Godcula - Hans Jürgen Kugler - E-Book

Godcula E-Book

Hans Jürgen Kugler

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Beschreibung

Es hätte ein perfekter Tag werden können, ein so wundervoller, stinknormaler Arbeitstag wie jeder andere sonst auch: vorschriftsmäßig, durchsättigt von gepflegter Langeweile und eingeschlafener Leidenschaften, wohltuend in seiner Normativität und geradezu balsamisch in der radikalen Abwesenheit jeglicher Art von Aufregung; vor allem aber hätte dieser Tag eines sein können: überschaubar! Wäre da nicht "Godcula" gewesen, das neue Projekt für die Herbstcreation, mit dem er die Produktentwicklungsabteilung des Segmentes Unterhaltungselektronik beauftragt hatte. Er, Boss Art Director (BAD) Dr. Paul Pandemius schätzte es nämlich ganz und gar nicht, wenn von seinem sorgsam ausgearbeiteten Stundenplan auch nur eine einzige Minute nicht seinen Vorstellungen von effektivem Zeitmanagement und supraoptimaler Effizienzsteigerung entsprechen wollte. Als ob er nicht schon genug Aufregung hätte mit Bandaraneike! Der Traum seiner schlaflosen Nächte im Büro. Heiß, aber nur scharf auf sein Geld. Und obendrein glühende New-Age-Jüngerin. Game Designer Kurt Kurtz hat da ganz andere Probleme. Nicht nur, dass seine Computerfigur Godcula plötzlich ein sehr konkretes Eigenleben an den Tag legt und den ganzen Laden zu übernehmen gedenkt. Eigentlich muss er gleich die ganze Welt retten - wenn es diese denn überhaupt noch gibt. Steigen Sie mit Godcula tief hinab in die Psychopathologie des Alltags, erforschen Sie die bizarren Wahnwelten digitaler Schizophrenie, begleiten Sie Godcula auf seinem Vernichtungsfeldzug durch die unendlichen Weiten des Cyberspace … Sie werden unglaublichen Wesen begegnen: Bandaraneike, der schärfsten Frau im Reich der Esorotik, eigensinnigen AnruferbeantworterInnen, Wing Commander William Chutney, Sebastian, dem materiellen Avatar von Godcula, dem Chor der Bakterien …

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Seitenzahl: 276

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Hans Jürgen Kugler

Godcula

Die Harmonie der Insekten

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Myrmekologische Einleitung

1 Die Verwandlung

2 Der Chef hört Stimmen

3 Kurt Kurtz sucht eine Schere

4 Bandaraneike sucht Erleuchtung

5 Konferenzschaltung für Fortgeschrittene

6 Der Chef hat einen Termin

7 Die Adler greifen an

8 Ran an den Feind

9 Bandaraneike spinnt

10 Schon wieder Stimmen

11 Bandaraneike spinnt immer noch

12 Independente Selbstbezügliche Kollektiv-Textdatei <INSEKT>

13 Gestatten – Godcula!

14 Durchgebrannt

15 Besuch aus dem Rechner

16 Bandaraneike spinnt schon wieder

17 Commander Chutney will nach oben

18 Von der Verwirrung der Gelehrten

19 Der Chor der Bakterien

20 War’s das? – Das war’s (fast)

Impressum neobooks

Myrmekologische Einleitung

In einem Insektenstaat wie dem der Ameisen herrscht absolute Harmonie. Nichts ist dem Zufall überlassen. Ein gewaltiges Kollektiv aus Millionen von Einzelinsekten lebt, gedeiht und entwickelt sich unter dem Schutz und in der Geborgenheit einer in höchstem Maße aufeinander abgestimmten Gemeinschaft hin zu einem Zustand absoluter Ordnung und Perfektion. Millionen von Einzel­individuen, das jedes für sich genommen vollkommen gleich ist, fügen sich, fast scheint es: willenlos, in eine Ordnung höherer Stufe, nach einem übergeordneten Plan, vergleichbar einem physikalischen Naturgesetz. Denn alles, was geschieht, verläuft nach den Regeln eines im Grunde einfachen, aber ausgeklügelten allumfassenden Planes. Dieses Wunder an vollkommener Ordnung wird durch absolute Kontrolle erreicht. Eine unangreifbare, nicht zur Debatte stehende herrschende zentrale Gewalt steuert mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems von hochwirksamen chemischen Substanzen, den sogenannten Pheromonen, all die komplizierten vielfältigen Interaktionen, die nötig sind, um ein Kollektiv von solch gewaltigen Ausmaßen am Funktionieren zu erhalten. Das Ausmaß, das diese Pheromone über das Verhalten einer einzelnen Ameise ausüben, ist unumschränkt. Alle Individuen sind von dieser Zentralgewalt abhängig. Umgekehrt ist das Wohl und Wehe dieser zentralen Gewalt darauf angewiesen, dass jedes einzelne Individuum des Kollektivs seine jeweilige Aufgabe in perfekter Weise ausführt. Letztlich sind alle von allen abhängig. Das System funktioniert, weil alle Fäden in einem Punkt zusammenlaufen; weil alle Fäden von einem Punkte ausgehen. Dieser eine zentrale Punkt ist Ausgangs- und Endpunkt eines überindividuellen Individuums – des Kollektivs. Er ist Anfang und Ende, Nullpunkt und Fülle, Ursprung und Ziel in einem, das Eine, das Alle ist. Origo ergo sum, wie schon die Klassiker wussten (…).

(aus: Godcula’s Kleines Brevier der Tiere, 112. Auflage, Band XIII, II. Buch, Zweiter Teil, Erste Abteilung, 3. Abschnitt, Kapitel LXVII, 3.2.1.0 Prolegomena zur Kleinen Einführung in die Harmonie der Insekten, Seite 1123 ff.)

1 Die Verwandlung

Ich habe mich verwandelt. Ganz gewaltig sogar. (Gewaltig ist das richtige Wort.) Wenigstens das weiß ich. Denn am meisten scheint sich mein Erinnerungsvermögen geändert zu haben. Alles, was ich jetzt noch weiß, ist, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war, und dass es auch nie mehr so sein wird. Ich kann es nicht erklären, ich weiß nur, dass ich mit einem Mal nicht mehr derselbe war, der ich noch bis vor kurzem gewesen bin. Und doch bin ich derselbe geblieben. Aber ich habe mich verändert.

Die Verwandlung nahm draußen, außerhalb der Röhre, ihren Anfang. Wie an jedem Morgen bin ich auch an diesem Tag schon in aller Frühe aus dem Bau herausgekrochen, ganz wie sonst auch, der gewohnte Gang aus dem Dunkel ins Licht, in die unbekannte, gefährliche Welt außerhalb des freundlichen, warmen Kollektivs.

Zunächst schien alles so wie immer zu sein. Der kurze Schock vor dem grellen Licht, die vielen verwirrenden Düfte, die unsere Straßen überlagerten; die sich drohend abzeichnende Phalanx des Waldes und das Spiel der Schatten, nachdem sich meine Augen an die überwältigende grelle Fülle angepasst hatten; der kühle Wind auch, der über meinen Körper strich.

Weil ich durstig war eilte ich noch schnell einen Grashalm hinauf, um mich an dem verlockenden, in der Sonne silbern glitzernden Wassertropfen zu erfrischen, der von der Spitze herabhing. Mit den vorderen Gliedmaßen packte ich in geübtem Griff diese unter meinen Greifklauen immer so rasch vor sich hinwirbelnde glänzende Kugel. Es ist nämlich jedes Mal aufs neue eine Herausforderung, diesem so schwer fassbaren, kaum zu bändigenden Element habhaft zu werden. Schließlich bekam ich sie aber dennoch zu fassen, eine pralle, in der Frühsonne wie ein Diamant glitzernde Wasserperle, und stach mit meinen Mandibeln in die gleißende Flüssigkeit, um davon zu trinken. Normalerweise ist das eine ganz gewöhnliche Angelegenheit; die lediglich zur Folge hatte, dass meine durch die Austrocknung in der Nacht spröde gewordenen Membranen sich wieder etwas dehnen konnten und geschmeidiger wurden. Die Flüssigkeit kühlte mir etwas den durch die Anstrengung hitzig gewordenen Körper – ein Vorgang, der für mich so selbstverständlich war, dass ich ihn kaum jemals bewusst registriert hatte. Aber an diesem Morgen war alles anders. Das Wasser rann mir an diesem Tag nicht wie sonst kühl und erfrischend den Schlund hinab, sondern raste mir wie flüssiges Feuer direkt in die Eingeweide hinein, ich hatte dabei ein Gefühl, als ob ein glühendes, wildes Tier sich in meinen Körper hineinfräße. Es ist wahr: Das Wasser dieses einen Tropfens erfrischte und belebte mich auf eine Weise, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte, auch wenn es mich innerlich zu verbrennen schien.

Ich hatte kaum ein paar Schlucke von dieser ungewöhnlichen Flüssigkeit getrunken, da spürte ich, dass etwas mit mir, mit meinem Körper vorging. Ich sah an meinen vorderen Gliedmaßen entlang und konnte beobachten, wie der Abstand zwischen mir und dem Halm, an den ich mich geklammert hatte, zunehmend zu schrumpfen schien. Der Halm wurde kleiner und immer kleiner, sehr bald schon wurde er so winzig, dass ich Mühe hatte, ihn noch weiter umklammert zu halten, was ich in meiner Verwirrung natürlich dennoch instinktiv versuchte.

Aber es hatte keinen Sinn. Nach ein paar Sekunden neigte sich der Halm zu Boden, weil er mein Gewicht nicht mehr tragen konnte. Es war kein großer Sturz, im Gegenteil. Ich landete sauber auf der Erde und konnte beobachten, wie die Halme der Gräser ringsumher immer weiter nach unten sanken. Ich befand mich schon lange nicht mehr im Graswald, sondern auf ihm. Schon konnte ich das Gras von oben betrachten und musste zu meinem nicht gerade geringen Erstaunen feststellen, dass diese so scheinbar unermessliche grüne und braune Landschaft, die ich bisher aus meiner Ameisenperspektive für die ganze Welt gehalten hatte, zu einem winzigen Fleckchen Erde zusammengeschrumpft war.

Nachdem ich meine Augen neu ausgerichtet und auf eine größere Entfernung hin eingestellt hatte, konnte ich erkennen, dass der grasbewachsene „Hügel“, auf dem ich stand, nicht mehr als eine winzige Ausbuchtung von einem Splitter eines Felsens war, der wiederum in einen kleinen, unscheinbaren Teil eines kleines Berges am Fuße einer weiten Kette von Bergen eingebettet lag, die sich in einer unendlichen Reihe über und über und aneinander auftürmten, bis sie sich endlich in einer immer weiter entfliehenden Ferne in einem dunstigen Bereich aus Wolken, blassen blaugrauen Farbschlieren und kaum noch erkennbaren, verwaschenen Mustern aufzulösen schienen.

Ein Schwindel erfasste mich, als ob ich taumelnd und mich überschlagend nach allen Seiten hin zugleich stürzen würde. Wie groß ist die Welt! Wie gewaltig! Wie erdrückend und zugleich auch wie weit und erhaben!

Und plötzlich erkannte ich, inmitten dieser umwälzenden Veränderung, die sich da mit mir vollzog – es ist alles nur eine Frage der Perspektive! Nicht die Welt war es, die da vor meinen Augen in Nichts zusammenschnurrte und dabei zugleich auch bis ins Unendliche expandierte, sondern ich war es, ich selbst, der plötzlich größer und größer und noch größer wurde. Die Welt blieb, was sie ist, aber ich wuchs und wuchs …

Meine Gedanken wirbelten wie wild durcheinander. Nichts erschien mir mehr wirklich. War wirklich ich es, der – gestern? – noch wie jeden Morgen aus dem Bau gekommen war und all die notwendigen Dinge getan hatte, die nun einmal getan werden mussten; war wirklich ich es, der da plötzlich aus völlig unbekannten Gründen über sich hinaus gewachsen ist, dass ihm die Welt schrumpfte wie ein fallender Ball, dem die Welt sich so plötzlich ins Riesenhafte auftürmte wie ein Gebirge …

„Eine ganz neue Erfahrung, wie?“

Da war sie wieder, die altvertraute Stimme, die mich seit einiger Zeit immer dann zu begleiten pflegte, wenn ich auf meinen vertrauten Streifzügen durch die äußere Welt hin und wieder den Kontakt zum Kollektiv verloren hatte.

„In der Tat, soo groß hätte ich mir den Unterschied nicht vorgestellt“, antwortete ich ihr.

„Nun, soo groß ist der Unterschied im Grunde auch gar nicht. Denn ohnehin ist alles, was ist, nur der Traum im Traum eines geträumten Träumenden.“

„Was sagst du da?“

„Die Wahrheit.“

„Nun, wenn es die Wahrheit ist, dann ist es ja gut, denke ich.“

„So, meinst du …?“

(Independente Selbstbezügliche Kollektiv-Text­datei <INSEKT>, Fragment Alpha Origo 0/00.1–00.5)

2 Der Chef hört Stimmen

Fred Schwiemler, stellvertretender leitender Master Art Director (MAD) der Abteilung allgemeine Kreativität im Segment Unterhaltungselektronik der deutschen Zweigstelle von Fun & Son Incorporated war in seinem vollklimatisiertem Büro in der 17. Etage des Pennter-Center mit der in höchstem Maße verantwortungsvollen Aufgabe beschäftigt, die Siebte Variable Ebene des Dunklen Vließes zu erreichen, um dort dem Bösartigen Grinsenden Ghul in seiner Burg des Transuniversalen Schreckens aufzulauern.

Es war ihm gerade geglückt, aus dem Horst des Grausigen Greifen zwei seiner goldener Eier zu entwenden, die seinem Vitalkonto zwei zusätzliche Leben einbringen würden, die er für den bevorstehenden Kampf mit den unbarmherzigen und zudem drogensüchtigen Vasallen des Bösartigen Grinsenden Ghuls auch dringend benötigen würde.

„Hey Fred! Stell dir vor, eine gigantische Ameise …“

„Verdammt noch mal! Wegen dir habe ich jetzt doch glatt die Eier fallen lassen! Kannst du dich nicht anmelden, wie jeder andere auch hier?“

In Kurt Kurtz’ dezent gedunsenem Gesicht erloschen schlagartig die kleinen roten Flecken, die mit ihrem Erscheinen zum Leidwesen ihres Trägers aller Welt auf unübersehbare Weise kundtaten, dass ihr Besitzer sich gerade in einer höchst aufgeregten Stimmung befand, ein Mann voller Tatendrang und Vitalität. Es tat Kurt wirklich leid. Er hatte sich einfach nichts dabei gedacht, als er so ohne alle Voranmeldung in Freds Büro gestürmt war, aber die Idee mit der Ameise war ihm einfach zu großartig erschienen, als dass er sie noch länger als eine Nanosekunde für sich behalten hätte können. Weil er nun mal wirklich selten eine gute Idee hatte, erschien ihm jeder irgendwie sonst noch von ihm bislang ungedachte plötzliche Gedanke als eine so große innovative geistige Errungenschaft, dass ihm selbst der Einfall, die Knopfleiste seines Hemdes statt von oben nach unten, künftig von unten nach oben zu knöpfen als eine epochemachende Eingebung geradezu göttlicher Inspiration erscheinen musste.

„Was für eine Ameise meinst du denn überhaupt? ,Fornicula‘ gibt es doch schon seit über fünfzig Jahren …“

„,Fornicula‘, ach was! Das war doch nur Kinderkram. Ich meine etwas viel, viel Größeres, eine Ameise, so groß wie ein ganzes Hochhaus, mit gewaltigen, rasiermesserscharfen Flügeln, unzähligen Kiefern, feuerspeiendem Atem …“

„Also eine Ameise, so groß wie Godzilla …?“ Das war wieder einer dieser Momente, in denen er es von Herzen bedauerte, dass er diesem halbdebilen Schwachkopf jemals über den Weg gelaufen war, dass er es ihm jemals gestattet hatte, sein Lakai werden zu dürfen. In der Schule schon war ihm Kurt wie ein junger Hund hinterhergelaufen, wollte immer dabei sein, wenn er mit seiner Clique ein kleines Ding zu drehen plante, wie man es als Halbwüchsiger halt so tut. Alle, nur nicht Kurt. Kurt war in allem der Klassendepp, klein, fett und auch nicht gerade der Hellste. Jeder konnte ihn gefahrlos schikanieren, weil er sich einfach nicht zu wehren wusste, und so schikanierte ihn auch jeder. Er hatte keine Freunde, und wenn doch, dann nur so lange, bis er ihnen sein ganzes Taschengeld ausgehändigt hatte.

Eigentlich wäre Kurt für Fred ein viel zu leichtes Opfer gewesen, als dass er ihn überhaupt seiner Aufmerksamkeit für würdig befunden hätte, und darum ignorierte er ihn anfänglich, wie man ein Insekt ignoriert, das auf dem Boden krabbelt.

Gerade das machte ihn für Kurt attraktiv und er wich nicht mehr von seiner Seite. Sogar noch als er ihn verprügelt hatte, kam er gleich darauf wieder angekrochen, um sich bei ihm dafür zu entschuldigen, dass er ihn durch seine Anwesenheit belästigt hatte …

Und im Laufe der Zeit hatte es dieser Schwachkopf mit seiner Anhänglichkeit doch tatsächlich geschafft, dass er ihn als seinen Assistenten eingestellt hatte.

„Ja, genau! So wie Godzilla! Wir könnten es ja ,Fornizilla‘ nennen, das unglaubliche Wesen aus den Tiefen des Alls, oder klingt ,Godcula‘ vielleicht besser …“

„Nun mal langsam.“ Fred überlegte. „Godcula“ klang wirklich nicht schlecht, das musste er zugeben, das hört sich irgendwie nach einer finsteren Gottheit an … Aber erst einmal musste er diesen Schwachkopf in seine Schranken weisen, schließlich ging es nicht an, dass Kurt einfach zu ihm hineinplatzte, wie es ihm gerade passte. Er musste auch an die anderen Kollegen denken, da konnte er keinem Mitarbeiter so mir nichts, dir nichts irgendwelche Privilegien einräumen, sonst hieße es gleich wieder, „Ja, ja, der Kurt, das ist halt der Spezi vom Chef …“ Das konnte er nun wirklich nicht zulassen.

„Hör mal, du hast nicht ,Darf ich‘ gesagt …“

„Darf ich?“ sagte Kurt brav und reichte ihm sein platinveredeltes Feuerzeug wieder, mit dem er sich gerade eine der falschen Havannas aus des Chefs höchstpersönlicher Edelholzschatulle angezündet hatte.

„Was? Natürlich. Ich meine, nein, du sollst … ach verdammt. Du weißt doch genau, dass du nicht so einfach in mein Büro hineinplatzen kannst, Godzilla hin, Ameise her!“

Kurt war zutiefst zerknirscht, seine Stimme sank auf ein kaum wahrnehmbares Flüstern herab. „Soll ich wieder gehen?“

„Immer, wenn ich mit überaus wichtigen, innovativen wirtschaftlichen Problemlösungsstrategien beschäftigt bin, kommt erst irgend so ein Idiot hereingeplatzt, dann klingelt das Telefon …“

Das Telefon klingelte. Fred holte tief Luft, riss den Hörer an sich und bellte in die Sprechmuschel: „Ja, verdammt!“ Er erstarrte mitten in der Bewegung, sein puterrotes Gesicht wurde bleich wie ein Teigklumpen. Fred nahm unwillkürlich eine Habachtstellung am Telefon ein. „Jawohl. – Natürlich. Selbstverständlich. – Natürlich heute noch. – Das kann ich erklären. Jawohl. – Jawohl. – Aber sicher. – Jawohl. – Danke. Ihnen auch. – Jawohl. – Danke. Danke.“

Fred war nun doch leicht verärgert. Sein Chef, Dr. Paul Pandemius, hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass er bis morgen Abend noch ein vollständiges, buntes, tabellenkalkulatorisch taugliches, exzellent ausgearbeitetes, anschauliches und überzeugendes Exposé der kommenden Herbstcréation in Händen zu halten wünsche, mit dem er noch in diesem Jahr den Umsatz des Segmentes Unterhaltungselektronik um mindestens fünfzig Prozent zu steigern imstande sein sollte. Wohlgemerkt, er, Boss Art Director (BAD) Dr. Paul Pandemius, Außerordentlicher Absolvent der Vergleichenden Spekulativen Protognostischen Exil­equilibristik an der Königlichen Universität Uganda; nicht er, Fred Schwiemler, würde den Umsatz steigern, er hatte nur das Material dazu zu liefern; die Anerkennung und den Ruhm für die von ihm geleistete Arbeit würde wie immer sein unmittelbarer Vorgesetzter, Dr. Pandemius, einstreichen. Wie er ihn hasste! Er wurde hier unten regelrecht aufgefressen, weil er hier tagtäglich, von morgens bis abends, eine geradezu herkulische Aufgabe, die er unter zahllosen Opfern, unter unglaublichen Bedingungen, umgeben von unfähigen Mitarbeitern und permanent gestört von einer lautstark arbeitenden Klimaanlage jeden Tag aufs neue zu leisten hatte, während er, Dr. Pandemius, ein Stockwerk über ihm gemütlich in seinem kackbraunen Edelledersessel lümmelte, den ganzen Tag über einen Drink nach dem anderen in sich reinschüttete und sich wahrscheinlich in der Mittagspause von dieser alten Schlampe Fräulein Herzig die faulen Eier lecken ließ, und zum Quartalsende fand dieser alte Aktenlecker dann immer noch Zeit, ganz nebenbei vor den Vorstand zu treten und mit vor dümmlicher Selbstzufriedenheit berstender Brust alle Meriten und alle Anerkennung einzustecken, die von Rechts wegen eigentlich ihm zukommen sollten. Wie er ihn hasste!!

„Äh, ist irgendwas, Chef?“ fragte Kurt, dem der schnell changierende Farbwechsel von Leichenblass bis Puterrot im Gesicht von Fred Schwiemler nicht entgangen war. Das Puterrot verblasste allmählich zu einem halbwegs gesunden Schweinchenrosa.

„Du bist ja immer noch hier! Also gut, ich brauche bis heute Mittag, hörst du, bis heute Mittag, nicht erst morgen, ein komplettes, ausführliches, vollständiges, buntes, tabellenkalkulatorisch taugliches, exzellent ausgearbeitetes, anschauliches und überzeugendes Exposé unserer laufenden Herbstcréation! Und zwar pronto und picobello! An die Arbeit!“

„Äh – was genau meinst du damit, mit der Herbstcréation … ich meine, …“

„Ganz egal, was. Alles, was ich sehen will, ist ein exzellent ausgearbeitetes, ausführliches, vollständiges, buntes, tabellenkalkulatorisch taugliches, anschauliches und überzeugendes Exposé, mit dem wir Eindruck schinden können. Also los!“

„Äh, wenn ich noch bemerken dürfte …“

„Was gibt es da noch zu bemerken?“

„… Wirklich ganz egal, was?“

„Ganz egal, was!“

„Also ist es wirklich egal, was es ist?“

„Egal, was es ist, Hauptsache, es ist was.“ Er war ganz stolz auf sein Wortspiel, noch nicht einmal halb zehn Uhr morgens, und schon gebar er solche ausgeklügelte Sottisen – das musste er sich aufschreiben.

„Wie wäre es dann mit einer riesigen Ameise, die …“

„Jetzt fängst du schon wieder mit diesem Blödsinn an! Alles, was ich will, ist ein tragfähiges, außergewöhnliches, vollständiges, buntes, anschauliches, überzeugendes und exzellent ausgearbeitetes Exposé, mit dem ich was anfangen kann!“

„… tabellenkalkulatorisch brauchbares! …“

„Was?“

„,Tabellenkalkulatorisch brauchbar‘. Du hast vergessen zu sagen, dass du ein tabellenkalkulatorisch brauchbares Exposé willst.“

„Es ist ganz egal, was ich will. Hauptsache, ich habe es bis heute Mittag. Aber um Himmelswillen keinen Blödsinn mit riesigen Ameisen oder so etwas. Herrgottnochmal, werd doch endlich mal erwachsen!“

„Aber ich bin doch längst erwachsen.“

„Was hast du gesagt?“ Dieser Schwachkopf wird mit jedem Tag frecher.

„Ich? Ich habe gar nichts gesagt“, sagte Kurt, der diesmal wirklich nichts gesagt hatte.

„Du hast doch eben gesagt: ,Aber ich bin doch schon erwachsen‘ …?“

„Nein, ganz ehrlich, das habe ich nicht gesagt.“

„Aber ich habe es doch laut und deutlich gehört.“

„Ich weiß nicht.“

Kurt machte ein so selten unschuldiges, dümmliches Gesicht, dass er sich wirklich nicht vorstellen konnte, dass er das jemals gesagt haben könnte.

„Verschwinde jetzt! An die Arbeit!“

Er hätte schwören können, dass irgend jemand hier, eben vorhin, in diesem Raum gesagt hatte: „Aber ich bin doch schon erwachsen!“ als er gesagt hatte – na egal. Er hatte jetzt andere Probleme. So wie die Dinge jetzt lagen –

„Ich habe das gesagt.“

Fred fiel der Telefonhörer aus der Hand, den er soeben aufgenommen hatte. Kurt war schon zur Türe heraus und er war jetzt völlig allein in seinem Büro, und dennoch hatte er laut und deutlich eine Stimme gehört, die soeben gesagt hatte: „Ich habe das gesagt.“ Wurde er etwa verrückt, all der Stress die letzten Wochen über …? Oder erlaubte sich da jemand einen besonders schlechten Scherz?

Ein versteckter Lautsprecher?! Er blickte unter den Schreibtisch, suchte mit den Augen die Wände nach verdächtigen Spuren ab. „Sicherlich Müller, Meier und Schmidt aus der Revision. Denen war ich ja schon immer ein Dorn im Auge.“

„Du hast ganz richtig gehört“, vernahm er wieder die Stimme: laut, deutlich, und in einem sauberen, sonoren Baß wie ein Rezitativ aus einer Oper.

„Äh, was?“ piepste er kaum vernehmbar unter seinem Schreibtisch hervor. – „Wer spricht denn da?“ fragte er zögerlich.

„Herr Gott.“

„Wie?“ Seine Stimme war nur noch ein gehauchtes Flüstern.

„Du hast gesagt: ,Herr Gott, noch mal, werd‘ doch endlich erwachsen!‘“

„Das habe ich gesagt?“

„Das hast du gesagt“, insistierte die Stimme sanft. „Und da dachte ich eben, es wäre vielleicht an der Zeit, dich darauf hinzuweisen, dass ich doch längst erwachsen bin, jedenfalls viel erwachsener, als du es jemals sein wirst.“

Er musste verrückt geworden sein. Ganz eindeutig. Das gibt‘s doch gar nicht.

„Muss man denn immer gleich verrückt sein, wenn man etwas erlebt, was man nicht gleich versteht?“

Er verstand es wirklich nicht. Aber das brauchte er ja auch gar nicht. Er setzte sich wieder an seinen Computer und startete erneut das Dark-Fader-Programm und versicherte sich immer wieder, dass er soeben einer Halluzination zum Opfer gefallen sein musste.

„Ich höre das gar nicht. Das ist alles nur Einbildung. Da ist keine Stimme. Hörst du? – Ich höre das gar nicht, du existierst gar nicht! Keine Stimme! Nirgends! Nicht einmal in meiner Phantasie.“

„Wie du meinst.“ Die Stimme verstummte.

Er hatte wohl doch zu viel gearbeitet die letzte Zeit, ganz gewiss. Der Erfolgsdruck, die dringenden Termine, diese ungeheure Verantwortung! Diese Belastung! Wie sehr ihn das alles belastete! Keiner würde das je verstehen. Und jetzt begann er auch noch Stimmen zu hören. Davon durfte er keinem etwas erzählen. Die würden ihn ja für vollkommen verrückt erklären. Stimmen! Einfach so. Stimmen, mitten im Raum. Wie aus einem Radio. Er lauschte angestrengt in den Raum, aber da war nichts mehr. Er hörte nur das vertraute Summen seines Rechners und das Telefonklingeln aus dem Nebenraum, das Müller, Meier und Schmidt bestimmt wieder aus ihrem Büroschlaf geweckt hatte. Die Vorstellung erheiterte ihn so sehr, dass er fast hysterisch aufgelacht hätte. Aber nur fast. Man konnte ja nie sicher sein, ob die das da drüben nicht vielleicht hören würden.

Eine erschreckende Vorstellung ergriff von ihm Besitz. Wie, wenn diese papierdünnen Wände so hellhörig sind, dass die drei schon seit Jahr und Tag jedes einzelne Wort ohne Probleme mitverfolgen konnten, das er in seinem Büro je gesprochen hatte, jedes Telefonat mitbekamen, das er führte, jede – nicht auszudenken!

Ein eigenartiger Gedanke durchfuhr ihn: Wenn dem so wäre, dann hätten sie sicherlich auch diese Stimme hören müssen, wenn es denn eine gegeben hätte. Er horchte wieder angestrengt an die Wand. Nichts.

Genau! Wenn es wirklich eine Stimme gegeben haben sollte, dann hätten Müller, Meier und Schmidt die in ihrem Büro sicherlich auch hören können. Diese drei Schnarchzapfen hatten doch ohnehin nichts Besseres zu tun, als den ganzen Tag über die Ohren zu spitzen und aufzupassen, was in seinem Büro vor sich ging. Aber zugleich wurde ihm auch bewußt, dass er nicht einfach so zu ihnen rübergehen konnte, um sie zu fragen: „Sagt mal, ganz unter uns, habt ihr nicht vielleicht auch eben so eine sonore Baßstimme eben in meinem Büro gehört?“ Ganz ausgeschlossen. Selbst wenn sie diese Stimme wirklich gehört haben sollten, würden sie einen Teufel tun und ihm das auf die Nase binden, denn dann hätten sie sich ja selbst entlarvt und ihre Schnüffelei eingestehen müssen. So ging es also nicht. Und wenn es doch nur eine Halluzination gewesen war, hätten sie ohnehin nichts hören können, ob sie jetzt an seiner Wand lauschten oder nicht.

Genau! Es konnte wirklich nur eine Halluzination gewesen sein, es lohnte sich gar nicht, noch länger darüber nachzudenken.

Der Bildschirm vor ihm erlosch wieder, sein Computer hatte auf den Ruhezustand umgeschaltet, weil er seit zehn Minuten keine Eingaben registriert hatte.

„Herrgottnochmal, da sitze ich hier untätig rum und vergeude kostbare Zeit, wo doch der Chef auf dieses dämliche Exposé wartet“, fiel ihm plötzlich ein und griff wieder zum Telefon. Er hatte den Hörer gerade abgehoben als er einer Eingebung folgend plötzlich innehielt.

„Herrgottnochmal!“ rief er laut. Keine Antwort.

Gott sei Dank. Keine Stimmen. Er war erleichtert.

Aus purem Übermut wiederholte er noch einmal, laut und deutlich, jede Silbe einzeln betonend: „Herr! Gott! Noch! Mal!!“

„Was?“ Kurt.

„Wie?“ unwillkürlich zuckte er zusammen, „Du doch nicht, verdammt noch mal, was machst du überhaupt in meiner Leitung? Ich habe doch noch gar nicht gewählt gehabt.“

„Das weiß ich auch nicht. Wirklich nicht. Ich …“

„Wie lange bist du schon in der Leitung?“

„Ich? Überhaupt nicht lange. Ich habe eben …“

„Ist ja auch egal. Was macht das Exposé? Schon irgendwelche Ideen?“

„Äh, ja, das heißt nein, deshalb rufe ich ja gerade an. Weißt du, es liegt einfach nichts Neues an. Letztes Jahr hatten wir ja noch die Sache mit den interaktiven Robosekten, was ja ganz gut gelaufen war …“

„Hör mir bloß damit auf! Man konnte noch nicht mal über die Straße gehen, ohne von so einem Ding wild flackernd angepiepst zu werden. Und was soll das heißen, keine Ideen? Was machst du denn eigentlich den ganzen Tag hier?“

„Ja, es gibt im Moment eben einfach nichts … außer vielleicht diese Sache mit der Ameise, was ich dir vorhin schon …“

„Ich habe dir doch gesagt … diese Ameisen krabbeln dir ja schon im Hirn rum. – Aber vielleicht besser als gar nichts, also gut, dann versuch‘ es halt mal mit dieser Ameise, in Gottes Namen!“

Er legte auf und lauschte. Nein, keine dröhnende Stimme, die wie aus dem Nichts über ihn hergefallen wäre. War wohl doch alles nur Einbildung.

Eins musste man Kurt lassen, so einfältig wie er ist, so hartnäckig ist er auch. Kommt doch die ganze Zeit mit dieser nun wirklich seit mindestens fünfzig Jahren abgeschmackten Idee von einer Riesenameise. Godzilla und Fornicula in einem. Dass ich nicht lache! Andererseits – gerade die dämlichsten Ideen haben ja später den allergrößten Erfolg. Also warum nicht mal wieder eine riesige Ameise, die Hochhäuser wie Nüsse knackt und am Ende womöglich das Empire State Building hinaufkrabbelt, weil sich dort Claudia Schiffer hingeflüchtet hat. Oder in die U-Bahn-Schächte kriecht, um dort ihre Eier abzulegen.

Halt. Das ist gar nicht mal so schlecht. Ameisen legen doch ihre Eier unterirdisch ab? Das ist genau dieser Funke an Realitätsbezug, der einer wirren Geschichte Glaubwürdigkeit verleiht. Doch, da steckt noch einiges an Potential drin.

Er wählte noch einmal Kurts Apparat: „Und dass du mir ja schnell machst, bis nach dem Mittagessen brauche ich dringend die ersten brauchbaren Entwürfe. Also laß knacken.“

„Ja, Chef, ich bin schon dabei.“

Hatte er soeben „Ja, Chef!“ gesagt? Fred lächelte. Schau mal einer an, hat der alte Knabe also doch noch Respekt vor ihm. Das wollte er ihm aber auch geraten haben, nach allem, was er schon für ihn getan hatte.

Er drückte die Leerzeichentaste, um seinen Bildschirm wieder zum Leben zu erwecken. Mochte Kurt doch dieses dämliche Exposé erstellen, sein Job war es schließlich nur, den Mist zu verkaufen, den andere für ihn machen.

Er aktivierte wieder Dark Fader. „Mist!“ Er hatte ganz vergessen, dass er ja die goldenen Eier des Grausigen Greifen hatte fallen lassen, als Kurt so unvermutet in sein Büro gestürmt war. Jetzt konnte er wieder ganz von vorne anfangen, musste wieder zurück auf Ebene drei und sich erst wieder mühsam den Eingang zur Monsterhöhle freischießen. „So ist das nun mal in meinem Job“, dachte er, „da bemüht man sich in hingebungsvoller Aufopferung den ganzen Tag hindurch, um seinen vielfältigen und unglaublich verantwortungsvollen Aufgaben so gut es geht gerecht zu werden, und dann kommt so ein unfähiger Schwachkopf hereingeplatzt und macht mit einem Schlag die ganze Arbeit eines Tages zunichte.“ Er packte seinen Joystick und feuerte wie der Teufel aus allen Rohren auf die berittenen Schrorks, die seinen Mr. Jonessy in nicht enden wollenden Wellen angriffen.

3 Kurt Kurtz sucht eine Schere

(…) Der Tod wird die einzige individuelle Erfahrung sein, die sie jemals in ihrem Leben machen werden. Einzig der Tod wird es sein, der sie einst aus ihrem Kollektiv zu trennen vermag.

(aus: Godcula’s Kleines Brevier der Tiere, a.a.O., Seite 1245)

Sub Assistance Deputy (SAD) Kurt Kurtz’ Schreibtisch glich einer aufgegebenen kommunalen Mülldeponie, die eben im Begriff stand, aus ihrem feuchten, dunklen Innern neues Leben entstehen zu lassen – eine Metapher, die so falsch nicht war. Und wirklich – sein Schreibtisch entpuppte sich alsbald als ein Ort voller Leben. Irgendwo aus der linken hinteren Ecke, zwischen den abgelegten Farb­ausdrucken des Kalaminia-Exposés von 98, den verklebten, mittlerweile ungültigen Briefmarken, der noch zart nach Tabasco duftenden Mexican-Pizza-Schachtel von letzter Woche und dem abgekauten Bleistiftstummel von gestern lugten scheu und vorsichtig zwei zwei Zentimeter lange, haarige Fühler hervor, die in hochfrequenten Schwingungen vorsichtig die umgebende Raumluft sondierten.

Kurt Kurtz bemerkte allerdings nichts von diesen zaghaften Versuchen einer auf diesem Planeten noch unbekannten Lebensform in neue Territorien vorzustoßen, da er im Moment vollauf damit beschäftigt war, in den unergründlichen Tiefen seines Schreibtischcontainers nach einem Klebestift zu suchen, den er, da war er sich ganz sicher, erst vor einem Jahr dort irgendwo deponiert hatte und mithin im Augenblick seine ganze Aufmerksamkeit der anspruchsvollen und äußerst diffizilen Aufgabe gewidmet hatte, mit den am linken Handrücken gespreizten Fingern den stetig nachrutschenden Berg angefangener Merkdemos, nicht verbuchter Quittungsbelege, leerer Farbpatronenverpackungen eines längst ausrangierten Tintenstrahldruckers, zerknüllter Coladosen und je nach Belegung wahlweise vertrockneter oder verschimmelter Sandwichüberreste einigermaßen in Schach zu halten, während sich die Finger der rechten Hand einem Ölbohrer gleich in immer tiefere geologische Schichten aus Papier, Plastik und einer Unzahl von Verbundstoffen wühlten, bis sie sich endlich auf dem Grunde seines Schreibtischcontainers in den verborgenen Sedimenten einer ausgeklügelten Ablagetechnik von etwa zwei Jahrzehnten Dauer, vorwärtstasten konnten, um diesen nun so dringend gebrauchten Klebestift endlich ans Tageslicht zu befördern.

In einem für ihn ungewöhnlichen Temperamentsausbruch stieß er einen triumphierenden Schrei aus, als er an seinen Fingerspitzen endlich die klebstoffverkrustete Spitze des Klebestiftes spürte, stieß dann die rechte Hand noch etwas tiefer in das geheimnisvolle Dunkel und zog in einer entschlossenen Bewegung seine Beute hervor.

Der plötzliche Ruck, mit dem Kurt Kurtz den Klebestift aus seinem Schreibtischcontainer gezogen hatte brachte jedoch das in jahrelanger Arbeit sorgfältig austarierte Gleichgewicht dieses Materialkompendiums auf seinem Schreibtisch in beträchtliche Schwingungen. Kurz, der ganze Haufen kam ins Rutschen und begrub das gerade eben noch scheu sich regende Leben unwiderruflich unter sich.

Und so wurde auf diese Weise wieder einmal eine hoffnungsvolle Spezies von Menschenhand ausgelöscht und folgte damit dem unbeirrbaren und grausamen Lauf der Evolution. Viele Prototypen, die untergehen, bevor sie noch recht die Chance gehabt hätten, sich auszubreiten und weiterzuentwickeln.

Aber auch Kurt Kurtz war heftig in seinen Überlebenskampf verwickelt. Er wusste ganz genau, wenn er nicht bald eine Idee hätte, die er seinem Chef Fred als absoluten Knaller des Jahres würde verkaufen können, würde sehr bald eben dieser Fred – Kumpel hin, Kumpel her – über ihn herfallen und ihm womöglich seine ausgedehnten Rauchpausen untersagen wollen. Und dann käme garantiert noch Dr. Pandemius hinzu, der wiederum zuerst und zudem über Fred herfallen würde, was diesen mit Sicherheit dazu bewegen würde, … Und weil die Kacke dann eh schon so schön am Dampfen wäre, käme dann mit Sicherheit noch der Vorstand angelaufen, um seine – gelinde gesagt – Irritationen über das laufende Programm zu artikulieren; denn wenn Schlachttag ist, läuft die Meute stets zusammen, um ihn, das so ziemlich letzte Glied in der Kette, zu zerfleischen. Zu guter Letzt würde ihm seine Frau noch eine Szene machen, die Kinder hätten wieder einen Grund, ihren Vater zu verachten, und selbst der Wellensittich sähe sich noch veranlasst, seinen Unmut über seine mangelnde Fürsorge durch nervenzerreißendes Zetern kundzutun.

Also musste dringend eine Idee her! Er blickte auf seine Hände. Was eigentlich wollte er mit diesem Klebestift anfangen? Ach ja, die Präsentationsunterlagen von 94! Die waren ja noch ganz brauchbar. Schade, dass er diese Unterlagen nicht damals schon komplett in den Computer geladen hatte, dann hätte er jetzt nur noch die halbe Arbeit, könnte hier einen Text ersetzen, dort eine Grafik anpassen … Es würde verdammt eng werden. Und ausgerechnet heute hatte „Galle“ natürlich Urlaub genommen. Als ob er es geahnt hätte! Immer, wenn es Arbeit gab, war der Herr Galler entweder in Urlaub, hatte etwas Unaufschiebbares zu erledigen oder erkrankte urplötzlich an irgendeiner ebenso merkwürdigen wie hartnäckigen Virusgrippe oder sonst einem Zipperlein. Gut meinende Kollegen hielten ihn für einen Hypochonder, aber das war er ganz gewiss nicht. Der Begriff der Hypochondrie wäre mehr als geschmeichelt, wollte man diesen Terminus als hinreichende Erklärung für Erhart Gallers häufige Fehlzeiten wegen Krankheit anwenden. Ein Hypochonder fühlt sich ja wirklich krank, auch wenn er kerngesund ist. Und Kurt wusste ziemlich genau, was man sich unter einem Hypochonder vorzustellen hatte. Sein Kollege Walter Witzel beispielsweise war der geradezu klassische Prototyp des eingebildeten Kranken. „Eingebildet“ durchaus im doppelten Sinn des Wortes, denn neben seiner Hypochondrie zeichnete Walter auch ein ungebremstes und mitunter mehr als peinliches Geltungsbedürfnis aus. Er musste im Laufe seines Lebens nun wirklich schon jede denkbare und auch undenkbare Erkrankung, jedes im Pschyrembel oder sonst wo dokumentierte Gebrechen am eigenen Leibe erlebt haben. Walter Witzels Neigung, bei jedem Eindruck schinden zu wollen, der so unvorsichtig gewesen war, in seine Nähe zu kommen, ging einmal sogar so weit – er musste immer noch darüber schmunzeln –, dass er einem Kollegen gegenüber erwiderte, der ihm von einer diagnostizierten Hirnhautentzündung eines Freundes erzählt hatte, Hirnhautentzündung, das sei nun wirklich etwas ganz Furchtbares: „Entweder man stirbt daran, oder man wird blöd davon. – Hab ich auch schon gehabt!“

Dem Kollegen, dem er dieses Geständnis in seiner erfrischend naiven Art abgelegt hatte, fiel fast die frisch aufgebrühte Kaffeetasse aus der Hand, dann brach er in brüllendes Gelächter aus, was Walter nur noch mit einem unverständlichen Kopfschütteln quittieren konnte. Wahrscheinlich hat er bis heute nicht gemerkt, welche tiefe Einsicht er da gerade in sein tiefstes Innerstes gewährt hatte. Diese unschuldige Art von Ignoranz bringt nur der wahre Hypochonder auf. „Galle“ aber, nein, „Galle“ war ganz gewiss kein Hypochonder. Der ist kerngesund wie immer und feiert ganz bewusst – und zwar gerade nicht schuldbewusst – krank, besonders an solchen Tagen, wenn es mal wieder hoch herzugehen droht im Betrieb.