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Trügerische Idylle in Lands End. Ein Herrenhaus. Eine Familie. Ein Komplott. Gloria fühlt sich an manchen Tagen ausgelaugt, schließlich ist sie nicht mehr die Jüngste. Sie ist froh darüber, dass ihre Arbeit in den letzten Jahren immer weniger geworden ist. Doch sie weiß, dass die Ruhe, wenn sie an ihre Familie denkt, bald ein Ende haben wird. Welches Geheimnis verbirgt die alte Frau? Ist sie die Einzige oder wird auch sie bald an ihre Grenzen kommen? Bis zum Schluss ahnt Gloria nicht, wie nah sie ihrem eigenen Zerfall zu sein scheint.
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Seitenzahl: 396
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Widmung
Nach drei Jahren von langen und ideenreichen Abenden ist mein erstes Werk nun endlich da. Ich bin stolz auf mich. Ich habe viele Stunden investiert. Da ich dieses Buch nebenberuflich geschrieben habe, bin ich darauf noch stolzer und mehr als zufrieden mit meiner Arbeit. Ich habe meine Geschichte mehrmals gelesen und finde sie immer wieder an den entscheidenden Stellen spannend und aufregend. Ich danke meiner Mutter und meiner Oma für verschiedene familiäre Inspirationen und meinem Vater für das in die Wiege gelegte Hobby – das Schreiben. Ich danke auch denjenigen, die mich immer wieder darin ermutigt und bestärkt haben weiterzumachen – auch wenn ich mal an einem Tiefpunkt war. Ein besonderer Dank geht an Günther G., der mich wieder ermutigt und motiviert hat, mein erstes Werk zu beenden und mir mit Rat und Tat bei der Entwicklung und Veröffentlichung zur Seite stand. Ich sage danke an den BoD Verlag für die gute Zusammenarbeit. Ein großes Dankeschön auch an Anne, Judith, Frank, Marianne, Margot, Helga, Romano, Mario und alle anderen, die ich jetzt eventuell vergessen haben sollte, für Eure Bereicherung in meinem Leben. Bis zum nächsten Buch.
Euer Marcus
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Wer Unschuldige, Reine schädigt mit Gewalt,
Den trifft wohl eine der zehn schlimmen Folgen bald.
Er leidet herben Schmerz, Entkräftung bis zum Tod;
Auch schwere Krankheit oder Geistesstörung droht.
Der König sucht ihn heim und man verleumdet ihn;
Verwandte sterben und die Habe schwindet hin.
Durch eine Feuerbrunst verliert sein Haus der Tor
Und nach dem Tode steht die Hölle ihm bevor.
Pfad der Lehre
Südengland, Sommer 2008
Sie hatte richtig Wut auf den alten Knacker und diese verschrobene Frau. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte, wen sie mehr hassen sollte. Ihn oder sie. Es war ein perfider Plan. Hätte es nicht eine kleine Unachtsamkeit dieser bösartigen Hexe von Frau gegeben, dann würde sie heute noch seelenruhig weitermachen.
Das konnte sich die junge Frau nicht gefallen lassen. Ihr war egal, ob diese Frau als Kind so gelitten hatte. „Wir haben alle unser Päckchen zu tragen“, fauchte sie die blöde Kuh zuletzt an. Ein Leben lang wurden sie und ihre Schwestern für dumm verkauft. „Sie hätte das Buch nicht einfach liegen lassen sollen. Das war ein Fehler“, sagte die junge Frau mit erregter Stimme zu ihrem Freund.
Ihr Kopf war rot angelaufen und ihr groß gewachsener Freund hatte sichtlich damit zu tun, sie einigermaßen zu beruhigen. Sie hatte am Vortag die brisanten Seiten kopiert und das Buch an den alten Platz zurückgelegt. Doch es war bereits zu spät. Sie wurde von dieser Frau beobachtet.
„Du gehörst nicht zur Familie. Und wirst es auch nie. Hier einfach aufkreuzen. Jahrelang die gute nette Lady. Was haben wir dir getan?“, schrie sie die ältere Frau unmittelbar an.
Sie konnte sich noch genau an den Schreikrampf erinnern und brach danach in Tränen aus und sank zu Boden. Doch diese entsetzliche Frau schaute nur auf sie herab und grinste. „Ich gehör nicht zur Familie? Dass ich nicht lache. Ich bin nicht das Produkt einer billigen Affäre. Schande. Abschaum. Du bist diejenige!“, sagte die ältere Dame in einem bösartigen Ton und mit einem hässlichen Grinsen.
Ihre Knie wurden weich bei den Erinnerungen und sie sank in ihrer Küche auf den Boden, zu Füßen ihres Freundes.
Diese böse Frau, diese Nachricht. Die kopierten Seiten mit der brisanten Offenbarung. Es war ihr alles zu viel geworden.
Wie sollte es jetzt weitergehen? Sollte sie die anderen einweihen? Was war dran an der Behauptung, sie sei aus einer Affäre entstanden?
Ihr Freund half ihr hoch, stützte sie und führte seine auf wackeligen Beinen gehende Freundin ins Schlafzimmer. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie spürte jeden Luftzug, ihr war kalt, sie hatte Gänsehaut.
Ihr Freund ließ sich immer wieder alles genau erzählen. Die Angst, die sie spürte, als sie in dem engen, dunklen Raum stand und dann die bösen Blicke der alten Frau sie trafen. Den stechenden Schmerz, den sie spürte, als sie die Einträge in dem Buch las. Als sie realisierte, dass diese Frau und ihr allseits geliebter Opa für den Tod ihrer Eltern verantwortlich waren.
Ihre Augen waren aufgequollen. Ihr Freund beugte sich über sie und gab seiner Freundin einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Doch sie spürte keine Emotionen mehr in sich. Sie kannte sein Geheimnis schon länger, schwieg aber darüber. Das war so typisch für sie und ihre Familie. Es wurde über alles geschwiegen. Ihr gefiel der Sex mit ihm. Normalerweise. Heute jedoch überkam sie ein Gefühl von Ekel. Sie musste sich plötzlich übergeben. Mitten auf seine teuren Designerschuhe. Er schrie wie wild auf und ging hastig aus dem Zimmer. Sie schaute mit leerem Magen, verkrampftem Gesicht und Spucke am Mund auf den Parkettboden hinunter. Er hatte sie dazu angestiftet, irgendwie an das Geld der Familie zu kommen, damit sie sich absetzen und einen ruhigen Lebensabend zusammen verbringen könnten.
Im Moment hatte sie nur das Gefühl, dass ihr Leben mehr und mehr auseinanderdriftete und er außer Kontrolle geriet.
Er kam mit ernstem Blick zurück ins Schlafzimmer. „Das lassen wir nicht mit uns machen. Die haben uns nicht in der Hand. Wir haben genug gegen sie“, beruhigte er seine Freundin. Sie schaute ihn nichtssagend an. Sie spürte, dass er unruhig war. Hatte er bereits einen neuen Plan?
Da kam ihr plötzlich ein Gedanke. „Ich werde es meinen Schwestern sagen. Ich werde jede anrufen und die Wahrheit erzählen“, sagte sie entschlossen zu ihm. Für einen Moment überlegte die junge Frau, ob sie sich einer Schwester anvertrauen und von ihrem beziehungsweise seinem Plan erzählen solle. Doch sie hatte zu sehr Angst und zu wenig Rückgrat, um dies zu tun.
Er runzelte kurz die Stirn, lächelte sie daraufhin an und legte seine Hand sanft auf ihren Oberschenkel. Er wollte sie an diesem Abend nicht weiter nerven und nach ihrem Plan – das Geld aus dem Firmentresor zu holen und zu verschwinden – fragen. Auch seine sexuelle Lust hielt sich in Grenzen. Er ging aus dem Schlafzimmer, um sie in Ruhe schlafen zu lassen.
Doch sie war jetzt hellwach. Sie setzte sich an den kleinen alten Sekretär, holte mehrere Blatt Papier und Zeitungsartikel heraus und schrieb mit einer goldenen Schreibfeder alle ihr bisher bekannten Fakten nieder. Sie schrieb schon immer gerne. Schon als Kind hatte sie mehrere Brieffreundschaften überall im Land verteilt. Als Schülerin besuchte sie sogar kurzzeitig einen Kalligraphie-Kurs. „Ein Brief ist immer etwas Persönliches“, fand sie. Fast jeder freut sich über ein paar handgeschriebene Zeilen.
Sie malte sich bereits aus, wie jede Einzelne ihrer Schwestern auf die Neuigkeiten reagieren würde.
Von esoterischen Verschwörungen bis hin zu Verfolgungswahn würde jede so ihre Meinung dazu haben.
Sie hatte nur noch keine Idee für die böse Frau und ihren Opa. Ihr Bild von einer heilen Familie war nun endgültig zerstört. Dabei wünschte sie sich so sehr nur diese.
Im Nebenzimmer saß ihr Freund und starrte auf den kleinen Tisch vor ihm. Das Telefon lag still da und das kleine rote Lämpchen für den fast leeren Akku blinkte bereits. Er überlegte, schüttelte den Kopf und stützte dann seine Hände auf die Couch. Im Geiste hatte er schon das ganze Geld verplant. Er würde mit ihr in den Flieger steigen. Irgendwohin. Weit weg. Am besten Asien oder Südamerika. Da, wo niemand sie kannte. Dort, wo es kein Auslieferungsabkommen mit England geben würde. Dorthin, wo rebellische Auseinandersetzungen und Putschversuche in der Luft liegen. Sie würden einen kleinen Bungalow in einem Wald kaufen. Er hatte alles schon mehrere Male im Kopf durchgespielt. Es sollte nicht wie ein Unfall aussehen. Er wollte, dass sie leidet. Er wollte sich an ihrem verstümmelten Körper und den in Blut getränkten Stoffen ergötzen. Er hatte alles so schön geplant. Schon mehrere Male in seinem kranken Kopf durchgespielt. Eines Tages wollte er wieder zurück in seine Heimat kommen. So als wäre nichts geschehen. „Diese Gedanken sind gleich vorbei. Die Tabletten wirken gleich“, sagte er zu sich selbst.
Er nahm das Telefon vom Tisch und wählte mit nervösen Fingern eine Nummer. Als der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung abnahm, begann er zu flüstern. Er bemerkte nicht, dass sie schon eine Weile in der Tür stand und ihn beobachtete. Sie hörte jedes Wort. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie seine Gedanken lesen. Sie musste grinsen und fuhr sich mit den Fingern über ihre roten Lippen. „Für dich muss ich mir auch noch etwas überlegen. Deine Sucht bringt dich noch um“, flüsterte sie leise zu sich selbst und ging zurück ins Schlafzimmer. Sie konnte nicht ahnen, dass es nur der Anfang einer Reihe von schrecklichen Ereignissen sein würde.
Sie schlief sofort ein. In dieser Nacht sollte sie unruhig schlafen und Alpträume haben. Während sie schlief, wachten kalte Augen aus der hinteren Ecke im Raum über sie. Dann wurde die Tür geöffnet und das lose Briefpapier flatterte mit dem Windzug durch den Raum.
Chicago, Januar 1954
Eiskalte Tränen liefen ihr über das blasse, schmale Gesicht. Sie saß eingepackt in einem dicken Pelzmantel ihrer Mutter auf dem frostigen Bordstein und starrte zitternd mit leerem Blick und knirschenden Zähnen auf die schneebedeckte Straße. Die vorbeifahrenden Autos registrierte sie kaum. Eine braune Haarsträhne wehte ihr ins Gesicht und blieb an ihrer rechten rosigen Wange hängen. Sie bemühte sich nicht zu weinen. Sie wollte alles Erlebte einfach nur vergessen. Sie hatte das Gefühl, dass jede Träne in ihrem Gesicht sofort erfror. Jeder Atemzug, den sie tat, schmerzte fürchterlich. Es waren gefühlt eisige minus dreißig Grad Celsius. Und das mitten in der Stadt von Chicago. Das Mädchen konnte sich noch an die Wettervorhersage ein paar Tage zuvor erinnern. Es hatte geheißen, dass Schneesturm und Polarkälte vom Norden her die Städte entlang der großen Seen erfrieren lassen werden. Sie spürte einen solchen Schmerz in ihrer Brust. Ihre Gefühlswelt war einfach nur durcheinander. Am liebsten wäre sie ganz einfach festgefroren, da, wo sie saß.
Aber in den letzten Stunden verspürte sie auch immer mehr das Gefühl von Hass. „Wie kann er uns das nur antun?“, fragte sie sich immer wieder.
Sie wusste, dass ihre Familie eine wichtige Größe im Drogen- und Alkoholmilieu war. Ihr Vater war dabei nicht immer sehr beliebt. Sie verstand allerdings nie, was genau da immer vor sich ging. Ihr Vater sagte immer zu ihr, dass dieses Geschäft nichts für Frauen sei. Mit diesen Worten ließ er sie und ihre Mutter immer daheim zurück. Ihre beiden älteren Brüder begleiteten das Oberhaupt der Familie hin und wieder zu wichtigen Treffen. Das Mädchen erinnerte sich noch, dass ihre Eltern immer wieder Streit hatten. Die Mutter wollte unbedingt, dass die Kinder etwas Vernünftiges aus sich machen und in die Schule gehen sollten. „Sie sind doch noch viel zu jung“, hatte sie immer geklagt. Kaum ausgesprochen, hatte ihre Mutter immer wieder eine Tracht Prügel einstecken müssen. Auch die beiden älteren Brüder hatten kaum noch Respekt vor ihrer Mutter. Und das Mädchen? Die hasste ihre Brüder. Und ihrem Vater konnte sie auch nicht mehr in die Augen blicken.
In jener Nacht hatte er ihre Mutter regelrecht hingerichtet. Während sie schlief. Das ganze Schlafzimmer war voller Blut. Es war bis an die Wand und den Kronleuchter gespritzt. Das Mädchen hatte in einem ihrer vielen Bücher gelesen, dass die Hauptschlagader mit enormem Druck Blut herausstößt, wenn man einen Menschen umbringt, während das Herz noch schlägt.
Sie las gerne und hatte dabei keinen bestimmten Geschmack.
Sie fand es auch nicht merkwürdig, in so jungen Jahren mit blutrünstigen Romanen abends ins Bett zu gehen.
Wieder schossen die eisigen Gedanken durch ihren kleinen Kopf. Wie sie im Schlafzimmer stand. Übermüdet und entsetzt. Sie stand unter Schock. Nur mit einem leichten, dünnen Nachthemd bekleidet stand das kleine Mädchen im Türrahmen und bemerkte nicht, dass es sich vor Schock die Lippen blutig gebissen hatte. Sie starrte auf das blutüberströmte Bett im Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie erkannte ihre Mutter kaum noch, so viel Blut war überall. Es roch unangenehm. Eine Mischung aus Eisen – vom Blut – und von Ruß und abgestandener Luft aus dem alten Wohnhaus, in dem sie wohnten.
Das Mädchen hörte schwere Schritte im Hintergrund. Die beiden Zwillingsbrüder standen in Wintersachen angezogen im dunklen Flur und starrten ihre kleine Schwester aus deren eisigen Augen an. In der Dunkelheit sahen sich die beiden zum Verwechseln ähnlich. Das Mädchen spürte Angst in ihrem kleinen Körper emporkriechen.
Ihr Vater blickte plötzlich um die Ecke und befahl seiner Tochter dort stehenzubleiben.
Sie konnte sich eh kaum bewegen. Sie war regelrecht wie angewurzelt auf dem alten Holzdielenboden. Sie hatte sich schon etliche Male einen Splitter in den Fuß getreten. Auch in dieser Nacht. Ihr Fuß hatte einen Bluterguss, jedoch überwiegte der Schmerz des Anblicks alles andere.
Sie konnte kaum einen Gedanken fassen. Auch Erinnerungslücken ereilten sie. Wo war sie? Was ist passiert?
Plötzlich wurde es heiß. Heiße Flammen schossen auf sie zu. Ein stechender Geruch von Benzin kroch ihr durch die Nase in den Kopf hinein. Ihre Augen brannten von der ätzenden Luft. Dem Mädchen wurde schwindelig.
Doch plötzlich wie auf Knopfdruck wachte sie aus ihrem Tagtraum wieder auf. Sie hörte draußen eine Autotür ins Schloss fallen. Sie drehte den Kopf zum Fenster und sah den Familienwagen davonfahren. Eine Träne lief ihr übers starre Gesicht.
Es war ein klarer Sternenhimmel. Der Mond schien grell. Draußen auf den Straßen lag eine dicke weiße Schicht Schnee. Sie träumte kurz von vergangenen Ausflügen mit der Familie in die Parks zum Rodeln und Schneemannbauen. Plötzlich roch sie Ruß. Sie besann sich. Die Flammen loderten bereits auf dem elterlichen Bett und in den Schränken dahinter.
Ihre Mutter? Alles wurde schwarz und verkohlte. Es stank bestialisch in dem Raum. Auf einmal behielt sie wie von Sinnen ihre Nerven. Ein kurzer Blick auf den Leichnam ihrer Mutter und sie rannte hinaus durch das Feuer. Sie griff einen alten Mantel ihrer Mutter, ihre kürzlich neu auf einem Flohmarkt erstandenen Schuhe und eine kleine Tasche, die sie immer für den Notfall mit allen wichtigen Dingen gepackt hatte. Ihre Mutter hatte ihr das vor einiger Zeit so aufgetragen. Das Mädchen rannte noch schnell in das Wohnzimmer. Hier waren die Flammen noch nicht so weit vorgedrungen. Sie steuerte zielgerichtet auf ein großes Bild zu und versuchte es mit aller Kraft von der Wand zu lösen, bis es plötzlich einfach herunterfiel. Auf der Rückseite war ein altes dickes Buch in den Rahmen geklemmt. Sie griff das Buch und stürmte hinaus in die eiskalte Chicagoer Nacht.
Noch immer saß sie wie angewurzelt auf dem kalten Asphaltboden und der Wind blies ihr eine arktische Kälte ins Gesicht. Plötzlich hörte sie Schritte im Schnee und eine große Hand berührte ihre rechte Schulter. Es war so kalt, dass sie trotz Erschreckens kaum zusammenzucken konnte. Sie blickte hinauf in die Augen eines älteren Herrn. Sie hörte kaum, was er sagte, ihre Ohren schmerzten. Ihr Hals tat weh. Sie hatte Schnupfen und einen tierischen Durst.
Kurz darauf fand sie sich auf der hinteren Sitzbank eines neuen Mercedes 180 wieder. Das Auto des älteren Herrn war gewärmt. Sie fuhren die beleuchtete Hauptstraße nach Norden. Das Mädchen saß auf der Rückbank und blickte hinaus auf die vorbeiziehenden Gebäude. Sie wagte keinen Blick zurück.
Sie wusste aber, dass die Feuerwehr bereits vor Ort gewesen sein musste. Sie vernahm in der Ferne die Sirenen. Draußen war tiefe Nacht und es herrschte Schneesturm.
Sie bemerkte hin und wieder, dass der ältere Herr sie im Rückspiegel beobachtete. Sie konnte ihn kaum erkennen. Seine Mütze war tief ins Gesicht gezogen und der Kragen des Mantels hochgeschlagen. Sie hatte keine Kraft sich Gedanken darum zu machen, ob der Mann einfach nur nett war oder Schlimmeres mit ihr vorgehabt hatte.
Sie hoffte einfach nur, so schnell es geht, so weit weg wie möglich von der South Side zu kommen. Ihre Gedanken kreisten um so vieles. Sie wollte sich am liebsten rächen. Sie wusste aber auch, dass es nicht einfach werden würde. Das Mädchen war von nun an auf sich allein gestellt. In den Augen ihres Vaters war sie schon immer das unerwünschte Kind gewesen.
Chicago, Oktober 1965
Da saß er nun ganz still auf seinem schwarzen Bürostuhl. In der dunklen Jahreszeit hatte er immer öfter diese traurigen Gedanken an längst vergangene Zeiten vor elf Jahren.
Es war ein typischer Herbsttag gewesen. Er konnte von seinem Bürofenster im 16. Stockwerk direkt auf den Millennium Park schauen. Es nieselte hin und wieder und der Wind fegte streng vom Lake Michigan hinüber. Die Menschen, die er im Park sehen konnte, hielten ihre Jacken fest umschlungen und kämpften gegen den Wind an. Auf der Michigan Avenue herrschte typischer Feierabendverkehr.
Es war laut. Sehr laut zu dieser Uhrzeit. Er vertrug keinen Lärm mehr seit damals. Er schloss das letzte offene Fenster im hinteren Teil des Raumes.
Heute war wieder einer dieser Tage, die er gerne gestrichen hätte. Er erinnerte sich noch, als wäre es erst gestern gewesen.
Die Gedanken an seine geliebte Ehefrau schmerzten ihn immer noch sehr und er ertrank diese zu gerne im Alkohol.
Er hatte ihr vergeben, obwohl sie ihn hinters Licht geführt und sogar seine Partner betrogen hatte. Nach ihrem plötzlichen Tod – nach nur zwei Ehejahren – hatte er die Geschäfte so weitergeführt, als wäre nichts gewesen. Er hatte den Vertrieb von Ölen und Düften weit über die Stadtgrenzen hinaus im ganzen Land bekannt gemacht. Mit mehr oder weniger legalen Mitteln. Der Vertrieb von Alkohol war anfänglich erschwerend. Pasquale musste sich einiges überlegen und hatte es dennoch geschafft, mit dubiosen Geschäften den Alkohol an den Mann zu bringen. Ihm war nichts zu gefährlich. Auch eine Partnerschaft mit der Chicagoer Mafia war ihm egal.
Seine Whiskey-Marke „Maple’s“ mit den verschiedenen alkoholischen Aromen wurde daraufhin äußerst beliebt und war in aller Munde.
Die Arbeit jedoch war nur noch seine einzige Freude. Das Geld, welches er mit der Firma verdient hatte, war reichlich genug.
Seinen Zwillingsbruder hatte er mittlerweile auch verachtet und jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen. Seines Wissens hatte dieser sich in wärmere Gefilde abgesetzt. Nach dem mysteriösen Tod des Vaters – die Leiche wurde ohne Gliedmaßen gefunden, die Polizei kam vor ein paar Jahren mit dieser Nachricht auf die beiden Brüder zu – hatte sich sein Bruder Paul mit den Brauereirezepten aus dem Staub gemacht, nachdem er riskante Geldgeschäfte mit dubiosen Geldgebern geführt hatte. Pasquale hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Er hatte auch kein Fünkchen Arbeit und Aufwand hineingesteckt seinen Bruder zu finden. Er wollte nur noch einen friedvollen ruhigen Lebensabend verbringen. Wenn es sein muss, dann auch alleine. Bis er eines Tages eine idyllische Postkarte erhielt. Er hatte sie jedoch nie wirklich gelesen, da sie auch sehr mitgenommen aussah.
Er fasste sich an sein Kreuz, welches er an einer kleinen Halskette trug, und flüsterte ein kurzes Gebet – dreimal täglich tat er das. Pasquale schob seine schlechten Gedanken beiseite, ehe er wieder wütend werden würde.
Es stürmte immer noch vom großen See her. Der Regen wurde heftiger und peitschte gegen die dünnen Fenster. Er stand auf und ging zu einer hölzernen Anrichte, die in einer Ecke des großen Büros stand. Er öffnete eine der vielen kleinen Schubladen und nahm sich eine Zigarre. Die Zigarre gehörte mittlerweile zu seiner Familie wie der Whiskey. Beide mit dem goldenen Emblem.
Immer wieder zog er an seiner Zigarre, um seine Gedanken zu ordnen und sich zu beruhigen. Er stand in seinem geräumigen Büro am Fenster. Ein leichtes Lüftchen zog durch die Ritzen und man konnte bei genauem Hinhören den Wind pfeifen hören. Das Büro war ordentlich und exquisit eingerichtet. Ein großer Mahagonischreibtisch stand mittendrin. Auf diesem fand man ein schwarzes Telefon und eine der besten Schreibmaschinen, die es aktuell zu erwerben gab. Eine IBM Executive.
In der Mitte des Tisches lagen ein Stapel Briefpapier mit zwei Federn und dazu die passende Tinte. Alles in diesem Büro war akkurat und hatte seinen Platz. Pasquale sinnierte erneut über sein vergangenes Leben und erinnerte sich, dass es früher daheim auch immer ordentlich und akkurat ausgesehen hatte. Ein Merkmal seiner verstorbenen Mutter.
Er vermisste plötzlich seinen Bruder so sehr. Dieses Gefühl hatte er stets nach einigen Gläsern Whiskey. Er sollte weniger Alkohol trinken – aber er schmeckte zu gut. An ganz extrem depressiven Tagen trank er schon mittags zwei Gläser von dem guten Schnaps.
„Warum bin ich nur so egoistisch?“, fragte er sich immer wieder. Er hatte sich sein ganzes Leben lang eine intakte Familie gewünscht. Und nun hatte auch er sie seit elf Jahren auf dem Gewissen.
In den vergangenen Monaten hatte er immer wieder Affären. Seine längste Affäre war die mit seiner ehemaligen Praktikantin Charlene aus Brookfield. Er dachte fast täglich noch an den heißen wilden Sex mit dieser schmalen blonden Schönheit.
Er lehnte sich zurück in seinen Bürosessel und versank in den heißen Gedanken. Er hatte es wieder dringend nötig. Mit Charlene war es seit zwei Wochen endgültig vorbei. Als ihr Vater die beiden in dessen Haus erwischt hatte, gab es einen heftigen Streit. Pasquale prügelte sich, bis ihr Vater eine Waffe zog und drohte auf ihn zu schießen.
Pasquale hatte Charlene auf einer Feier seiner Firma kennengelernt, auf der mehrere Geldgeber zugegen waren. Unter anderem ihr Vater in Begleitung seiner entzückenden Tochter. Pasquale wusste, dass er schon durch seine Geschäfte viel zu tief mit der Mafia verstrickt war, aber sie war genau sein Typ.
Es hatte alles geendet. Kürzlich hieß es, Charlene sei mit ihrer Familie weggezogen. Weiter in den Norden. Trotz allem erwischte er sich immer wieder bei den Gedanken an den schmalen Körper von seiner Praktikantin und die straffen Beine. Er nahm einen Schluck Whiskey und dachte wieder an seinen Bruder. Er erwischte sich bei Gedanken an ein weiteres Familienmitglied. Trank aber schnell den Whiskey leer – wieder eine Flasche geschafft.
Er beschloss, noch an diesem Abend auf den Friedhof zu fahren.
Die Zigarre glühte nicht mehr. Es war spät geworden. Pasquale war im Sessel eingeschlafen. Der Mond schien direkt in sein Büro hinein. Um diese Jahreszeit wird es immer zeitig dunkel und der Mond steht früh am Firmament. Vielleicht geht er doch lieber auf einen Absacker in seine Lieblingskneipe. Pasquale setzte sich auf seinen Lederstuhl und schloss ein kleines verstecktes Schubfach leise zu. Den passenden Schlüssel legte er in den altmodischen Lampenschirm. Er knipste die Lampe aus. Es war dunkel im Büro. Nur die hell erleuchtete Stadt schimmerte etwas Licht in das Zimmer.
Natürlich konnte er auch im Dunkeln hinausfinden, da er nach fast zehn Jahren jeden Winkel in dem Bürohaus kannte.
Plötzlich vernahm er leise Geräusche. Schritte bewegten sich umher. Pasquale fing an schneller zu atmen. Um diese späte Uhrzeit noch Schritte in der Firma sind ungewöhnlich.
Ein Schweißfilm bildete sich auf seiner Stirn. Seit er schon mehrere unglückliche Begegnungen mit der Mafia hatte, war er achtsamer geworden. Er legte seine rechte Hand auf die kleine Schublade unterhalb der Tischplatte. Die Tür wurde von außen geöffnet. Er sah einen Schatten. Leise und mit kleinen Schritten trat eine nicht zu identifizierende Person ein. Er erkannte Umrisse von einem Hut, eine Stola und es roch dezent nach einem billigen Parfum und Rauch.
Ihm blieb keine Zeit mehr zu überlegen. Es ging wahnsinnig schnell. Sein Leben schoss in einem letzten Atemzug an ihm vorbei.
Es gab einen lauten Knall und noch einen hinterher. Zwei Schüsse trafen ihn mitten in den Körper. Sein Blut spritzte durch den ganzen Raum. Der lederne Sessel war in rotem Blut getränkt. Für einen Moment roch man den Hauch des Todes in dem eleganten Büro.
Es war Totenstille. Sein Zucken ließ sofort nach. Man hörte nur noch einen leisen Atem. Die fremde Person ging um den Tisch herum.
„Nichts hat sich geändert“, flüsterte die unheimliche Gestalt, ging kurz um den Tisch herum und verschwand kurz darauf wieder aus dem Büro.
Pasquales Leben war beendet. Das Büro so ordentlich, so schick, so voller Blut.
Auf dem losen Briefpapier auf dem Schreibtisch stand in blutgetränkter Schrift „R.I.P. geliebter Bruder“.
Das Einzige, was von ihm blieb, war die warme Zigarrenasche auf seinem leblosen Körper.
West-Cornwall, 27. Februar 2009
„Der Mensch hat dreierlei Wege klug zu handeln: durch Nachdenken ist der Edelste, durch Nachahmen der Einfachste, durch Erfahrung der Bitterste.“ Konfuzius
Dieses Zitat begleitete sie stets in ihrem Leben. Ein Leben mit Sehnsüchten und Wünschen. Ein Leben mit Kompromissen und ausgeprägtem Hang zur Selbstbeherrschung.
Das Zitat gab ihr Mut und Hoffnung. Wenn es ihr schlecht ging, wühlte sie nach dem kleinen beigefarbenen Zettel in ihrer Jackentasche, holte ihn hervor und las das in blauer Tinte geschriebene Zitat von Konfuzius.
Es war ein milder Februartag. Sie machte Erledigungen im Wharfside, Penzance. Das nächstgrößere Shoppingcenter am westlichsten Ende Englands. Sie war keine Dame von Welt, aber auch nicht von gestern. Über ihr genaues Alter hüllte sie sich in Schweigen. Darauf angesprochen, glitt ein leichtes Zucken über ihr blasses Gesicht. Ihre Haare waren streng zu einem Zopf geflochten. Sie trug einen altmodischen Wollrock aus den 1960ern. Nein, sie war nicht von gestern.
Die hochgewachsene Frau hielt ein neu gekauftes Smartphone in der einen Hand und in der anderen trug sie eine teure Lederhandtasche und wartete am Gleis zwei im Bahnhof von Penzance auf den Zug für die Rückfahrt. Wie immer war sie auch heute alleine unterwegs. „Die Zeit heutzutage ist sehr kostbar“, sagte sie stets zu sich selbst, „warum sie also mit einer anderen Person an der Seite verschwenden?“
Alles für den heutigen Tag war erledigt. Zumindest in Penzance konnte sie etwas Wichtiges erledigen. Sie konnte endlich beginnen mit ihrem Projekt abzuschließen.
Im Zug auf der Rückfahrt gönnte sie sich einen mehr als vierzig Jahre alten Whiskey aus ihrem mitgebrachten Flachmann. Ein besonders würziger, in Eichenfässern gereifter Aufheller. Sie genoss dabei den Luxus der ersten Wagenklasse, da sie keinen bösen Blicken zu dieser Tageszeit ausgesetzt sein mochte. Der Zug ratterte an der traumhaften Landschaft West-Cornwalls vorbei.
Entlang des Red Rivers, durch dichte saftgrüne Wälder, in denen schon die ersten Vorboten des Frühlings begünstigt durch den milden Winter sich erkennen ließen. In der Ferne waren Reiter mit ihren Pferden auf den weiten Feldern unterwegs. Der Zug fuhr knappe zwanzig Minuten durch die sagenhafte weitläufige Landschaft, bis er sich in den engen Kurven entlang der Carbis Bay schlängelte. Sie schaute auf das beliebte Hotel hinunter, dem die Bucht ihren Namen gab. Immer gut für einen Nachmittagstee, so wie sie ihn liebte.
Fertig machen zum Aussteigen. Jacke zuknöpfen. Der Zug der Great Western Railways schlich durch den dichten Wald, entlang der Klippenküste seinem Ziel entgegen.
Der Porthminster Beach erschien auf der rechten Seite. Erinnerungen wurden bei diesem Anblick wach. Damals wurde ihr heiß und kalt zugleich im Körper. Ein kleiner Schauer übermannte sie. Gänsehaut durchzog ihren Körper.
Der Zug kam zum Stehen. Die leichte frische Brise des Atlantiks zog ihr direkt in die Atemwege. Im Kopf ging sie schon einmal den restlichen Tagesverlauf durch.
Auf dem Parkplatz gegenüber vom Bahnhof wurde sie bereits erwartet. Eine Dame von Welt fährt schließlich nicht selbst.
Nachdem sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, warf sie einen Blick durch die dunkle Fensterscheibe im Auto auf das große Schild vor ihnen. „Welcome to St Ives“.
Das Auto fuhr los. Auf dem Bahnsteig blieb das kleine Stück Briefpapier mit dem Zitat zurück, was ihr unbemerkt aus der Jackentasche herausgefallen war.
Willkommen in St Ives. Willkommen in Land’s End.
Die Autofahrt führte durch die engen Straßen der Küstenstadt und schlängelte sich kurz darauf die Landstraße entlang durch die engen Kurven. Ihr Fahrer setzte sie direkt vor dem Herrenhaus ab und verschwand eilig wieder.
*
Die Teekanne aus dem feinen englischen Porzellan mit dem blauen Pfau und die dazugehörige Teetasse standen schon auf dem silbernen Tablett bereit.
Madeleine, die Hausköchin, drapierte noch die letzten hausgemachten Scones mit Clotted Cream und Erdbeerkonfitüre auf die Etagere. Er liebte die klassische englische Teatime.
Jeden Tag gleich. Obwohl die Etagere mit den Scones nicht selten unbenutzt in die Küche zurückkam.
Der Hausherr lag schon seit Wochen in seinem Bett. Erst kürzlich hatte er sich einigermaßen von einer schweren Atemwegserkrankung erholt. Das typische englische Wetter tat dabei sein Bestes, solche Erkrankungen zu begünstigen.
Madeleines Küche stand um diese Zeit wie immer unter Volldampf. Obwohl sie in den letzten Jahren hauptsächlich mehr für die Gärtner und die anderen Angestellten im Hause kochte als für die Familie, da diese fast vollständig ausgeflogen war.
Der Geburtstag des Hausherrn stand bald an. Die Vorbereitungen für den heutigen Nachmittagstee waren schon fast abgeschlossen. Außerdem hatten sich zum Abendessen noch ein paar Geschäftspartner angekündigt.
„Er hört auch nie auf zu arbeiten. Seine Firma muss ihm echt am Herzen liegen“, murmelte Madeleine, als sie kurz zuvor von den zusätzlichen Gästen zum Dinner erfuhr.
Eine Hausherrin gab es schon einige Zeit nicht mehr. Mr Maplewood sprach selten über das Unglück.
Dafür herrschte seit mehreren Jahren seine private Hausdame über das Haus Maplewood und ihn selbst.
Sie führte ein strenges Regiment. Sie achtete pünktlich genau auf die Einhaltung von Servierzeiten und Etikette gegenüber dem Hausherrn.
Die Hintertür der Küche zum privaten Fuhrpark und zur Nebenausfahrt des Anwesens stand wie immer weit geöffnet. Das alte elisabethanische Herrenhaus mit dem großen Garten und den weiten Wiesen ringsherum lag etwas außerhalb von St Ives, in nordwestlicher Richtung nahe Treleigh.
Maplewood Manor zählte zu den bekanntesten Herrenhäusern in der Gegend. Mit seinen über zweihundert Fensterscheiben aus dem 16. Jahrhundert hatte es das Haus schon in einige Reiseführer geschafft. Vom Masterbedroom konnte man wunderbar über Cornwalls Weiden blicken und von der Great Chamber im Obergeschoss konnte man den Turm der St Ives Parish Church erkennen.
In diesen alten britischen Häusern sollte immer gut gelüftet werden. Die feuchte Seeluft tut dem Holz und den Verzierungen nicht gut.
Das war das Erste, was Madeleine von der Hausherrin erfahren hatte, als sie den Posten als private Köchin antrat. Madeleine – von eher kräftiger Statur – war etwas hektisch in ihrer Küche unterwegs. Ihr standen die Schweißperlen auf der Stirn, die von ihr unbemerkt hin und wieder in den ein oder anderen Suppentopf hinabtropften.
„Die Blumenlieferung steht noch aus“, sprach sie vor sich hin und schaute kurz aus dem Küchenfenster hinaus auf die grüne Wiese.
Wie von Zauberhand stand der örtliche Florist Mr Chapman persönlich auf der Türschwelle zur Küche und grinste mit seinen weißen Zähnen hinein.
Er lieferte die täglich bestellte üppige Blumenauswahl immer selbst. Seltene, bisweilen sogar giftige Gewächse, immergrüne Pflanzen und saisonale Blumen standen täglich auf der Agenda.
Heute hatte der Florist wieder etliche Blumenbouquets aus Blauglöckchen, Papageitulpen, Hyazinthen und vielen anderen Frühlingsblühern dekadent zusammengestellt und mitten auf die Arbeitsplatte in der Küche unmittelbar neben das Teeservice gestellt.
Auch diesmal bot Madeleine ihm einen frischen Espresso an. Sie und der Florist kannten sich seit einer Begegnung in einem Pub am Hafen von Plymouth. Damals arbeiteten beide noch in der „großen Stadt“, wie sie zu sagen pflegten.
Immer wieder kamen beide auf dasselbe Thema zu sprechen. Sie tauschten sich über die aktuellen Probleme mit Männern und sonstige Beziehungsdramen aus.
Da wurde die Schwenktür von der Küche zum Essbereich aufgestoßen. „Was hat er denn noch hier zu suchen?“, fragte Gloria in strengem Ton. Die Hausdame war heute besonders streng und schlecht gelaunt.
„Der Hausherr verlangt sofort seinen Nachmittagstee und einen Schluck von seinem besten Whiskey. Beeilung bitte“, zischte es aus Glorias Mund. Sie schaute die beiden anderen dabei streng an und musterte den Floristen mit einem scharfen Blick. Sie presste ihre Lippen eng aufeinander und klatschte kurz in die Hände.
Der Florist trat seinen Rückzug an. Mit einem leicht verstörten Blick stolperte er rückwärts in Richtung Tür nach draußen.
Er übersah Madeleine und warf in der Eile einen Kochtopf hinunter.
Gloria verdrehte die Augen, stöhnte kurz auf, nahm zwei Blumensträuße von der Arbeitsplatte und schoss wieder aus der Küche. Madeleine eilte sofort mit Lappen und Handfeger und Müllschippe heran und wischte den Dreck vom Boden. Sie und dem Floristen stand der Schreck ins Gesicht geschrieben. Dem tadelnden Blick Glorias ausgesetzt zu sein, jagte einem schon mal Angst ein. Gloria war zwar gerecht, aber immer auch sehr streng. Von ihr war wenig aus ihrem Leben bekannt, einzig vor ihrer Beschäftigung im Maplewood Manor war sie in einigen anderen Adelshäusern und bei politischen Amtsanwärtern als Sekretärin und Hausdame tätig gewesen.
„Ich nehme an, diese Möchtegernpolitiker haben ihr diese gewisse Zielstrebigkeit und Strenge vermittelt“, hatte Madeleine zum Floristen im sarkastischen Unterton bei einer ihrer Begegnungen einmal gesagt.
Gerade noch den Rest vom verschütteten Eintopf vom Boden gewischt, stand Gloria schon wieder in der Küche. Direkt hinter Madeleine. Sie war etwas größer als die Hausköchin und um einiges älter.
Obwohl Madeleine nie so recht wusste, für wen sie heute kochte, ob überhaupt gespeist würde und wie viele andere noch spontan kommen würden. Sie fühlte sich wohl in ihrem Job als Köchin. Hier konnte sie ihrem Hobby – dem Kochen und Essen – nachgehen und immer wieder etwas Neues ausprobieren.
„Ist Gloria heute geschminkt?“, überlegte sie einen kurzen Augenblick, als sich beide dicht gegenüberstanden.
Ohne auch nur ein Wort zu wechseln, ging die Hausdame zur Anrichte, nahm das Teeservice und verschwand durch die große Schwenktür nach draußen. Madeleine wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und atmete einmal tief durch.
Sie schnappte nach der frischen Luft, die durch die offenstehende Hintertür von draußen hineinwehte.
Madeleine gönnte sich einen kleinen Schluck vom Old Maplewood Whiskey und drehte das Radio etwas lauter auf.
Es vergingen einige Minuten. Die Küche stand wieder unter Volldampf, nachdem Madeleine sich eine kurze Auszeit bei einer Zigarette genommen hatte. Plötzlich ertönte aus dem oberen Stockwerk ein Schrei. Ein lauter Schrei wurde ausgestoßen. Madeleine hörte ein Klirren. Geschirr fiel oben zu Boden.
Ein schreckliches Bild zeichnete sich ab. Gloria stand wie versteinert im privaten Gemach des Hausherrn.
Mr Maplewood lag leicht aufrecht in seinem großen Bett. Mit offenen Augen und offenem Mund starrte er in den dunklen Raum hinein. Seine Arme waren zur Seite verkrampft und Speichel mit Schaum floss aus seinem rechten Mundwinkel. Er war noch zugedeckt. Das Tablett mit der Teekanne und den Gebäcken stand auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Bett. Die Teetasse mit dem blauen Pfau war auf den Dielenboden gefallen und zerbrochen.
Gloria kam einigermaßen zu sich, atmete auf und entspannte sich etwas.
„Verschwinden Sie. Gehen Sie zurück an Ihren Arbeitsplatz“, sprach sie mit scharfer Stimme zu Madeleine und wies ihr mit dem linken Zeigefinger den Weg hinaus. Madeleine trat ohne Widerworte einen Schritt rückwärts in den großen Flur und verschwand über das hintere Treppenhaus in Richtung Küche mit nur einem verwirrten Gedanken: „Was wird bloß aus dem vielen Essen?“
Jemand hatte wohl schon den Notarzt benachrichtigt. Wenige Minuten nachdem Madeleine in der Küche erschienen war, läutete dieser mit der örtlichen Polizei im Schlepptau. Der neue junge Detective Inspector stand in der Eingangshalle. Gloria empfing die Ankömmlinge und zeigte ihnen den Weg zum Geschehen.
„Hmm, sieht der heute wieder gut aus. Das englische Wetter kann seiner Frisur und seinem Teint nichts anhaben“, träumte Madeleine vor sich hin, als sie den Polizisten durch einen Türspalt beobachtete. Sie stand im Musikzimmer und hatte von dort einen direkten Blick in das Entree. Gloria, wie versteinert, stand schnurgerade an der Treppe mit versteinerter Miene und umschlang ein dunkles Notizbuch. Beide angestellten Damen hatten Trauer und große Tränen im Gesicht stehen.
Mr Maplewood wurde auf einer Bahre hinausgetragen. Ein weißes Tuch über seinem Gesicht. Für die letzte Ruhe. Er war tot. Der anwesende Rechtsmediziner diagnostizierte Herzversagen als Folge einer nicht auskurierten Lungenentzündung.
Es kehrte noch mehr Ruhe in diesem großen Haus ein, als die beiden Männer gegangen waren. Gloria hatte sich wohl in ihr Gemach zurückgezogen. Madeleine schlich sich von ihrer Küche noch einmal hinauf zum Schlafraum des Hausherrn.
Sie betrat den großen Raum – den Masterbedroom – am Ende des Flures im Westflügel des Obergeschosses. Das Zimmer war sehr geräumig, mit dunklem Holz vertäfelt und roch allerdings etwas muffig nach Medizin. Die blaue Porzellantasse lag noch zerbrochen am Boden. Das Bett stand leer da.
Der Duft des Todes schwebte im Raum. Im Hintergrund lauschte Madeleine zur ertönenden Musik der Peer Gynt Suite No. 2. Der Huldigungsmarsch erklang gerade. Sie runzelte kurz die Stirn. Eine mystische Stimmung lag im Schlafgemach.
„Was wird jetzt wohl auf uns zukommen?“, flüsterte sie fragend vor sich her.
Das Haus war riesig. Viele Zimmer standen schon lange leer. Und jetzt auch noch das des Hausherrn. Ein viel zu großes Haus für zwei alleinstehende Damen. War sie nun ihren Job los?
Der Hausherr war tot. Das Einzige, was von ihm blieb, war die abgekühlte Zigarrenasche im Ascher auf der kleinen Kommode aus Mahagoniholz.
London, Samstag, 7. März 2009
Sie ließ den Teebeutel exakt viereinhalb Minuten im heißen Wasser ziehen. So wünschte Mr Pommeroy seinen Darjeeling immer.
Jeden Tag aufs Neue. Pünktlich um drei Uhr am Nachmittag betrat sie sein kleines Appartement im Pflegestift am nördlichen Ende des Regent’s Park. Es herrschte für London untypisches Wetter an diesem Frühlingstag. Die Vögel umkreisten wild die Vogeltränke, die auf seinem Balkon stand. Die tiefstehende Sonne blinzelte durch die Baumkronen direkt in seinen Sessel.
Das Fenster war angelehnt. Als die junge Frau ins Zimmer eintrat, stand sie kurz im Windzug und rümpfte sich die Nase. Es roch schon wieder nach den Tieren aus dem nahegelegenen London Zoo.
Sie stellte das Tablett mit dem Tee und dem Porzellangeschirr auf den kleinen Beistelltisch an der großen Stehlampe ab und ging als Erstes zum Fenster. „Wir wollen uns doch wohl nicht verkühlen oder? Es ist schließlich nur ein Frühlingsvorbote und nicht der Hochsommer auf Jersey“, sprach sie mit ihrer schüchtern wirkenden, jedoch strengen Stimme in den Raum hinein.
Sie stand am offenen Fenster und der leichte Ostwind wehte ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Als Stadtmensch konnten ihr die verschiedenen Winde und tierischen Gerüche nichts anhaben und sie schloss eilig das Fenster. Megan räusperte sich und zog dabei den Vorhang leicht zu.
In ihrem Beruf als private Krankenschwester spielte sie gerne mit ihrer Stimme. Mal einfühlsam, mal streng und bestimmend. Ihr machte es Spaß. Und so wandte sie sich mit einem freundlichen Lächeln von der Fensterfront um zu ihrem Patienten.
Er saß da, mit einem Grinsen. So blass wie jeden Tag. Seine grauen Haare lagen auch heute nicht perfekt.
„Aber was macht das schon. Schließlich sitzt auch er nur seine Zeit hier ab“, dachte Megan sich.
Sie sprach ihn an und rüttelte leicht an seiner rechten Schulter. Sie erkundigte sich nach seinem bisherigen Nachmittag, bekam jedoch keine Antwort. Megan stand seitlich von ihm am Beistelltisch und goss die Tasse bis zur Hälfte mit dem schwarzen Tee voll und schenkte danach zwei Schluck warme Milch nach, dazu zwei Teelöffel von dem braunen Zucker.
So wünschte er sich seinen Tee jeden Tag. Pünktlich um drei Uhr derselbe Ablauf.
Megan erschrak. Das Geschirr fiel zu Boden und es schepperte wahnsinnig. Das schöne Porzellan zerbrach in unzählig kleine Einzelteile. Verstreut über den Teppichboden lag es da. Sie hatte sich leicht geschnitten und Blut tropfte hinunter. Die junge Frau stand vor dem Sessel und stieß einen lauten Schrei aus. Mr Pommeroy saß zusammengesackt da. Er war tot.
„Er ist von uns gegangen“, flüsterte Megan mit tränenerstickter Stimme.
Die ältere verwirrte Zimmernachbarin von gegenüber lugte wie immer misstrauisch durch einen Türspalt. Sie schien sich nicht weiter dafür zu interessieren, dass Mr Pommeroy verstorben war. Die Dame interessierte sich selten für die anderen Mitbewohner. Sie hockte da und presste ihr Gesicht an den Türrahmen und brüllte nur: „Wann bekomme ich endlich meine Scones? … Meine Kinder kommen gleich.“
Megan schossen viele Gedanken durch den Kopf. Unter anderem konnte sie sich beim besten Willen nicht an je irgendeinen Besuch von Kindern bei der alten Frau erinnern.
Ihre Gedanken schwenkten wieder zur Mr Pommeroy. Megan stand noch immer unter Schock. Sie versuchte tief Luft zu holen, blinzelte auf. Plötzlich wurde ihr schwindelig und flau in der Magengrube. Sie wollte sich noch setzen und tastete nach einem Stuhl, konnte aber keinen finden und fiel ohnmächtig zu Boden.
Megan kam so langsam wieder zu sich und blickte sich in dem Zimmer um. Sie lehnte am Sessel, in dem der alte Herr zusammengesackt drinnen saß.
Sie erblickte die alte Frau von gegenüber. Diese bewegte ihre Lippen, als wolle sie Megan etwas mitteilen, dann knallte sie jedoch die Zimmertür zu und es war noch mehr Stille.
„Die spinnt doch wieder, die Alte“, flüsterte Megan zu sich.
Endlich kam eine Kollegin von Megan angerannt. Irgendjemand musste den Notfallknopf gedrückt haben. Megan war es nicht. Vielleicht die alte Frau? Megan ging, gestützt von ihrer jüngeren Kollegin, hinaus auf den Flur und nahm alleine den Weg hinunter in die Personalküche.
Man dachte, es sollte normal sein in einem Pflegeheim. Leute kamen, Leute gingen. Der klassische Alltag. Megan hatte jedoch immer eine besondere Bindung zu den Bewohnern aufgebaut. Insbesondere zu ihren Patienten. Sie war bei vielen beliebt. Mit ihrer sanften und gutmütigen Art konnte sie den vielen alten Menschen ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln.
Besonders die älteren Männer hatten ihre Freude, wenn Megan im Sommer mit einem kurzen Rock in die Zimmer eintrat und den Nachmittagstee in gebeugter Pose servierte.
Megan hatte mit ihren achtundzwanzig Jahren schon viel Leid und Kummer ertragen müssen. Dabei gelang es ihr immer, freundlich zurückhaltend zu sein und sich um jeden, so gut es ging, zu kümmern.
Megan war halt Megan. Von ihren Schwestern und Freunden wurde sie in der Öffentlichkeit und bei Familienfesten immer als das graue Entlein der Familie betitelt. Daran störte sie sich allerdings keineswegs. Sie fühlte sich trotzdem wohl.
Megan saß in der Personalküche auf einem wackeligen alten Stuhl und hielt einen Kaffeebecher fest umklammert. Die Pflegedienstleiterin stand neben ihr, rieb Megans Schultern und versuchte sie mit irgendeinem Geplapper abzulenken. Sie wusste, wie es um Megan stand. Erst vor ein paar Jahren der Vater. Dann vor kurzem ihr Opa. Jetzt noch Mr Pommeroy.
Megan lächelte sie kurzzeitig an, riss die Augen auf und stand mit einer Selbstbeherrschung auf.
Sie erinnerte sich an die Verpflichtungen am Wochenende in zwei Wochen. Der Kalender daheim war schon komplett an den beiden Tagen ausgekreuzt. Die Zugtickets nach St Ives waren schon gebucht. Elf Uhr ab Paddington. Einmal umsteigen. In der ersten Klasse natürlich. „Man gönnt sich ja sonst nichts“, hatte sich Megan vor ein paar Tagen bei der Ticketbuchung gedacht.
Megan stellte ihre Kaffeetasse ab, die sie immer noch in der Hand hielt.
„Geben Sie mir bitte bis auf Weiteres Urlaub. Ich melde mich in den nächsten Wochen bei Ihnen, Miss“, wandte sich Megan an ihre Chefin, griff nach ihrer Handtasche und verschwand.
*
Es war schon dunkel geworden. Megan fühlte sich nicht wohl, als sie zu Hause ankam. Sie streifte sich den weißen Rock und die verschwitzte mintgrüne Bluse ab. Sie brauchte dringend etwas gegen ihre wahnsinnigen Kopfschmerzen.
Sie ging in die Küche an den Medizinschrank in der Ecke und klemmte sich eine Tablette zwischen die Zähne. „Ich brauche etwas Hochprozentiges zum Runterspülen“, sagte sie sich, während sie die Schranktüren öffnete und bei Dämmerlicht versuchte irgendetwas Alkoholisches zu erkennen.
Ihr Blick fiel auf eine Whiskeyflasche in der Ecke. Sie war noch verschlossen und völlig eingestaubt mit einem vergoldeten Etikett. Megan sah sich das Etikett an, runzelte die Stirn und stieß einen leisen Seufzer aus. Seit ihrer Ankunft wurde sie von Lucifer argwöhnisch beobachtet. Ihrem braun-weiß gestreiften Kater. Er umstrich ihre Wade um Aufmerksamkeit. Megan schenkte seinen Avancen jedoch keine Bedeutung und warf ihm einen genervten Blick und dann ein nasses Geschirrhandtuch entgegen. Lucifer miaute auf und zischte von dannen. Im selben Augenblick hörte sie das Knarren der Holzdiele.
Megans Haare wurden zur Seite gestrichen. Währenddessen pressten sich zwei starke Hände um ihre weibliche Hüfte. Ein sanfter Kuss in den Nacken ließ sämtliche Anspannung von ihr abfallen. Sie spürte eine leichte Vibration in ihrem Körper.
Seine zärtlichen Fingerspitzen glitten langsam in ihren Slip. Megan schaffte es gerade noch so, die Whiskeyflasche abzustellen, räumte den Küchentresen ab und ihr Körper verlangte nach hemmungsloser Leidenschaft.
Mehr als eine Stunde war vergangen, als die zwei verschwitzten Körper sich ins Bad begaben. Megans Kopfschmerzen schienen so langsam abzuklingen. Er hatte ihnen beiden ein heißes Bad eingelassen. Viele Kerzen und viel Schaum. Im Hintergrund erklang angenehme Jazzmusik. Megan tauchte ihren Körper in das heiße Nass ein und schloss die Augen. Er reichte ihr ein Glas Champagner. Sie stießen beide auf ihren gemeinsamen Abend und ihre Zukunft an. „Nicht mehr lange“, flüsterte er in ihr kleines Ohr.
„Demnächst wissen wir mehr“, sprach sie leise mit geschlossenen Augen. Sie nahm einen Schluck vom prickelnden Gold, stellte das Glas an dem Wannenrand ab und tauchte mit ihrem Kopf unter in das heiße Wasser unter den Schaum.
Manhattan, Mittwoch, 11. März 2009
„Eine gute Nanny kümmert sich um Kinder. Egal, wie viele es sind. Egal, wie alt sie sind. Egal, wo sie sich gerade aufhalten. Eine Nanny ist stets vor Ort dabei, in der Nähe oder weiß, wo sie zu sein hat. Eine gute Nanny kümmert sich nicht nur um Kinder. Sie ist auch deren bester Freund oder Freundin. Sie kennt die Kinder und deren Bedürfnisse. Eine gute Nanny lebt praktisch für ihre Kinder. Ja, das alles macht eine gute Nanny aus.“
Mary Poppins war ihr Lieblingsfilm. Sie liebte Julie Andrews. Diese kleine, tolle, heile Welt. „Ein Löffelchen voll Zucker“, trällerte sie vor sich her.
Dolores schloss die SMS auf ihrem Handy und atmete einmal tief durch. Sie steckte das Handy zurück in die kleine Tasche ihrer Schürze, ordnete ihre Gedanken. Sie stand von ihrem schmalen Bett auf und ging zum Fenster. Von hier aus dem sechzehnten Stockwerk eines Jugendstilbaus an der Park Avenue hatte man einen tollen Blick über den Central Park und halb Manhattan.
„Ein angenehmer Frühlingstag“, murmelte Dolores vor sich hin. Sie ging ihre Aufgaben durch den Kopf. „Der Zeitpunkt ist gekommen“, flüsterte sie nachdenklich mit ihren schmalen Lippen.
„Nicht jeder war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Manch einer war falsch.“
In ihrem Zimmer war Stille. Unheimliche Stille. Da kam eine kleine Amsel angeflattert. Sie zwitscherte wild und flog hin und her. Dolores musste zaghaft lächeln.
Ihr Zimmer lag in der oberen Ebene der großzügigen Maisonette-Wohnung.
Von unten hörte sie eine Stimme und Absatzschuhe klackern.
„Das gute teure Parkett“, dachte Dolores sich und verdrehte die Augen. Die Hausherrin ist vom Shoppen zurückgekommen.
Während die Kinder unter der Woche tagsüber in die Privatschule gingen, waren die beiden Eltern arbeiten. Zumindest der Hausherr ging einem echten Beruf nach. Als Investmentbanker war er allerdings selten daheim und ständig auf Dienstreisen. Die Hausherrin dagegen vertrieb ihre Zeit mit Einkaufen unnötiger Kleidungsstücke und stattete unzähligen Wohltätigkeitsveranstaltungen einen Besuch ab.
Dolores richtete ihre Kleidung und ging aus ihrem Zimmer hinunter zur Küche, um Tee aufzusetzen.
Tee. Das war ihr persönliches Hobby und Lebenselixier.