Glühende Hitze - Maron Fuchs - E-Book

Glühende Hitze E-Book

Maron Fuchs

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Beschreibung

Nach vier Jahren häuslicher Misshandlung ist die 17-jährige Larissa das Leben in Angst und Ungewissheit gewohnt. Aber sie hätte nie gedacht, dass all die Panik zurückkehren würde, nachdem sie und ihre kleine Schwester umgezogen und in eine liebevolle Familie gekommen sind. Endlich führt sie ein normales Leben, hat Freunde gefunden und sich sogar verliebt.Doch ihr brutaler Stiefvater ist tatsächlich aus dem Gefängnis ausgebrochen und nun auf der Suche nach ihr. Sie weiß, dass ihre Zeit abläuft. Denn nichts kann dieses Monster aufhalten.

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Glühende Hitze

Maron Fuchs

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2021 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2015.

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung: CAT creativ - cat-creativ.at

ISBN: 978-3-86196-373-8 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-529-7 - E-Book

*

Inhalt

Angst vor dem Ungewissen

Die hässliche Wahrheit

Turbulenzen im Anmarsch

Jungs und andere Katastrophen

Ohne jeden Halt

Ein ähnliches Grauen

Klassenfahrt zur Höllen-Hauptstadt

Gefühlschaos

Reise in die Vergangenheit

Behütet von Freunden

Nur Platz für einen

Im Stich gelassen

Schön schlimm

Schlag auf Schlag

Vaterliebe

Schuss der Erlösung

Epilog: Das wahre Glück

*

Für meine herzallerliebsten Geschwister Susanne, Thomas und Michael. Es war nicht immer einfach, die Jüngste zu sein, aber ohne euch drei wäre es langweilig gewesen! Ihr seid klasse!

*

Angst vor dem Ungewissen

Renn. Renn, so schnell du kannst. Bring dich in Sicherheit. Nur weil ich nicht mehr fliehen kann, musst du nicht auch gefangen werden. Dreh dich nicht um. Lauf einfach weg. Und schau nicht mehr zurück.

Zum ungefähr hundertsten Mal las ich die Nachricht durch, die ich meinen Freunden schicken wollte. Falls ich mit dem Text jemals zufrieden sein sollte.

An: Sophie Meier, Niklas Meier, Karolin Huber, Jan Weber, Florian Bauriedl

Hey Leute,

können wir uns morgen Abend bitte alle bei mir treffen? Es ist sehr wichtig, ich muss dringend mit euch reden! Um sieben Uhr. Und bitte kommt alle!

Lara

Leise seufzte ich und versendete die SMS. Sie klang dringlich genug.

„Bist du fertig?“, fragte plötzlich jemand hinter mir. Erschrocken drehte ich mich zur Zimmertür, mein langes Haar flog mir bei der Bewegung um den Kopf. Als ich sah, wer im Türrahmen stand, atmete ich erleichtert auf. Es war mein Freund Raphael. Der wohl letzte Mensch, der mir Angst machte. Im Gegenteil, dieser Junge schaffte es immer, mich zu beruhigen.

Abwehrend hob er die Hände. „Hey, ganz ruhig. Ich bin’s doch nur.“

„Entschuldige.“ Beschämt senkte ich meinen Blick zu Boden. „Ich weiß, ich bin zu schreckhaft.“

„Dafür kannst du doch nichts“, entgegnete er und kam zu mir, um mich sanft zu umarmen. „Das ist im Moment echt nachvollziehbar.“

Auch ich legte meine Arme um ihn, lehnte mich an und schloss die Augen. Es tat gut, von ihm festgehalten zu werden. Es ließ mich für ein paar Sekunden die furchtbare Angst vergessen. Die Angst vor meinem grausamen Stiefvater.

Mein Handy vibrierte, ich hatte schon die erste Antwort. Zögerlich löste ich mich von Raphael und zog das Gerät aus der Tasche meiner Jeans. „Sophie hat geschrieben“, stellte ich fest. „Sie ... ist besorgt und gespannt. Auf jeden Fall kommen sie und ihr Bruder morgen Abend.“

Mein Freund nickte. „Gut. Die anderen hoffentlich auch.“

„Mehr als einmal will ich die Geschichte nicht erzählen. Ich weiß ja nicht mal, ob ich es überhaupt schaffe, das alles preiszugeben“, murmelte ich.

Er strich mir über die Wange, sodass ich zu ihm aufblickte. „Du schaffst das schon. Außerdem bin ich bei dir.“

Ich lächelte ihn an. „Zum Glück.“

Ohne Raphael würde ich mich wahrscheinlich immer noch verängstigt auf dem Sofa zusammenkauern. Wie in dem Moment, als ich aus den Nachrichten erfahren hatte, dass mein Stiefvater aus dem Gefängnis geflohen und nun auf der Suche nach mir war.

„Okay, es ist Freitag, wir haben Wochenende, die Winterferien haben heute angefangen und das sollten wir ausnutzen“, wechselte er das Thema und fuhr sich durch sein kurzes schwarzes Haar. „Lass uns was unternehmen!“

Hin- und hergerissen sah ich ihn an. „Ich muss aber noch so viele Schulsachen nachholen ...“

Wegen dieser Nachrichtensendung am Mittwoch war ich zwei Tage zu Hause geblieben. Ich hatte es einfach nicht geschafft, in die Schule zu gehen. Meine beste Freundin Sophie, das wohl liebste und zuverlässigste Mädchen der Welt, hatte alle Hefteinträge für mich mitgeschrieben und mir auch die Hausaufgaben gegeben. Und zwar ohne zu fragen, warum ich nicht zur Schule käme. Sie drängte mich nie, sondern wartete, bis ich ihr alles erzählte. Gerade das mochte ich sehr an ihr.

„Das kannst du doch später noch machen“, winkte Raphael ab. „Du bist erst in der elften Klasse. Ist ja nicht so, als würdest du in drei Monaten schon Abi schreiben.“

„Im Gegensatz zu dir“, merkte ich an. Ich war mit meinen 17 Jahren eine Klassenstufe unter Raphael, denn er war ein gutes Jahr älter – wir hatten Ende Februar, doch schon im April würde er 19 werden.

Er zuckte mit den Schultern. „Ach, ich muss jetzt nicht lernen.“

„Was willst du denn machen?“, fragte ich.

„Lass uns was kochen“, schlug er vor. „Dann müssen Bianca und Lorenz kein Abendessen machen, wir kochen einfach für alle.“

Ich nickte. „Das klingt toll! Die beiden haben meinetwegen sowieso schon genug Stress.“

Bianca und Lorenz Winkler waren zwei sehr ... besondere Personen für mich. Bis vor zwei Monaten hatte ich nicht mal gewusst, wer sie waren, doch nun konnte ich mir mein Leben ohne die beiden nicht mehr vorstellen.

Früher hatte ich in Berlin gewohnt, zusammen mit meinen Adoptiveltern Saskia und Wolfgang Kurz sowie mit meiner kleinen Schwester Nele. Sie war zwar genau genommen nicht meine leibliche Schwester, doch ich liebte die Kleine über alles. Saskia und Wolfgang hatten mir von Anfang an gesagt, dass sie mich als Baby adoptiert hatten, und es hatte mich nie gestört. Meine leiblichen Eltern hatte ich schließlich nicht gekannt. Ich war glücklich gewesen.

Aber nach Wolfgangs tödlichem Unfall war alles schiefgegangen. Saskia hatte ein paar Jahre später wieder geheiratet. Zuerst hatte Gilbert ruhig und freundlich gewirkt, doch schon bald waren sein Jähzorn und seine Brutalität zum Vorschein gekommen. Er hatte Saskia und mich ständig verprügelt und noch viele andere Sachen gemacht ... Das Einzige, was ich hatte tun können, war, Nele vor ihm zu bewahren. An meine kleine Schwester hatte ich ihn nie herangelassen. Sie war der Grund, warum ich nicht aufgab. Ich musste sie beschützen.

Denn Saskia hatte sich nicht mehr um uns gekümmert, sondern nur noch Gilberts Taten vertuscht. Und ich Idiot hatte aus lauter Angst davor, dass Nele ins Kinderheim müsste, keine Hilfe geholt. Ich trug eine Mitschuld an Saskias Tod, weil ich nichts Effektives gegen Gilbert unternommen hatte. Mein Schweigen hatte seine Grausamkeiten ermöglicht ... Ich hatte mich immer mit dem Gedanken getröstet, nach meinem 18. Geburtstag mit Nele abzuhauen. Aber diesen Plan hatte Gilbert durchkreuzt. Als er Saskia im Januar die Treppe hinuntergeworfen und ihr damit das Genick gebrochen hatte.

Bei dem Gedanken an diesen Moment erschauderte ich. Das grauenhafte Knacken würde ich nie vergessen, genauso wenig wie den Anblick von Saskias dünnem, schlaffem Körper und ihren toten Augen. Zum Glück hatte ich Nele meinen MP3-Player aufgesetzt und sie in unserem Zimmer warten lassen ...

„Ach, Bianca und Lorenz sehen das nicht als Stress an, glaube ich“, riss Raphael mich aus meinen Gedanken. „Sie sind einfach froh, wenn sie irgendwie für dich und Nele da sein können.“

Ich lächelte. „Ja, das stimmt schon. Sie sind echt gutherzig.“

Bianca und Lorenz, zwei bisher Wildfremde aus einem bayerischen 1000-Seelen-Dorf namens Pirk, hatten uns bei sich aufgenommen. Dass zwei Unbekannte uns einfach bei sich einquartierten, hatte mich misstrauisch gemacht. Obendrein waren die beiden auch noch regelrecht wohlhabend. Bianca arbeitete als Lehrerin in der Grundschule von Pirk, Lorenz war Kinderarzt in der nahe gelegenen Stadt Weiden. Und sie hatten zwei Kater.

Warum hatten sie uns also aus Berlin weggeholt?

Weil sie meine leiblichen Eltern waren. Saskia hatte ohne mein Wissen immer in Kontakt zu ihnen gestanden.

Und auch wenn wir ziemlich heftige Startschwierigkeiten gehabt hatten, waren wir nun eine Familie. Ich hatte die beiden als Eltern akzeptiert, und auch Nele fühlte sich wohl hier. Sie hielt Bianca und Lorenz allerdings nur für Freunde von Saskia, zumal sie nichts davon wusste, dass wir Adoptivschwestern waren. An ihrem zwölften Geburtstag wollte ich es ihr erzählen, aber noch nicht jetzt. Mit ihren acht Jahren würde sie es kaum begreifen können. Sie kämpfte schon mit genügend Problemen – sie vermisste ihre Mutter und hatte zu viel von Gilberts Taten mitbekommen. Deswegen ging sie regelmäßig zum Kinderpsychologen.

„Sag ich doch.“ Raphael strich mir sanft über den Arm. „Also denk nicht, dass du den beiden nur Stress machst.“

„Ich bin in den letzten beiden Tagen aber gewaltig schwierig gewesen“, seufzte ich. „Das lässt sich nicht bestreiten.“ Gilbert war wegen all seiner Grausamkeiten festgenommen worden, das war auch schon der einzige Trost gewesen. Und vorgestern hatte er sich tatsächlich selbst befreit. Er war auf der Flucht, und seine Drohung war eindeutig. „Engelchen, jetzt bist du dran!“

Er würde mich suchen, finden und umbringen. Daran zweifelte ich nicht. Es war nur eine Frage der Zeit.

Aber nachdem ich vier Jahre lang tagtäglich in Todesangst gelebt hatte, war ich auf diese Situation schon geradezu vorbereitet. Meine jetzige Lage war wie die Fortsetzung der letzten Jahre. Die Sorglosigkeit der wenigen Wochen, die ich hier bei Bianca und Lorenz erlebt hatte, konnte ja nicht ewig währen. Die beiden hatten Nele und mir einen Neuanfang ermöglicht. Wir hatten Berlin hinter uns gelassen. Aber nun holte mich die Vergangenheit ein. Gilbert suchte nach mir.

Schnell schüttelte ich den Kopf. Daran wollte ich jetzt nicht denken. Bevor Raphael etwas sagen konnte, wechselte ich abrupt das Thema. „Was könnten wir denn kochen?“, überlegte ich laut.

Zum Glück ging mein Freund darauf ein. „Es ist immer noch so kalt draußen, da wäre doch ein Eintopf genau richtig.“

„Oh ja, irgendwas mit Suppe“, stimmte ich zu. „Zum Glück kennst du dich damit so gut aus, alleine könnte ich nicht viel kochen.“

Er grinste. „Ist doch klar. Wer eine Köchin zur Mutter hat, lernt so was.“

Seine Mutter Renate war nicht nur eine liebenswerte Frau, sondern auch eine hervorragende Köchin. Sie arbeitete in einem gutbürgerlichen Restaurant in der Weidener Innenstadt, und sie arbeitete sehr viel. Auch jetzt gerade. Nachdem Raphaels Vater die Familie verlassen hatte, musste sie sich und ihren Sohn allein versorgen. Doch mein Freund half ihr, so gut er konnte. Er jobbte ein paarmal pro Woche bei McDonald’s, um etwas Geld dazuzuverdienen.

„Dann gehen wir runter und fangen an, oder?“, fragte ich.

„Okay.“ Bevor er allerdings mit mir das Zimmer verließ, legte er noch mal seine Arme um mich und sah mich prüfend an. Mit seinen wunderschönen, durchdringend blauen Augen. „Du bist total in Panik, oder?“ Überrascht starrte ich ihn an. Wie konnte er mich so leicht durchschauen? Das schaffte er immer! Und ich verstand einfach nicht, wie er das machte.

„Es geht schon“, redete ich mich heraus. „Ich ... muss mich nur ablenken.“

Er drückte mich fest. „Das versuchst du seit vorgestern, aber es klappt nicht.“

„Es ist auch nicht gerade leicht!“, rief ich verzweifelt. „Ich dachte, es wäre endlich alles vorbei, und plötzlich fängt es wieder von vorne an!“ Unwillkürlich hatte ich die Stimme erhoben, meine Hysterie war kaum zu überhören.

„Setz dich mal hin“, forderte er mich auf und schob mich zum Bett. Nebeneinander ließen wir uns auf der Bettkante nieder, Raphael nahm meine Hände in seine. „Es wird nicht von vorne anfangen“, versicherte er mir. „Deine Eltern haben doch mit der Polizei geredet. Dieses Monster wird bundesweit gesucht. Es wird dir nie wieder etwas antun können.“

Wie gerne würde ich das glauben. Doch ich kannte Gilbert. Er war verschlagen, ein wahrer Überlebenskünstler und bekam immer, was er wollte. Er hatte sich auch von mir genommen, worauf er gerade Lust gehabt hatte. Als ich daran dachte, was er mir alles angetan hatte, zitterte ich. Mir wurde sogar übel. „Klar“, entgegnete ich mit rauer Stimme. „Weiß ich.“

„Aber du glaubst nicht dran“, bemerkte Raphael.

Geknickt ließ ich den Kopf hängen. „Ich weiß, dass er mich aufspüren wird. Er ist gerissen. Er ist viel klüger, als man denkt. Nur weil er säuft wie ein Loch und raucht wie ein Schlot, sollte man ihn nicht unterschätzen.“

Behutsam zog Raphael mich auf seinen Schoß und umarmte mich. „Lara, die Polizei wird ihn finden. Außerdem passen deine Eltern und ich auf dich auf. Und ich wette darauf, wenn du morgen unseren Freunden alles erzählst, werden sie dasselbe sagen. Sie werden ebenfalls für dich da sein.“

Ich erwiderte seine Umarmung. „Danke“, flüsterte ich.

Kaum zu glauben, dass ich einen so tollen Freund hatte. Ich hätte nie erwartet, mich wirklich zu verlieben, doch das hatte ich. Raphael war einfach immer für mich da, er hörte mir zu, er beruhigte mich und tat mir gut. Und das schon lange, bevor wir zusammengekommen waren. Denn ein offizielles Pärchen waren wir noch keine ganze Woche. Natürlich hatte er auch seine Macken, konnte schrecklich taktlos oder arrogant sein, und er war ein ziemlicher Frauenheld. Doch inzwischen schaute er nicht mehr jedem Mädchen hinterher, sehr zu meiner Erleichterung. Manchmal fragte ich mich, warum er sich ausgerechnet in mich verliebt hatte. Ich war durchschnittlich, unauffällig, unattraktiv und extrem verstört. Alles Eigenschaften, die ich Gilbert zu verdanken hatte. Und dennoch hatte Raphael mich gefragt, ob ich nicht mit ihm zusammen sein wollte. Er war der einzige meiner Freunde, der wusste, was mir in Berlin passiert war. Ich hatte es ihm nicht erzählen wollen, doch er hatte zufällig mitgehört, als meine Eltern es letztendlich aus mir herausbekommen hatten. Und anstatt mich dafür zu bemitleiden wie Bianca und Lorenz, hatte er mir versprochen, es niemandem zu verraten, und mir sein offenes Ohr angeboten.

Plötzlich vibrierte mein Handy erneut. „Die nächsten Antworten“, stellte ich nach einem Blick aufs Display fest. „Karo schreibt, dass sie kommt. Und Florian schreibt ...“ Als ich seine Nachricht las, verstummte ich.

Vergiss es.

Dieser Trottel. Was sollte das denn jetzt?

Raphael schaute nun auch auf mein Handy. „Schmollt er immer noch?“

Ich nickte. „Er will nicht kommen.“

Mein Freund seufzte. „Na toll ...“

„Ich schreib ihm mal zurück.“

Es ist wirklich wichtig! Ich muss mit euch allen reden,

auch mit dir!

Sofort bekam ich eine Antwort darauf.

Ist Raphael dabei?

Dieser kindische Streit war jetzt völlig fehl am Platz. Natürlich, ich wusste, dass Florian immer noch sauer auf Raphael und mich war. Einerseits, weil ich ihm einen Korb gegeben hatte, andererseits, weil ich nun mit seinem Kumpel zusammen war. Aber wenigstens für das morgige Gespräch musste er das vergessen ... Ich schrieb:

Ja. Es müssen ALLE dabei sein.

„Das ist doch bescheuert“, jammerte ich. „Warum ist Florian so zickig? Ich hab ihm so oft gesagt, dass er für mich ein wichtiger Freund ist. Nicht mehr und nicht weniger.“

„Ich glaub, er ist eher wütend auf mich als auf dich“, vermutete Raphael.

Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. „Hat er ja gesagt ...“ Es ärgerte mich wirklich, dass Gefühle so viel kaputt machen konnten. Florian und ich hatten uns von unserer ersten Begegnung an super verstanden. Ich fand ihn lustig und sehr nett, außerdem hatte er mir beigebracht, mich selbst zu verteidigen. In den letzten Wochen hatten wir uns regelmäßig bei ihm zu Hause zum Kung-Fu-Training getroffen. Er kannte sich gut damit aus und war ein toller Lehrer. Wir saßen sogar im Klassenzimmer nebeneinander – Sophie, Florian und ich gingen nämlich gemeinsam in die 11b. Aber seit er mich gefragt hatte, ob ich mit ihm ausgehen wollte, hatte sich diese wundervolle Freundschaft in Luft aufgelöst. Ich hatte ihm erklärt, dass ich nicht mit ihm zusammen sein konnte. Und kurz darauf hatte er erfahren, dass Raphael und ich uns ineinander verliebt hatten. Schlechtes Timing eben. „Ah, er hat geantwortet!“, bemerkte ich.

Dann komme ich nicht.

Langsam wurde ich wütend. Ich wollte dieses Treffen, um meine Freunde zu warnen und zu beschützen! Und auch wenn Florian und ich derzeit nicht viel miteinander redeten, hielt er sich doch oft in meiner Nähe auf, sowohl in der Schule als auch in der Gruppe.

Es geht nicht um dich oder um Raphael! Es ist verdammt wichtig, und wenn du nicht kommst und zuhörst, schwebst du in Gefahr! Also ignorier dein Ego für eine Stunde und komm morgen zu mir.

„Oh, jetzt hat er dich sauer gemacht“, lachte Raphael, als er meinen Text las.

„Idiot“, schnaubte ich und steckte mein Handy wieder in die Hosentasche.

Florian antwortete danach nicht mehr. Hoffentlich würde er morgen kommen ...

„Nicht aufregen“, riet Raphael mir. „Los, wir machen jetzt Essen.“

Ich nickte und stand vom Bett auf. „Hauptsache Ablenkung“, seufzte ich.

Tagsüber schaffte ich es meistens sogar, mich irgendwie zu beschäftigen. Doch nachts kam die Angst. Genauso wie die Albträume.

Auch Raphael erhob sich nun und verließ mit mir das wunderschöne Zimmer, das Bianca und Lorenz für mich eingerichtet hatten. Es gab hier wirklich alles: ein großes Bett mit Nachtschrank, einen Schreibtisch mit Stuhl, Regale, einen Kleiderschrank, einen Sessel und bunt gemusterte Vorhänge vor dem breiten Fenster. Kein Vergleich zu dem Zimmer, das ich mir in unserer alten Berliner Wohnung mit meiner Schwester geteilt hatte.

Dort hatten wir nur alte und schäbige Möbel gehabt. Zwei schmale Betten, einen Schrank, einen zu kleinen Schreibtisch und zwei Stühle. Etwas Besseres konnten wir uns eben nicht leisten, weil Gilbert Saskias gesamtes Einkommen für Wodka, Bier und Zigaretten ausgab. Wir hatten nicht mal das Geld für regelmäßige Mahlzeiten gehabt, zumal er seinen Job als Schlosser gleich nach der Hochzeit gekündigt hatte.

„Lara! Lara! Schau mal! Du auch, Raphael!“

Meine kleine Schwester rannte aufgeregt die Treppe herauf, so schnell, dass ihr dunkelbraunes, schulterlanges Haar wehte. Direkt vor uns, auf der fünften Stufe von oben, blieb sie stehen und hielt ihre rechte Hand hoch.

Ich blickte zu ihr hinunter. „Äh, das ist deine Hand“, stellte ich fest.

„Und du hast einen Tintenfleck am kleinen Finger“, merkte Raphael an.

Nele kicherte. „Ich wollte euch das hier zeigen!“, rief sie und öffnete ihre linke Hand, die sie vorher zur Faust geballt hatte. Eine hübsche grüne Haarschleife kam darin zum Vorschein.

„Oh, die sieht toll aus. Wo kommt die denn her?“, erkundigte ich mich.

„Die hat Bianca mir geschenkt!“, freute sie sich.

Ich schmunzelte und strich ihr durchs weiche Haar. „Wie nett von ihr.“

„Die steht dir bestimmt gut“, vermutete Raphael und lächelte die Kleine ebenfalls an. „Willst du sie nicht ins Haar binden?“

„Doch, aber ich kann das nicht alleine“, erklärte sie.

„Dafür hast du doch mich, Schwesterchen. Soll ich?“, bot ich an.

Sie nickte eifrig. „Unbedingt!“

„Gehst du schon mal vor in die Küche?“, wandte ich mich an meinen Freund.

„Klar, ich durchstöbere schon mal eure Vorräte“, stimmte er zu. „Mal sehen, was für eine Suppe wir machen können.“

„Es gibt Suppe?“, fragte Nele.

„Ja, heute kochen wir beide für euch“, antwortete ich.

Skeptisch sah sie uns an. „Könnt ihr das denn?“

Raphael schmunzelte und beugte sich zu ihr hinunter. „Ja, aber wir brauchen bestimmt deine Hilfe. Bist du dabei?“

Sofort strahlte meine Schwester ihn an. „Oh ja! Ich helfe euch!“

„Dann kann ja nichts schiefgehen“, lachte er und richtete sich wieder auf. „Ich erwarte euch unten.“

„Bis gleich“, sagte ich.

Er schlang einen Arm um meine Taille und zog mich an sich, um sanft seine Lippen auf meine zu legen. Sofort raste mein Herz, an diese aufregende Nähe hatte ich mich noch nicht gewöhnt. Und das wollte ich auch nicht so bald – mir gefiel dieses Herzklopfen. Mit geschlossenen Augen erwiderte ich den Kuss und fuhr Raphael dabei durchs schwarze Haar.

„Bäh“, kommentierte Nele, woraufhin wir uns voneinander lösten.

Raphael und ich lächelten uns an, dann lief er die Treppe hinunter. Ich ging mit meiner Schwester in eins der beiden Badezimmer. „Wieso bäh?“, fragte ich amüsiert, als wir das Bad betraten.

„Weil Küssen eklig ist!“, erklärte sie, als läge das auf der Hand.

Vor dem Spiegel blieben Nele und ich stehen, ich stellte mich hinter sie und nahm die grüne Schleife. „Ach, Schwesterchen.“ Ich stupste sie auf die Nase. „Ich hab dich lieb.“

Sie legte den Kopf in den Nacken und sah breit grinsend zu mir hoch. „Ich hab dich auch lieb!“

Es war erleichternd, dass Nele sich wie immer verhielt. Natürlich bemühte ich mich sehr, ihr keine Sorgen zu bereiten. Vor meiner Schwester hatte ich mich weitestgehend zusammengerissen. Ich hatte ihr erzählt, was passiert war. Dass Gilbert entkommen war. Und ich hatte ihr eingeschärft, sofort Bescheid zu geben, wenn sie ihn sehen sollte. Aber um ihr möglichst wenig Angst zu machen, tat ich so, als wäre es nicht allzu gefährlich. Meine Argumente hatten sie sogar überzeugt.

„Gilbert weiß nicht, wo wir jetzt wohnen. Wir sind wahnsinnig weit weg von Berlin. Er kann uns eigentlich gar nicht finden. Aber – nur zur Sicherheit – pass immer auf, ja?“, hatte ich ihr erklärt.

Und genau genommen stimmte es sogar. Gilbert wusste nichts davon, dass Saskia mich adoptiert hatte. Daher konnte er meine leiblichen Eltern nicht kennen, geschweige denn unser neues Zuhause. Immerhin diesen Vorteil hatten wir. Ich traute es diesem Teufel zu, uns irgendwann aufzuspüren. Aber es würde bestimmt eine Weile dauern.

„Kannst du mir eine ganz schöne Frisur machen?“, fragte Nele dann.

„Ich werde mich bemühen“, versprach ich.

Ich brauchte zwar ein paar Minuten, aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Ich flocht meiner Schwester einen seitlichen Zopf, den ich mit der Schleife fixierte. So konnte sie das grüne Band auch sehen, jedenfalls wenn sie den Zopf vorne über ihre linke Schulter hängen ließ.

Nele sah sich im Spiegel an, woraufhin ihre graugrünen Augen regelrecht strahlten. „Wow!“, staunte sie.

Ich ging neben ihr in die Hocke. „Du siehst wirklich hübsch aus.“

Stürmisch umarmte sie mich. „Du bist die Beste!“, rief sie. „Du kannst einfach alles! Und du machst mir immer so schöne Zöpfe!“

Ich lächelte schief. „Ach Quatsch. Ich kann doch nicht alles.“ Mehr als Zöpfe zu flechten, brachte ich nicht zustande. Geschickt war ich nicht gerade, was Frisuren anging. Aber es gefiel mir, dass ich meiner Schwester so einfach eine Freude machen konnte. „Kochen kann ich zum Beispiel nicht“, fuhr ich fort. „Aber Raphael kann das.“

„Und ich helfe euch!“, ergänzte sie.

Ich nickte. „Genau! Wollen wir runtergehen? Wir können Raphael ja nicht alles alleine machen lassen.“

„Los geht’s!“, entgegnete Nele, schnappte sich meine Hand und lief mit mir aus dem Badezimmer.

Ich ließ mich von ihr ins Erdgeschoss ziehen, durch den Flur und hinein in das große Esszimmer mit der geräumigen Einbauküche.

„Es ist lieb von euch, dass ihr das Kochen übernehmen wollt“, hörte ich Bianca sagen. „Aber ich kann auch was machen, das ist kein Problem.“

„Nein, nein“, lehnte Raphael ab, „wir machen das schon. Einen Pichelsteiner Eintopf bekommen wir hin.“

Raphael stand vor der Ablage in der Küche, auf die er einige Zutaten gelegt hatte. Bianca stand neben ihm, Lorenz saß am Esstisch.

„Da sind wir!“, rief Nele, als wir den Raum betraten.

Meine Mutter drehte sich zu uns um und es war, als würde ich in einen Spiegel schauen. Sie hatte ebenso hellbraunes Haar wie ich, allerdings trug sie es etwas kürzer, nur bis zu den Schultern. Ihre braunen Augen ähnelten meinen. Aber trotzdem sah sie viel hübscher aus als ich. Gesünder. Weniger untergewichtig. Und viel fröhlicher.

„Ah, Lara, Nele, hallo“, begrüßte sie uns und strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Ihr kocht uns heute also Abendessen?“

Mir entging nicht, dass sie mich besorgt musterte. Seit dieser erschreckenden Nachrichtensendung behandelten mich meine Eltern extrem behutsam. Als würde ich sofort zerbrechen, wenn sie unvorsichtig mit mir umgehen würden. Dabei wollte ich nicht mit Samthandschuhen angefasst werden. Dadurch fühlte ich mich noch schlechter, allerdings begriffen die beiden das nicht. Die Situation erinnerte mich an die ersten paar Tage nach dem Umzug nach Pirk. Ich war ziemlich schlimm verletzt gewesen, mein Gesicht hätte aus einem Horrorfilm stammen können. Und damals hatten meine Eltern sich genauso ... mitleidig verhalten. „Ja“, stimmte ich zu. „Wenn das okay für euch ist.“

„Ich bin gespannt, wie’s schmeckt“, äußerte sich Lorenz und stand vom Tisch auf. „Ich hab schon lange keinen Pichelsteiner Eintopf mehr gegessen.“

Wenn ich ihn ansah, begriff ich, warum ich so hochgewachsen war. Meine Mutter war zwar kleiner als ich, doch mein Vater maß stolze 1,90 Meter. Genau wie Gilbert. Ansonsten sah er mit seinen braunen Augen und dem kurzen dunkelblonden Haar diesem Monster aber nicht ähnlich.

„Ich weiß nicht mal, was das für ein Eintopf ist“, murmelte ich.

Raphael hatte mich gehört. „Zeig ich dir gleich“, versprach er.

Schüchtern lächelte ich ihn an. Manchmal kam ich mir wirklich dumm vor, weil es so viele Speisen gab, die ich nicht kannte oder seit über vier Jahren nicht gegessen hatte. Dank Gilbert. Aber niemand hier, weder meine Eltern noch meine Freunde und Raphael, lachte mich deswegen aus. Sie waren sogar so nett, mir alles zu zeigen oder mich etwas Neues probieren zu lassen.

„Dann lass ich euch einfach mal machen“, beschloss Bianca und drückte mich mit einem Arm kurz an sich.

Inzwischen schreckte ich nicht mehr zurück, wenn meine Eltern mich umarmten. Doch ich erwiderte die Geste nicht immer. Klar, ich hatte Bianca und Lorenz als meine Eltern akzeptiert, manchmal nannte ich sie sogar schon Mama beziehungsweise Papa. Aber dennoch kannte ich sie erst seit knapp zwei Monaten. Ich brauchte noch etwas Zeit, um ihnen näherzukommen.

„Genau, wir machen das schon“, antwortete ich und lächelte schief. Sie ließ mich wieder los und nahm das Haargummi, das sie um ihr Handgelenk getragen hatte. „Hier, nimm das“, forderte sie mich auf. „Mit offenen Haaren kocht es sich nicht so leicht.“

Ich nickte und band mir einen Pferdeschwanz. „Danke.“

Lorenz kam nun zu uns und legte einen Arm um seine Frau. „Dann stören wir euch nicht weiter. Wenn ihr was braucht, wir sind im Wohnzimmer.“

Raphael nickte. „Wir rufen euch, wenn das Essen fertig ist.“ Schon seltsam, dass Raphael meine Eltern länger und besser kannte als ich. Er war schon oft hier, genau wie meine beste Freundin Sophie und ihr Bruder Niklas. Die drei wohnten nämlich in der Nachbarschaft – Raphael gleich nebenan, Sophie und Niklas gegenüber von uns.

Nachdem meine Eltern ins Nebenzimmer gegangen waren, beugte Raphael sich zu meiner Schwester hinunter. „So, Nele, kannst du mir Karotten holen?“

„Na klar!“, bestätigte sie und lief zum Kühlschrank.

Ich lächelte, glücklich darüber, dass Raphael so gut mit der Kleinen umgehen konnte. Ich hatte schon mal mit ihm allein gekocht, doch zu dritt machte es noch mehr Spaß. Vor allem weil Nele sich ungeschickter anstellte als ich, und das wollte etwas heißen.

Raphael und ich schnitten die Karotten und Kartoffeln in kleine Würfel, Nele rührte den Eintopf um. Allerdings machte sie das so ... enthusiastisch, dass der Inhalt aus dem Topf auf den Herd geschleudert wurde.

„Da dürfen wir gleich einiges aufräumen“, lachte ich.

Raphael schmunzelte. „Sieht ganz danach aus.“

„Aber ich geb mir doch so viel Mühe!“, jammerte Nele. „Es tut mir leid ...“

Ich strich ihr über den Arm. „Ist doch nicht schlimm. Beim Kochen wird’s eben schmutzig, das ist normal. Und du machst das mit dem Rühren super.“

„Eben“, bekräftigte Raphael. „Ohne dich wäre der Eintopf jetzt noch nicht fertig! Du bist eine klasse Hilfe!“

Da lächelte meine Schwester. „Okay! Beim nächsten Mal helfe ich euch auch wieder!“

„Unbedingt“, stimmte Raphael zu. „Du könntest jetzt den Tisch decken, während ich abschmecke.“

„Ich helfe dir“, beschloss ich und reichte ihr fünf Teller, Gläser und Löffel aus dem Schrank, die wir auf dem Tisch platzierten.

Bald darauf brachte Raphael eine Unterlage und den großen Kochtopf. „So, alles fertig“, stellte er fest. „Fehlen nur noch Bianca und Lorenz.“

„Ich hol sie!“, rief Nele und rannte ins Wohnzimmer.

Während wir noch allein am Esstisch standen, umarmte Raphael mich. Ich schmiegte mich an ihn.

„Danke“, flüsterte ich.

Er strich mir über den Rücken. „Wofür?“

„Dafür, dass du dich so um mich kümmerst“, antwortete ich. „Dass du mich ablenkst. Und dass du so lieb zu Nele bist.“

„Dafür musst du dich nicht bedanken“, entgegnete er und küsste mich auf die Stirn, bevor er mich losließ.

Ich nahm seine Hand, um unsere Finger miteinander zu verschränken. „Möchte ich aber.“ Er lächelte.

„Es duftet himmlisch hier!“, stellte Bianca fest, als sie hinter Nele das Zimmer betrat.

Auch Lorenz kam herein und setzte sich an den Tisch. „Es sieht echt lecker aus“, meinte er. „Bin gespannt, ob’s auch so gut schmeckt!“ Raphael und ich lösten unsere verschränkten Hände und setzten uns zu den anderen.

Nach dem Essen und Aufräumen zeigte die Uhr schon halb neun an. Meine kleine Schwester musste langsam ins Bett. „Ich will noch nicht schlafen!“, protestierte Nele.

Ratlos sah Bianca sie an. „Aber du gähnst doch schon die ganze Zeit.“

Sie verschränkte die Arme und bewegte sich keinen Zentimeter auf ihrem Stuhl, trotzig sah sie meine Mutter an. „Mir egal!“

Ich setzte mich auf den freien Platz neben sie. „Bist du nicht müde?“, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein! Und morgen ist Samstag! Da muss ich nicht in die Schule! Also will ich länger aufbleiben.“

„Und wie wär’s, wenn du schon mal ins Bad gehst und dich umziehst?“, schlug ich vor. „Dann könnte ich dir noch eine Geschichte erzählen.“

Sofort lächelte sie. „Oh ja!“

Ich hatte meiner Schwester schon länger keine Geschichte mehr erzählt, vor unserem Umzug hatte ich das jeden Tag getan. Um sie von der schrecklichen Realität zu Hause abzulenken.

„Dann mach dich bettfertig, ich komme gleich nach“, versprach ich.

Sie nickte begeistert und sprang hastig von ihrem Stuhl, um nach oben zu laufen. Erleichtert sah Bianca mich an. „Gut, dass ich dich habe. Sonst wüsste ich echt nicht, wie ich Nele manchmal ins Bett bekommen sollte.“

„Schon gut“, winkte ich ab und stand auf. Dann wandte ich mich an Raphael. „Bleibst du so lange, bis ich meine Schwester ins Bett gebracht hab?“

Er nickte. „Klar. Ich warte auf dich.“

Genau wie in den letzten beiden Tagen. Er war jeden Abend bis nach zehn Uhr geblieben. Weil er genau wusste, dass ich meine Angst in seiner Gegenwart hin und wieder vergessen konnte. Ich lächelte ihn an. „Danke. Bis gleich.“

„Wenn du mich suchst, ich sitze bei Lorenz im Wohnzimmer“, kündigte er an.

Als ich das Zimmer meiner Schwester betrat, saß Nele schon auf dem Bett und erwartete mich. „Da bist du ja endlich!“, rief sie vorwurfsvoll.

Ich schmunzelte. „Du hast dich aber beeilt.“

„Na klar! Ich will doch deine Geschichte hören“, erklärte sie und zupfte dabei an ihrem Schlafanzugärmel herum.

Ich setzte mich neben sie aufs Bett. „Du hast dir aber nicht die Haare gekämmt. Du trägst ja immer noch den Zopf.“

„Der Zopf ist so schön“, jammerte sie. „Den will ich nicht aufmachen.“

Da musste ich lachen. „Ach, Schwesterchen, ich kann dir morgen gerne wieder einen machen. Über Nacht ist das doch unbequem.“

„Na gut“, seufzte sie. „Machst du ihn auf?“

Ich nickte und löste die Schleife aus ihrem Haar. Mit den Fingern kämmte ich die dunkelbraunen Strähnen zurecht. „So, fertig.“

„Dann kommt jetzt die Geschichte!“, freute sie sich.

„Oh nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Du kämmst dir die Haare erst noch richtig. Und du putzt dir die Zähne. Das hast du auch nicht gemacht.“

Erschrocken sah sie mich an. „Woher weißt du das?“

„Du riechst aus dem Mund nach Abendessen und nicht nach Pfefferminze“, erklärte ich grinsend. „Glaub nicht, dass ich das nicht merke.“

Da lächelte sie verlegen. „Du weißt echt alles ...“

„Über dich schon“, entgegnete ich und umarmte die Kleine. „Und jetzt ab ins Bad, Haare kämmen und Zähne putzen.“

Sie erwiderte meine Umarmung, dann ließen wir uns los. Nele strampelte die Bettdecke von sich und lief aus dem Zimmer. Ich lehnte mich mit dem Rücken an das Kopfende vom Bett und ließ meinen Blick schweifen. Dieser Raum sah genauso aus wie mein Zimmer, nur dass die Wände hier rot und orange gestrichen waren, meine dagegen grün und gelb. Ich schaute aus dem Fenster, der Himmel war pechschwarz, nur ein paar vereinzelte Sterne erleuchteten die große dunkle Fläche. Den Mond konnte ich nicht entdecken. Als mir auffiel, dass ich immer noch einen Pferdeschwanz trug, löste ich ihn, sodass mir meine offenen Haare wieder über die Brust fielen. Mit den Fingern kämmte ich ein paar Knoten heraus, das Haargummi von Bianca behielt ich in der Hand.

„Bin wieder da!“ Nele kletterte eilig ins Bett, deckte sich zu und sah mich erwartungsvoll an. „Und ich hab alles gemacht!“ Zum Beweis hauchte sie mich an. „Riechst du’s? Pfefferminze!“

„Ja, ich rieche es“, stimmte ich schmunzelnd zu. „Und jetzt erzähle ich dir eine Geschichte. Möchtest du was Bestimmtes hören?“

Sie überlegte kurz. „Ein Märchen!“

„Alles klar.“

Ohne lange zu überlegen, begann ich mit der Erzählung. Während ich redete, bekam ich die besten Ideen, darum dachte ich vorher nicht wirklich über die Geschichte nach.

„... und als die Räuber der Hexe endlich die Krone des Königs stahlen und in den Palast zurückbrachten, kehrte wieder Frieden im Reich ein“, beendete ich das kurze Märchen.

Mit müden Augen sah Nele mich an. „Ein Glück, dass die Räuber die Krone nicht behalten haben.“

„Der König hat sie mit Gold belohnt, das hat den Räubern gereicht“, antwortete ich. „Außerdem wollten diese Leute ja auch ihre Ruhe vor der Hexe.“

„Und das konnte nur klappen, wenn der König seine Krone und seine Macht wiederbekommt“, ergänzte sie.

Ich nickte. „Genau.“

Da gähnte Nele ausgiebig. „Die Geschichte war schön.“

„Das freut mich. Aber jetzt ist es schon nach neun, du solltest schlafen“, riet ich ihr und strich über ihre Wange. „Gute Nacht.“

Sie lächelte mich an. „Ich hab dich lieb.“

„Ich hab dich auch lieb“, entgegnete ich und küsste sie auf die Stirn. Es dauerte nur ein paar Minuten, da schlief Nele schon. Leise schlich ich mich aus dem Zimmer und machte das Deckenlicht aus. Es gelang mir, die Tür ohne ein lautes Geräusch zu schließen.

Froh darüber, dass meine Schwester friedlich eingeschlafen war, kehrte ich ins Erdgeschoss zurück. Als ich das Wohnzimmer betrat, hörte ich den laufenden Fernseher. Es klang nach einer Comedy-Show oder etwas in der Art. Bianca, Lorenz und Raphael saßen zusammen auf dem Sofa.

Ich setzte mich neben Raphael, der sofort seinen Arm um mich legte, sodass ich mich an ihn kuscheln konnte. „Willst du mitschauen?“, fragte er.

„Klar, warum nicht“, antwortete ich. „Sieht ganz lustig aus.“

„Dieses Kabarett ist immer lustig“, versicherte mir Lorenz.

Und er hatte recht. Es traten verschiedene Komödianten auf, die meisten von ihnen waren echt gut.

Nach der Sendung, um Viertel nach zehn, verging mir allerdings das Lachen, denn ich wusste, gleich würde Raphael nach Hause gehen und ich sollte schlafen. Auch wenn ich wieder Albträume haben würde wie in den letzten Nächten.

„Also, ich geh dann mal ins Bett“, verkündete Lorenz und schaltete den Fernseher aus. „Mein Tag in der Praxis war anstrengend.“

„Ich korrigiere noch den Mathe-Test von meiner vierten Klasse, dann lege ich mich auch hin“, beschloss Bianca. Sie sah Raphael und mich an. „Und was macht ihr jetzt?“

„Nach Hause gehen, würde ich sagen“, antwortete mein Freund.

Ich bemühte mich, nicht betrübt auszusehen. „Und ich sollte auch langsam schlafen.“

„Oder lieber Hausaufgaben machen und lernen, Hauptsache, ich träume nicht dabei“, fügte ich in Gedanken hinzu.

Nachdem sich Lorenz nach oben verzogen und Bianca mit dem Test ihrer Schulklasse an den Esstisch gesetzt hatte, gingen Raphael und ich zur Haustür. Es fiel mir schwer, mich mit einem Lächeln von ihm zu verabschieden, doch ich gab mir Mühe. Spätestens morgen Abend würde ich ihn wiedersehen. Nachdem er seine gelb-schwarz gemusterte Jacke und die Schuhe angezogen hatte, umarmten wir uns. „Dann bis morgen um sechs“, verabschiedete er sich von mir. Ich nickte und drückte ihn fest. „Lara, du zitterst“, stellte er fest.

Ich schluckte. Er hatte es gemerkt? „Ach, nicht so schlimm, mir ist kalt“, winkte ich ab.

„Schon vergessen? Du kannst mich nicht anlügen, ohne dass ich es merke.“

Leise seufzte ich. „Zu dumm.“ Ich gab nicht gerne zu, dass ich Angst hatte. Oder mich schwach und hilflos fühlte. Doch Raphael wusste es. Immer.

Er lockerte die Umarmung, um mir prüfend in die Augen zu schauen. „Was ist los? Hast du wieder Angst?“

„Wie jeden Abend“, gestand ich leise und sah zu Boden.

„Musst du doch nicht“, versuchte er mich zu beruhigen. „Wie soll Gilbert dich hier finden? Das ist nahezu unmöglich.“

„Aber ich träume immer davon“, flüsterte ich.

„Du hast wieder Albträume?“ Gequält blickte Raphael mich an. „Ich dachte, die haben endlich aufgehört.“

Es stimmte, ich hatte fast eine Woche keinen Albtraum gehabt. Doch seit ich gesehen hatte, wie Gilbert ausgebrochen war, träumte ich immer wieder davon, wie er mich fand. Oder von dem, was er mir bereits angetan hatte.

„Sie hatten aufgehört“, räumte ich ein. „Aber seit seiner Flucht sind ...“

Sanft strich er mir durchs Haar. „Verstehe.“

„Ist ja egal“, wechselte ich schnell das Thema. „Ich komm klar.“

Raphael lächelte mich an, doch es wirkte eher traurig. „Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?“

„Weil du dich nicht um alles kümmern kannst“, antwortete ich. „Du bist schon so oft bei mir und hast eigentlich selbst genug zu tun ... Also möchte ich dich nicht immer volljammern.“

„Ich will aber vollgejammert werden“, entgegnete er und drückte mich fest an sich. „Sag es doch, wenn ich dir helfen kann.“

Ich erwiderte seine Umarmung. „Du hilfst mir schon, indem du bei mir bist.“

„Soll ich heute Nacht bei dir bleiben?“ Überrascht sah ich ihn an. „Ich könnte bei dir übernachten“, bot er an. „Morgen ist ja keine Schule.“

„Das ... das ... also, das ...“, stammelte ich.

Er schmunzelte. „Willst du mir jetzt wieder sagen, ich hab doch bestimmt keine Zeit dafür?“, fragte er. „Ich hab’s dir letzte Woche schon gesagt, wenn ich so was vorschlage, hab ich die Zeit auch.“

Ja, letzte Woche hatte er auch bei mir übernachtet, weil ich einen Albtraum gehabt hatte. Nele, Bianca und Lorenz wussten nichts davon, die drei hatten einen Ausflug ohne mich gemacht, wie es der Kinderpsychologe vorgeschlagen hatte, damit Nele nicht mehr so sehr auf mich fixiert war. Und dass Raphael bei mir gewesen war, hatte wirklich gut getan. Nach kurzer Überlegung nickte ich. „Aber wir müssen meine Eltern um Erlaubnis fragen.“ Ich lächelte ihn an.

Er zog seine Jacke wieder aus und hängte sie an die Garderobe. „Und nächstes Mal kannst du mich auch einfach bitten hierzubleiben. Schnell nach nebenan zu laufen, um ’nen Schlafanzug und meine Zahnbürste zu holen, ist ja echt kein Aufwand.“

Ich umarmte ihn fest. „Ich wollte dir nur keine Umstände machen.“ Es wäre wirklich selbstsüchtig, so etwas von ihm zu verlangen.

Er strich mir durchs Haar. „Red keinen Unsinn. Los, fragen wir Bianca, ob ich bleiben kann.“

Wir lösten die Umarmung und lächelten uns an. Er zog seine Schuhe wieder aus und ging Hand in Hand mit mir ins Esszimmer.

Überrascht blickte Bianca auf. Sie trug eine violette Lesebrille, die ich nie zuvor gesehen hatte, doch schnell legte sie diese beiseite und setzte die Kappe auf den roten Fineliner, den sie in der Hand hielt. „Hey, ihr zwei. Was ist los?“

„Ich hab eine Frage“, begann ich vorsichtig. Sie schob die Augenbrauen zusammen, genau wie ich so oft. „Kann ... kann Raphael heute bei uns übernachten?“, bat ich.

„Was?“ Sie sah uns skeptisch an. „Warum denn?“

Ich atmete tief durch. „Ich ... ich, weißt du, ich ... bin ruhiger, wenn er bei mir ist. Und ich hab die letzten beiden Nächte schon so schlecht geschlafen ...“

„Ach so“, murmelte sie und stand auf. „Darum bist du beim Frühstück immer so müde. Ich hab mich schon gewundert.“

Unbehaglich senkte ich den Blick zu Boden. „Ja ...“

„Wir dachten uns, es wäre einen Versuch wert“, merkte Raphael an. „Morgen ist keine Schule, also ...“

Bianca wirkte nicht überzeugt. „Ich weiß nicht recht, ich halte das für keine gute Idee ...“

„Weil wir zusammen sind?“, fragte ich.

Zögerlich nickte sie. „Ja.“

Ich verdrehte die Augen. „Es ist nicht so, als würden wir irgendwas anstellen“, versicherte ich ihr. „Du weißt genau, was Gilbert getan hat.“ Ich schluckte, als ich das erwähnte. Doch ich riss mich zusammen. „Du kannst dir wohl denken, dass wir nicht gleich übereinander herfallen werden.“

Raphael ließ meine Hand los, um seinen Arm um mich zu legen. „Wenn’s dir lieber wäre, Bianca, kann ich ja auf dem Boden schlafen“, schlug er vor.

Meine Mutter lächelte schief. „Ach, ihr zwei“, seufzte sie und kam zu mir, um mich kurz zu umarmen. „Ist schon gut. Aber denkt dran, Lorenz und ich schlafen gleich nebenan. Wenn ihr also irgendwas Unanständiges macht, werden wir es hören.“

Erleichtert erwiderte ich ihre Umarmung. „Danke!“

Sie tätschelte mir den Kopf. „Hauptsache, es geht dir bald wieder besser.“

Ich war froh, dass Bianca so viel Verständnis und Vertrauen hatte, dass sie diese Übernachtung erlaubte. Wir ließen uns wieder los.

„Dann hole ich schnell meine Sachen“, kündigte Raphael an und verließ das Esszimmer.

Bianca setzte sich wieder an den Tisch. „Lorenz wird das nicht gefallen“, vermutete sie. „Also, dass dein Freund bei dir schläft.“

Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Aber wir machen wirklich nichts!“

„Das glaube ich dir doch“, beruhigte sie mich und schob sich ihre Lesebrille wieder auf die Nase. „Trotzdem wird Lorenz das nicht gutheißen.“

Unruhig zupfte ich an dem Haargummi, das ich noch um mein Handgelenk trug. „Vielleicht wird er es aber auch verstehen.“

Bianca beugte sich über den Tisch, um mir über den Arm zu streichen. „Ja, vielleicht.“ Sie lächelte. „Gut möglich.“

Ich streifte das Haargummi ab und hielt es Bianca hin. „Hier.“

„Oh, danke.“ Sie nahm es und band sich damit schnell einen Pferdeschwanz. „So ist das Korrigieren doch gleich angenehmer.“

„Weißt du, ich bin ... froh, dass Nele und ich jetzt bei euch wohnen“, flüsterte ich. „Danke für alles.“

Sie lächelte mich an. „Du musst dich nicht dafür bedanken, Lara. Du glaubst gar nicht, wie froh Lorenz und ich sind, dass wir unsere Kleine endlich zurückhaben, nachdem wir dich weggeben mussten. Wir hätten nie damit gerechnet, und auch wenn die Umstände schrecklich sind, finde ich es toll, dass du bei uns bist. Und dass Nele bei uns ist.“

Meine Eltern hatten mich zur Adoption freigegeben, weil sie bei meiner Geburt zu jung gewesen waren, um für mich zu sorgen. Bianca war 16 Jahre alt gewesen, Lorenz 17. Und ihre Eltern hatten die Beziehung abgelehnt. Deswegen war ihnen keine Wahl geblieben.

Ich erwiderte ihr Lächeln. „Danke, Mama.“

Sie sah glücklich aus, als ich sie bei diesem Namen nannte. Das tat ich selten genug. „Keine Ursache. Und jetzt husch, mach dich fertig. Raphael kommt sicher gleich wieder.“

„Okay“, stimmte ich zu und stand auf. „Gute Nacht schon mal.“

„Dir auch“, entgegnete sie und machte sich ans Korrigieren.

Ich lief nach oben in mein Zimmer und holte mir einen frischen Schlafanzug aus dem Kleiderschrank. Bevor ich ins Badezimmer ging, um mich fertig zu machen, warf ich einen Blick aus meinem Fenster. Wie erwartet konnte ich direkt ins gegenüberliegende Fenster vom Nachbarhaus sehen. In Raphaels Zimmer. Als ich meinen Freund dort entdeckte, lächelte ich. Es gefiel mir, dass unsere Fenster direkt gegenüberlagen. So konnten wir uns jeden Abend vor dem Schlafengehen zulächeln. Gerade als ich mich von dem Fenster abwenden wollte, blickte Raphael auf. Er grinste und winkte mir zu. Schmunzelnd winkte ich zurück. Er bedeutete mir, kurz zu warten, und beugte sich über seinen Schreibtisch, um etwas zu notieren. Dann hielt er zwei Blätter hoch. Die Schrift war so groß, dass ich den Text gut lesen konnte.

Bin sofort bei dir!

Gerührt blickte ich ihn an und nickte. Er warf sich einen Rucksack über die Schulter, winkte noch einmal und verließ dann das Zimmer. Nachdem er das Licht gelöscht hatte, konnte ich nichts mehr sehen. Da ich wusste, dass Raphael spätestens in einer Minute klingeln würde, lief ich nach unten zur Haustür und öffnete sie. „So ein Service“, lachte Raphael, der gerade unsere Auffahrt entlangging.

„Für dich doch immer“, entgegnete ich. „Okay, ich bin schnell im Bad und mach mich fertig. Du kannst ja dein Zeug schon mal in meinem Zimmer abstellen“, schlug ich vor.

Er nickte. „Klar, ich warte auf dich.“

Eilig lief ich ins Badezimmer und zog mich um, kämmte meine Haare und putzte mir die Zähne. Dann ging ich in mein Zimmer.

Raphael saß auf der Bettkante und spielte ein Handyspiel. Als ich hereinkam, blickte er auf. „Du warst aber schnell.“

„Ich wollte dich nicht zu lange warten lassen“, erklärte ich.

„Dann beeile ich mich auch mal“, versprach er und verließ mit seiner Tasche das Zimmer.

Allein die Tatsache, dass Raphael heute Nacht bei mir war, beruhigte mich. Klar, es war unheimlich zu wissen, dass Gilbert mich suchte. Aber was hatten die Polizisten gesagt, als Bianca, Lorenz und ich am Donnerstag mit ihnen geredet hatten? Mein Umzug hierher würde es Gilbert fast unmöglich machen, mich zu finden, zumal ich in keinem sozialen Netzwerk angemeldet war. Ich schaltete die Nachttischlampe ein und machte das Deckenlicht aus. Danach legte ich mich ins Bett. Ich war inzwischen wirklich müde – kein Wunder nach zwei Nächten mit wenig Schlaf. Außerdem zeigte mein Wecker schon kurz vor elf an. Weil mir kalt wurde, deckte ich mich zu. Hoffentlich fand ich heute Nacht Ruhe. Ich wollte Raphael nicht aufwecken, nur weil ich schlecht schlief ...

„So, bin wieder da“, meldete er sich zurück. Ich schreckte zusammen, denn ich hatte gar nicht gemerkt, dass er ins Zimmer zurückgekommen war. „War ich so leise?“, wunderte er sich.

„Oh ja“, bestätigte ich. „Ich hab dich nicht gehört.“

Er schmunzelte und setzte sich zu mir aufs Bett. „Das tut mir leid.“

„Macht nichts“, entgegnete ich. „Magst du zu mir kommen?“

„Als könnte ich da Nein sagen.“ Er legte sich zu mir unter die Bettdecke. „Soll ich das Licht ausmachen?“

Ich nickte. Er knipste die Lampe aus. Für einen Moment kehrte Stille ein, nur unser Atmen war zu hören. „Ähm, Raphael?“, fragte ich dann zaghaft.

„Ja?“

„Darf ich in deinen Arm?“

„Natürlich“, antwortete er mit einem Lachen in der Stimme. „Komm her.“

Ich rutschte ein Stückchen näher zu ihm, sodass ich mit dem Kopf auf seinem Arm lag. Den anderen legte er um mich.

„Ich mag es, wenn du mich so umarmst“, flüsterte ich.

Er drückte mich ein wenig fester und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich weiß.“

Langsam schloss ich die Augen und kuschelte mich an ihn. Mein Herz schlug zwar schnell, doch das lag nicht daran, dass ich Angst hatte. Das lag eher an Raphaels Nähe.

Wir lagen so dicht aneinander, dass ich spürte, wie seine weichen Haare mich an der Stirn kitzelten. Als ich meinen Kopf ein kleines Stück anhob, stupste ich mit meiner Nase gegen seine. Anscheinend hatte er die gleiche Idee wie ich, denn wie selbstverständlich trafen unsere Lippen aufeinander. Wir küssten uns lange, auch ich umarmte ihn nun. Ganz kurz kam mir die Befürchtung, Raphael würde weiter gehen wollen, doch diesen Gedanken verwarf ich sofort wieder.

Er wusste, wie schwer ich mich mit Berührungen tat, von seinen Umarmungen oder Küssen mal abgesehen. Er hielt mich einfach nur fest und küsste mich so intensiv, dass ich währenddessen alles andere vergaß.

Als wir uns voneinander lösten, musste ich nach Atem ringen. Ich war mir sicher, dass Raphael schmunzelte.

„Gute Nacht“, hauchte ich und gähnte ausgiebig.

Er strich mir über die Wange. „Träum süß.“

Hoffentlich. Doch ich war mir sicher, dass ich nichts Schlimmes träumen würde, solange ich in Raphaels Armen lag.

*

Die hässliche Wahrheit

Mit zusammengeballten Händen und starr nach unten gerichtetem Blick saß ich auf dem Sofa im Wohnzimmer. „Bloß keinen Laut von dir geben“, sagte ich mir wieder und wieder in Gedanken. „Sei still, warte ab und verschwinde dann mit Nele, so schnell du kannst.“

„Also?“, zischte eine Stimme, die Wut und Angst zugleich in mir auslöste.

Niemand antwortete. Niemand wagte es, den Mund zu öffnen oder laut zu atmen. Niemand bewegte sich. Weder Saskia, die rechts neben mir auf dem Sofa saß, noch Nele, die sich links neben mir zusammenkauerte.

„Wer meldet sich freiwillig?“, fuhr Gilbert fort.

„Nele muss sofort hier raus“, schoss es mir durch den Kopf. Bevor die ganze Sache eskalierte, was sicher bald geschehen würde. Ich kannte Gilbert schon lange genug, um daran keine Zweifel zu haben.

Plötzlich stampfte er mit dem Fuß auf. „Ich hab euch eine Frage gestellt!“

Erschrocken sah ich auf, direkt in dunkelgrüne Augen, die zu Schlitzen verengt und von Zorn gezeichnet waren. Im Sitzen wirkte Gilbert noch größer, stärker und mächtiger. Noch Furcht einflößender. Doch ich hielt mich an meine goldenen Regeln.

Denn es gab genau drei Dinge, die man in Gilberts Nähe nicht machen durfte, wenn man an seinem Leben hing: Angst zeigen, nachgeben und ihm den Rücken zukehren.

Er lächelte mich an, was ihn widerlich sympathisch wirken ließ. Jedenfalls wenn man sein wahres Gesicht nicht kannte. „Ah, Engelchen, schön, dass du dich zur Verfügung stellst.“

Nein. Nicht schon wieder. Ich war doch erst gestern dran gewesen ...

„Nele, lauf schnell in unser Zimmer“, flüsterte ich meiner siebenjährigen Schwester zu. „Ich komme gleich nach.“

Die Kleine sah mich verängstigt an, nickte aber und stand von dem schäbigen Sofa auf, auf dem wir saßen. Sie lief aus dem Zimmer, zu meiner Erleichterung unternahm Gilbert nichts dagegen. Er achtete nur auf mich. Ich schluckte schwer, als er mich musterte. Sofort senkte ich den Blick wieder. Jetzt steckte ich in der Klemme.

Gilbert ging vor mir in die Hocke und griff nach meinem Kinn, um meinen Kopf anzuheben, sodass ich ihn ansehen musste. Ich verzog bei der Berührung das Gesicht. Gilberts Griff tat weh, zumal ich am Kinn eine schlimme Prellung von seinen gestrigen Prügeln hatte.

„So, Engelchen, bist du sicher, dass du dich freiwillig meldest?“, vergewisserte er sich. Sein Atem stank nach Alkohol, doch ich ließ mir meinen Ekel nicht anmerken. „Ganz sicher?“

Vielleicht verschonte er mich, wenn ich keinen Ton sagte. Beinahe hätte ich gelacht, als mir dieser Gedanke kam. Gilbert verschonte mich nie.

Aus den Augenwinkeln heraus blickte ich zu Saskia. Sie starrte zu Boden, ihre langen dunkelbraunen Haare hingen wie ein Vorhang um ihr Gesicht. Sie machte sich klein und bewegte sich keinen Millimeter. Und sie nahm mich nicht in Schutz. Wie immer. Sie hatte zu viel Angst, selbst zusammengeschlagen zu werden.

Seit inzwischen drei Jahren ließ Gilbert seine Wutausbrüche an uns aus. Nele tat er zum Glück nichts, dafür sorgte ich so gut wie möglich. Aber Saskia und ich wären naiv, wenn wir auf seine Gnade hofften.

„Engelchen, willst du nichts sagen?“

Ich spannte meinen Kiefer an. Nein, ich wollte nichts sagen. Ich war eine hochgewachsene, abgemagerte, verängstigte 16-Jährige, die erfolgreich ihre Angst vor Gilberts Augen verbarg, innerlich jedoch vor Panik schrie. Ich hatte keine Chance gegen diesen kräftigen Mann.

Er hatte an diesem Tag fürchterliche Laune und suchte nach einem Vorwand, jemanden zu verprügeln. Doch ich würde ihm keinen Grund geben.

Das dachte ich jedenfalls, bevor ich plötzlich niesen musste.

Gilbert grinste bösartig und entblößte dabei seine gelben Zähne. „Das werte ich als ein Ja.“

Im nächsten Moment sah ich Sterne. Seine Faust hatte mich mit voller Wucht an der linken Gesichtshälfte getroffen. Leise keuchte ich auf, gab aber ansonsten keinen Laut von mir. Ich würde diesem Teufel nicht die Genugtuung geben, meinen Schmerz zu zeigen.

Saskia war bei dem Schlag zusammengezuckt, doch sie sagte nichts. Natürlich nicht.

„Steh auf“, forderte Gilbert mich auf.

Meine Angst verwandelte sich in Wut, voller Hass starrte ich den Mann, der sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte, an. „Nein!“

„Oh, wir werden mutig“, lachte er und zog eine Packung Zigaretten aus seiner Hosentasche. „Wie kommt’s?“

Während er sich eine Zigarette anzündete, schlug ich die Beine übereinander und bemühte mich, ungerührt auszusehen. „Auf jemanden wie dich kann man doch nur herabschauen. Wieso sollte ich Angst vor dir haben? Du bist so ein Versager! Du schlägst Saskia, du schlägst mich, du arbeitest nicht, du säufst und rauchst den ganzen Tag und deinetwegen hungern wir!“

„Pass auf, was du sagst“, zischte er.

Ich verschränkte die Arme. „Ich sollte dich doch anzeigen!“, drohte ich.

„Und ich sollte deiner Schwester wohl doch zeigen, wie nett ich werden kann“, entgegnete er.

Damit brachte er mich zum Schweigen. Egal, wie dringend ich Gilbert die Stirn bieten wollte, Nele durfte ich dabei nicht in Gefahr bringen.

„Oder ich statte dir heute Nacht mal wieder einen kleinen Besuch ab“, fuhr er fort. „Wie fändest du das?“

Unwillkürlich erschauderte ich. Nein! Bloß nicht. Seine Schläge konnte ich verkraften, jederzeit, doch seine gierigen Finger auf meiner Haut ... Nicht schon wieder. Bitte nicht.

Er packte mich am Oberarm und zog mich auf die Beine. Nun wirkte er nicht mehr ganz so groß, aber immer noch beängstigend. Er blies mir den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht, weshalb ich husten musste. „Ja, ich glaube, das mache ich“, beschloss er.

„Teufel! Bleib aus meinem Zimmer draußen!“, schrie ich.

Es war schon schlimm genug, dass er nachts ... über mich herfiel, aber ich teilte mir das Zimmer mit meiner kleinen Schwester. Ich konnte nicht mal schreien, weil sie sonst aufwachen würde. Ich musste es still über mich ergehen lassen, und das war das Grausamste, was Gilbert tun konnte. Er wusste genau, wie sehr er mich anekelte. Doch es war ihm egal, solange er seinen Spaß hatte.

Er grinste nur. „Das war eindeutig eine Einladung.“

Mir drehte sich der Magen um. Nein! Nein! Wieso?!

„Aber jetzt möchte ich erst mal zu Ende bringen, was ich angefangen habe“, kündigte er an und rammte mir seine Faust in die Magengrube.

Ich krümmte mich und schlang meine Arme um den Körper. Das hatte gesessen, mir wurde sofort übel. „Saskia, hau endlich ab!“, brüllte ich wütend. „Du machst sowieso nichts, dann musst du auch nicht zuschauen.“

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Augenblicklich stand sie auf und verließ das Wohnzimmer. Kurz sah ich der zierlichen Frau hinterher. Sie lief so ... vorsichtig. Klar, sie hatte Angst.

Ihre Schritte entfernten sich, vermutlich in Richtung Treppe. Unsere Wohnung war klein, zwei enge Stockwerke, mehr konnten wir uns nicht leisten. Doch früher hatte sie uns gereicht. Früher, als Wolfgang noch gelebt hatte und wir eine richtige Familie gewesen waren. Heute war das hier kein Zuhause mehr.

„Wie schön, wir sind unter uns“, lachte Gilbert und zog an der Zigarette. „Das ist doch toll, findest du nicht?“

Am liebsten hätte ich ihn geschlagen. Doch mein rechter Arm war gebrochen und in einen schweren Gipsverband gehüllt, mein linker mit Schnittwunden übersät. Mein ganzer Körper war ein Wrack, und damit meinte ich nicht diese verdammte Unterernährung. Inzwischen hatte ich mich an meine herausstehenden Hüft- und Rippenknochen gewöhnt – immerhin sah Nele nicht so ungesund aus wie ich. Meistens gab ich ihr einen Großteil meiner dürftigen Essensportionen ab. Sie war so jung, so lieb und so unschuldig. Sie sollte nicht so leiden müssen.

Mit dem ständigen Hungergefühl kam ich schon klar. Nur die zahlreichen Verletzungen machten mir zu schaffen. Gilbert verprügelte mich so oft, dass ich immer irgendeine Wunde hatte. Es dauerte lange, bis Prellungen oder sogar Knochenbrüche heilten. Und die Abstände zwischen Gilberts Wutanfällen wurden kürzer. Saskias Körper sah vermutlich genauso geschunden aus wie meiner. Gilbert schlug sie inzwischen beinahe jeden Tag zusammen, mich nur ungefähr jeden zweiten. Dafür kam er alle paar Nächte in mein Zimmer.

„Hoffentlich stirbst du bald an Lungenkrebs“, fauchte ich, als er die Zigarette auf den Boden warf und mit dem Fuß ausdrückte.

Er machte so viel Dreck. Seine Zigarettenstummel lagen überall herum, und er trug auch im Haus ständig Schuhe. Außerdem hinterließ er oft eine Blutspur, wo auch immer er Saskia oder mich gerade schlug.

„Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich bin kerngesund, Engelchen. Im Gegensatz zu dir“, provozierte er mich. „Wie geht’s deinem Arm denn?“

„Welchen meinst du?“, entgegnete ich. „Den gebrochenen oder den, den du vor drei Tagen zerschnitten hast?“

Er lachte. Tatsächlich, er lachte über die Verletzungen, die er mir zugefügt hatte. „Tja, wenn es dich beruhigt, heute begnüge ich mich mit anderen Körperteilen“, versprach er und schlug mich schon wieder ins Gesicht.

Ich hatte nicht mit diesem Schlag gerechnet, daher taumelte ich zurück und fiel aufs Sofa. Schnell setzte ich mich hin, bevor er sich auf mich legen konnte.

Gilbert kniete sich mit einem Bein auf meinen Oberschenkel, sodass ich mich kaum noch bewegen konnte. Sein Knie bohrte sich regelrecht in mein Bein. Beinahe wären mir vor Schmerz Tränen in die Augen geschossen, doch wie immer unterdrückte ich sie.

Ich hatte seit Jahren nicht geweint, weil ich genau wusste, wie gerne Gilbert meine Tränen sah. Es war ein schwacher Akt der Rebellion, doch immerhin ärgerte es ihn.

„Was denn, nicht mal ein kleiner Schrei?“, fragte er.

„Den Gefallen tue ich dir nicht“, keuchte ich.

„Das wirst du bald“, prophezeite er und rammte mir seine Faust in die Seite.

Ich unterdrückte ein Wimmern. „Irgendwann wirst du dafür büßen müssen!“

„Bestimmt nicht.“ Überlegen sah er mich an. „Meine liebe Frau unterstützt mich, wie es sich gehört. Sie wird immer zu mir halten.“

Wie ich es hasste, dass er recht hatte. Wie ich es hasste, dass Saskia nichts gegen diese Grausamkeiten unternahm. Wie ich es hasste, dass Gilbert mich wegen Nele im Griff hatte. Wie ich es hasste, so ramponiert in die Schule zu gehen und deswegen keine sozialen Kontakte zu haben. Wie ich es hasste, vor den wenigen Lehrern, die mich nach dem Grund für die Verletzungen fragten, lügen zu müssen. Wie ich Berlin hasste. Das einzig Gute an dieser großen Stadt war, dass ich kaum auffiel. Es gab so viele Menschen hier, dass niemand auf ein Mädchen wie mich achtete. Ich hatte inzwischen gelernt, keine Aufmerksamkeit zu erregen.

„Noch ungefähr zwei Jahre“, sagte ich mir. „In zwei Jahren werde ich 18 und kann mit meiner Schwester verschwinden. Und wir werden nie wieder zurückkehren. Nie wieder.“ Dann sollte Saskia sehen, wie sie alleine klarkam. Wenn Gilbert keinen zweiten Boxsack mehr hatte. „Wart’s ab. Du wirst nicht immer damit durchkommen“, drohte ich.

Er schmunzelte. „Du machst mir keine Angst, Engelchen.“

Das wusste ich nur zu gut. Wie sollte ein Hänfling wie ich einem großen und kräftigen Mann Angst machen?

„Aber ich sollte dir beibringen, dass mich deine Drohungen nerven.“ Er zog sein Taschenmesser aus der Hose. „Vielleicht lernst du es ja doch noch.“

Ich schluckte. Das würde jetzt wehtun.

Gilbert stand auf, endlich ließ der Druck an meinem Oberschenkel nach. Sofort reagierte ich, sprang vom Sofa auf und rannte zur Zimmertür. Doch nach dem zweiten Schritt hatte Gilbert mich wieder gefangen. Er griff nach meinen offenen Haaren und zog mich daran zurück. Gequält schrie ich auf, meine Kopfschmerzen wurden unerträglich.

„Das ist Musik in meinen Ohren!“, lachte Gilbert. Er hob mich hoch und warf mich auf den harten Boden. Nun konnte ich die Angst in meinen Augen nicht mehr verbergen. Panisch starrte ich diesen Teufel an. Was hatte er vor? Mein Rücken tat weh, doch viel schlimmer war diese Furcht ...

Gilbert kniete sich neben mich, ein Bein auf meinem Bauch. Keuchend stieß ich Luft aus. Das Atmen fiel mir schwer, außerdem blitzten immer wieder schwarze Sterne vor meinen Augen auf.

„Lass mich in Ruhe!“, verlangte ich.

Er belächelte mich nur. „Wie niedlich.“ Dann packte er mein rechtes Bein. Er krempelte meine Jeans ein Stückchen hoch und klappte die Klinge seines Taschenmessers aus.

„Ach, meine Arme reichen nicht mehr?“, fragte ich wütend. „Jetzt musst du auch noch meine Beine verunstalten?“

Da verlor er die Geduld. „Halt endlich die Klappe!“, schrie er und legte das Messer beiseite, um nun mit beiden Fäusten auf meinen Kopf einzuschlagen. Doch ich bekam nicht mehr viel mit. Nach dem dritten Treffer verlor ich das Bewusstsein. Erst im Krankenhaus wachte ich wieder auf. Ein grässlicher Schmerz strömte durch meinen ganzen Körper. Ich spürte jedes einzelne Glied, jeden Zentimeter meiner Haut und vor allem das heftige Pochen in meinem Kopf. Desorientiert blinzelte ich. Das helle Licht schmerzte in meinen Augen, doch ich blickte mich um. Meine Adoptivmutter saß auf einem Stuhl neben meinem Bett und starrte geistesabwesend aus dem Fenster.

„Saskia“, murmelte ich.

„Larissa! Du bist wieder wach!“, stellte sie erleichtert fest.

„Was ... was ist passiert?“, fragte ich.

„Du bist in Ohnmacht gefallen. Ich hab den Notarzt gerufen“, erzählte sie.

Ich war froh, dass Saskia bei mir saß. Sie ließ mich wenigstens in dieser Lage nicht alleine. „Wo ist Nele?“, fiel mir siedend heiß ein.

„Sie ist draußen ...“ Saskia zögerte.

Ungeduldig seufzte ich. „Was ist denn los? Warum redest du nicht weiter?“

„Die Ärztin hat die Polizei gerufen, weil du so schlimme Verletzungen hast“, erklärte sie. „Ein Polizist befragt Nele gerade.“

„Aber sie hat doch gar nichts mitbekommen“, wandte ich ein.

Saskia nickte. „Stimmt. Du wirst übrigens auch gleich befragt.“