern Abend nachzudenken. Aleidas erbitterte Weigerung, mit ihr zu fliehen, und ihr Gesichtsausdruck, als sie weggegangen war. Aleidas Blick zuckte hoch von Emberlyns Haar, und sie riss überrascht die Augen auf.
«Natürlich ist alles okay, du dumme Gans. Zwischen uns ist immer alles gut. Immer!»
Emberlyn nickte, obwohl sie sich nicht dazu durchringen konnte, wieder zu lächeln. Nicht, wenn es sich anfühlte, als wäre das hier für immer. Nicht, wenn sie festsaß und erst dann gehen konnte, wenn Aleida zustimmte, mit ihr zu fliehen. Jetzt konnte Emberlyn nicht mehr sicher sein, ob Aleida überhaupt jemals dazu bereit wäre. Bald würden sie Zeuginnen einer weiteren Verfluchung werden, sobald sich Malcolm eine neue Marionette ausgesucht hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das aushalten sollte. Stattdessen schluckte sie einfach und nickte erneut, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte.
Aleida beugte sich vor und schlang die Arme behutsam um Emberlyns Schultern, ohne die Locken dabei durcheinanderzubringen. Dann griff sie nach dem Opal-Diadem, das auf der Frisierkommode lag, und fixierte es behutsam auf Emberlyns Kopf. Das Schmuckstück schimmerte in verschiedenen Rosa-, Blau- und Grüntönen, abhängig davon, wie das Licht darauf fiel.
Emberlyn hasste dieses Ding. Es kennzeichnete sie als Malcolms Primaballerina. Der Star seiner Show. Wenn sie auf der Bühne stand, war sie als Königin eines fernen Landes kostümiert, eine Rolle, die ihr den Spitznamen «Prinzessin von New Kora» eingebracht hat.
«So. Fertig», sagte Aleida sanft und trat zurück, damit Emberlyn aufstehen und sich im Spiegel betrachten konnte.
Ein eisweißes Kleid, das ein ganz eigenes Licht auszustrahlen schien, funkelte dort, wo es sich an Emberlyns Körper schmiegte. Es mündete in einem überschwänglich ausladenden Tüllrock, der so weit reichte wie ihre ausgestreckten Arme. Auf ihren Spitzenschuhen aus Seide mit versteiftem Vorderteil und Bändern, die um ihre Waden gebunden wurden, befand sich nicht ein einziges Staubkorn. Emberlyn überprüfte ihre Standfestigkeit in den Schuhen, dehnte ihre Muskeln, bis sie angenehm brannten, und verlagerte ihr Gewicht auf die Zehen.
Es klopfte erneut an der Tür, und die Stimme des Bühnenarbeiters erklang. «Ihr seid dran, Ladys!»
Mit raschelnden Röcken und in einem Wirbel aus vanillefarbenem Puder erhoben sich die restlichen Marionettes, verwandelt waren ihre bloßen Gesichter und die einfachen Kleider, die sie üblicherweise trugen. Prüfend strichen sie an ihren Kostümen entlang, obwohl keine von ihnen weniger als perfekt war. Anders als bei Emberlyn waren deren langen Locken zu parfümierten Kränzen geflochten, ihre Haut war so samtig gepudert, dass man bei einer Berührung glauben konnte, man würde mit den Fingerspitzen über ein Rosenblütenblatt streichen.
Emberlyn und Aleida bildeten das Schlusslicht und folgten ihren Schwestern durch die engen Gänge des Theaters. Die Outfits von Aleida und den anderen Marionettes waren weniger strahlend und extravagant als das von Emberlyn. Während Emberlyn als Prinzessin gekleidet war, waren die anderen nur Adelige, schmachtende Damen, die auf der Bühne verzweifelt um Emberlyns Aufmerksamkeit buhlten. Malcolm wollte, dass seine wichtigste Marionette, seine Prinzessin, herausstach. Falls ihre Haare allein das nicht schafften, tat es das blendende Glitzern ihres Kleides ganz sicher.
Aber die anderen missgönnten Emberlyn ihre Position nicht. Malcolms Bevorzugung.
Sie bedauerten sie dafür.
Als die Marionettes die Seitenflügel der Bühne betraten, pausierte das geschäftige Treiben. Die Bühnenarbeitenden, die dort schon seit Jahren im Einsatz waren, hielten inne, um den herrlichen Anblick der Marionettes auf sich wirken zu lassen. Emberlyn blickte geradeaus, all die Aufmerksamkeit perlte an ihr ab. Sie war sich sicher, dass der Fluch, der durch ihr Blut floss, die Marionettes noch verführerischer erscheinen ließ. Dass die dunkle Magie, die aus ihren Körpern hervorschimmerte, andere dazu verfluchte, ihrem Verlangen nach ihnen zu erliegen. In ihrem Neid zu versinken.
Als sich die Marionettes zusammenscharten und auf den Beginn der Aufführung warteten, entfernte sich Emberlyn. Sie konnte es noch nicht ertragen, bei ihren Schwestern zu warten. Nicht, wenn dort, wo Heather hätte stehen sollen, ein leerer Fleck war. Stattdessen zog sie den Rand des Vorhangs zurück, der die Bühne vom Publikum abschirmte, und spähte in die Dunkelheit hinaus.
Dort wogte eine Masse an Leibern. Gesichtslose Menschen, deren Mienen von den Schatten und dem flackernden Licht verdunkelt wurden, das immer wieder aufblitzte. Grinsende Münder, das Weiß schimmernder Augen, Röcke und Anzüge und Gelächter, das im Dunkeln wie das Geschnatter aus Albträumen klang, unterlegt mit dem Geruch von Hunderten von Parfüms und teuren Weinen. Emberlyn ließ den Vorhang los, ihr drehte sich der Magen um.
«Marionettes.» Eine widerlich süße und dröhnende Stimme ertönte und lenkte Emberlyn von der Beklommenheit ab, die sich in ihr aufzubauen begonnen hatte. Der Fluch zuckte unter ihrer Haut, als sie die Stimme hörte, und sie fieberte darauf zu gehorchen.
Malcolm betrat den Trakt, und seine Augen funkelten, als die Marionettes ihre Schultern geradezogen, bevor er es für sie tun konnte. Er trug einen Anzug so schwarz wie die Nacht, ein weißes Hemd und einen blutroten Kummerbund, einen Gehstock in der Hand und einen Zylinder auf dem Kopf. Sein Schnurrbart war zu einer perfekten Linie getrimmt.
Er grüßte die Angestellten des Theaters, schüttelte ihnen die Hände, schenkte ihnen sein strahlendes Lächeln und berührte herzlich die Schultern derer, bei denen er innehielt, um mit ihnen zu sprechen. Er nickte denen zu, die ihm ihr verführerisches Lächeln schenkten und die eifrig miteinander flüsterten, während er seinen Weg fortsetzte.
«Ah!» Malcolm stellte sich einem Mann in den Weg, der mit einem Sandsack auf dem Arm vorbeieilte. «Vergiss nicht, dass die Bühne zwischen der Matinee und der Abendvorstellung am Samstag für das Vortanzen hergerichtet werden muss. Wir wollen doch einen guten Eindruck bei den Bewerberinnen hinterlassen, oder?» Der Mann nickte und setzte sich wieder in Bewegung, während Malcolm ihm auf den Oberarm klopfte und die letzten Schritte zu den Marionettes zurücklegte.
Seine Blicke wanderten an ihren Körpern auf und ab, suchten nach Irritationen, nach allem, was nicht perfekt war, und er murmelte seine Zustimmung, als er nichts fand. Er blieb vor Emberlyn stehen, und ihr Herz schlug rasend schnell, als er ihr den Kopf zuwandte. Ihre Haut kribbelte vor Abscheu, wo immer sein Blick sie streifte.
«Wie geht es meiner Prinzessin?», fragte er und strich ihr wie immer mit der Hand durch die Haare. Emberlyn zuckte nicht zurück, obwohl sich ihre Muskeln anspannten. Unbeirrt erwiderte sie seinen starrenden Blick, dann nickte sie knapp.
«Es gibt eine geringfügige Änderung bei der Aufführung.» Malcolm drehte sich auf dem Absatz um und ging weiter. «Da eine unserer Marionettes uns so unerwartet verlassen hat.»
Er zuckte bei seiner Lüge nicht mit der Wimper. Sein Gesichtsausdruck, sein Tonfall und seine Bewegungen verrieten nichts von dem Geheimnis, das er hütete. Das alle Marionettes für sich behalten mussten. Sie hatten die Lippen zusammengepresst, ihre Kiefer waren angespannt, aber niemand wagte es, ein Wort des Widerspruchs zu äußern – niemand konnte das in Gegenwart von anderen. Emberlyn spähte zu den Theaterleuten, die stehen geblieben waren, um zuzuhören. Ihre Blicke schweiften über die einzelnen Marionettes, zählten und kamen auf eine weniger.
«Folgt Emberlyns Führung», erklärte Malcolm weiter. «Schwärmt aus, um den ganzen Raum einzunehmen. Die Aufführung wird dadurch nicht beeinträchtigt.»
Emberlyn unterdrückte ein scharfes Auflachen. Malcolm sah sie ein letztes Mal an. «Viel Glück, ihr alle.» Er drehte sich zu Emberlyn um. Sie versteifte sich, als er sich zu ihr beugte, und ihr Magen krampfte sich zusammen, als sein saurer Atem über ihr Ohr strich.
«Und mach dir keine Sorgen, Emberlyn. Ich bin sicher, die Menge wird kaum bemerken, dass Heather fehlt.»
In Emberlyns Brust flammte angesichts seiner Gefühllosigkeit helle Wut auf. Bevor sie sie dämpfen und ihr Feuer zügeln konnte, beugte sie sich ebenfalls zu ihm hin.
«Fahr zur Hölle», flüsterte sie zuckersüß. Sie konzentrierte sich auf seinen Gesichtsausdruck und hielt den Atem an, um zu sehen, ob sie es zu weit getrieben hatte.
Aber Malcolm lehnte sich zurück, und seine Brust bebte, als er in schallendes Gelächter ausbrach, das in den Seitenflügeln widerhallte. Emberlyns Miene verdüsterte sich, und ihre Hände zuckten, als wollte sie ihm an die Gurgel springen, auch wenn sie erleichtert war, als er sich abwandte und seinen Platz hoch über der Bühne erklomm. In seine Loge, wo er vor den Augen des Publikums die Position des Puppenspielers einnahm.
Das Lachen folgte Emberlyn, als Aleida sich an ihre Seite schob und ein letztes Mal tröstend ihre Hand drückte – so wie es ihre Tradition kurz vor dem Auftritt war. Dann schritt Emberlyn davon, um allein auf der Bühne die erste Position einzunehmen. Sie zitterte vor Wut und Adrenalin, als sie darauf wartete, dass sich der Vorhang hob.
Sie wartete darauf, dass der Fluch, der in ihr schlummerte, an die Oberfläche stieg und die Kontrolle übernahm.
Der Vorhang hob sich unter Beifall und Pfiffen. Emberlyn stand in der Mitte der Bühne, den Körper gebeugt und bereit, sich aufzurichten, als zöge man an einer Schnur. Ihr Gesicht war dem Boden zugekehrt, als der Applaus abebbte und eine erwartungsvolle Stille eintrat. Die Zuschauenden schwiegen, als sie den Anblick des Mädchens vor ihnen bestaunten – selbst diejenigen, die schon tausendmal gekommen waren, um dem Tanz der Marionettes beizuwohnen.
Hinter Emberlyn prangte eine aufwendig gestaltete Kulisse – ein stiller See, eingebettet in eine Schneelandschaft mit sanften Hügeln. Eiszapfen glitzerten an den Ästen, der Schnee schmolz von den Blättern, und die Details waren so filigran, dass man jede einzelne Schneeflocke erkennen konnte. Die untergehende Sonne tünchte den Horizont in ein sattes Rot, das dem Glanz von Emberlyns Haar entsprach.
Helle Fäden, so fein wie ein Spinnennetz, erschienen aus dem Nichts. Sie schlangen Knoten um Emberlyns Handgelenke, um jeden Finger, um ihre Knöchel, bis jedes Glied so aufgespannt war, als wäre sie eine Puppe. Eine lebende Marionette.
Malcolm konnte es verschleiern, wenn er seine Marionettes bei Tageslicht kontrollieren musste – und die Fäden des Fluchs so fein werden lassen, dass niemand sie je bemerkte. Aber wenn es darum ging, aufzutreten, brachte er sie zum Leuchten. Er sagte, sie seien Teil des Erlebnisses. Die Zuschauenden würden den Namen des Ensembles nicht verstehen, wenn er das alles nicht in die Aufführung einbeziehen würde.
Malcolm Manrow’s Marvellous Marionettes.