Goldcrest Manor - Velvet Meadows - Yvy Kazi - E-Book

Goldcrest Manor - Velvet Meadows E-Book

Yvy Kazi

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Beschreibung

MIR WIRD SO LEICHT UMS HERZ, ALS WÄRE NACH JAHREN ENDLICH WIEDER RICHTIG, WAS LANGE VERKEHRT WAR

Als Mackenzie Bennett nach einem Reitunfall die Diagnose Epilepsie erhält, ändert sich ihr Leben schlagartig. Das Schlimmste: Sie darf nicht mehr reiten, und ihr Kindheitsfreund Julian Bancroft scheint wie ausgewechselt. Verschwunden sind die Vertrautheit und das Knistern, das zuletzt immer stärker wurde. Kenzie flieht nach London und kehrt erst nach ihrem Studium auf das Gestüt Goldcrest Manor zurück. Dort hat sich in ihrer Abwesenheit einiges verändert — bis auf Julian, der nun zwar ein erfolgreicher Polo-Spieler ist, sich Kenzie gegenüber aber genauso abweisend verhält wie vor drei Jahren. Doch als sie gemeinsam ein wichtiges Event für das Gestüt organisieren müssen, bekommt Julians Maske allmählich Risse ...

»Yvy Kazi erschafft mit GOLDCREST MANOR einen Ort voller Wärme, Geborgenheit und Zusammenhalt. Man entdeckt den Mut, stehenzubleiben, obwohl man weglaufen möchte und lernt, dass nur wir selbst uns und unsere Wünsche definieren können.« ZWISCHENZEILENUNDGEFUEHLEN

Auftakt der neuen New-Adult-Reihe von Yvy Kazi

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Seitenzahl: 514

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Epilog

Wichtige Namen, Orte & Begriffe

Das kleine Polo-1x1

Dankesworte

Die Autorin

Die Bücher von Yvy Kazi bei LYX

Contenthinweis

Impressum

YVY KAZI

Goldcrest Manor

VELVET MEADOWS

Roman

ZU DIESEM BUCH

Auf dem Rücken ihrer Stute Elody über eine Sommerwiese galoppieren, den Wind in den Haaren und das Donnern der Hufe in den Ohren, neben sich ihren besten Freund Julian Bancroft – das ist Mackenzie Bennetts Vorstellung von einem perfekten Moment. Und davon erlebt sie auf Goldcrest Manor, dem Gestüt ihrer Familie, so einige. Doch als sie einen epileptischen Anfall erleidet und vom Pferd stürzt, ändert sich ihr Leben schlagartig. Ihre Ärzte verbieten ihr nicht nur das Reiten, auch Julian scheint wie ausgewechselt. Verschwunden sind die Vertrautheit und das Knistern, das immer stärker wurde und Kenzie auf mehr als Freundschaft hoffen ließ. Überfordert und traurig geht sie fürs Studium nach London und kehrt erst nach ihrem Abschluss nach Goldcrest Manor zurück. Dort trifft sie auch wieder auf Julian, der inzwischen ein erfolgreicher Polo-Spieler geworden ist, aber immer noch so abweisend wirkt wie vor drei Jahren. Doch als sie gemeinsam ein wichtiges Event für das Gestüt organisieren müssen, beginnt Julians Maske Risse zu bekommen, und schon bald ist auch Kenzies Herzklopfen wieder da …

Willkommen auf Goldcrest Manor.

Für alle, die in ihrer Kindheit Pferdegeschichten genauso verschlungen haben wie ich. Geschichten über Liebe, Freiheit und Vertrauen.

Möge der Sommer niemals enden und die warme Luft eure Wangen streicheln, während ihr über die wogenden Wiesen in den Sonnenuntergang galoppiert.

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier einen Contenthinweis.

Achtung: Dieser enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle

das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Yvy und euer LYX-Verlag

Auszug aus dem Handbuch: »Goldcrest Manor Zuchtziele«

»Eine gute Nachzucht ist schnell wie ein Hengst und spielbar wie eine Stute.«

Grandpa Bennett

Exterieur: Wendig, schnell, furchtlos, nervenstark und nicht zu groß sollen unsere Ponys sein. Sehnig und schlank; mit gut entwickelter Hinterhand und kräftigen, langen Beinen.

Interieur: Ein ideales Goldcrest-Polo-Pony ist intelligent und hellwach. Es ist lebhaft, gutartig temperamentvoll und ausgesprochen reaktionsschnell. Im Spiel sollte es Nervenstärke, Mut und Einsatzfreude zeigen; im Umgang jedoch sensibel und freundlich sein.

Regel Nummer 1: Liebe und Güte seien unsere Leitsterne.

Ein guter Reiter geht stets liebevoll mit seinem Pferd um, denn der Fehler liegt immer beim Reiter, nie beim Tier.

Grandpa Bennett

PROLOG

Julian

16 Jahre

»Ich liebe diese Aussicht«, murmelt Kenzie – Mackenzie Bennett – mit Blick auf den leise plätschernden Willow Creek.

Und ich liebe dich – denke ich und beiße mir auf die Zunge, um die Worte hinter meinen Lippen einzusperren. Was soll ich sagen? In dieser Hinsicht bin ich ein waschechter Feigling, denn mein Herz führt in ihrer Nähe schon seit geraumer Zeit ein Eigenleben. Wenn sie mir so nahe ist wie in diesem Moment auf unserem Baumstumpf am Flussufer, verborgen hinter einem Vorhang aus Weidenzweigen … Wenn sie mich auf diese Weise anlächelt und mir der Duft ihres Pfirsichshampoos in die Nase steigt … Wenn sie sich zurücklehnt und dabei so auf ihre Hände stützt, dass ihr kleiner Finger wie zufällig über meinem liegt. Wenn diese winzige Berührung ein warmes Kribbeln durch meinen ganzen Körper schickt … Ja, dann frage ich mich, ob wir noch Freunde sind.

Ich meine: Natürlich sind wir das. Kenzie war schon immer meine beste Freundin. Die Schwester, die ich nie hatte. Seit ich denken kann, waren wir unzertrennlich und sind zusammen durch die Wiesen unserer Anwesen gestreift, um Grashüpfer zu fangen und Abenteuer zu erleben. Ihr Grandpa war mir so nahe, dass er den fehlenden Teil meiner erweiterten Familie ersetzt hat. Und ich habe nie verstanden, warum meine Kumpel sich über unsere Freundschaft lustig gemacht haben.

»Aber Kenzie ist doch ein Mädchen«, zog Desmond mich früher auf.

»Ja. Und?« – Wie oft habe ich das geantwortet und nicht hinterfragt. Ich habe nie begriffen, was Desmond mir sagen wollte. Irgendwann wurde es allerdings anders. Der Satz »Aber Kenzie ist doch ein Mädchen« bekam eine neue Bedeutung, obwohl sich scheinbar nichts zwischen uns geändert hatte.

Außer meinem Herzen, das in ihrer Nähe plötzlich schneller schlug. Außer der Luft, die mir immer öfter wegblieb, wenn sie mich angelächelt hat. Außer der Frage, seit wann Kenzie in Reitstiefeln dermaßen sexy aussieht. – Und dem daraus resultierenden Zweifel, ob sie echt nicht bemerkt, was dieses Gefühlschaos mit mir anstellt. Reithosen sind denkbar schlecht dafür geeignet, um Erektionen zu kaschieren.

Entweder ignoriert Kenzie sie gekonnt, um mir Peinlichkeiten zu ersparen – oder ihr ist bis heute nicht aufgefallen, dass ich schon seit einer ganzen Weile gern mehr als ihr bester Freund wäre. Als sie vorhin ihre Fuchsstute Elody gesattelt hat … War ich da wirklich der Einzige, der sich vorgestellt hat, sie auf den Berg aus Strohballen am Ende der Stallgasse zu schubsen, um … Keine Ahnung, was, zu tun.

Natürlich wüsste ich, was wir tun könnten. Kenzie ist eine verdammt gute Reiterin. Nicht so elegant wie ihre Schwester Maeve, aber ebenso einfühlsam und durchsetzungsstark. Ich hätte kein Problem damit, ihr die Zügel zu überlassen. Rein metaphorisch, denke ich. Ich habe nur keinen Schimmer, ob sie mich jemals auf diese Weise sehen wird. Ich weiß ja nicht einmal, ob sie überhaupt auf Männer steht, weil wir nie über diese Dinge gesprochen haben.

Mein Blick gleitet wie von selbst über ihren Körper. Ihren perfekten Körper in Reithose, Top und Karohemd. Der Wind streicht ihr durch die Haarspitzen, lässt sie wie lodernde Flammen im Wind wehen, wohingegen der Rest ihrer kupferfarbenen Mähne von einem Helm bedeckt wird. Ob sie es wohl doof findet, wenn ich ihre Haare so nenne?

Herrgott, Julian. Du musst weniger denken und mehr handeln, tadele ich mich selbst. Dabei bin ich im Denken ziemlich gut. Ich denke gern. Zu viel. Über alles. Auch Kenzie ist eine Träumerin. Oft starrt sie gedankenverloren vor sich hin, als wäre sie gerade woanders. Wir ergänzen uns gut. Kenzie ist perfekt – für mich.

Auch meine Eltern mögen sie. Ihre Eltern hingegen züchten auf Goldcrest Manor Polo-Ponys. Ich spiele Polo, seitdem ihr Grandpa mich damit angefixt hat. – Wie könnten zwei Menschen besser zueinander passen? Allerdings sollte ich das Gespräch wohl anders beginnen. 

Hey, Kenzie. Mein Hengst passt perfekt zu deiner Stute, klingt irgendwie nicht nach dem richtigen Gesprächsanfang. 

Oder noch schlimmer: Hey, Kenzie. Wie wäre es, wenn du zukünftig ab und zu mal mich statt deinem Pferd reitest? – Nicht, dass ich was dagegen hätte, doch es ist vielleicht etwas zu forsch für jemanden, der die korrekte Anwendung von Kondomen bisher allein geübt hat; immer mit Kenzies Bild vor meinem geistigen Auge.

Aber es ist mehr als das. Ich mag Kenzie nicht nur, weil wir beide Pferde lieben. Nicht einmal, weil sie der einzige Mensch ist, der versteht, dass es sich anfühlt, als wäre mit dem Tod ihres Grandpas auch ein Teil meiner Kindheit gestorben. Wenn Kenzie lacht, ist meine Welt heiler und mein Herz leichter. Wenn sie weint, ist es wie ein Stich in meine Seele. Und wann immer wir über die Zukunft reden, spüre ich die Gewissheit, dass es unsere Zukunft ist. Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Allein daran zu denken, dass sich unsere Wege irgendwann fürs Studium trennen, sorgt dafür, dass sich meine Eingeweide verknoten. Ich habe Angst, sie zu verlieren. Dass sie in London einen anderen kennenlernt, ehe ich die Chance hatte, ihr zu sagen, wie viel sie mir bedeutet. Dass sie nach dem Studium nicht nach Goldcrest zurückkehrt und unsere gemeinsamen Momente zu einer immer bedeutungsloser werdenden Kindheitserinnerung verblassen.

Scheiße, ich bin richtig nervös. Ich sollte nicht so aufgeregt sein. Wenn ich es heute wieder nicht übers Herz bringe, sie zu fragen, ob wir mehr als Freunde sein wollen … Dann vielleicht morgen. Oder übermorgen. Sie läuft ja nicht weg. Zumindest nicht, bis wir studieren gehen. Was heißt, dass mir noch zwei Jahre bleiben, um mir einen Ruck zu geben – oder für immer zu schweigen. Was irgendwie gerade nach einer viel zu verlockenden Option klingt.

Kenzie räuspert sich leise, ehe sie die Kinnschnalle ihres Helms löst und ihn absetzt. Behutsam legt sie ihn neben ihre Füße und setzt sich auf ihre Hände. 

»Also …« Sie betrachtet kurz ihre Stiefel, bevor sie den Kopf hebt und mich ansieht. 

Wow. Sie ist unfassbar hübsch. Das Hellbraun ihrer Augen erinnert mich an das Toffee, das Grandma so geliebt hat. Und der kleine Leberfleck unter ihrer Unterlippe an die Schokostückchen, die ihre Mum immer in die Scones macht. Ihre langen Haare fallen ihr locker um die Schultern, als wäre sie eine leibhaftige Märchenprinzessin.

»Hast du mir zufällig etwas zu sagen?«, fragt sie so geradeheraus, dass mir kurz das Herz in die Hose rutscht.

Statt ihr zu antworten, blinzle ich sie an wie ein Vollpfosten. Sie kann nicht wissen, dass ich sie schon seit Wochen um ein Date bitten will. Oder? Was ist, wenn Desmond es ihr gesteckt hat? Ich würde es dem Verräter zutrauen.

Reden, Julian. Das ist das mit den Worten, ermahne ich mich.

»Ja, ich wollte …« Ich kann nicht anders, als mich zu räuspern, leider hilft es gar nicht gegen den fetten Kloß in meinem Hals.

»Ja? Du wolltest?«, wiederholt sie gedehnt – nur um mich zu ärgern. Dabei ist es ausgerechnet das schelmische Funkeln ihrer Augen, das mir hilft, endlich über meinen Schatten zu springen.

»Mein Dad feiert ja nächstes Wochenende seinen Geburtstag, und ich wollte dich fragen, ob … du …« Unruhig wische ich meine feuchten Handflächen an meiner Hose ab. Ist es heute so heiß oder liegt das an mir? Meine Wangen und Ohren glühen förmlich.

Boah, Julian. Du gibst dir gerade echt Mühe, voll unsexy rüberzukommen.

Ich räuspere mich erneut, richte mich auf und sehe Kenzie in die Augen. »Ich wollte dich fragen, ob du mich begleiten würdest.«

Eine steile Falte bildet sich zwischen ihren Augenbrauen. Ich kenne diesen zweifelnden Blick – und er verheißt nichts Gutes.

»Ich soll dich begleiten? Zum Geburtstag deines Dads? Der mich eh jedes Jahr einlädt?«

»Ja, aber ich meinte offiziell. Als meine Freundin.«

Kenzie blinzelt. Einmal, zweimal. Hinter ihrer Stirn arbeitet es sichtlich.

»Wenn du Freundin sagst, meinst du …?«

Statt ihre unausgesprochene Frage zu beantworten, tue ich das Unüberlegteste, was man in dieser Situation machen kann: Bevor mich die Stimme der Vernunft ermahnt, küsse ich sie. Ohne vorher zu fragen. Ohne zu wissen, ob sie das überhaupt möchte. Einfach weil mir die Worte fehlen, um mich zu erklären.

Noch während meine Lippen auf ihre treffen, verfliegen meine Zweifel, da ich spüre, dass Kenzie den Kuss erwidert. Erst zögerlich, sodass ich mich frage, ob ich es mir nur einbilde, dann hingebungsvoller.

Oh Gott. Das hier ist garantiert das beste Gefühl der Welt. Wie im gestreckten Galopp über eine Wiese zu fliegen – nur besser.

Als sie ein »Endlich« auf meiner Haut wispert, wird mir so leicht ums Herz, dass ich jede Zurückhaltung ablege und meine Hand in den Haaren an ihrem Hinterkopf vergrabe, um dieses Gefühl zu intensivieren. Wie kann es sein, dass sich nur unsere Münder berühren, und das Kribbeln dennoch meinen ganzen Körper erfüllt?

Irritiert sehe ich auf, als Kenzie unseren Kuss plötzlich abbricht und aufsteht.

Hat es ihr nicht gefallen? Oder war es zu viel? Sofort gebe ich sie frei.

Kommentarlos lässt sie sich rittlings auf meinen Schoß gleiten und versenkt ihren Blick in meinen.

»Kein Wort zu meinen Eltern. Okay?«, fordert sie.

Noch ehe ich mein Nicken beendet habe, küsst sie mich erneut und ich bin mir sicher zu schweben. Sämtliche Gedanken sind aus meinem Kopf gefegt. Ich habe keinen Schimmer, wie es genau hierzu gekommen ist, aber … Es ist der schönste Moment meines Lebens – und das schon bevor Kenzie noch dichter an mich heranrückt.

Ihren ganzen, umwerfenden Körper an meinem zu spüren, bringt mich fast um den Verstand. Dieser Kuss ist alles andere als harmlos; kein vorsichtiges Herantasten, sondern ein wahres Feuerwerk. Es fühlt sich an, als hätten wir – zwei Menschen, die sich in- und auswendig kennen – nur auf den richtigen Moment gewartet, um aufgestaute Energien abzubauen. Sie ist mir so nahe, dass sie meine aufkommende Erektion einfach spüren muss. Und wenn mich nicht alles täuscht, gefällt es ihr.

»Kein Wort zu Mum und Dad«, sagt sie atemlos, presst sich an mich und beginnt ihre Hüften rhythmisch zu bewegen.

Heilige Scheiße. Was für eine bittersüße Qual, sie an meinem harten Schwanz zu spüren. Wie von selbst wandern meine Hände an ihren Oberschenkeln hinauf und auf ihren Po, um sie fester an mich zu ziehen.

Wie kann etwas, was man nie zuvor getan hat, sich so richtig anfühlen?

»Kenzie, warte«, keuche ich und habe das Gefühl, die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren. Ich kann mich nicht länger zusammenreißen.

Verwirrt verharrt sie in der Bewegung und mustert mein Gesicht. »Worauf?«

»Bis ich dir gesagt habe, dass ich … mich in dich verliebt habe.«

Sie sieht mich dermaßen irritiert an, als wären meine Worte überraschender als der Kuss. Lächelnd legt sie eine Hand an meine Wange und streicht mit dem Daumen darüber. Es wirkt, als wollte sie etwas sagen, allerdings werden wir unterbrochen, als ihre Vollblutstute zu uns herübergetrottet kommt und uns beiden mitten ins Gesicht schnaubt. So feucht, dass ich ihren Rotz wie einen feinen Nieselregen auf meiner Haut spüre.

»Oah, Elody.« Genervt wischt Kenzie sich mit dem Hemdärmel über den Nasenrücken, bevor sie mich mustert und in schallendes Gelächter ausbricht. »Du hast Sommersprossen aus Pferdeschnodder im Gesicht.«

»Das ist das Romantischste, was je jemand zu mir gesagt hat.« Noch während ich mit den Augen rolle, säubert sie mir vorsichtig mit ihrem Ärmel die Wangen. Was auch immer das eben war, ist augenblicklich verflogen und das kurze Glücksgefühl weicht einer tiefen Dunkelheit.

Ich weiß plötzlich nicht mehr, wohin mit meinen Händen und lasse sie kraftlos sinken, als mein hormonumwölktes Gehirn seine Arbeit wieder aufnimmt und ihre Worte verarbeitet.

Kein Wort zu Mum und Dad.

»Warum willst du nicht, dass ich deinen Eltern hiervon erzähle?«

Sie verharrt in der Bewegung, zeigt den Ansatz eines Schulterzuckens und sieht flüchtig zu Jumper hinüber. Der braune Wallach hat sich kein Stück gerührt, knabbert noch immer seelenruhig an dem frischen Gras, das an der alten Weide wächst. Als Kenzie leise seufzt, schnaubt er zustimmend. »Ich will nur einfach nicht, dass sie sich Sorgen machen.«

»Sorgen? Deine Mum kennt mich, seit ich drei Tage alt bin. Dein Grandpa hat uns das Reiten beigebracht. Wir sind wie Geschwister aufgewachsen. Denken deine Eltern wirklich, ich würde … keine Ahnung. Dich verletzen? Oder schwängern?«

»Ich weiß nicht.« Mit einem weiteren Seufzen lässt sie sich neben mich gleiten. »Vielleicht will ich einfach nicht, dass sich etwas ändert. Dass sie oder Maeve dich anders ansehen. Oder sich in Dinge einmischen, die sie nichts angehen.«

»Wenn du nicht willst, dass sich etwas ändert …«

»Nein. Doch. Das will ich«, unterbricht sie mich und zeichnet mit dem Hacken ihres Stiefels ein Herz in die dunkle Erde vor dem Baumstamm. »Ich will das. Dich. Ehrlich. Aber keine blöden Kommentare von deinen Polo-Freunden. Oder deinen Eltern. Oder sonst irgendwem, den es nichts angeht.«

»Was denkst du, was sie sagen würden?«, frage ich irritiert. Meine Mannschaftskameraden necken mich seit Jahren damit, dass das zwischen uns mehr als eine platonische Freundschaft ist und ich nur zu unbedarft bin, um es zu checken. Dass ich ein Mann sein und die Eier in der Hose haben soll, um den ersten Schritt zu machen. Ich bin mir sicher, dass sie es feiern würden, wenn wir zusammen wären. Was ist daran für sie so schlimm?

»Ich habe einfach Angst, dass deine Eltern mich zwar nett finden, nur eben nicht auf diese Weise«, murmelt sie.

»Hä? Meine Eltern lieben dich.«

Statt mir zu antworten, zwirbelt sie den Ärmel ihres Hemdes zwischen den Fingern. Mir gefällt nicht, wie sie die Schultern hebt, als würde sie Schutz suchen.

Vorsichtig stoße ich sie mit dem Ellbogen an. »Du weißt, du kannst mir alles sagen. Also: Wovor hast du wirklich Angst?«

Sie atmet tief durch, ehe sie sich einen Ruck gibt. »Meine Eltern züchten auf Goldcrest Manor Polo-Ponys, die dann von Menschen wie deinen Eltern gekauft werden. Du willst in St. Andrews studieren. Das Studium dort kostet einfach doppelt so viel wie das in London. Egal, wie gut meine Noten sind, ich kann dich niemals dorthin begleiten.«

»Was redest du denn da? Goldcrest ist seit Generationen in eurem Familienbesitz. Euer Name ist hier mindestens genauso bekannt wie unserer.«

»Ja, aber als Betreiber eines Gestüts. Wir züchten eure Pferde. Wir nehmen euer Geld. Das ist … irgendwie was anderes. Bei dem Großteil der Leute, die hier zum alten Geldadel gehören, weiß ich nicht mal, woher die ihre Vermögen haben, doch bestimmt nicht vom Pferdebesamen und Ställeausmisten. Diese Leute schätzen Mums Expertise, weil Grandpa eine Koryphäe war. Aber das ist alles.«

»Ich schwöre dir, dass euch niemand in dieser Gegend so sieht.«

Ihr entfährt ein abfälliges Schnauben. »Du erinnerst dich daran, wie viele Kinder mir früher auf dem Schulweg nachgerufen haben, ich würde nach Pferdemist stinken?«

»Weil sie neidisch darauf waren, was für ein cooles Haus ihr habt. Und Pferde. Und riesige Ländereien. Goldcrest riecht nicht nach Mist. Jeder, der euer Anwesen betritt, ist zutiefst beeindruckt. Ich weiß das. Es geht mir bis heute so, obwohl ich täglich bei euch ein- und ausgehe.«

Dass irgendetwas an meinen Worten sie besänftigt hat, sehe ich daran, wie sich ihr ganzer Körper entspannt. Das ist das Gute daran, jemanden quasi sein Leben lang zu kennen: Man bemerkt die winzigen Signale.

Ich muss grinsen, als Kenzies Blick zu meinen Lippen wandert.

»Nur falls du darüber nachdenken solltest, mich noch einmal zu küssen, wäre ich durchaus dazu bereit«, biete ich an, doch dazu kommt es nicht, da ihr Handy piepst.

»Wir müssen zurück«, erklärt sie knapp und schnappt sich ihren Reithelm. »Wie wäre es mit einem Deal? Wir machen ein Wettreiten. Wenn du gewinnst, küsse ich dich.«

»Auf eurem Hof? Vor den Augen eurer Angestellten.«

Sie zögert, bevor sie nickt. »Wird sowieso nicht passieren. Jeder von uns weiß, dass ich immer gewinne.«

»Und was dann? Was ist deine Belohnung?«

Ihre Mundwinkel heben sich. »Dann übernachtest du mit mir zusammen bei uns auf dem Heuboden.«

Stöhnend lasse ich den Kopf in den Nacken sinken. »Warum? Heu pikst, stinkt und überall sind Flöhe und knuspernde Mäuse.«

»Du tust es, weil wir dort allein und ungestört sind.« So provozierend, wie sie mich anlächelt, bin ich durchaus bereit, das als Argument durchgehen zu lassen. Nach unserem Kuss mehr denn je. »Oh, noch was«, ergänzt sie und fährt auf. »Du bringst die Kondome mit.«

»Was?« Vollkommen perplex starre ich sie an. Hat sie das gerade ernsthaft gesagt?

»Kon-do-me«, wiederholt sie gedehnt, als wäre ich begriffsstutzig. »Wenn du bei mir übernachtest und wir da weitermachen, wo wir gerade angefangen haben, solltest du welche mitbringen. Und du kaufst sie, weil ich keine Ahnung habe, welche Größe du brauchst.« Sie sieht so demonstrativ auf meinen Schritt, dass ich mich instinktiv räuspere und mein Shirt richte, als würde das bei irgendetwas helfen.

»Okay. Deal«, ist alles, was ich herausbringe. Ein Teil meines Hirns ist noch immer davon überfordert, zu verstehen, dass das hier real ist. Dass Kenzie mich nicht einfach lachend abgewiesen hat, sondern dieser Sache eine Chance gibt.

»Deal.« Sie erhebt sich und setzt ihren Helm auf. »Wer zuletzt beim Springbrunnen von Goldcrest ist, hat verloren!«

Bevor ich auch nur nach meinem Helm gegriffen habe, ist sie bereits aufgesprungen und an der Seite ihrer Stute.

Ich werde sowas von verlieren. Kenzie hat recht: Sie hat bisher bei jedem unserer Wettreiten gesiegt – und dass, obwohl ich sie schon seit Jahren nicht mehr absichtlich gewinnen lasse. Andererseits … Bis auf den Heu-Part – und den Dämpfer für mein Ego, weil ich Verlieren hasse – habe ich an meiner vermeintlichen Bestrafung nichts auszusetzen. Ich springe auf, binde Jumper ab, schnalle die Zügel des Sidepull-Knotis wieder ein und schwinge mich auf den Rücken des Welsh-Cob-Wallachs. Er gehört nicht mir, sondern zu Goldcrest. Im Gegensatz zu meinen eigenen Ponys ist er nicht für den Sport geschaffen. Er ist ein reines Freizeitpferd, das als Fohlen eher zufällig auf Goldcrest landete, weil man eine Ammenstute für ihn suchte. Für Jumper ist es nicht logisch, auszureiten, um Bewegung zu bekommen. Er verdeutlicht bei jeder Gelegenheit, dass Wildpferde immer nur weitergezogen sind, um neue Futtergebiete zu finden. Laufen um des Laufens willen ist nicht sein Ding. Kenzie und ich haben lange mit ihm daran gearbeitet, beim Ausreiten nicht ständig stehenzubleiben und seine Nase ins Gras zu stecken – sondern nur auf Signal und wenn keiner auf seinem Rücken sitzt. Trotzdem spüre ich schon beim Heben seines Kopfes, dass er nicht motiviert ist, in den nächsten Minuten Höchstleistungen zu vollbringen.

Kenzie lächelt mir über ihre Schulter hinweg zu. Ein leichter Wadendruck genügt, damit ihre Stute sich in Bewegung setzt. »Na? Anlaufschwierigkeiten?«, zieht sie mich auf, als Jumper sich nur schweren Herzens vom Gras losreißt, um Elody gemächlich zu folgen.

Jedes unserer Wettreiten folgt demselben Schema: bis zur Brücke erstmal im Schritt, zum Warmwerden, nach dem Überqueren des Willow Creek antraben und nicht vor dem alten Ahorn angaloppieren.

Unerwarteterweise findet Jumper irgendwo zwischen der Brücke und dem Ahorn seinen Spaß an der Bewegung wieder. Vielleicht weiß auch er, was jetzt kommt, und ist nicht dazu bereit, sich aufs Neue von Elody schlagen zu lassen.

»Und los!«, ruft Kenzie beim Erreichen des Baumes. Als Elody angaloppiert, folgt Jumper. Ich lasse die Zügel lang und ihm seinen Freiraum. Der Wind bläst mir um die Nase und bringt den Duft des Frühlings mit sich. Das dumpfe Geräusch der Hufe auf dem Feldweg ist meine Lieblingsmelodie. Ich werde nie begreifen, wie man das Reiten nicht lieben kann.

Der Rausch der Geschwindigkeit lässt das Adrenalin durch meine Adern schießen. Der Geruch der Mähne, die vom Wind zerzaust wird, und das Gefühl der warmen Pferdemuskeln unter den Beinen – sie sind mein Ruf der Freiheit. Dafür lebe ich. Wer behauptet, Reiten wäre nur was für Mädchen, hat es unmöglich schon mal ausprobiert.

Wie immer geht Kenzie in Führung. Ihr Sitz ist auch ohne Sattel absolut perfekt. Elody und sie sind eine Einheit. Ich könnte den beiden stundenlang zusehen. Doch Kenzies Vorsprung schrumpft, als die Stute plötzlich durchpariert.

»Was ist los?«, frage ich verwirrt, als ich an ihr vorbeipresche. Ich sehe noch aus dem Augenwinkel, wie Kenzie seitlich vom Rücken ihrer Stute rutscht. Einfach so, als wäre sie eine leblose Puppe. Mit der Schulter zuerst schlägt sie auf dem Boden auf und rührt sich nicht mehr. Schock durchfährt meine Glieder. Irgendetwas stimmt nicht.

»Scheiße.« Fluchend zügele ich Jumper und gleite von seinem Rücken, noch bevor er zum Stehen kommt.

Während ich zu Kenzie laufe, rast mein Herz, als wollte es aus meiner Brust springen. Sie liegt ganz still da. Warum bewegt sie sich nicht? Adrenalin schießt durch meine Adern, lässt meinen Puls so heftig rasen, dass er in meinen Ohren dröhnt. Auch ihre Stute tänzelt unruhig, spürt genau, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Sanft stupst sie ihrer Reiterin gegen die Schulter. Noch immer keine Reaktion.

Ich lasse mich neben Kenzie zu Boden sinken, drehe sie auf den Rücken und mustere ihr Gesicht. Ihre Augen sind geöffnet, doch starren ins Leere. Sie atmet noch, aber ihr ganzer Körper wirkt angespannt, ihre Finger sind eigenartig verkrampft und zucken leicht.

»Kenzie?«, frage ich überfordert. Hilflos.

Sie antwortet nicht, knirscht mit den Zähnen. Eines steht fest: Wir brauchen einen Arzt. Ich muss einen Krankenwagen rufen. Panisch ziehe ich mein Handy aus der Westentasche und fluche erneut. Scheiße. Hier draußen habe ich keinen Empfang, aber Kenzie wirkt, als bräuchte sie dringend Hilfe. Was ist, wenn sie einen Schlaganfall hat? Was soll ich tun? Was, was, was, was, was?

Die Panik bringt alles in mir zum Kribbeln und lässt mich keinen klaren Gedanken fassen. Wir brauchen einen Rettungsdienst. Nur wie? Soll ich nach Goldcrest eilen und Hilfe holen? Weiter reiten, bis ich wieder im Mobilfunknetz bin? Aber sie hier in dem Zustand allein zu lassen, bringe ich auch nicht übers Herz. Was ist, wenn sie Angst hat? Zumindest ich habe welche. Eine Scheißangst sogar. Was ist, wenn jede Sekunde zählt? Wenn es ernst ist? Es sieht ernst aus. Ich darf Kenzie nicht verlieren.

Mein Herz und meine Gedanken rasen um die Wette. Doch es bringt nichts. Außer mir ist niemand hier. Wenn Kenzie Hilfe braucht, muss ich sie holen. Mir bleibt keine andere Wahl.

»Ich hole jemanden. Ich bin gleich zurück. Hörst du? Ich lasse dich nicht im Stich«, sage ich hastig.

Jumper werde ich hierlassen. Er wird sich den Bauch vollschlagen und keinen Meter wegbewegen. Außerdem ist Elody schneller.

»Es wird alles gut. Halte durch.« Ich will gerade aufstehen, als sich ihr Körper merklich entspannt. Ihre Hände lockern sich, die Spannung ihres Kiefers lässt nach, auch ihr Atem beruhigt sich.

»Kenzie?« Vorsichtig – und noch immer überfordert – streiche ich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sie reagiert verzögert – mit dem Ansatz eines Nickens.

»Hörst du mich?«, frage ich hoffnungsvoll.

Eine Sekunde, zwei Sekunden geschieht nichts, dann nickt sie erneut. Sie wirkt müde und erschöpft, dennoch so, als würde sie sich erholen.

Sie lebt. Alles wird gut.

Ein Teil der Anspannung fällt von mir ab. Was auch immer das eben war, es scheint vorbei zu sein. Kenzie geht es besser.

Ich hätte in diesem Moment auf dem Feldweg mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass ich Mackenzie Bennett noch am gleichen Abend die Freundschaft kündigen würde.

Für immer.

Vielleicht.

Auszug aus dem Handbuch: »Goldcrest Manor Zuchtziele«

»Das Vertrauen eines Pferdes bekommt man nicht geschenkt, man muss es sich mit Geduld und Liebe erarbeiten.«

Grandpa Bennett

1. KAPITEL

Kenzie

Heute

Kann man Heimweh haben, sich nach einem Ort sehnen – und zugleich Angst davor verspüren, wieder dort anzukommen? Ja, ich freue mich darauf, nach Goldcrest Manor zurückzukehren und trotzdem habe ich Panik, bei meiner Rückkehr erneut der Mensch zu werden, der ich vor meinem Studium war. In alte Muster und Rollen zu verfallen und nie wirklich frei zu sein. Paradoxerweise fürchte ich gleichzeitig, dass es eben nie mehr wie früher sein kann. Dass nichts mehr so sein wird wie früher – ohne Dad.

Die drei Jahre während meines Studiums habe ich mich jeden Tag zurück nach Goldcrest gesehnt. Es gab so viele Kleinigkeiten, die mir gefehlt haben. Kleinigkeiten, die in ihrer Gesamtheit den Zauber meiner Kindheit ausgemacht haben. Jeder Morgen begann mit der gleichen Abfolge von Geräuschen – und ich habe diese besondere Melodie geliebt. Die Sinfonie startete mit dem Geräusch von Maeve, wie sie noch vor dem Morgengrauen versucht hat, sich aus ihrem Zimmer zu schleichen, um im Stall zu verschwinden – und dabei gnadenlos gescheitert ist. Ich werde nie begreifen, wie ein so zierlicher Mensch dermaßen laut die Treppe herunterpoltern kann. Es ist ja nicht so, als läge auf der Holztreppe kein lindgrüner Läufer, der die meisten Schritte dämpft – außer dem Geräusch von Maeves Hacken. Kurz darauf erklang ein rhythmisches Kling-Kling-Kling, wenn Mum ihren Morgentee umgerührt hat und mit der Tasse in der Hand von der Küche durch die Eingangshalle zur Tür lief. Immer vergaß sie, dass unsere Hofkatze Ginger auf der obersten Stufe schlief, was regelmäßig dazu führte, dass die Katze mit einem erschrockenen Aufschrei über den Hof davonzischte. Ihre Flucht rief unseren Terrier Rufus auf den Plan, der ihr unter lautem Gebell folgte. Wie gut, dass wir kaum Nachbarn haben, außer den Pferden auf den umliegenden Weiden, die das tägliche Spektakel nur mit einem müden Schnauben quittierten. Beim gemeinsamen Frühstück hat Dad stets darüber gemeckert, wie sehr ihn die Morgensonne im Wintergarten nervt, bevor er sich mit einem Becher Kaffee ins Arbeitszimmer zurückgezogen hat. Sein Abgang war der Startschuss für den eigentlichen Tag. Jeder ging seiner Wege, bis wir uns zum Abendessen wieder getroffen haben.

Wenn mir in London etwas besonders gefehlt hat, dann waren es – neben meiner Familie – unsere Tiere, die Weite, das endlose Grün und Goldcrest Manor selbst. Dieses Anwesen, das schon seit Generationen in Familienbesitz ist und von allen gleichermaßen gehegt und gepflegt wurde. Manchmal kommen mir Julians Worte in den Sinn. Darüber, dass Goldcrest einen besonderen Zauber versprüht.

Meist verdränge ich die Erinnerung an ihn sofort. Obwohl es mittlerweile fünf Jahre her ist, dass er den Kontakt zu mir abgebrochen hat, schmerzt die Erinnerung an ihn noch immer. Viel zu oft schleicht er sich nachts in meine Träume, als wäre ein Teil meines Unterbewusstseins nicht dazu in der Lage, ihn zu vergessen. Wie auch? Jahrelang war er einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Er hat ein Loch hinterlassen, das noch immer nicht geschlossen ist. Ich werde nie verstehen, wie man behaupten kann, jemanden zu mögen, nur um ihn Stunden später zu ghosten. Vielleicht sollte ich Dad danach fragen, wie das geht. Er hat schließlich pünktlich zu Maeves neunzehntem Geburtstag beschlossen, dass sie jetzt erwachsen genug ist und wir ohne ihn klarkommen. Klarkommen müssen, denn er hat wohl seine Taschen gepackt und ist verschwunden. Da ich zu der Zeit in London war, hat er mir lediglich eine Textnachricht geschickt, die mich erreicht hat, während ich mit meinen Kommilitonen in einem Pub saß.

Ihr habt euer Leben verdient – und ich meines. Werdet glücklich. Sucht nicht nach mir. – Das war alles. Erst hielt ich die Botschaft für einen miesen Scherz, aber nein. Er meinte sie genauso ernst wie seine jahrelangen Frotzeleien darüber, dass man ihn auf Goldcrest nur als Buchhalter brauche, da Mum ohnehin die Hosen anhätte – und einen Stall voller Hengste besäße. Dass er überflüssig wäre, sobald ich mein BWL-Studium beendet hätte und die Finanzen übernehmen könnte, da Mum alles kann – außer mit Geld umgehen.

Meine Kindheit auf Goldcrest fühlte sich so unbeschwert an, dass ich wohl übersehen habe, wie unzufrieden Dad war. Wahrscheinlich sollte ich wütend auf ihn sein, doch ich kann es nicht. Immerzu habe ich im Kopf, dass er mit uns womöglich nie glücklich gewesen ist. Ob Vater oder nicht: Niemand sollte sich als Gefangener seines eigenen Lebens fühlen. Nur Maeve sieht es anders. Sie war schon immer ein Papa-Kind und ich glaube, die Trennung unserer Eltern hat ihr ehrlich das Herz gebrochen. Keine Ahnung, was mit mir nicht stimmt, dass Dad mir vor allem leidtut. Ich würde ja gern behaupten, dass ich einfach Mums pragmatische Art geerbt habe, aber vielleicht bin ich durch Julians Zurückweisung auch nur abgestumpft. Mag sein, dass ein Teil von mir schon in der Jugend akzeptiert hat, dass jeder Mensch um einen herum jederzeit dazu in der Lage ist, einen eiskalt fallenzulassen. Niemandes Liebe ist sicher. Jeder kann dir jederzeit den Rücken kehren – und du kannst nichts dagegen tun. Kein Schwur, kein Wort, kein Versprechen sichert dich ab. Kein Kuss, kein Ring. Nichts.

Wenn Menschen gehen wollen, dann verschwinden sie. Du kannst ihnen nachweinen – oder einen anderen Lebensweg einschlagen. Denen ist es egal. Sie kommen nicht zurück, um dich zu trösten, wenn du am Boden liegen bleibst. Egal, wie sehr du es dir anfangs wünschst.

Tief durchatmend wende ich mich dem Fenster zu, um den Schmerz zu verdrängen, der noch immer aufflammt, wenn ich an Julian denke. Ich will nicht, dass er Macht über meine Gefühle hat; die hätte ich ihm nie zugestehen sollen. Aber was soll’s? Die Kenzie, die heute nach Goldcrest zurückkehrt, ist stärker. Sie braucht weder einen besten Freund noch einen Dad. Wir werden Goldcrest auch ohne Männer rocken. Nur wir Bennett-Frauen.

Da ich keinen Führerschein besitze, nehme ich mir ein Taxi – einen Tag früher, als ich mich bei meiner Mum angemeldet habe. Ich kehre nach Goldcrest Manor zurück – doch zu meinen Bedingungen. Auch wenn ich die Fürsorglichkeit meiner Mutter zu schätzen weiß, ertrage ich es nicht, von ihrer Liebe erdrückt zu werden. Ich bin einundzwanzig Jahre alt und brauche niemanden, der mich persönlich abholt. Mein Leben, meine Krankheit und ich – wir kommen schon klar. Meistens zumindest.

Ich fahre auf, als das Wiehern eines Pferdes erklingt – das meiner ehemaligen Stute Elody. Warum ich es noch immer als Nachrichtenton benutze, trotzdem sich unsere Wege vor Jahren getrennt haben? Wahrscheinlich um mich immer daran zu erinnern, dass ich im Grunde wie Julian und Dad bin. Ich habe Elody die Freundschaft gekündigt, obwohl sie nichts falsch gemacht hat – und es tut mir bis heute leid. Manchmal liege ich nachts wach im Bett und frage mich in einer Dauerschleife, ob ich einen Fehler gemacht habe. Aber wie sagt man? Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

»Ungewöhnlicher Klingelton«, murmelt der Fahrer.

»Nicht da, wo ich herkomme.« Umständlich angle ich mein Handy aus der Tasche meiner Wachsjacke. Es zeigt eine neue Nachricht von Oliver an. Mein Herz macht einen seltsamen Hüpfer, als ich seinen Namen lese. Seit unserer Trennung herrschte Funkstille – und es war okay für mich.

Unsere Beziehung war … vernünftig. Ein besseres Wort kommt mir nicht in den Sinn, obwohl Vernunft rein gar nichts damit zu tun hatte. Oliver war verboten attraktiv, ziemlich charmant und ausgesprochen experimentierfreudig. Er war da, als ich ihn brauchte. Vielleicht nicht ihn persönlich, doch eine Art von Bestätigung, die er mir gegeben hat. Wir wussten beide, dass das mit uns nichts für die Ewigkeit ist. Das Gefühl, mit dem ich das Handy entsperre, ist keine Sehnsucht, kein Liebeskummer, sondern Unbehagen. Was könnte er von mir wollen? Habe ich versehentlich ein Lieblingspaar seiner Bio-Baumwoll-Socken eingepackt? Teilen wir uns noch immer das Abo eines Streamingdienstes, das er nun kündigen möchte?

Oliver: Hey Mac, bist du heile in Ponyville angekommen?

Witzig. Eine MyLittlePony-Anspielung. Erst die ungefähr tausendste, seitdem ich ihm erzählt habe, dass ich auf einem Gestüt aufgewachsen bin. Außerdem ist er der Einzige, der darauf besteht, Mackenzie mit Mac abzukürzen. Ich mag es nicht so gern, weil es mich an Mac & Cheese erinnert, konnte ihn aber nie zu Kenzie überreden, weil es für ihn angeblich wie ein Kuhname klingt. Dabei bezweifle ich, dass er je einer Kuh gegenüberstand. Obwohl er Vegetarier ist, hat er es nicht besonders mit Tieren oder dem Landleben generell. Für ihn stand von Anfang an fest, dass er mich nicht hierher begleiten würde.

»Keine zehn Pferde bringen mich dazu«, war einer seiner Lieblingssätze. Für mich kam hingegen kein Leben in London in Frage, also haben wir uns auf eine Beziehung mit festem Ablaufdatum eingelassen. Ob das der Grund dafür war, dass ich mich ihm nie so richtig öffnen konnte? Wer hängt schon sein ganzes Herz in eine Verbindung, die er in jedem Fall beenden wird?

Ja, rede dir ruhig ein, dass es daran lag. Denn wenn ich es nicht tun würde, müsste ich mir eingestehen, dass ich ihn nie geliebt habe. Dass ich nie irgendwen geliebt habe – außer dem Typen, der mir mit sechzehn Jahren das Herz gebrochen hat. Und wie traurig wäre es, diesem rückgratlosen Arschgesicht noch immer nachzutrauern, als wäre ich mir selbst nichts wert?

Ich atme tief durch und raffe mich zu einer Antwort auf (Ich:bin noch auf dem Weg), bevor ich die Bildergalerie meines Handys öffne und alle Bilder von Oliver und mir lösche – egal wie hübsch sie auch aussehen. Dieses Kapitel ist beendet, es gibt keinen Grund dafür, daran festzuhalten.

Nichts ist von Dauer – außer Goldcrest Manor. Das gibt es seit fast zweihundert Jahren, und ich werde meinen Teil dazu beitragen, dass es für immer so bleibt.

Mir wird leichter ums Herz, als wir das geöffnete Eingangstor durchfahren. Goldene Lettern auf schwarzem Schmiedeeisen verkünden, dass wir unser Ziel erreicht haben: Goldcrest.

Kies knirscht unter den Reifen, während wir dem Weg zwischen den Koppeln hindurch folgen. Ein warmes Kribbeln durchflutet mich, als einige Jungpferde ein übermütiges Wettrennen starten und neben dem Auto herlaufen. So sieht Lebensfreude aus. Hier bin ich zu Hause.

Hinter einer akkurat gestutzten Buchsbaumhecke, verborgen unter einem Meer aus wogendem Efeu und weißen Kletterrosen, erwartet uns das Haupthaus aus rotem Backstein. Jemand hat die geflügelte Sprossentür zur Wohnküche geöffnet, sodass die bodenlangen Vorhänge in der milden Sommerbrise wehen. Auf dem hölzernen Tisch der Frühstücksterrasse steht ein ausladender Krug mit blauvioletten Hortensien – Mums Lieblingsblumen. Die auf einem Tablett gestapelten Tassen machen mir Hoffnung, dass ich noch rechtzeitig zum zweiten Frühstück ankomme. Perfektes Timing.

Rufus ist wie immer der Erste, der meine Ankunft bemerkt. Laut bellend rennt er in Terriermanier auf das Taxi zu, dessen Fahrer ich rasch bezahle, bevor ich aussteige. Ich spüre Mums tadelnden Blick schon auf mir, ehe ich auch nur meine Reisetaschen aus dem Kofferraum gehievt habe. Mit verschränkten Armen lehnt sie sich in den Rahmen der Küchentür und schüttelt demonstrativ den Kopf. Zwei kupferfarbene Strähnen lösen sich aus ihrem Dutt und umrahmen ihr Gesicht. Es wirkt, als wollte sie zu einem Tadel ansetzen, stattdessen seufzt sie ergeben.

Rufus springt mir auf dem Weg zur Terrasse andauernd bellend um die Beine, wohingegen Hofkatze Ginger nur einmal kurz erscheint, als wollte sie sehen, was hier los ist. Mit hocherhobenem Schwanz verschwindet sie wieder in Richtung der Stallungen. Offensichtlich sind die Mäuse spannender als meine Rückkehr.

»Ich sage wohl besser nichts dazu, dass du es vorziehst, mit dem Taxi anzureisen, statt dich von uns abholen zu lassen«, sagt Mum, als könnte sie sich diese Spitze nicht ganz verkneifen. Dass sie mir nicht wirklich böse ist, spüre ich an der Art, wie sie mich in die Arme schließt und an sich drückt. Rasch stelle ich meine Taschen ab, erwidere ihre Geste und sauge den Duft von Scones und Pferdestall ein, der an ihr haftet. Eine Mischung, die im ersten Moment ungewöhnlich klingt, allerdings typisch Mum ist. Ja, sie backt gut und gern, doch erst nachdem sie die erste Runde über das Gestüt gedreht hat, um nach dem Rechten zu sehen, Ställe auszumisten und Pferde zu füttern. Wir haben zwar Angestellte für diese Tätigkeiten, aber sie war schon immer eine D. I. Y.-Mum – falls es so etwas gibt. Backen, Möbel abschleifen und neu lackieren, den Reitplatz neu anlegen und Dächer ausbessern. Mum lebt nach dem Motto: selbst ist die Frau. Nur den Papierkram, den hat sie liebend gern Dad überlassen. Ich will gar nicht wissen, was mich erwartet, nachdem sie fast ein Jahr lang alle Unterlagen in Pappkartons und Schubladen verbannt hat, statt sich damit auseinanderzusetzen. Mir schwant Übles, allerdings ist jetzt noch nicht der Moment für dunkle Wolken am Erwartungshorizont.

»Backst du gerade?«, frage ich hoffnungsvoll, als mir erneut der Duft von Scones in die Nase steigt.

Mit einem Seufzen löst sie sich von mir. »Ich weiß ja, wie wenig dir die Londoner Scones geschmeckt haben und hatte irgendwie so eine Vorahnung, dass es gut wäre, sie schon heute zu backen und damit nicht bis morgen zu warten.«

»Was soll ich sagen? Du kennst deine Töchter halt.«

»Zumindest manche Dinge ändern sich nie.« Mum mustert mich mit einem wehmütigen Ausdruck in den Augen. Ob sie wohl gerade an Dad denkt? Daran, dass jede vermeintliche Konstante zu einer Variablen werden kann? Doch falls sie ihn vermisst, hat sie ihre Trauer sofort weggeblinzelt und schenkt mir ein Lächeln. »Sagst du der anderen verschollenen Tochter Bescheid, dass wir demnächst frühstücken wollen? Wenn möglich, dieses Mal ohne vierhufige Begleitung am Tisch – auch wenn ich ihre Bemühungen zum Beziehungsaufbau mit den Fohlen sehr schätze.«

Als ich fragend die Augenbrauen hochziehe, macht Mum eine wegwerfende Geste. »Frag sie am besten selbst.« Beim Klingeln der Küchenuhr verabschiedet sie sich ins Haus, um die Scones aus dem Ofen zu retten. Auch wenn ich noch keine fünf Minuten hier bin, überkommt mich sofort ein Gefühl von Heimat. Diese Mischung aus Vertrautheit, Leichtigkeit und Wärme, die ich bisher nur auf Goldcrest empfunden habe.

Da das Wetter gut ist, lasse ich meine Taschen vorerst auf der Terrasse stehen und folge der Musik, die aus der Reithalle herüberdringt. Wo sollte Maeve um zehn Uhr morgens auch sonst sein, wenn nicht auf dem Rücken eines Pferds, um an ihrer aktuellen Kür zu arbeiten? Wenn Maeve eines schon immer war, dann diszipliniert und ehrgeizig.

Ich nehme eine der Seitentüren, betrete möglichst leise den Besucherbereich unter der Empore und stütze die Unterarme auf die Bande am Dressurrechteck. Falls Maeve mich gesehen hat, lässt sie es sich nicht anmerken. Hochkonzentriert beendet sie ihre Kür – auf einem Pferd, das mir nicht bekannt vorkommt. Ab und an haben wir Gastpferde, weil uns Besitzer ihre Stuten zur Besamung und anschließenden Jungpferdeaufzucht anvertrauen. Manchmal ziehen wir Fohlen groß, deren Mütter verstorben sind. So kam Jumper zu uns, bis ihn eine Reitschule kaufte. Aber der Rappe ist eindeutig keine Stute, kein unerfahrenes Jungtier und wohl kaum für den Polo-Sport gezüchtet. Dieses Pferd ist nicht flink und wendig, sein ganzes Wesen wirkt elegant und raumgreifend. Ich verstehe längst nicht so viel von Pferden wie Mum oder Maeve, die ihnen ihr ganzes Leben verschrieben haben, doch selbst ich erkenne einen herausragenden Gang, wenn ich ihn sehe.

Der schwarze Hengst federt vom Boden weg, als würde er fliegen. Keine seiner Bewegungen erscheint schwerfällig oder unausgeglichen. In der Trabverstärkung wirkt es, als würde es ihm Spaß machen, die Hufe möglichst hoch zu werfen. Im Schritt trifft die Hinterhand exakt die Abdrücke der Vorderhufe. Auch die Einerwechsel in der Diagonale liefert er fehlerfrei ab. Dieses Pferd ist nicht nur gut ausgebildet, es bringt auch vom Exterieur alles mit, was man sich von einem Dressurpferd nur erträumen kann.

Zumindest fast alles. Als die Musik an Tempo aufnimmt und Maeve dem Hengst freien Lauf lässt, ist noch alles gut – bis sie ihn wieder abzubremsen versucht und er plötzlich bockt. Mir rutscht kurz das Herz in die Hose, doch Maeve klebt so fest im Sattel, dass er schließlich aufgibt. Lobend klopft meine Schwester ihm den Hals und raunt ihm beruhigende Worte zu, während mein Puls noch immer rast. Ich glaube nicht, dass es viele Menschen gibt, die das hätten aussitzen können – und dabei noch die Muße haben, zu lachen, als wäre nichts gewesen.

»Ich hätte aufhören sollen, als es gut lief!«, ruft sie halb amüsiert, halb im Ärger über sich selbst, lässt das Pferd noch ein paar Schritte auslaufen, bevor sie zu mir herüberkommt und sich vor der Bande verneigt, als wäre ich die Punktejury.

»Bis dahin sah es allerdings grandios aus.«

Mit einem Naserümpfen schüttelt sie den Kopf, klopft dem Hengst erneut auf den Hals und krault seinen Mähnenansatz mit den Fingerspitzen. »Es fühlte sich davor schon nicht gut an. Vitus ist sehr bemüht, alles richtig zu machen, aber je länger er sich konzentrieren muss, umso angespannter wird er, bis es irgendwann aus ihm herausbricht. Er ist noch jung. Vielleicht brauche ich mehr Geduld mit ihm. Mehr Gefühl für das richtige Timing.«

»Wie schade, dass du ihn nicht fragen kannst, was sein Problem ist. – Wie sagte Grandpa immer? Liebe und Güte seien unsere Leitsterne.« Behutsam strecke ich eine Hand nach dem Hengst aus und freue mich schon darauf, sie unter seine üppige Mähne zu schieben, um seine warme Stirn zu kraulen – da reißt er den Kopf herum.

Mit einem entschuldigenden Lächeln tätschelt Maeve ihm erneut den Hals. »Er ist manchmal etwas eigenwillig.«

»Dann passt ihr ja perfekt zusammen.«

»Hahaha.«

»Wer ist er überhaupt?«

Maeves Lächeln verrutscht leicht, während sie sich im knarzenden Sattel aufrichtet. »Ich wusste nicht, wie ich dir von ihm erzählen soll, also … Dad hat mir Vitus quasi zum Abschied geschenkt. Es war seine letzte Tat, bevor er sich verpisst hat.« Sie geht kaum merklich in Deckung. »Bist du mir böse?«

»Weil unsere Eltern dir ein Pferd geschenkt haben? Nein, eher immer noch verwundert, dass du mir nicht längst von ihm erzählt hast.«

»Er war nicht ganz günstig und ich hatte Angst … Keine Ahnung wovor. Dass du wütend wirst, weil Dad dich lediglich mit einer Textnachricht abgespeist hat. Es kam mir einfach nicht richtig vor.«

»Du hattest ein schlechtes Gewissen, weil Mum und Dad dir endlich ein Pferd geschenkt haben, das olympiawürdig ist?« Ich bin nicht naiv, ich weiß, wie gut meine Schwester ist – und dass sie ein Pferd braucht, das sich auf ihrem Niveau bewegt. Vitus ist kein Geschenk als Belohnung für ihren Abschluss, kein Trostpflaster für Dads Abschied, sondern – wenig romantisch ausgedrückt – ein notwendiges Arbeitsmittel, um ihre Karriere voranzutreiben.

Dad ist gegangen, weil er hier nicht glücklich war, aber er war kein Arschloch. Er weiß, wie sehr Maeve sich eine Olympiateilnahme wünscht und wie hart sie seit ihrem sechsten Lebensjahr an sich arbeitet – körperlich und mental. Grandpa hat uns beide das Reiten gelehrt, doch Maeve wollte schon immer mehr als das. Sie wollte das Wesen eines jeden einzelnen Pferdes begreifen. Dieses Abschiedsgeschenk ist der Ausdruck von Dads Wunsch, dass Maeve glücklich werden soll. Außerdem gibt es auf Goldcrest Manor kein Ich, nur ein Wir. Alle Entscheidungen in der Familie werden zum Wohl des Gestüts und des Familienzusammenhalts getroffen. Das ist nichts, was ich ihr jemals übelnehmen würde.

»Es gibt nur eine Sache, die du tun könntest, um mich zu verletzen.«

Maeve sieht mich so fragend an, dass ich mich zu einer Erklärung genötigt fühle.

»Ohne Vorwarnung den Kontakt abbrechen.«

Ein Funke von Mitleid blitzt in ihren Augen auf. Sie weiß, dass mir Julians Kontaktabbruch mehr wehgetan hat als sonst irgendetwas auf dieser Welt. Dads Fortgang? Hat nur eine weitere Kerbe hinterlassen. Natürlich bin ich stark und komme zurecht, aber wenn Maeve mich auch noch sitzen lässt, verliere ich sämtlichen Glauben an das Gute.

»Ich werde dich niemals im Stich lassen. Wir Bennett-Schwestern halten zusammen«, sagt sie entschieden und hebt trotzig das Kinn.

»Zitierst du schon wieder Stolz und Vorurteil?«

»Erstens kann ich nichts dafür, dass die Schwestern so ähnlich wie wir heißen und zweitens …« Maeve unterbricht sich, als sich die schmale Tür zur Besuchergasse öffnet.

Mir entfährt ein genervtes Stöhnen, da niemand anderes als Brooke Holloway eintritt. Ich habe sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen und weiß nicht so recht, was ich bei ihrem Anblick empfinde. Es ist eine eigenartige Mischung aus Ablehnung und Bewunderung. Brooke ist das, was die Menschen auf Pinterest finden, wenn sie nach old money style suchen. Von der blondgewellten Haarpracht, über off-white Rollkragen, Perlenohrringe und Minirock, bis hin zu den kniehohen Lederstiefeln. Brookes Outfits sehen immer teuer aus und passen farblich perfekt auf das Anwesen ihrer Eltern. Ivory Hall ist der Traum aus cremefarbenen Wänden und weißen Holzmöbeln. Eine Mischung aus altehrwürdiger englischer Eleganz und Kristallglas. Wenn ich an die Eingangshalle denke, habe ich gigantische Kronleuchter, Kunstwerke aus Stuck und riesige Blumenvasen voll weißem Flieder vor Augen.

Vielleicht spüre ich bei Brookes Anblick auch nur deswegen dieses nagende Gefühl, weil ich weiß, dass sie während meiner Abwesenheit zwei Jahre lang mit Julian zusammen war. Es geht mich nichts an, warum die beiden sich schlussendlich getrennt haben. Tatsächlich habe ich noch nie gehört, dass irgendjemand ein böses Wort über Brooke verloren hat. Sie ist perfekt und wäre in der Welt von Bridgerton mit Sicherheit das Juwel der Saison. Trotzdem möchte ein gemeiner, kleiner Teil von mir sie darauf hinweisen, dass sie hier besser nichts Weißes tragen sollte, weil es sonst ganz schnell schrecklich dreckig und unansehnlich wird.

»Guten Morgen, ihr drei Hübschen«, wünscht sie fröhlich und schenkt mir ein hinreißendes Lächeln. Mit einer Hand richtet sie ihren Minirock, obwohl er bereits perfekt sitzt. »Mackenzie, wie schön, dich zu sehen. Ich hörte schon, dass du in heimische Gefilde zurückkehrst. Hat es dir in London nicht gefallen? Ich liebe London. Ich wünschte, ich hätte dort studieren können, aber Dad bestand leider auf St. Andrews. Familientradition – du verstehst.«

Statt zu antworten, mustere ich ihr unbeirrt lächelndes Gesicht. Ich habe absolut keine Ahnung, ob das ein ernsthafter Smalltalk-Versuch oder eine Spitze sein soll. Möchte sie mir unter die Nase reiben, dass sie gemeinsam mit Julian in St. Andrews war? Dass meine Eltern kein Geld für das Studium an einer Eliteuniversität hatten? Dass ich als Landei nicht so recht nach London passe? Kein Schimmer.

Da ich nicht antworte, wendet sie sich Maeve zu. »Eure Mutter schickt mich. Sie erwartet uns drei beim Frühstück und hat Angst, dass ihr mal wieder die Zeit vergesst.«

»Uns?«, hake ich nach. Wieso hat Mum Brooke eingeladen?

»Sie hat mich gebeten, ihr die Kristallgläser meiner Mum mitzubringen – für die Tischdeko der Silberhochzeit von den Bancrofts. Die Feier ist zwar noch ein paar Wochen hin, aber was man hat, hat man. Nicht wahr?«

»Sekunde. Die Bancrofts wollen ausgerechnet auf Goldcrest ihre Silberhochzeit feiern?«, frage ich überrumpelt.

Sie räuspert sich. »Man hatte dir noch nicht gesagt, dass Julians Eltern ihre Silberhochzeit in eurer Festscheune feiern wollen?«

Nein, das hatte man nicht. Wie gut, dass ich es jetzt weiß. An dem Tag werde ich dann überall sein, nur nicht hier. Es kommt öfters vor, dass Menschen aus der Region unser Gelände für Feiern nutzen und ein paar ihrer Gäste zur Übernachtung einquartieren. Wir haben ausreichend Platz und Mum liebt es, den Menschen unser Anwesen zu zeigen – und natürlich nebenbei ein wenig Werbung für unsere Zucht zu machen. Doch ausgerechnet der Freundeskreis von Julians Eltern? Höchstwahrscheinlich werden dann auch Julian und seine Freunde hier sein. Fettes Nein, danke.

»Wenn ich deinen Gesichtsausdruck deuten sollte, würde ich vermuten, dass du und Julian euch immer noch nicht vertragen habt?« Brooke seufzt. »Aber du weißt, dass ich mit ihm zusammen war?«

»Die Info hat es selbst bis nach London geschafft. Danke der Nachfrage.«

Brooke lacht nervös. »Gut, dann muss zumindest diese Sache ja nicht zwischen uns stehen.« Sie wendet sich Maeve zu, als hätte sie soeben einen Punkt auf ihrer To-do-Liste abgehakt: Kenzie die Beziehung mit Julian unter die Nase reiben – check. Mein gerade ohnehin leicht angeknackstes Ego nimmt gekränkt zur Kenntnis, dass sich Vitus von Brooke die Stirn kraulen lässt. Wenn es sie stört, dass sie danach Dreck unter ihren perfekt manikürten Nägeln kleben hat, lässt sie es sich nicht anmerken.

»Wie läuft es mit Vitus? Ihr seht gut zusammen aus.«

»Es läuft mal so, mal so«, gesteht Maeve. »Er ist gut, nur manchmal sehr unbeherrscht.«

»Er ist noch jung. Ich glaube, er braucht einfach jemanden an seiner Seite, dem er vorbehaltlos vertrauen kann. Wenn es ein Mensch schafft, sein Herz zu erobern und das Temperament in geregelte Bahnen zu lenken, dann du.« Zumindest Brooke wirkt zuversichtlich.

»Vitus gehörte vorher Brooke«, erklärt meine Schwester, als wäre es eine Nebensächlichkeit.

»Aber nur für vier Monate«, wiegelt Brooke ab und spielt mit dem goldenen Kreuzanhänger ihrer Kette. »Dad hielt ihn für eine lohnende Investition, doch das kann Vitus nur sein, wenn er gute Reiter hat. Und auch wenn ich es süß finde, wie stolz mein Dad auf mich ist, war ich eine absolute Fehlbesetzung. Keine Ahnung, wie oft ich dank Vitus die Bande geküsst habe. Hier ist er besser aufgehoben.«

Kurz ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass Mr Holloway meine Eltern hoffentlich nicht einfach nur abgezockt hat, um ihnen Geld für ein Pferd aus den Rippen zu leiern, mit dem seine Tochter überfordert war. Aber ich habe den Hengst unter dem Sattel gesehen. Falls Maeve ihn gehändelt bekommt, könnten sie tatsächlich ein herausragendes Team werden.

Mein Bauch knurrt so laut, dass Vitus erschrocken den Kopf hebt und mit den Ohren zuckt.

»Wie gesagt: Ich soll euch zum Frühstück abholen«, wiederholt Brooke lächelnd und bedeutet mir, ihr zu folgen, als wäre das hier ihr Gestüt.

Ich weiß nicht warum, doch etwas an ihr kommt mir falsch vor, ich kann nur noch nicht deuten, was es ist.

2. KAPITEL

Kenzie

Ich sehe an Mums tadelndem Blick, dass ihr die Kombination aus den weißen Polsterkissen und Maeves Reithose Unbehagen bereitet. Wahrscheinlich wäre es ihr lieber gewesen, meine Schwester hätte einen kurzen Umweg unter die Dusche genommen.

»Entsprechen die Gläser in etwa dem Stil, den du dir für die Tischdeko vorgestellt hast?«, fragt Brooke, kaum dass sie sich gesetzt und ihren Rock zurechtgezupft hat.

»Oh, ja. Sie sind ganz zauberhaft«, stimmt Mum zu. »Deine Mutter hatte einen herausragenden Geschmack. Ich weiß noch nicht, welche Art von Dekoration den Bancrofts für ihre Silberhochzeit vorschwebt, aber ich bin mir sicher, dass …«

Während Mom über die bevorstehende Feier von Julians Eltern redet, verarbeitet mein Gehirn noch immer das Wort hatte. Ist Mrs Holloway verstorben? Warum hat mir niemand etwas gesagt?

Mein Blick zuckt zu Brooke, die nickend Mums Erläuterungen lauscht. Sie wirkt gefasst, allerdings ist der Glanz ihrer Augen erloschen, als hätte sich ein Schleier darübergelegt.

Fragend sehe ich Maeve an, die mir nur ein Wort zuflüstert: Rezidiv. Ich erinnere mich daran, dass Mrs Holloway vor ein paar Jahren Brustkrebs hatte. Als ich sie zum letzten Mal sah, galt sie als geheilt, wirkte lebenslustig und voller Energie. Ihr Tod ist der traurige Beweis dafür, dass sich die Welt in meiner Abwesenheit weitergedreht hat. London ist nicht weit von Goldcrest Manor entfernt, dennoch verzichtete ich während meines Studiums meist darauf, herzukommen. Obwohl ich dieses Anwesen vermisst habe, brauchte ich den Abstand, um erwachsen zu werden. Selbst meinen überbesorgten Eltern war klar, dass ich meinen eigenen Weg finden muss. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie mir Dinge wie Mrs Holloways Tod oder den Kauf von Vitus nicht trotzdem hätten erzählen können.

Wahrscheinlich liegt es an mir, aber irgendwie fühle ich mich bei dem Frühstück nicht wohl. Mum und Maeve verstehen sich bestens mit Brooke, sie wohnte nie weit weg, ist in meinem Alter – und dennoch waren wir schon in der Vergangenheit keine Freundinnen. Vielleicht habe ich einfach ein Problem damit, dass Brooke all das ist, was ich gern wäre.

Sie hat ihre Mum verloren, ermahne ich mich. Sie hat es auch nicht leicht – und ich schäme mich für meine missgünstigen Gedanken. Abstellen kann ich sie nicht, doch ich sollte daran arbeiten.

Seufzend schenke ich mir Kaffee nach, als Brooke sich schließlich verabschiedet, um ihre Semesterferien dafür zu nutzen, in der Kirchengemeinde auszuhelfen.

Mum fährt alarmiert auf. »Das ist schon deine dritte Tasse.«

»Mit sehr viel Milch, aber danke für den Hinweis. Was denkst du, wie ich das Studium überlebt habe?«

»Und wie viele Anfälle hattest du in der Zeit?«, fragt sie. Als würde meine überfürsorgliche Mum das vergessen …

»Nur einen. Das weißt du ganz genau. Und er wurde nicht durch Koffein, sondern Stress und Schlafmangel ausgelöst. Nenn mir eine Studentin, die vor der ersten Klausurenphase keine Panik schiebt.«

Mum schweigt. Und ich weiß nicht, ob mir das oder Maeves betretener Blick in ihre eigene Kaffeetasse unangenehmer ist. Es sollte keine Anspielung darauf sein, dass sie sich vorerst gegen ein Studium entschieden hat, um sich aufs Reiten und die Arbeit auf dem Gestüt zu fokussieren. Es gibt viele Lebenswege, keiner davon ist besser als der andere.

»Ich nehme artig meine Medikamente und es geht mir gut«, beharre ich. »Ich habe mit Dr. Miller darüber gesprochen und solange ich nicht jeden Tag sechs Tassen trinke, ist es in Ordnung.«

Mit einem resignierten Kopfschütteln gibt Mum nach, also beschließe ich das Thema zu wechseln.

»Apropos Studium und so. Wann genau bekomme ich eine Einführung in deine Buchhaltung?«

Mum zieht verblüfft die Augenbrauen hoch. »Wie wäre es, wenn du erst einmal in Ruhe ankommst, bevor du dich in die Arbeit stürzt?«

»Ich bin in Ruhe angekommen. Der Einzige, der Lärm gemacht hat, war Rufus.«

»Sehr witzig.«

»Komm schon, Mum. Es war abgemacht, dass ich dir nach dem BWL-Studium mit den Abrechnungen helfe. Ich brauche eine Aufgabe. – Außer Pferde füttern und Ställe ausmisten.«

»Aber du warst ja noch nicht einmal die Pferde begrüßen.«

Mums Worte fühlen sich wie ein Stich ins Herz an, denn sie hat recht. Ich liebe Pferde, doch im Gegensatz zu Maeve lockt mich nichts in die Stallungen. Allein bei dem Gedanken daran, die Tiere zu besuchen und ihre Namen auf den Schildern an den Boxentüren zu lesen, zieht sich alles in mir schmerzhaft zusammen. Mum würde nicht verstehen, was ich fühle, also verschweige ich es. Ich bin erwachsen; ich will stark sein. Und darüber zu reden, was mich von den Stallungen fernhält, ist das Gegenteil davon. Es ist sentimental und gefühlsduselig.

»Wenn du eine Aufgabe suchst, könntest du mir bei der Planung der Feier für die Bancrofts helfen. Essen, Dekoration, Einladungskarten, Sitzpläne – es ist noch viel zu tun.«

Augenrollend lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. »Ausgerechnet für die Bancrofts.«

»Jetzt schau nicht so. Die Bancrofts waren immer nett zu dir. Denkst du nicht, dass es langsam Zeit wird, deine Fehde mit Julian zu beenden? Ihr seid doch mittlerweile beide erwachsene Menschen. Intelligente Menschen noch dazu. Ich hörte, auch Julian hätte seinen Bachelorabschluss mit Auszeichnung bestanden.«

»Sag das nicht mir, sondern Julian. Er hat damit angefangen, mich zu ignorieren.« Ich ertappe mich dabei, wie ich die Zähne zusammenbeiße, bis mein Kiefer schmerzt. Immer, wenn ich an Julian denke, führt mein Körper ein unangenehmes Eigenleben, das ich ihm nicht gestatte.

Julian hat keine Macht über mich, ermahne ich mich.

»Wie du meinst«, lenkt Mum ein. »Aber ich könnte trotzdem Unterstützung bei der Planung der Feier brauchen. Wir bekommen in den nächsten Tagen drei Stuten zur Besamung. Die jährliche Fohlenschau muss vorbereitet werden. Der Tag der offenen Tür steht an. Dann noch die Silberhochzeit. Sommerzeit ist ohnehin Eventzeit. Und wir haben eine Anfrage von einem jungen Mann, der hier in der Gegend eine möblierte Wohnung auf Zeit mieten möchte. Wir könnten ihm die Wohnung über der Festscheune zur Verfügung stellen, aber die müsste eigentlich dringend renoviert werden.«

»Du redest von dem Appartement, das du mir letztens am Telefon angeboten hast?«, hake ich nach. Wir haben zwar mehrere alte Scheunen auf dem Gelände, doch nur eine, die komplett umgebaut wurde. – Es sei denn meine Eltern haben mir verschwiegen, dass sie in den letzten drei Jahren in der Lotterie gewonnen und den Rest des Gestüts saniert haben.

Mums ertapptem Blick nach ist es eher nicht der Fall. »Wie gesagt, der junge Mann möchte nur für die Sommermonate bleiben. Ich dachte, du könntest so lange in deinem ehemaligen Kinderzimmer wohnen. Nur vorübergehend.«

»Sicher«, murmle ich und frage mich im gleichen Atemzug, ob es wirklich so klug war, hierher zurückzukehren, ohne vorher grundlegende Bedingungen abzusprechen. Ich habe kein Problem damit, wieder in meinem früheren Kinderzimmer zu wohnen; auch Maeve wohnt noch in ihrem. Allerdings hoffe ich, dass Mum mich dadurch nicht auch wie das Kind behandeln wird, das sie vor meinem Studium in mir gesehen hat. Vielleicht sollte ich mich im Gegenzug nicht wie ein trotziges Kind benehmen und ihr zur Hand gehen?

»Wenn es dir Arbeit abnimmt, helfe ich dir gern bei der Organisation der Feier für die Bancrofts.« Das ist mein Friedensangebot, denn Mum hat recht: In dieser Gegend kennt jeder jeden. Früher oder später werde ich mich mit den Bancrofts so oder so auseinandersetzen müssen – dann gern zu meinen Bedingungen.

»Perfekt.«

»Und wann bekomme ich die Einführung in die Buchhaltung?«, hake ich noch einmal nach.

»Morgen? Gib mir ein paar Stunden, um da ein wenig Ordnung reinzubringen.«

»Dann morgen.« Ich gebe mich vorerst geschlagen und bereite mich seelisch darauf vor, mich in den nächsten Tagen mit Papierchaos, Tischdeko, Sitzordnungen und Platzkärtchen auseinanderzusetzen.

Während Maeve und Mum den bevorstehenden Tag besprechen und die Einsatzpläne durchgehen, wandert mein Blick zu dem Stall am Round-Pen. Dem Stall, in dem Elody früher untergebracht war. Da ist es wieder, dieses finstere Gefühl, das seine langen Klauen nach mir ausstreckt und mir die Luft abschnürt.

Ich habe hier mehr verloren als nur Julian und Dad, drischt ein Gedanke auf mich ein. So erbarmungslos, dass ich dagegen anatmen muss, weil ich das Gefühl habe, ich würde ersticken. In den letzten fünf Jahren habe ich selten an Elody gedacht. Meist in Situationen, in denen ich mich einsam gefühlt habe. Immer dann, wenn Konflikte aufgetreten sind, denen ich am liebsten so wie früher aus dem Weg gegangen wäre, indem ich mich in ihre Box zurückgezogen habe, um mich vor meinen Problemen zu verstecken.