Emma und die Frauen des Künstlers - Marcus Priefert - E-Book

Emma und die Frauen des Künstlers E-Book

Marcus Priefert

0,0

Beschreibung

Polizistin Emma Wilkes zieht sich für ein Sabbatical in ein Kloster zurück, um sich von einigen dramatischen Ereignissen zu erholen. Dort will sie neue Kraft tanken und ihre Gedanken ordnen. Doch die Idylle Cornwalls ist trügerisch, denn schon bald wird Emma erneut auf eine harte Probe gestellt. Eine neue Mordserie versetzt die friedlichen Einwohner Cornwalls in Angst und Schrecken. In dieser Situation wagt sich eine langjährige Freundin Emmas in ein gefährliches Abenteuer und eine polizeiinterne Konkurrentin sorgt für Ärger. Emma muss ich zum wiederholten Mal die Frage stellen, auf wen sie sich verlassen und wem sie wirklich vertrauen kann. Welche Rolle spielt bei alledem der umschwärmte Künstler, der in seinem herrschaftlichen Haus die Frauen spielerisch in seinen Bann zieht? Am anderen Ende der Welt bereitet sich derweil jemand auf die Reise nach Cornwall vor. Emmas Vergangenheit wird sie deshalb schneller wieder einholen, als ihr lieb ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 474

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ein paar Worte …

Es begann alles vor über zwanzig Jahren.

So oder so ähnlich würde ich beginnen, wenn ich von meiner Leidenschaft – dem Schreiben – anfange zu erzählen.

Schon bei meinen ersten Schreibversuchen – zum Teil noch handschriftlich – begab ich mich auf phantastische Reisen.

Schier unzählige Zettel für meine Ideensammlung, die Leidenschaft für Worte und das Recherchieren von Hintergründen, ziehen sich wie ein roter Faden durch die letzten zwanzig Jahre. Und dabei immer unterstützt von meiner Familie.

Nicht nur bei denen, auch im nahen und entfernteren Freundes- und Bekanntenkreis hat mein Hobby, meine Leidenschaft für große und staunende Augen gesorgt.

Auch mit meinem nunmehr dritten Werk habe ich Figuren, die mir ans Herz gewachsen sind, weiterentwickelt. Dabei sind sachlich-kritische Hinweise immer willkommen gewesen. Denn es geht mir auch generell um den Fortbestand von Literatur und dem Erspüren von Geschichten, die das Leben spiegeln. „Emma und die Frauen des Künstlers“, der 2. Band der Cornwall-Krimireihe, wird deshalb sicherlich nicht das Ende gewesen sein.

Für die Inspiration, dem gemeinsamen Austausch und zu guter Letzt auch dem vielen Input zu meinem neuen Buch, bedanke ich mich mit großer Anerkennung bei meinen Eltern und meiner Oma. Danke, dass ihr ein stabiler Fels in meinem Leben seid.

Ganz besonders sage ich auch ein großes Dankeschön an Anne und Sascha, die sich die Zeit genommen haben, mich auf diesem Weg zu begleiten.

Außerdem ein großes Dankeschön an Simone, Dana und Martin, die mich ebenso tatkräftig unterstützt haben.

Zudem möchte ich mich bei meinen wiederkehrenden Lesern bedanken, die mir über verschiedene Kanäle größtenteils ein ermunterndes Feedback gegeben haben.

Viel Spaß mit meinem dritten Buch. Und auch Emma freut sich auf ein Wiedersehen!

Was bisher geschah …

Emma und die verschwundenen Kinder – ein Cornwall-Krimi Band 1

Profilerin Emma Wilkes hatte gehofft, in Cornwall, ihrer alten Heimat, neu anfangen zu können. Nach wochenlanger Ermittlungsarbeit war Emma endlich hinter das Geheimnis um die verschwundenen Kinder und das ihres Kollegen Ryan Murphy gekommen. Emmas langjähriger Freund und ehemaliger Chef aus Londoner Zeiten, Gordon Fletcher, wurde außerdem als Mittelsmann der Mafia enttarnt. Doch plötzlich stand er vor ihrer Tür, obwohl sie ihn eigentlich im Gefängnis wähnte. Und nicht nur das. Über die internen Medien der Polizei hatte sie erfahren, dass man Ryan Murphy angeschossen und schwer verletzt hatte. Henry, Emmas Sohn, fühlte sich in Cornwall wohl. Sein gewalttätiger Vater Ahmed, von dem Emma getrennt lebte, wurde ermordet. So war Emma eine Sorge los.

Eine gute Freundin aus Jugendtagen war Lily Maplewood. Eine von vier Schwestern. Die wohlhabenden Maplewoods hatten ihr Vermögen mit nicht ganz legalen Machenschaften vermehrt. Und ihre Feinde blieben nicht untätig. Immer wieder mussten Menschen im nahen Umfeld der Familie ihr Leben lassen. Auch die Eltern der vier Schwestern kamen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Dafür hatte der Abiello-Clan gesorgt, dessen Geschäfte die Maplewoods störten. Ein Clanmitglied konnte sich später gar als nette Hausdame Gloria bei den Schwestern Maplewood einnisten. Die Abiellos hatten es auf das Geld und die Juwelen der Maplewoods abgesehen. Lily geriet in ihr Fadenkreuz. Dank ihrer Schwester Megan kamen die Abiellos jedoch nicht zum Zug und mit Hilfe ihrer Nichte Ginger und ihres Neffen Bradley gelang es Lily, die von ihrem Großvater Maplewood vererbten Diamanten mit einem Trick aus einem Londoner Schließfach zu holen. Ginger und Bradley verschwanden dann jedoch so rasch, wie sie aufgetaucht waren. Nach dem Tod ihrer Mutter Sophie sollten sie eigentlich bei den Eltern ihres getöteten Vaters in Kalifornien unterkommen. Doch da tauchten sie nach dem Coup nicht mehr auf.

The Cornish Times

Schlagzeile auf der Titelseite

„Wo ist Police Constable Emma Wilkes?“

Sachdienliche Hinweise an jede Polizeidienststelle

Freitag, 30. Oktober 2015

Weitere Schlagzeilen:

Operation The Cornish Rapist – Täter von Polizei überwältigt

Operation The Emperor’s Corpses – wer ist Täter, wer ist Opfer?

Operation Bond Case – das Kartell gegen den Minister

Inhaltsverzeichnis

Die Kunst des Todes

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Die Kunst der Liebe

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Epilog

Die Kunst des Lebens

die Kunst des Todes

So kreisen all die Gedanken, wie auch zarte Rosen sich emporranken. Es erschien wie ein Gesamtkunstwerk, das magische Himmelszelt. Auf leisen Sohlen kam sie näher, die Furcht vor Rache wie eh und jeher. Gefolgt von klagender Wut, die Auferstehung an diesem Tage ruht. Fügt hinzu den nächsten Pinselstrich, bevor der Tod an der Tür klopft und sagt: so sprich! Die Gedanken, sie kreisen durch die ganze Nacht, der Herr im Himmel über uns wacht. Die Illusion der Gegenwart, sie bleibt wohl niemandem erspart. Und wenn es draußen ist so bitterkalt, dann naht der Tod schleichend schon sehr bald.

Prolog

9 Monate zuvor – wie alles begann

Samstag, 21. März 2015

Cornwall, Newquay, Headland Hotel

Sarah Lemon hatte es sich in dem watteweichen Bademantel auf ihrem Bett im Hotelzimmer gemütlich gemacht. Sie warf einen kurzen Blick aus dem Fenster und über den Fistral Beach. Sie spürte trotz des geschlossenen Fensters den kühlen Wind vom Meer herüberwehen.

Das Headland Hotel war ein über einhundert Jahre altes Gebäude im Stil der späten viktorianischen Architektur und thronte hoch oben auf den Klippenfelsen Cornwalls. Unterhalb rollte der wilde Atlantik auf das Ufer des Fistral Sandstrandes, der besonders in der Hochsaison viele Surfer anlockte.

Sarah Lemon goss sich bereits ein zweites Glas Sekt ein. Ihr Äußeres schien ruhig, doch im Inneren tobte es aufgeregt. Jeden Moment konnte es soweit sein und ihr Gast, den sie schon sehnsüchtig erwartete, würde an der Zimmertür klopfen. Sie hatte sich nach langer Zeit wieder einmal mit ihm verabredet. Seit ihrem ersten Treffen hatte er nur noch wenig Zeit für sie gehabt. Auf unzählige Anrufe und Nachrichten antwortete er nur sporadisch.

Erneut gingen ihre Gedanken zurück in die nahe Vergangenheit. Sarah hatte ihren Mann – einen Offizier der britischen Armee – vor einigen Jahren im Einsatz im Irak verloren. Die ersten Jahre danach waren fürchterlich. Sie konnte sich kaum noch aus ihrer Lethargie aufraffen und an Dingen erfreuen. Bis sie eines Tages auf IHN traf. Er verwöhnte sie vom ersten Tag an mit umwerbenden Worten, gab ihr immer wieder eine kleine Nackenmassage, schenkte ihr Rosen. Sarah war so vernarrt in ihn, dass sie ihm sogar eine große Summe Geldes überwies, damit er in seinem Beruf noch erfolgreicher sein könnte als jemals zuvor. Doch ab diesem Zeitpunkt war alles anders geworden. Sie schrieb ihm jeden Tag mehrere Nachrichten. Konnte nicht mehr aufhören an ihn zu denken. Zweimal schickte sie ihm sogar einen kleinen selbstgebastelten Glücksbringer. Auch darauf kam nie eine Antwort. Sarah verstand die Welt nicht mehr. Ihr lief die Zeit davon. Mit Mitte vierzig ist es schließlich nicht mehr so einfach – insbesondere auf dem Land – einen passenden Mann zu finden.

Sollte sie zu ihm hinfahren? Würde sich das überhaupt lohnen? Er wohnte zwei Autostunden entfernt. Immer wieder stellte sie sich diese Fragen. Doch vorgestern hatte er sich bei ihr gemeldet und um ein Treffen an dem Ort ihrer Wahl gebeten. Spontan hatte Sarah ein Zimmer im edlen Headland Hotel für 450 britische Pfund gebucht und plante in ihrem von hoffender Romantik vernebeltem Köpfchen ein romantisches Wochenende.

Nun saß sie auf dem Bett in ihrem flauschigen Bademantel, nippte am Sekt und starrte auf ihr Handy.

„Was ist denn zum Teufel. Sagt er jetzt doch noch ab?“, murmelte sie fragend vor sich hin. In diesem Moment klopfte es zaghaft an der Tür. Sarah zuckte zusammen, ihre Hände waren urplötzlich schweißnass. Der Alkohol der zwei Gläser Sekt stieg ihr zu Kopf, sie taumelte aus dem Bett. Erneut ein Klopfen. Diesmal etwas lauter. Keine Stimme. Sarah ging zur Tür und schaute durch den kleinen Spion. Sie erkannte seinen Hut. „Hallo Schatz. Bist du es?“, fragte sie mit leiser Stimme und guckte weiter durch den Spion. Keine Antwort, aber ein Nicken konnte sie sehen. Da wurde plötzlich eine Rose vor die Linse gehalten. Sarah strahlte über das ganze Gesicht und drehte die Verriegelung nach links und öffnete die Tür.

Ihr war etwas flau im Magen, da sie den Alkohol vor Aufregung nüchtern getrunken hatte. Zuerst sah sie lediglich seinen Hut und seinen langen dunkelroten Umhang, da er den Kopf gesenkt hielt. „Wie ein König“, dachte Sarah. Aber als sie zum Boden blickte, traute sie ihren Augen kaum. Die Schuhe. Sie passten gar nicht zu ihm. Doch ihr blieb keine Zeit mehr, sich darüber Gedanken zu machen.

Ein heftiger Schlag traf ihren Kopf. Sie sackte auf den Boden. Aus ihren schmalen, noch offenen Augen sah sie immer noch den Hut, den Umhang und diese Schuhe. Mit einer roten Sohle. Doch bevor sie ihren Mund öffnen, sich wehren, vielleicht sogar schreien konnte, spürte sie einen weiteren heftigen Schlag gegen den Kopf und ihren Nacken. Die Welt verschwamm.

Erneut traf sie ein gezielter Schlag mit einem schweren Gegenstand gegen die Halsschlagader. Sie wollte den Mund öffnen und schreien, vor Schmerz, vor Angst. Einfach nur schreien. Doch so weit kam es nicht. Der nächste Schlag löschte all ihre Hoffnungen und Wünsche vom Leben aus. Ihr gesamter Körper vibrierte, zuckte ein letztes Mal. Sarah Lemon blieb regungslos am Boden liegen. Die Augen geöffnet. Blut quoll aus ihrem Körper und sickerte in den dicken Teppich.

Die Frau, die eben noch ihr Leben neu beginnen wollte, war tot. Die Zimmertür fiel wieder ins Schloss. Die Person mit dem markanten Hut, dem Umhang und den auffälligen Schuhen verschwand.

Der leblose Körper von Sarah Lemon lag so friedlich da, als würde sie nur einen Rausch ausschlafen.

1

Donnerstag, 6. August 2015

Cornwall, Mount Pleasant, Raststätte an der A30

Noch 1 ½ Monate bis zum nächsten Mord

Sie hatte es schon lange satt, hinter dem Tresen zu stehen. Angel stand wie beinahe jeden Tag mit einem Kaugummi im Mund hinter der Kasse und zählte vor lauter Langeweile die Münzen. Seit ihrer Ausbildung bei einer bekannten Kaffeehauskette in England arbeitete sie an dieser Raststätte im Coffeeshop. Nur wenige Autofahrer machten hier Rast. Entweder waren sie eh bereits nur wenige Kilometer vor ihrem Ziel – den Fischerdörfern Cornwalls – angelangt oder hatten noch nicht einmal ein Viertel ihres Weges nach London hinter sich gebracht.

Der Kaffee schmeckte Angel an diesem Tag noch weniger als sonst. Die grauen Wolken hingen tief, am Morgen hatte es eine Weile geregnet. Auch der Kaugummi war schon hart vom stundenlangen Kauen. An ihrer Strichliste konnte Angel die Anzahl der Gäste am heutigen Vormittag ablesen. „Drei“, sagte sie spöttisch zu sich. Gerademal ein Pfund Trinkgeld hatte sie ergattern können. Doch ihre Miene hellte sich auf, als endlich die Tür zum Coffeeshop geöffnet wurde.

„Ach, der schon wieder“, raunte sie in ihre flachen Lippen. Seit geraumer Zeit machte die örtliche Polizeistreife immer wieder Kontrollen in den Raststätten vor Ort. Unangekündigt. Angel griff an ihren Busen, richtete ihn gerade und zog ihren viel zu engen Rock ein wenig hoch. „Ach, hätte ich doch einen Lolli“, schien sie zu denken, so wie sie ihre Lippen zu einem Schmollmund formte. Der etwas ältere Polizeibeamte trat an den Tresen und bestellte einen Cappuccino mit Sojamilch.

Dieses Mal wollte er wirklich nur ein Heißgetränk. Angel hatte sich umsonst aufgehübscht. Er war sowieso nicht ihr Typ.

Sie bereitete das Getränk und stellte es auf den Tresen. Kein Trinkgeld. Nicht einmal ein Lachen. Angel war drauf und dran, „Fuck you“ zu sagen, als die Tür geöffnet wurde und vier Personen auf einmal eintraten. Sie war so sehr überrascht von dem „Andrang“, dass sie kaum mitbekam, wie der Polizist den Laden verließ.

Die vier Ankömmlinge, ein Paar im Alter von Ende dreißig und ein bedeutend älteres Paar, hatten an einem Tisch an den Fenstern Platz genommen. „Gäste, die an den Tischen Platz nehmen, sollen bedient werden“. So stand es auf einer kleinen Karteikarte, die an der Kasse klebte. Angel nahm ein Tablett, einen Zettel und einen Stift und steuerte auf das Quartett zu.

„Guten Tag, mein Name ist Angel. Was kann ich Ihnen bringen?“, fragte sie ungewohnt freundlich. Der Kaugummi war sichtbar in ihrer rechten Wange. Angel beobachtete die vier kurz. Es war ein frischer Sommertag gewesen, aber die vier waren gekleidet, als kämen sie von einer Beerdigung. Eine der beiden Damen, sie trug einen kleinen Sommerhut, bestellte im Namen aller je einen Flat White und einen Teacake für sich. Während Angel zurück hinter den Tresen ging, begannen die Gäste ihr Gespräch:

„Wie macht sich die neue Frau so?“, fragte die jüngere Dame, deren Markenzeichen lange, rot lackierte Fingernägel waren. „Also, ich muss sagen“, setzte der ältere der beiden Männer an, doch die andere Dame mit dem auffälligen Hut, funkte ihm dazwischen: „Puh. Ich kann die nicht leiden. Die ganzen Frauen sind mir zu viel. Hat nicht die eine schon gereicht? Dann kommt noch die nächste. Er ist so ein dummer Junge.“

„Das war er ja schon immer. Hat sich also nichts geändert?“, fragte die andere weiter. „Du sagst es, meine Liebe. Immer muss ich alles für ihn richten. Die erste haben wir ja schon geschafft. Aber er mit seiner dämlichen, schleimigen Art. Der raubt mir noch den ganzen Verstand. Das Schlimmste ist: Die Neue ist eine Maplewood. Die hat uns noch gefehlt. Hat sich bei dem Wohltätigkeitsbasar vor einem Jahr an ihn rangeschmissen. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich könnte wetten, dass ihr Sektglas nicht rein zufällig über seine Weste gekippt geworden ist“, fluchte die andere Dame und begann bei ihrer Erzählung an, vor Aufregung zu zittern. Der Mann neben ihr beruhigte sie mit einer sanften Umarmung: „Aber sie ist immer nett zu uns. Und er ist auch viel selbständiger geworden“, verteidigte der Mann die Person über die geredet wurde. „Nichts da. Die will was von ihm. Ich weiß nur noch nicht was. Letztens hat sie eine Teeparty gegeben. Und rate mal, wer da auch aufgekreuzt ist“, regte sich die Auskunftsfreudige auf. Die Antwort entfiel, denn ausgerechnet jetzt kam Angel mit einem Tablett voller Kaffee zurück. Die Kellnerin stellte die Ware auf den Tisch. Sie wirkte dabei leicht irritiert, bemerkte sie doch, dass die vier ihre Unterhaltung unterbrachen, als sie sich dem Tisch näherte. Nur einige Wortfetzen hatte sie vernommen.

Die Dame, die bestellt hatte, legte ihr einen 20-Pfund-Schein hin und bedankte sich. „Endlich ordentliches Trinkgeld“, freute sich Angel innerlich und ging zurück zur Kasse.

„Nun sag schon. Wer ist dort aufgekreuzt?“, fragte die Bestellerin. Die Männer schwiegen und tranken ihren heißen Kaffee, während sich die beiden Frauen tief in die Augen blickten. Sie beugten sich über den Tisch und die andere Frau antwortete: „Emma Wilkes.“ An dem Tisch saßen nun mindestens zwei Personen mit erstaunten Gesichtern. „Nun sag doch auch mal was, James“, meinte die Dame links am Tisch, die sich die ganze Zeit über aufgeregt hatte, und tippte dabei ihren Sitznachbarn an. Es war ein älterer, hagerer Mann mit einem Hut und einem langen Jackett mit weißem Kragen. Angel beobachtete die vier, während sie anfing, die Tische im Lokal abzuwischen. Es war eh an der Zeit, dies zu tun. Hatte sie den Lappen doch das letzte Mal zwei Tage zuvor nass gemacht.

Der ältere Mann mit dem weißen Kragen zuckte mit den Schultern: „Ich weiß auch nicht. Die Frauen sind immer nett zu uns“, sagte er mit unsicherer Miene. Die jüngere Frau ihnen gegenüber schien etwas zu überlegen: „Und was sollen wir hier? Wir sind doch nicht den weiten Weg angereist um uns anzuhören, dass deine ehemalige Schwiegertochter in spe wieder da ist. Und sicher auch nicht, um diesen köstlichen Kaffee zu trinken.“

„Haltet sie von mir fern. Macht sie verrückt. Lasst euch etwas einfallen. Ich habe mit den anderen Mädchen noch genug zu tun. Wenn ihr nicht klarkommt, dann gebt mir Bescheid. Ich kann keine herumschnüffelnde Polizistin in meinem Haus gebrauchen.“ Die zitternde Frau in ihrem schwarzen Umhang erhob sich von ihrem Stuhl, tippte ihren Sitznachbarn – den Herrn mit dem Hut und dem weißen Kragen – an und ging an einem Stock hinaus aus dem Café. Die anderen verblieben noch einige Minuten und tranken ihren Kaffee. Den Teekuchen hatte die jüngere Dame bereits aufgegessen.

Angel hockte die ganze Zeit nur zwei Tische weiter. Sie konnte jedes Wort von dort sehr gut verstehen. Doch hätte sie lieber nicht zu auffällig lauschen sollen. Während sie mit den Worten, die sie zuvor gehört hatte, zurück hinter ihren sicheren Tresen eilen wollte, wurde sie gestoppt. Der jüngere Mann hatte sich vor ihr aufgebaut. Was zum Teufel hielt er da in der Hand? Das war doch ihr Führerschein. Er hatte offenbar blitzschnell ihre Handtasche hinter dem Tresen gefilzt.

„Na Baby, du hast ja eben schön zugehört. Was machen wir denn da“, sagte er und wusste dabei genau, dass nur er die Antwort geben würde. Rasch fotografierte er mit dem Handy den Führerschein und warf ihn danach auf den Tresen. „Ich habe schon alles vergessen, Sir, alles vergessen“, jammerte Angel ängstlich. „Das will ich hoffen, Baby. Wir werden uns sicherlich noch einmal sprechen, Angel. Ich weiß ja, wo ich dich finde“, entgegnete er mit einem kalten Lächeln. Dann legte er den Zeigefinger der rechten Hand auf seine Lippen, zog zum Erstaunen von Angel einen 20-Pfund-Schein aus der Tasche und legte diesen auf den Tisch.

„Hast du sie umgelegt“, fragte ihn der andere Mann draußen im Auto. „Ich habe es auf meine Art geregelt. Vor allem, weil uns vorher ein Polizist gesehen hat. Außerdem hat der sich im Weggehen voller Interesse unser Auto angeschaut. Eure Fingerabdrücke habt Ihr ja sicherlich auch nicht abgewischt und dann noch die Überwachungskamera draußen am Parkplatz. Ich gefährde doch nicht wegen so einer Lappalie das Unternehmen. Ein Selbstmörder bin ich nun wirklich nicht. Das unterscheidet mich vielleicht ein wenig von Euch“, meinte er trocken und erstickte damit jegliche weitere Diskussion.

Drinnen ließ das Zittern bei Angel langsam nach. Ich habe alles vergessen, ich habe nichts gehört, sie haben sich über Cameron und seinen Wahlsieg geärgert, über Cameron, über Cameron, über nichts anderes, redete sie sich ein und nahm den Schein. Sie ahnte nicht, dass ihr vor allem der knausrige „Fucking-Bulle“ eben das Leben gerettet hatte.

2

Freitag, 25. September 2015

Devon, Plymouth, Glen Park Avenue, nahe Bahnhof

Am Tag des nächsten Mordes

Madeleine Clark hatte an diesem Freitagmorgen alle Hände voll zu tun. Einer ihrer Bäckermeister war ausgefallen und so musste sie sich selbst in der Früh um fünf Uhr in die Küche stellen und ihre leckeren Backwaren zubereiten. Das kleine Café, nahe der Sutton Harbour Marina, in der Vauxhall Street in Plymouth sollte pünktlich um acht Uhr die Türen öffnen und bereit für den alltäglichen Gästeansturm sein. Gerade die vielen Touristen, die zu dieser Jahreszeit nach Plymouth kamen und sich unter anderem das alte Hafenviertel – The Barbican – mit seinen kopfsteingepflasterten Straßen und vielen kleinen Häusern anschauten, sollten von ihrem Café und den vielen Leckereien angelockt werden.

Madeleine war schon ihr ganzes Leben lang mit Leib und Seele Köchin und Bäckerin. Doch ihr kleines „Goldstück“ – wie sie ihr Café immer liebevoll nannte – besaß sie erst seit wenigen Jahren. Vorher arbeitete sie lange Zeit als private Köchin in einem altehrwürdigen englischen Herrenhaus bei einer britischen Großfamilie am anderen Ende von Cornwall. Doch ihr Einsatz dort endete eher mit einem Schrecken. Die Köchin mochte sich nur noch ungern an die letzten Jahre in diesem Herrenhaus erinnern. Zu sehr kamen Erinnerungen hoch, bei denen sie in Wehmut verfiel. Immer wieder denkt sie an die Kinder, die sie gerne um sich in der Küche hatte. Die ihr hin und wieder beim Zubereiten halfen. Das letzte Mal hatte sie alle zusammen vor mehr als fünf Jahren gesehen. So ganz genau wusste auch Madeleine das nicht mehr. Zu sehr war sie seit ein paar Jahren mit ihrem „Goldstück“ beschäftigt.

Ihr Café „Madeleines“ hatte täglich geöffnet und in der großen gläsernen Vitrine standen die vielen leckeren Gebäckwaren, die das „Madeleines“ so schnell in Plymouth berühmt machten.

An diesem Morgen – nachdem Madeleine verschiedene Gebäcke in Eigenregie hergestellt hatte – ging sie mit ihrem Restaurantleiter Samuel erneut die Angebotskarte für die nächste Woche durch: „Wie viele Reisegruppen sind für die nächste Woche vorgemeldet?“, fragte sie ihn. „Montag bis Freitag jeweils eine Gruppe. Ich habe der Agentur bereits unsere Liste mit den angebotenen Spezialitäten übermittelt. Scones in vier Geschmacksorten, verschiedene Crumble-Cakes, der Dorset-Apfelkuchen und das Chelsea-Brötchen. Hast du noch andere Ideen? Wir wollen das wieder als kleines Buffet aufbauen.“ Die Chefin schüttelte den lockigen Kopf. „Nein. Du hast das schon im Griff. Versucht bitte nur, den Touristen mehr Getränke anzubieten, sonst haben wir wieder nur gerade so unsere Kosten raus“, bat sie den Restaurantleiter. „Samuel. Ich muss jetzt nochmal los, etwas erledigen. Ich bin heute erst spät zurück. Wir sehen uns ansonsten morgen.“ Madeleine stand auf, griff nach ihrer Handtasche und stürmte aus dem kleinen Büro. Samuel blickte ihr fragend hinterher. Er hatte bemerkt, dass seine Chefin in ihren Gedanken verloren war. Wie schon öfter in letzter Zeit. Und er hatte recht.

Madeleine setzte sich in ihr Auto und fuhr Richtung Bahnhof. Die sechs Minuten Fahrt fühlten sich für sie in diesem Moment wie eine Ewigkeit an. Ihr ging so viel durch den Kopf. Fünf Jahre waren vergangen, seit sie ihre Mädchen das letzte Mal gesehen hatte. Fünf Jahre, in denen sie auf eigenen Beinen stand und unabhängig war. Wie nie in all den Jahren zuvor, als sie im Dienst der Maplewood Familie stand. Madeleine hatte ihr Glück mit dem Café gefunden. Vor wenigen Wochen jedoch las sie in einer überregionalen Zeitung eine Anzeige, in der nach einem Koch bzw. einer Köchin gesucht wurde. Arbeitsort sollte der Trewidden Golfclub sein. Madeleine traute ihren Augen nicht. „Trewidden. Ein ehemaliges Maplewood-Anwesen“, murmelte sie zu sich selbst. Sofort hatte sie bei der Agentur angerufen, bei der sich Interessenten melden sollten und dort erhielt sie die nächste erstaunliche Nachricht. Die Inhaberfamilie sei keine geringere als Mr und Ms Gent.

„Es müssten Lily und Christopher sein,“ stellte sie fest und war fest entschlossen, die beiden zu besuchen.

Madeleine parkte ihr Auto auf dem Parkplatz direkt am Bahnhof von Plymouth, stieg aus und rannte zum Zug. 9:20 Uhr ab Plymouth nach Penzance. Von dort würde sie ein Taxi nehmen. Madeleine ahnte nicht, was ihr noch bevorstehen würde.

Wenige Minuten zuvor nahe West Hoe Park, Plymouth

Mary Simpson war bereits seit sieben Uhr auf den Beinen. Sie hatte ihrem Mann Peter ein kleines Lunchpaket für die Arbeit gemacht. Er war Anlageberater und musste zwei Projekte an diesem Tag über die Bühne bringen. Ihren beiden Kindern hatte sie jeweils zehn Pfund zugesteckt, bevor sie von einem Chauffeurdienst abgeholt und zur Schule gebracht wurden.

Marys Mann verließ um kurz vor acht Uhr das edle Reihenhaus in der Grand Parade 31 im Süden von Plymouth in unmittelbarer Nähe zum Wasser. Mary liebte diese Gegend. Jeden Morgen und Abend lauschte sie den am Himmel kreisenden Möwen, machte tagsüber ausgedehnte Spaziergänge oder verbrachte die wärmeren Tage gerne im öffentlichen Lido-Pool nur wenige Gehminuten von ihrem Wohnhaus entfernt. Obwohl sie mitten in einer Großstadt lebte, fühlte sie sich zeitweilen wie auf einem Dorf. Das genoss Mary sehr. Und sie hatte seit einigen Monaten ein Hobby.

Das Inserat fand sie zufällig im Internet. Mary hatte noch nie zuvor an handwerklichen Kursen oder Ähnlichem teilgenommen. Doch als sie auch noch las, dass ihr heimlicher langjähriger Schwarm diese Kurse gab, musste sie unbedingt daran teilnehmen. Und so wurden die Kurse zu ihrem eigenen kleinen Geheimnis. Allerdings gestalteten sich diese Tage immer wieder schwierig, da sie einen zwei Stunden langen Fahrweg in Kauf nehmen musste. Vier Stunden am Tag im Auto für nur eineinhalb Stunden Keramikkurs. Doch Mary hatte sich von Anfang an eines in ihren jungen blonden Kopf gesetzt: Sie wollte nicht mit leeren Händen gehen.

Noch bevor sie Peter heiratete, kannte sie den Kursleiter, oder besser gesagt den Künstler aus regionalen Zeitungen. Er war ihr Schwarm. In jener Vergangenheit, über die sie kaum zu reden vermochte. Mary wusste um sein Geheimnis, welches er all die Jahre wie seinen Augapfel hütete. Sie hatte ihn in der Hand. Ich will Dich öfter sehen, sonst…sonst bin ich traurig, lautete ihre letzte SMS. Jene war mit Absicht etwas doppelsinnig, denn verraten würde sie ihn jetzt nicht. Aber die ein, zwei schicken Essen in vornehmen Restaurants reichten ihr nicht. Das spürte er sicherlich an kleinen Bemerkungen. „Nun ja, wir werden sehen“ dachte sie sich. Er soll sich ruhig ihrer nicht zu sicher sein. Und bezahlen würde er so oder so.

An diesem Freitagmorgen musste sie sich konzentrieren. Sie würde ihn noch heute treffen. Er hatte sich am Vorabend bei ihr mit einer längeren Nachricht gemeldet und angekündigt, dass er vernünftig mit ihr reden wolle. „Ich habe immer noch inständige Gefühle für dich. Ich hole dich in St. Erth um 11:05 Uhr ab.“

Mary hatte sofort im Internet nach der Abfahrtzeit gesucht. Sie hätte auch mit dem Auto zu ihm fahren können. Da ihr Mann allerdings ohnehin bis zum späten Abend unterwegs sein würde und sie einfach dem Kindermädchen Bescheid sagen konnte, ein wenig länger auf die Kinder aufzupassen, machte ihr die Bahnfahrt nichts aus. Im Gegenteil: sie hatte genügend Zeit, noch einmal alles in Ruhe zu überdenken.

Mary hatte sich ein Taxi zum Bahnhof von Plymouth genommen. Dort ging sie rasch zu einem Automaten, kaufte ein Ticket und in dem kleinen Supermarkt erhaschte sie noch schnell eine Flasche Zitronenlimonade. Die Blondine musste sich beeilen. 9:20 würde der Zug nach Penzance fahren. Sie hatte nur noch wenige Minuten, um das entsprechende Gleis zu finden. Ihre Schritte wurden schneller.

Doch nicht nur Mary eilte durch den Bahnhof. Mit sicherem Abstand folgte ihr eine Person. Diese fiel in dem Getümmel, das zu dieser Uhrzeit am Bahnhof herrschte, kaum auf. Die Person trug einen großen Hut und einen langen schwarzen Mantel. Marys Gedanken ratterten noch ein letztes Mal, bevor sie den Bahnsteig betrat. Die Zugeinfahrt wurde bereits angekündigt.

Ihr kleines Parfumfläschchen und den Lippenstift würde sie kurz vor der Ankunft noch einmal benutzen. Das nahm sie sich fest vor und würde es garantiert trotz aller Aufregung nicht vergessen.

Mary stieg in den Zug der Great Western ein.

Zwei Wagen weiter stieg auch Madeleine Clark in den Zug ein und nahm in einem Abteil Platz.

Der Zug fuhr pünktlich um 9:20 Uhr aus Plymouth in Richtung Penzance los. Doch mindestens einer seiner Fahrgäste würde sein Ziel an diesem Tag nicht erreichen.

3

Donnerstag, 27. August 2015

Cornwall, Falmouth

Einen Monat zuvor

„Möchtest du noch etwas Milch, Henry?“, fragte Susie Patcowe Emmas Sohn Henry. Dieser verweilte seit einigen Tagen schon unter Aufsicht der örtlichen Maklerin, da seine Mutter – Emma Wilkes – sich eine kleine Auszeit genommen hatte.

Teilweise konnte Susie mit Emma mitfühlen. Der Anfang für Emma in Falmouth war wahrlich nicht einfach gewesen. Doch nach all den Tragödien im letzten Sommer und Herbst konnte sie sich eigentlich nicht beschweren. Susie dagegen stand wieder einmal alleine da. Alleine mit ihrem Sohn Jake. Keiner der Männer, mit denen sie eine Affäre hatte, wollte etwas von ihr wissen. Besonders dieser eine Mann. Erst wurde sein Sohn entführt und dann stellte sich heraus, dass seine Frau eine kaltblütige Mörderin war. Für Ralph Nightingale hatte das Jahr 2014 so einige Überraschungen parat. Susie hatte gehofft, ihn für sich gewinnen zu können, nachdem er wieder „auf dem Markt“ war. Doch das hatte nicht geklappt. Und das Schicksal wollte sie noch mehr verletzen: in den letzten Monaten bekam sie ihn beinahe täglich auf dem Nachbargrundstück zu sehen. Susie starrte aus ihrem Küchenfenster. Sie hörte, wie die beiden Jungs – Jake und Henry – sich beim Frühstück unterhielten. Noch eine gute Woche lang würden die beiden Sommerferien haben. Susie hatte ihnen versprochen, am Nachmittag an den Strand zu gehen. Vorher würde sie ein wenig arbeiten müssen.

Die wirtschaftliche Lage schwankte jedes Jahr unberechenbar in dieser Gegend. Das vergangene Jahr lief für die Maklerin einigermaßen passabel und sie konnte sich von ihrer Courtage ein paar schöne Dinge zum Trost von den Enttäuschungen leisten.

Doch dieses Jahr sah bisher alles andere als rosig aus. Sie hatte erst zwei Hausverkäufe abgewickelt. Besichtigungen standen jeden zweiten Tag auf ihrem Programm, doch die Interessenten hatten immer wieder etwas auszusetzen. Wie sich der Wahlsieg der Tories auswirken würde, war noch unklar. Hatte der wiedergewählte Cameron doch vorher versprochen, im Falle eines absoluten Sieges ein Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU abzuhalten. Vielleicht flohen die Anleger aus Sorge davor in Immobilieninvestitionen in vielen Landesteilen. Doch Susie spürte von diesem Boom derzeit nichts.

Sie war sich bewusst, dass allein der Charme in Cornwall mit den weiten Feldern, den hübschen kleinen Städtchen mit ihren Einkaufsgassen, den vielen Stränden und nicht zuletzt der Flora und Fauna nicht dauerhaft als Anreiz für die Käufer wirken würden. Sie musste sich in naher Zukunft wieder einmal Gedanken um ihre Perspektive machen. Vielleicht sollte sie ihr Leben komplett umkrempeln. Doch das war erst wieder ein Thema, wenn sie ihren Unmut bei Henrys Mutter losgeworden wäre. Sie wusste nur noch nicht, wie sie Emma das nächste Mal gegenübertreten sollte. Aber so wie bisher konnte es nicht weitergehen – als Dauerkindergärtnerin und Lehrerin für Henry.

In dem Moment wurde Susie erneut aus ihrem Tagtraum gerissen. Jake hatte einen Löffel auf den Boden fallen lassen. Es klirrte ein wenig auf den hellen Fliesen. „Susie, denk daran: Wir müssen noch eine neue Sporthose für das Fußballturnier in zwei Wochen kaufen“, ließ Henry verlauten.

„Alles klar, kleiner Mann“, antwortete die junge Frau liebevoll, umarmte beide Jungs, als sie ein lautes Fahrgeräusch hörte.

Susie ging, gefolgt von Jake und Henry, nach draußen und blieb abrupt auf dem Treppenabsatz stehen. Sie schaute auf ihre Uhr. Es war kurz nach halb elf. „Die sind aber früh dran“, sagte Susie zu sich selbst. Für sie bedeutete die Ankunft eines großen Möbelwagens zwei Häuser weiter „Arbeit“.

„Jungs, ihr bleibt hier und bewacht das Haus“ forderte sie die Jungen auf. „Ich muss mal zu unseren neuen Nachbarn.“

Susie hatte erst vor wenigen Wochen das verwaiste Haus von der verstorbenen Ms Norris an ein Ehepaar verkaufen können. Die Prämie aus dem Verkauf trug sie an ihrem rechten Handgelenk. Eine teure silberne Uhr von Chopard. Sie schlüpfte in ihre Flip-Flops und ging die Boscawen Road hinunter. Sie warf dabei einen kurzen Blick zu ihrem Nachbarhaus. Hier wohnte eigentlich Emma mit ihrem Sohn Henry. Doch Emma war noch in ihrem Sabbatical oder wie sie das auch immer nennen wollte. Susie erhaschte im Vorbeigehen, dass einige Fenster geöffnet waren, doch ihre Neugier lag erst einmal auf dem Haus daneben.

Die neuen Hausbesitzer schienen schon angekommen zu sein. Seitlich vor dem Haus stand ein großer Volvo. Die Haustür war weit geöffnet. Aus dem Möbelwagen stiegen zwei, nein drei Umzugshelfer aus. Susie wollte aber nicht die Möbelstücke begutachten und auch nicht das teure Auto. Sie wollte viel lieber die neue Familie kennenlernen. Hatte sie doch bei dem Vertragsabschluss nur Bekanntschaft mit dem Mann des Hauses gemacht. Sie erinnerte sich noch ganz genau, dass ihr erster Gedanke von einem mulmigen Gefühl bestimmt wurde. Doch sein Angebot war unschlagbar.

Susie stieg die wenigen Holzstufen auf die Veranda hinauf und blieb an der Tür stehen. Sie klopfte: „Hallo. Familie Roth? Sind Sie da?“, rief sie ins Haus hinein. Ein kühler Wind zog hindurch. Sie hatten alle Fenster geöffnet.

„Ach hallo. Sie müssen entschuldigen. Hier ist noch pures Chaos. Sind Sie die Maklerin Ms Patcowe? Mein Mann hat mir schon von Ihnen erzählt. Ich bin Kimberly Roth.“

Die Hausherrin kam in einer engen Jeans und mit wahnsinnig hohen Absatzschuhen die steile Treppe hinunter, als hätte sie das ihr Leben lang immer getan. Sie schüttelten sich ihre Hände. „Genau. Mein Name ist Ms Patcowe. Sind Sie soweit zufrieden? Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein soll, dann lassen Sie es mich wissen. Ich hatte Ihren Mann ja über den Bauzustand des Hauses informiert. Hier und da müsste man ein wenig ausbessern.“ Susie wurde von Kimberly Roth mit einem Handzeichen unterbrochen: „Schätzchen. Es ist wunderbar hier. Der Ausblick entschädigt für alles. Machen Sie sich keine Sorgen. Genießen Sie lieber das schöne Wetter. Wir müssen hier noch weiter auspacken. Wir sehen uns.“

Susie wurde förmlich von Ms Roth aus dem Haus geschoben. Die Tür fiel hinter ihr geräuschvoll ins Schloss. Die Maklerin war ein wenig verstört. Auf der anderen Türseite blickte Kimberly vorsichtig durch ein angelehntes Fenster und tippte ihre Finger aneinander.

„Okay. Das war merkwürdig. Nun ja, hoffen wir mal, dass wir nicht viel miteinander zu tun haben werden“, reflektierte Susie diesen Auftritt und ging zurück zu ihrem Haus. Ihr Blick fiel erneut auf das Haus von Emma. Doch nun stand ein Mann an der Haustür und schaute zu ihr. Sie kannte ihn. Und plötzlich wurde ihr wieder ganz flau im Magen. Hatte er sie gesehen? Würde sie es zurück zu ihrem Haus schaffen, bevor er bei ihr wäre? Doch zu spät. Er kam schon in ihre Richtung.

Er schaute etwas betrübt. Aber bestimmt nicht, weil er Susie sah, sondern seine Freundin vermisste.

„Ich war kurz bei den neuen Nachbarn. Merkwürdiger erster Eindruck. Hoffen wir das Beste“, plapperte Susie unsicher, um irgendein Gespräch zu beginnen. Der große Mann wollte zu einer Frage ansetzen, doch Susie kam ihm zuvor: „Du, ich muss jetzt zu den Jungs. Falls du etwas von Emma hörst, sie darf ja wohl das Handy nicht anmachen, grüß sie, Henry ist wohlauf.“ Susie ging eilig zu ihrem Haus zurück. Sie warf einen kurzen Blick zurück, in der Hoffnung, sie würde noch einmal seine großen dunklen Augen sehen können, doch auch er war bereits wieder im Haus verschwunden.

4

Mittwoch, 2. September 2015

Cornwall, Falmouth

23 Tage bis zum nächsten Mord

„Was fällt dieser Kuh eigentlich ein? Lässt mich einfach hier mit der ganzen Arbeit sitzen und macht sich ein schönes Leben. Frauen. Verdammte Scheiße. Wenn sie mir wieder unter die Augen kommt, dann mache ich ihr die Hölle heiß. Darauf kann sie Gift nehmen. Ich mach dich fertig, Emma!“

Greg erschrak. Gott sei Dank war das nur ein Traum. Wie konnte er nur so einen Mist träumen? Mit ihm stimmte doch etwas nicht, oder? Greg Horton lag mit einem leichten Schweißfilm in seinem Bett. Er blickte an die Decke und sah, wie sich der kleine Deckenventilator gemächlich drehte und einen leichten Windzug über das Bett wehen ließ. Er schaute kurz nach links zur anderen Betthälfte. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. Greg manövrierte sich aus dem Bett, schlüpfte in seine Pantoffeln und ging die Treppe der Maisonettewohnung hinunter in die Küche. Es war erst halb vier am Morgen. Greg konnte seit einigen Wochen nicht mehr so gut schlafen. In dieser Nacht hatte er bereits zum zweiten Mal diesen bösen Traum von seiner Kollegin. Er hatte Emma Wilkes, als sie im Frühjahr 2014 zu ihm aufs Revier versetzt wurde, sofort in sein Herz geschlossen.

Er mochte ihre zum Teil aufbrausende Art und hatte auch irgendwie Mitgefühl mit ihr.

Er stellte es sich schwierig vor als alleinerziehende junge Frau auf Verbrecherjagd zu gehen. Besonderes Mitleid empfand er mit ihr, als er erfuhr, was sie in der Vergangenheit alles hatte durchmachen müssen. Auch ihr erstes Jahr im neuen Einsatzgebiet rund um Falmouth hatte es gleich in sich. Sie kamen einem Kindermörder auf die Schliche und Emma ging dabei bis an ihre körperlichen und mentalen Grenzen. Vor allem, als auch noch ihr Sohn entführt wurde. Als dann kurz nach Ostern auch noch die von ihr meist gehasste Person aus dem Knast auftauchte und sie erfuhr, dass sie eigentlich zwei Mal betrogen worden war, entschied sich Emma zum Beginn des Sommers für eine Auszeit. Ganz alleine. Ihren Sohn Henry konnte sie getrost bei einer Freundin lassen.

Greg kannte den Wunsch von Emma nach einem zweiten Kind. Doch dieser Wunsch blieb unerfüllt. Im letzten Jahr erst hatte ihr Arzt gesagt, dass die Tests aus der Apotheke fehlerhaft waren und dass sie nie schwanger war, wie sie es gedacht und erhofft hatte.

Greg verbrachte daraufhin so viel Zeit wie nur möglich mit seiner geschätzten Kollegin und deren Sohn.

Der Polizist stützte sich gerade am Küchentisch ab, als eine andere Person die Wendeltreppe hinunterkam. Es war 3:45 Uhr, bemerkte Greg. „Es ist doch viel zu früh für dich. Geh‘ doch wieder schlafen Süßer“, sprach er leise zu Connor.

Connor Davis schlang seine Arme um Greg, gab ihm einen Kuss in den Nacken und schlich sich wieder nach oben ins Bett. Während seine Kollegin und Freundin privat von einem ins nächste Unglück schlitterte, hatte sich Greg zu Connor bekannt und war noch vor den Weihnachtsfeiertagen im letzten Jahr mit ihm in diese hübsche Wohnung in der High Street mit Blick über die Carrick Roads – eine Meeresbucht – gezogen.

Connor hatte seinen Job im Travestieclub „Brickstone“ in London aufgegeben und arbeitete aushilfsweise an einigen Abenden in der Woche in Julius Bar. Eine Attraktion für die Gäste war es immer, wenn er gegen zehn Uhr drei Songs zum Besten gab.

Greg warf einen Blick in den Kühlschrank. Er musste grinsen. Seit er Emma kannte, hatte er immer wieder Schokomilch bei sich zu stehen. Sie hatte ihn dazu animiert und er trank seitdem auch immer wieder davon.

Greg war munter genug und entschied sich, aufs Revier zu fahren. Um diese Zeit hatte er dort seine Ruhe und konnte den riesigen Stapel Papierkram etwas abarbeiten.

Das kleine Polizeirevier lag ruhig in der Dracaena Avenue am nördlichen Rande von Falmouth. Greg parkte seinen Wagen an einer großen Palme. Das war sein Stammplatz. Er sah von draußen ein kleines Licht im Haus brennen. Er wusste, dass der neue Kollege Nachtschicht schob. Emma und Greg hatten lange gesucht, nachdem Ryan Murphy sie verlassen hatte, um einen passenden neuen Kollegen zu finden. Ted Bingsley kam von der Streife aus Truro und hatte genügend Ehrgeiz und Neugier beim Einstieg gezeigt, so dass Emma und Greg froh waren, ihn als neuen Kollegen bei sich zu haben.

Greg ging ins Revier. Er begrüßte Ted, der an seinem Schreibtisch saß und nebenbei Comedy Central auf einem kleinen Fernseher schaute. „Die Nacht verläuft bisher ganz ruhig, Chef“, antwortete Ted auf Nachfrage von Greg.

Dieser ging weiter durch das Großraumbüro, vorbei an Emmas Arbeitsplatz. Dort stapelten sich immer noch einige Akten. Er kam in sein Büro, welches lediglich durch nicht ganz raumhohe Glasscheiben abgetrennt war.

Auch dort erwartete ihn ein riesiger Stapel an Vorgängen.

Erst vor kurzem hatte Greg seinen Bericht zu den vermissten Kindern aus dem letzten Jahr fertiggestellt. Immer wieder kamen Kleinstdelikte dazwischen. Emma fehlte ihm.

Sie war fitter, schneller im Kopf als er. Das wusste Greg genau, wollte es nur niemandem gegenüber zugeben. Hatte er vielleicht deswegen neuerdings diese angsteinflößenden Träume? Er schüttelte den Kopf, meldete sich im Polizeisystem am Computer an und las die neuesten Meldungen aus der Region.

Sofort fiel sein Blick auf die oberste Meldung.

Sie war markiert, als Wiederholungsmeldung. Greg raunte ein wenig und kratzte sich an seinem Dreitagebart.

Die Kollegen aus St. Ives meldeten in den vergangenen Monaten immer wieder Kleinstdiebstähle aus ein und derselben Adresse. Greg rief die Koordinaten auf der Landkarte im System auf. Er hatte kurz Bedenken. Auf der Landkarte sah er ein großes Haus. Ringsherum weite Felder. Er zoomte etwas weiter heraus. Er atmete auf. Es war nicht dieses Haus, welches ihm und seiner Kollegin damals beinahe das Leben gekostet hatte. Nein, das war es nicht. Es war ein anderes großes Haus. Greg stöhnte und hoffte, dass sein Kollege aus St. Ives sich nicht bei ihm melden würde.

Allerdings wusste Greg ganz genau, dass er jenen früher oder später unterstützen müsste. Das Revier in St. Ives war eines der ersten, welches seit einigen Jahren dem landesweiten Sparzwang zum Opfer fiel und in diesem Zuge keine Kollegen mehr eingestellt wurden.

Doch solange Greg noch keinen offiziellen Auftrag bekam, ging ihn das nichts an. Das war ihm nicht unrecht, denn er hatte genug anderen Papierkram und Delikte, um die er sich kümmern musste. Er warf einen Blick zu seinem Kollegen Ted. Der saß nicht mehr an seinem Platz.

Greg suchte ihn. Bei einem Blick aus dem Fenster hatte er ihn rauchend auf dem Parkplatz vorm Haus entdeckt. Ted hielt ein Handy am Ohr.

Und offensichtlich musste auch er Greg entdeckt haben. Er warf seine Zigarette auf den Boden, trat sie aus und kam zurück ins Haus gerannt. Mit wem, um Himmels Willen, hatte er zu dieser Schlafenszeit telefoniert? Greg fühlte die Lüge, als Ted meinte, er hätte seine Mailbox abgehört.

5

Freitag, 4. September 2015

Devon, Buckfast Abbey – Benediktinerabtei

Ein letztes Mal hatten sie den Kreis der Barmherzigkeit gebildet. In aller Herrgottsfrühe. Emma war es nach fast sechs Wochen gewohnt, mit dem Sonnenaufgang aufzustehen und mit den Teilnehmern des Klosterkurses die Sinne zu entfalten und das Herz zu öffnen. Jeden Morgen spürte sie den kühlen Morgenwind in ihrem Gesicht. Er legte sich wie ein zarter warmer Film auf ihre Wangen und vermittelte Schutz. Sie hatte es gelernt, dass eigentlich jede Sekunde im Leben wichtig war. Nach der morgendlichen Andacht war es Zeit für Stille und innere Einkehr.

Langsam, ganz langsam glitten die Finger über die Feldsteine. Kunstvoll waren diese durch Mörtel miteinander verbunden. Glatte Steine und rauer Mörtel verschmolzen zu einer Einheit. „Genau wie im Leben. Mal läuft alles glatt und urplötzlich kommt das Grobe, Raue, das manchmal etwas aufreißt. Dann bleiben Narben“, sinnierte Emma. „Gehen Sie in den Raum der Stille. Berühren Sie die Wände, betrachten Sie alles und schließen Sie dann die Augen. Sie tauchen in Ihr Innerstes ein und hören die Worte des Herrn“, hatte Bruder Robert zu den Teilnehmern des Klosterkurses gesagt.

Emma schloss die Augen. Die Leere füllte sich und die Gedanken wanderten zurück in jene Nacht, als Gordon vor ihrer Tür stand.

Eigentlich hätte er im Gefängnis sitzen müssen. Als ein korrupter Polizeibeamter, der selbst vor Verbrechen nicht zurückgeschreckt war. Dem sie als Chef vertraut und als Mann geliebt hatte. Und der alles verriet.

Wortlos hatte sie ihn in die Wohnung gelassen. Entgegen ihrer Gewohnheit hatte sie das Pfefferspray noch in der Hosentasche und die Pistole lag nicht in einer verschlossenen Schublade im Büro, sondern hinter der Kaffeebüchse. Ihre gelegentliche Unordnung erwies sich also als außerordentlich nützlich.

Doch Gordon machte keinerlei Anstalten, sie zu bedrohen.

Er erzählte ihr stattdessen davon, wie man ihn im Auftrag des Innenministers als Undercover Agent rekrutiert hatte.

Mit der Legende eines liebestollen und korrupten Beamten, der Wachs in den Händen einer schönen Frau aus einem Mafiaclan zu sein schien. Und dabei viele Informationen über die Strukturen dieser Organisation an den Geheimdienst übermitteln konnte. „Doch so wie manche verdeckten Ermittler im Drogenhandel selbst drogensüchtig werden, wurde ich langsam ein anderer Mensch. Einer mit zwei Gesichtern. Dass mein eines nicht völlig verloren ging, habe ich Dir zu verdanken, Emma“, sagte Gordon leise. Für einen Augenblick versagte ihm die Stimme. Dann ging ein Ruck durch ihn und er erzählte davon, wie man ihn per vorgetäuschter Vergiftung aus dem Gefängnis gebracht hätte. Für den Geheimdienst war er verbrannt, aber man ließ ihn nicht völlig fallen. Ausgestattet mit einer neuen Identität werde man ihn nach Australien bringen und auch dort durch den Residenten des Dienstes überwachen lassen.

Das sei immerhin besser, als zwanzig Jahre im Knast zu schmoren. „Ich wollte mich nur von Dir verabschieden und werde gleich draußen diesen Brief einstecken. Der ist für unser Kind, falls ich der Vater sein sollte. Nein, sag nichts. Jedes Wort wäre falsch“, meinte er entschlossen.

Emma überflog den hingehaltenen handschriftlichen Text. „Meine liebe Emma, die Regierung hat mich für eine gefährliche Operation ausgewählt. Vorher durfte ich dir nichts davon erzählen. Ich weiß nicht, wann ich wieder bei euch sein werde. Vielleicht nie. Aber es ist für unser Vaterland. Ich liebe Dich für immer und ewig. Dein Gordon.“ Emma schluckte, als sie diese knappen Zeilen las. Gordon nahm ihr das Blatt aus der Hand, strich ihr einmal zögerlich übers Haar und drehte sich dann rasch um. „Adieu Emma“, waren seine letzten Worte. Zwei Tage später lag ein Brief ohne Absender im Hausbriefkasten. Emma öffnete ihn nicht, denn sie kannte den Inhalt. Und der Verfasser erfuhr später nicht, dass es nie ein Kind gegeben hatte.

Emma atmete tief und genoss es beinahe, wie die verbrauchte Luft aus den Lungen kam. Sie öffnete die Augen. Genug der Stille, jetzt wartete die Welt wieder auf sie. Sie dachte an Greg und besonders an ihren Jungen. An Henry.

6

Montag, 7. September 2015

Devon, Buckfast Abbey – Benediktinerabtei

Sie kämmte sich ihre langen kastanienbraunen Haare. Noch kurz bevor sie für mehrere Wochen ins Kloster ging, hatte sich Emma ihre Haare gefärbt. Ihr war nach etwas Neuem, nach den vielen Jahren als Blondine.

Der Aufenthalt im Kloster ging zu Ende. Das hatte sie gebraucht. Ruhe und sich selbst erkennen. Neuen Lebensmut finden und Kraft schöpfen. Die hässlichen Teile ihrer Vergangenheit konnte sie so fast komplett hinter sich lassen. Den täglichen Griff in die Tablettendose vermisste sie nicht. Auch nicht das viele Reden, das Glas Wein am Abend. Nein, damit konnte sie in den vergangenen Wochen gut umgehen.

Noch immer erschien ihr langjähriger Wegbegleiter vor ihrem geistigen Auge. Doch in den letzten Tagen wurden ihre Gefühle immer weniger. Sie sehnte sich nach ihrer nahen Zukunft. Denn sie wurde bereits erwartet. Und nicht nur von ihrem geliebten Sohn Henry. Dieser verbrachte die letzten Wochen, während Emmas Abwesenheit, bei ihrer Nachbarin und Freundin Susie Patcowe. „Ach, liebe Susie“.

Henry war ein starker kleiner Kerl. Noch immer war sie stolz auf ihn, wie er sie im letzten Jahr mehrfach grandios und klug unterstützt hatte. Dreimal hatte sie mit ihm über den Hausanschluss des Traktes telefoniert. Mach dir keine Sorgen, Mama, ich habe alles hier im Griff, lautete seine Botschaft.

Emma blickte sich in ihrem kleinen Raum um. Er war sehr spartanisch eingerichtet. Ihr Handy musste sie zu Beginn der Auszeit am Empfang abgeben. Ihr großer Koffer war gepackt. Am Vorabend hatte sie ihren Freund und Kollegen Greg angerufen und ihn gebeten, sie abzuholen. Worin er sofort einwilligte.

Emma spürte Energie und Tatendrang in sich aufsteigen, als sie an die neu gewonnene Freiheit, an ihr neues Leben dachte. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr, band ihre langen glatten Haare zu einem strengen Zopf nach hinten und schlüpfte ein letztes Mal in die äußerst bequemen Kloster-Pantoffeln.

„Ein letztes Mal Frühstück. Eine letzte Andacht“, flüsterte Emma vor sich hin, da ertönte der Glockenschlag von Buckfast Abbey. Zeit, um loszugehen.

Es war kurz nach zehn, als Emma von Bruder Robert aus dem Southgate begleitet wurde. Einige der inhaltsvollsten Gespräche, die sie in der Zeit im Kloster führte, waren die mit dem Mönch. Er war ein älterer, hagerer Mann dessen Mimik nur eine Stellung kannte. Sein Gesicht wurde nahezu jeden Tag durch ein zaghaftes Lächeln geprägt. Er war es, der Emma die Kunst beibrachte, die Stille zu genießen. Die Kunst, alte Gewohnheiten abzulegen und neue Ziele im Leben zu schaffen. Seien sie auch noch so klein. „Machen Sie es gut, Ms Wilkes. Mögen Sie Ihre Kräfte überlegt einsetzen und ihre Schwächen akzeptieren. Kein Mensch ist vollkommen, sonst wäre er wie Gott. Sehen Sie durch die Finsternis hindurch zum Licht. Sonst verschenken Sie so vieles, das auch anderen helfen könnte. Wenn es sein muss, reagieren Sie mit Strenge bei anderen. Aber in eigener Sache lassen sie dann Milde walten, wenn der Kampf gegen das Böse Sie schwächt. Gönnen Sie ihrem Körper und ihrem Geist dann die nötige Erholung. Sonst sind nicht nur Sie verloren und das Böse triumphiert. Und das wollen weder Sie noch ich. Und Ihr kleiner Sohn erst recht nicht. Beehren Sie unser Kloster bald wieder, wenn Sie das Verlangen spüren“, sprach Bruder Robert sanft zu seiner Besucherin und übergab ihr noch als Dankeschön einen dunklen Stoffbeutel mit dem Emblem des Klosters darauf. Emma kamen bei seinen offenen Worten fast die Tränen. Am liebsten hätte sie ihn umarmt und ganz lange gedrückt. Aber das ging nicht. Der Bruder machte am Tor einen Schritt zurück, drehte sich nach einem kurzen Nicken um und verschwand in den Gärten.

Emma warf einen Blick in den Beutel und entdeckte zwei Flaschen des köstlichen Buckfast Tonic Wine. Ein leckerer Likörwein mit einer fruchtig-süßen Note.

Emma stand nicht allein auf dem Kieselplatz. Eine andere Klosterbesucherin reiste ebenfalls wieder ab. Carla kam eigentlich aus Spanien. Die beiden Frauen hatten sich ein paar Mal bei der Gartenarbeit unterhalten oder tranken hin und wieder abends einen Becher von dem Likörwein. Emma überlegte kurz, ob sie sich von ihrer Mitstreiterin richtig verabschieden sollte, doch da kam schon Greg angerast und parkte den Wagen unmittelbar vor Emmas Füßen.

„Sorry, dass ich zu spät bin Emma. Komm steig ein, ich nehme deinen Koffer“, sprach Greg hastig und öffnete ihr die Beifahrertür.

Greg war ein bisschen genervt von der langen Autofahrt. Er bemerkte, dass Emma hingegen total entspannt neben ihm saß. Er warf einen Blick nach links: „Ich bin froh, dass du wieder da bist Emma.“ Sie blickte ihn an und strahlte.

Sie fing an in einer ihrer Taschen zu wühlen.

„Ich habe dir etwas mitgebracht Greg. Moment. Ach, da ist es ja: ein Amulett aus Buckfast. Das kannst du in eurem Wohnzimmer auf die Kommode legen und Connor sagen, dass es die bösen Geister fernhält.“ Sie grinste. Greg auch. „Wie läuft es denn bei euch beiden?“, fragte sie ihren Kollegen.

Greg nickte: „Ganz gut. Ich habe endlich jemanden um mich, der die Wohnung sauber hält und kochen kann.“ Beide lachten. Emma merkte die Anspannung bei Greg.

„Irgendetwas macht dir doch zu schaffen, Greg? Ich merke das an deiner Körpersprache.“ Der Angesprochene zögerte einen Augenblick. „Ach, du nun wieder. Ich dachte, du hättest dich nach den Wochen im Kloster verändert. Aber nein: wie eh und je die Alte“, spottete Greg. Wieder Lachen im Wagen. „Ach, komm schon Greg. Ich merke fast alles. Und ich sage dir eins: auch im Kloster war meine Spürnase gefragt.“

„Wie jetzt? Was war da los, Emma?“

„Nicht ablenken, Greg. Los erzähl: was ist los in Cornwall? Was beschäftigt dich?“

„Du lässt eh nicht locker“, bemerkte Greg. Er berichtete ihr von dem vielen Papierkram, der sich immer noch auf den Tischen stapelte. Davon, dass er immer wieder ein komisches Gefühl mit dem neuen Kollegen Ted Bingsley hatte. Und er erzählte Emma – obwohl er noch mit sich haderte – dass immer wieder Fälle von seinem Revier nach Truro oder gar Newquay verlegt wurden, obwohl er oder Ted ja vor Ort waren. „Ich sage dir Emma: da ist was im Busch. Die Sparmaßnahmen werden auch vor uns nicht Halt machen“, prophezeite er.

„Jetzt fahr mich erstmal nach Hause. Ich bin jetzt auch wieder da. Und noch eins sage ich dir. Ich bin Emma Wilkes. Nur über meine Leiche.“ Greg musste wieder grinsen.

Es war kurz vor eins am Mittag, als Greg den Wagen in der Boscawen Road vor Emmas Haus parkte. Henry war bereits von seinem ersten Schultag zurück und musste einen siebten Sinn haben. Er kam herausgerannt und rief laut: „Mama. Endlich.“ Der Junge riss die Beifahrertür auf und Emma sprang hinaus und umarmte Henry. „Ich habe dich so vermisst. Du siehst toll aus. Ab jetzt wirst du mich nicht mehr los“, sprach sie zu ihm, während sie ihn fest an sich drückte. „Denkst du, mich wirst du los? Ich brauche hier mehr Chaos“, entgegnete er. „Susie ist so ordentlich. Sie hat immer alles alleine weggeräumt.“ Emma musste lachen und gab Henry einen dicken Kuss.

„Emma, hier dein Koffer und schau mal: da wartet noch jemand auf dich.“ Greg nickte in Richtung des Hauses. „Wir sehen uns.“ Damit verabschiedete sich Greg.

Henry rannte zurück ins Haus. Emma blickte ihm hinterher.

Auf der Veranda stand ein großer schlanker Mann.

Emma ging auf ihn zu und strahlte. Er kam ihr mit offenen Armen entgegen. „Da bist du ja. Ich freue mich. Ich mache dir gleich eine heiße Schokolade.“ Ralph Nightingale umarmte Emma und gab ihr einen innigen Kuss.

Die beiden hatten sich letztes Jahr mehr oder weniger bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit einem von Emmas Fällen kennengelernt. Anfangs hatten sie sich gegenseitig kaum beachtet, doch die gemeinsamen Erlebnisse brachten sie näher zusammen. Ralph wohnte mittlerweile schon seit dem Frühjahr im Haus bei Emma und Henry. Er hatte ihr viel bei der Renovierung geholfen und die ein oder andere Idee, um die Räume weiter aufzuhübschen.

Nachdem er durch den Verlust seiner Exfrau und seines Sohnes, der lediglich adoptiert war und im Zuge der Trennung mit seiner Mutter fortging, auch noch seine Ambitionen auf das Amt des Bürgermeisters vergessen konnte, hatte Ralph Nightingale die Chance ergriffen und sich dank seiner Beziehungen als Kommunalpolitiker die vakante Stelle des Museumsleiters des NMMC (National Maritime Museum Cornwall) gesichert.

Es fühlte sich für beide wie die Vollendung eines Märchens an. Ende gut alles gut. Doch Emma sollte sich nicht zu früh freuen. Sie wurden aus nicht weiter Entfernung mit misstrauischen Blicken beobachtet. Und Emmas Nerven würden schon sehr bald hart auf die Probe gestellt werden.

7

Dienstag, 8. September 2015

Cornwall, Falmouth, Castle Beach

„Henry, fahr nicht so schnell“, forderte Emma ihren Sohn auf. Der trat so fest in die Pedale, dass er schnell an Geschwindigkeit gewann. Emma, Henry und Ralph gingen an diesem Nachmittag auf der Promenade entlang der Cliff Road spazieren und ließen sich die spätsommerlichen Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen. Emma trug ihre brünetten Haare offen und strich sich mit den Fingern hindurch. Henry hatte seinen zweiten Tag im neuen Schuljahr hinter sich gebracht. Es war sein erstes Jahr an der Oberschule – der Comprehensive. Emma ließ ihren Sohn die Promenade auf und ab radeln, während sie sich mit Ralph auf einer Sitzbank niederließ.

Ralph erzählte ihr von seinen letzten Wochen, was er als neuer Museumsleiter zu tun hatte. Er hatte Großes vor, wollte es weit über Cornwalls Grenzen hinaus bekannt machen, es modernisieren. Doch die wirtschaftliche Lage gab ihm nur einen geringen Spielraum. Ihm ging noch etwas anderes durch seinen Kopf. Doch das konnte er Emma nicht sagen. Er wusste nicht, wie sie reagieren würde. Um seine Gedanken in diesem Moment aus dem Kopf zu bekommen, lenkte er sich mit einer Frage an Emma ab: „Willst du wirklich morgen schon wieder arbeiten?“

Sie schaute ihn unvermittelt nickend an: „Aber klar. Greg braucht mich. Und ich brauche die Arbeit. Ich fühle mich gut und möchte die Gelegenheit nutzen.“ Da summte ein Handy.

Ralph zog seines aus der Hosentasche: „Nein, es muss deins sein.“ Emma kramte in ihren Jackentaschen, bemerkte tatsächlich einen eingehenden Anruf von Greg und nahm den Anruf an.

„Hi Greg. Brauchst du mich heute schon? Du hast wohl Sehnsucht?“, fragte Emma. „Emma. So witzig ist die Situation jetzt nicht. Du musst bitte heute noch aufs Revier kommen. Am besten gleich. Hier ist Besuch für dich. Sorry Emma, ich muss auflegen.“ Das tat Greg auch unmittelbar. Emma schaute in die Ferne und zu Henry, der in diesem Moment auf sie zu radelte. „Was ist los Schatz?“, fragte Ralph.

„Es war Greg. Ich muss doch noch aufs Revier. Kommt ihr alleine klar? Ich melde mich, ok?“ Ralph nickte. Emma rief nach Henry und wählte mit ihrem Telefon den Taxidienst.

*

Emma kam nur zwanzig Minuten später auf dem Revier am anderen Ende von Falmouth an. Sie begrüßte die Kollegin am Empfang mit einem kurzen Nicken und ging zu Gregs Bürobereich. Plötzlich hielt sie inne. Der Besuch saß mit dem Rücken zu ihr. Greg hatte ihn bereits angekündigt und wurde jetzt von ihm begrüßt: „Da bist du ja. Schön, dass du es so schnell einrichten konntest. Deinen ehemaligen Kollegen kennst du ja?“

Während Emma innerlich zusammenzuckte und sich wunderte, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen, lächelte sie den Gast an, als dieser sich vom Stuhl erhob, sich zu ihr wandte und sie ihn erkannte: Es war William Hanshaw, der sich nun Emma zuwandte und sie gleich in die Arme nahm.

„Emma, schön dich wiederzusehen. Du siehst gut aus. Erholt.“ Während er sie mit beiden Armen an den Schultern hielt und sie aus diesem Abstand ansah, strahlte er über das ganze Gesicht.

„Danke William“, entgegnete Emma. Und ihre Körperspannung verriet, dass sie überrascht war und seine Freude nicht in dem Maße teilte. „Aber womit habe ich die Ehre verdient, dich hier im entfernten Cornwall zu empfangen? Ein Freundschaftsbesuch wird das nicht sein. Sonst hättest du dich angemeldet, mein Lieber.“



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.