Goldkind - Claire Adam - E-Book + Hörbuch

Goldkind Hörbuch

Claire Adam

0,0

Beschreibung

Es ist dunkel. Insekten umschwirren das Licht im Hof, und der Wachhund sitzt am Tor. Ein Junge ist nicht nach Hause gekommen, und seine Familie wartet ängstlich auf seine Rückkehr. Ein Vater tritt in die Dunkelheit, um nach seinem Sohn zu suchen. Clyde macht sich Sorgen um Paul, der nicht von seinem Streifzug durch den Busch zurückgekommen ist. Auf Trinidad bleibt man zu Hause, wenn die Sonne untergegangen ist. Vor allem aber ist Clyde wütend, denn schon immer hat sein Sohn ihm Ärger bereitet, ganz anders als dessen alles überstrahlender Zwillingsbruder Peter. Stunden vergehen, Tage. Schließlich melden sich Entführer. Als Clyde begreift, worum es ihnen geht, steht er vor einer ungeheuerlichen Entscheidung: Darf er wirklich das Leben eines seiner Kinder zugunsten des anderen opfern? "Ein atemberaubender Roman, voll Kraft und Schönheit. Ohne sich selbst zu verleugnen, reiht sich Claire Adam mit ihrem Werk erhobenen Hauptes in die Tradition von Ikonen wie V.S. Naipaul ein." Jennifer Clement Ausgezeichnet mit dem Desmond Elliott Prize

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:7 Std. 2 min

Sprecher:Franziska Grün

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Claire Adam

Goldkind

Roman

Aus dem Englischen von Marieke Heimburger und Patricia Klobusiczky

Hoffmann und Campe

Für meine Eltern

Teil Eins

1

Nur Trixie erwartet ihn am Tor zur Einfahrt. Stabil auf die Vorderpfoten gestützt, sitzt sie da und beobachtet etwas auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wahrscheinlich eine Iguana, denkt Clyde, oder ein Aguti, so, wie die Hündin guckt. Er zieht die Handbremse an und wirft einen Blick in dieselbe Richtung wie die Hündin, kann aber nichts entdecken. Auf der anderen Straßenseite ist nichts als Busch: Wildnis bis hinunter zum Fluss, und jenseits des Flusses noch mehr Busch, bis hin zu den Kakaoplantagen. Das Laub glänzt von dem bisschen Regen, der gerade gefallen ist, der Asphalt dampft. Clyde geht zum Tor, zieht sein T-Shirt aus, wischt sich den Schweiß aus Gesicht und Nacken.

Er hatte sich kurz gewaschen, bevor er den Nachhauseweg antrat, aber der Fabrikgeruch hängt ihm immer noch an – in den Haaren, in der Kleidung, in den Hautfalten. »Ölgeruch« nennen die Leute das oder »petrochemischer Geruch«, wenn sie ein bisschen besser Bescheid wissen. Clyde weiß, dass er heute nach Schmieröl, Ammoniak und faulen Eiern riecht, weil er nachmittags mit dem Ingenieur in der Fabrik unterwegs war – sie haben Ventile verschlossen, Kammern geöffnet, in kleinen Plastiktüten Proben gesammelt, die Kammern wieder geschlossen und die Ventile wieder geöffnet. Normalerweise trägt er bei der Arbeit nicht seine eigenen Sachen, sondern einen blauen Overall, und eigentlich duscht er auch, bevor er nach Hause fährt. Aber seit dem Einbruch vor ein paar Wochen arbeitet er – zumindest vorübergehend – doch lieber nur tagsüber, damit er nachts zu Hause bei Joy und den Jungs sein kann. Mit Schichtdienst ist zwar mehr Geld zu verdienen, aber Joy sagt, sie fühlt sich sicherer, wenn er im Haus ist.

Brownie und Jab-Jab kommen zum Tor getrottet, ihre Schnauzen orangerot von der staubigen Erde unterm Haus. »Hey! Habt ihr gepennt?«, fragt Clyde. Sie strecken sich, schnauben und hecheln ihn zur Begrüßung breit lächelnd an. »Ihr Faulpelze!« Clyde klopft ihnen durch das Tor hindurch das Fell. »Ihr seid so faul!« Doch sie lächeln und wedeln mit dem Schwanz: Sie spüren, dass er nicht sauer auf sie ist. Und überhaupt, denkt Clyde, wozu sollen sie auch tagsüber wach sein? Ist doch viel besser, wenn sie tagsüber schlafen und dafür nachts wach sind. Nicht einmal Wachhunde kommen vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf aus.

»Weg da, weg da«, ruft er, als er den Riegel anhebt. Die beiden Mischlinge weichen zurück auf den trockenen Grasstreifen neben der Einfahrt, während die bullige Rottweilerin Trixie sich auf alle viere stellt und den Punkt fixiert, an dem die beiden Torhälften zusammentreffen.

»Was ist los?«, fragt Clyde. »Du kommst nicht raus auf die Straße.« Wieder sieht er über die Schulter auf der Suche nach dem, was Trixie zu beunruhigen scheint. Die Sonne ist hinter den Bäumen untergegangen, die Straße liegt schattig, kühl und ruhig da. Die Vögel schlafen bereits – bis auf den Schwefeltyrann im Guavenbaum gleich neben dem Tor, diesen Schreihals, der immer als Letztes zur Ruhe geht. »Na, noch auf?«, sagt Clyde. »Alle anderen sind schon längst im Bett!« Der Vogel zwinkert, dreht seinen gestreiften Kopf keck nach hier und da, und als würde er plötzlich begreifen, wie er sich zum Narren macht, schwingt er sich auf und verschwindet.

Clyde öffnet das Tor einen winzigen Spalt und packt Trixie beim Halsband, um sie wegzuschieben. »Ich muss das Auto reinfahren!«, erklärt er. Sie knurrt. Leise. Den Blick auf den Boden gerichtet. Er weiß, wenn er auch nur ein kleines bisschen nachgibt, wird sie auf die Straße hinausschießen, und sie werden den Rest des Abends damit verbringen, sie wieder einzufangen.

Clyde lässt den Riegel wieder fallen und rüttelt am Tor. »Paul!«, ruft er. »Paul! Komm her und halt den Hund fest!«

Am Fenster bewegt sich etwas – ein Winken, gleich kommt jemand –, dann erscheint Peter auf der Veranda. Zwar sind die Jungs Zwillinge, aber selbst auf die zehn Meter Entfernung kann Clyde sehen, dass das nicht Paul ist, sondern Peter. Paul schleicht immer so herum – als wäre er am liebsten unsichtbar, findet Clyde –, wohingegen Peter aufrecht marschiert, die Arme ein klein wenig im Abstand zum Körper, nicht an ihn gedrückt, als ob er nicht wüsste, was er mit ihnen anfangen soll. Peter ist erst dreizehn, aber schon fast genauso groß wie Clyde und genauso behaart. Er hat die Schuluniform abgelegt und Shorts angezogen, die Druckstellen von seinen Socken sind noch zu sehen.

»Hey«, sagt Peter und kommt die Stufen herunter. Er eilt über den heißen Beton zum Gras – braun und verdorrt durch die Trockenzeit.

»Wo ist Paul?«

»Unterwegs.«

»Unterwegs? Wohin?«

»Weiß nicht. Zum Fluss, glaube ich.«

»Halt mal den Hund, ich will das Auto reinfahren.«

Peter hält Trixie, während Clyde den Wagen in den Carport lenkt, den Wellblechverschlag seitlich des Hauses. Als er sie loslässt, entfernt sie sich ein paar Schritte von ihm und schüttelt sich, als hätte sie gerade im Kanalrohr gebadet. Dann nimmt sie wieder ihre Position am Tor ein und beobachtet den Busch jenseits der Straße.

Als Clyde ins Wohnzimmer kommt, sitzt Joy direkt vor einem Ventilator. Die Laken, mit denen sie nach dem Einbruch das Sofa und den Sessel abgedeckt haben, liegen schön glatt und ordentlich, trotzdem sieht es hier drinnen fürchterlich aus. Joy wirkt müde und überhitzt, das fettige Haar hat sie zurückgebunden, ihre nackten Füße sind schwarz vor Dreck. Er fühlt sich selbst zu schmutzig, um sie zur Begrüßung zu küssen.

»Kein Wasser?«, fragt er.

»Nope.«

»Seit wann? Heute früh?«

»Gegen Mittag«, sagt sie. »Hab gesehen, dass der Druck nachlässt, und schnell die Töpfe aufgefüllt.« Sie redet weiter, während Clyde in die Küche geht und sein Schlüsselbund ablegt. Er verscheucht die Fliegen von den Tellern, die sich im Waschbecken stapeln. »Ich konnte nichts kochen«, ruft sie. »Hab Roti aus der Kühltruhe genommen und ein bisschen Choka dazu gemacht. Eigentlich wollte ich ein Curry machen, aber ich konnte ja nicht kochen.«

Er kommt zurück ins Wohnzimmer und guckt unter die Deckel der Pyrex-Schüsseln auf dem Tisch: geschmorte Aubergine mit reichlich Zwiebeln und Knoblauch, wie er es am liebsten mag, etwas Gurkensalat und in ein Geschirrtuch gewickeltes warmes Fladenbrot. »Kein Problem. Das hier ist doch super!« Er sagt das betont gut gelaunt, damit sie sich nicht schlecht fühlt wegen des einfachen Abendessens.

In einem Eimer im Badezimmer wäscht er sich die Hände, dann zieht er ein sauberes T-Shirt an. Das muss für heute reichen, Duschen ist nicht drin. Zurück im Wohnzimmer zieht er den Stuhl vom Tischende hervor, doch Joy rührt sich nicht. Sie bleibt auf der Sofaecke sitzen, spielt mit ihrem Ehering an der linken Hand, dreht ihn, schiebt ihn zum Fingerknöchel hoch und wieder zurück.

»Was ist los?«, fragt er.

Ihr Blick huscht zur Uhr an der Wand hinter Clyde.

»Was?«, fragt er.

»Ich frag mich, wieso Paul noch nicht zurück ist.«

Er setzt sich, nimmt einen Roti-Fladen aus dem Tuch und legt ihn auf den Teller. »Er wird schon wiederkommen, wenn er so weit ist.«

»Aber es wird schon dunkel«, sagt Joy.

Peter kommt herein, sieht die beiden an und setzt sich. Clyde nimmt vom Auberginen-Choka und verteilt es mit der Rückseite des Löffels auf seinem Teller, damit es nach mehr aussieht.

»Ich dachte, ich könnte ja mal bei Romesh anrufen«, sagt Joy. »Mal hören, ob er vielleicht bei ihnen ist.« Romesh ist ihr jüngerer Bruder. Mit seiner Familie wohnt er keinen Kilometer die Straße rauf in einem zweistöckigen Haus mit Teppichen und Klimaanlagen. Sie sieht Clyde dabei zu, wie er einen Streifen von seinem Brot abreißt. »Wenn du nichts dagegen hast?«

Er schiebt das Essen in den Mund und kaut, die Unterarme auf der Tischkante, und starrt finster vor sich hin. Peter senkt den Blick und isst.

»Hm?«, macht sie, nachdem Clyde heruntergeschluckt hat. »Hast du was dagegen?«

»Ich? Wieso sollte ich was dagegen haben?«

»Ich ruf mal eben schnell an«, sagt sie.

Paul ist nicht bei ihnen. Joy legt auf und setzt sich zu den beiden an den Tisch. Schweigend essen sie.

Nach dem Essen bringt Clyde seinen Teller in die Küche, aber dort ist kein Platz zum Abstellen. Das Spülbecken quillt über vor schmutzigem Geschirr, auf den Arbeitsflächen stehen überall mit Wasser gefüllte Kochtöpfe, Schüsseln, Eiscremebehälter. Clyde verscheucht die Fliegen.

»Ich mach das schon, Clyde.« Joy nimmt ihm den Teller ab. »Setz du dich ruhig nach draußen. Möchtest du ein Bier? Im Kühlschrank müssten ein paar Flaschen Carib sein.«

»Ich muss morgen früh zur Arbeit«, sagt er.

»Na ja, eins wird dich schon nicht umbringen. Oder? Eins geht doch?«

»Nee. Lieber nur Eiswasser. Haben wir Eis?«

»Massenweise«, sagt sie. »Geh ruhig schon raus und setz dich, Clyde. Ich bring dir dein Wasser.«

Clyde setzt sich auf einen der Stühle auf der Veranda und zündet eine Zigarette an. Von nebenan hört er die Siebenuhrnachrichten – die übliche Mischung aus Ministerlügen, Verkehrsunfällen, Vergewaltigungen, Entführungen und so weiter. Jeden Tag dieselben Geschichten.

Brownie und Jab-Jab erscheinen an dem schmiedeeisernen Tor am oberen Ende der Treppe und wedeln mit dem Schwanz. Jetzt, wo es Abend wird, sind sie ganz besonders wachsam. Clyde verrenkt sich den Hals: Die Straßenlaterne funktioniert schon seit Jahren nicht mehr, aber er kann Trixies gedrungene Gestalt in der Einfahrt gerade noch so erkennen.

»Haben die Hunde zu fressen bekommen?«, fragt Clyde seine Frau, als sie ihm das Eiswasser bringt und sich neben ihn setzt.

»Ich glaube nicht. Ich glaube, Paul ist diese Woche dran mit Füttern. Darum frage ich mich ja, wo er bleibt.«

»Hat er was gesagt? Bevor er weg ist?«

»Nein. Glaub nicht. Seit dem Einbruch hat er ja insgesamt kaum ein Wort geredet. Oder was meinst du? Er ist ganz durcheinander deswegen.«

»Na ja. Durcheinander? Oder beleidigt?«

»Durcheinander.«

»Willst du mir damit sagen, dass ich zu streng mit ihm war?«

»Nein, will ich nicht. Ich sage nur, dass ihr Streit hattet, stimmt doch? Und er war danach ganz durcheinander.«

Clyde verschränkt die Hände vor dem Bauch und lässt den Blick wandern, über den Vorgarten hinweg. Er befreit die Füße aus den Schlappen und legt einen Fuß aufs Knie. Seit Jahren erzählt Joy ihm, dass er zu streng ist mit dem Jungen – also, was denkt sie jetzt? War er zu streng? Oder nicht streng genug? Er trinkt einen Schluck Wasser und stellt das Glas zurück auf den Untersetzer. Er sieht wieder zum Vorgarten, wippt mit dem Fuß. Jab-Jab stellt die Ohren auf, als es im Busch raschelt, und trottet dann die Stufen runter, um der Sache nachzugehen.

Der Einbruch war genau heute vor zwei Wochen. Als Clyde nach Hause kam, stand die Haustür offen, alles war dunkel. Er saß im Auto und umklammerte das Lenkrad. Bereitete sich auf das Schlimmste vor. »BLUTBAD«, stand fast jeden Tag auf den Titelseiten der Zeitungen. Oder: »WEITERES BLUTBAD« oder »WANN HÖRT DAS ENDLICH AUF?«. Zwei Nachbarn, Mr Chin Lee und Mr Bartholomew, bewaffnet mit Macheten und Stöcken, gingen mit ihm hinein. Sie fanden Joy und die Jungs zusammengepfercht auf dem Küchenboden, sie waren mit Lappen geknebelt, die Hände und Füße gefesselt mit Draht. »Gott sei Dank, sie leben!«, sagte Mr Chin Lee. »Sie sind alle noch am Leben!« Clyde saß in einer Zimmerecke und hielt sich den Kopf, während die Nachbarn mit Drahtzangen, Essen, Dettol und Eis herbeikamen. Mr Bartholomew rief seine Frau an. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Sie waren nur gefesselt. Keiner tot.«

Am nächsten Morgen wachte er bereits mit Kopfschmerzen auf. Er hatte kurz aufstehen, Joy ihren Tee machen und wieder ins Bett gehen wollen, doch als er in die Küche kam, zerquetschte er mit dem nackten Fuß eine Made. Der ganze Boden war voll davon. Paul arbeitete sich bereits mit einem Stück Zeitung durch die Küche, er trug Flipflops. »Einen Scheißtag zu spät!«, sagte Clyde. Paul schwieg, vielleicht bückte er sich noch ein bisschen tiefer. Clyde spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. »Einen Scheißtag zu spät draußen, der Müll, und schon passiert hier so eine Scheiße!« Er biss sich auf die Zunge, doch im Kopf schimpfte er weiter: Und dann ist auch noch Joys Schmuck weg, das Haus wurde komplett durchwühlt, und ihm geht ein Arbeitstag durch die Lappen. Und dann Paul und seine Blödheit! Seine ewige beschissene Blödheit! »Also, diese Party in Port of Spain könnt ihr euch abschminken«, platzte es aus Clyde hervor. Seit Wochen redeten die Jungs von nichts anderem als dieser Party: Clyde sollte sie nachmittags nach Port of Spain fahren und um Mitternacht wieder abholen. »Hier geht niemand auf irgendeine Party!« Er wartete. Schäumte vor Wut. Aber es kam keine Antwort.

»Hast du dazu gar nichts zu sagen?« Doch Paul stand einfach nur da mit seinem üblichen leeren Blick. Clyde musste sich beherrschen, dem Jungen keine Ohrfeige zu verpassen, um ihn wach zu rütteln. »Weißt du was?«, hörte Clyde seine eigene Stimme. »Vielleicht hätten wir dich damals doch nach St. Ann’s bringen sollen.« Paul schwieg, aber eine minimale Veränderung in seiner Haltung – vielleicht sanken seine Schultern ein wenig, oder er neigte etwas den Kopf – verrieten Clyde, dass der Junge ihn gehört und verstanden hatte.

Clyde drückt seine Zigarette aus. In den Nachrichten geht es jetzt um die Ölpreise. Er schlüpft wieder in seine Schlappen und geht ins Haus – durch den dunklen Flur, durch das Wohnzimmer, dann durch die Küche in den kleinen Flur vor den Schlafzimmern. Er klopft bei den Jungs an.

»Ja?«, ruft Peter. Seine Stimme ist tief wie die eines Mannes.

»Ich bin’s.«

Peter öffnet die Tür und tritt einen Schritt zurück, um Clyde hereinzulassen. Auf dem Bett hinter ihm liegen ein aufgeschlagenes Schulbuch, ein Schreibheft, verschiedene Stifte und Bleistifte, Lineale. Die Laken sind glatt, unberührt. Die khakifarbene Schulhose liegt ordentlich auf der Bettkante, das hellblaue Hemd zerknäult neben der Schultasche auf dem Boden.

»Hast du mal in seine Schultasche geguckt?«, fragt Clyde.

»Soll ich? Wozu?«

»Guck halt mal«, sagt Clyde.

Er bleibt bei der Tür stehen und sieht Peter dabei zu, wie er ein paar Bücher aus der Tasche zieht und kurz aufblättert. »Ich glaub nicht, dass da irgendwas ist. Wonach soll ich denn suchen?« Er wühlt tiefer in der Tasche, holt hervor, was er darin findet: eine vertrocknete Bromelienblüte, einige Steine von Salzpflaumen, Schokoriegelpapier, einen zerkauten Strohhalm, ein paar Münzen. Peter blickt Clyde an, die leere Schultasche in der Hand, dann legt der Junge die Bücher wieder hinein.

»Komm«, sagt Clyde, als Peter alles wieder eingeräumt hat. Peter wirft einen Blick auf die Bücher und Hefte auf seinem Bett und folgt Clyde dann hinaus auf die Veranda.

Inzwischen ist es richtig dunkel geworden – die Fledermäuse sind unterwegs. Joy schaltet das Licht ein, eine Neonröhre, die flackert und Clyde Kopfschmerzen bereitet, aber wenigstens hält sie die Fledermäuse auf Abstand. Als Paul kleiner war, hat er immer gesagt, in dem Licht würden alle Gesichter ganz grün aussehen. Recht hat er, denkt Clyde, als er sich wieder auf den Verandastuhl setzt und nach seinen du Mauriers greift: Irgendwie sehen alle darin krank aus. Nicht braun, wie sonst, sondern ausgeblichen, ermattet. Die Insekten, die nun die Röhre anfliegen, lassen kleine Schatten über ihre Gesichter huschen.

»Erzähl mal, was heute Nachmittag war«, sagt Clyde. »Wann ist er los?«

»Gleich nachdem wir von der Schule zurück waren. So um halb fünf.«

»Und was hat er gesagt?«

»Nichts. Hat mich gefragt, ob ich mit zum Fluss will, ich hab nein gesagt, da ist er allein gegangen.«

Über ihnen fliegen die Insekten mit leisem Dotzen immer wieder gegen die Lampe. Joy zupft an ihrem T-Shirt, das ihr am Bauch klebt.

»Hatte er irgendwas mit?«, fragt Clyde.

»Nein.«

»Schuhe an?«

»Glaub nicht.«

»Ich hab unterwegs die anderen Jungs gesehen«, sagt Clyde. »Beim Fußballspielen neben der Tankstelle. Haben gefragt, ob Peter kommen und mitspielen will, aber von Paul kein Wort.«

»Ruf doch mal bei den Nachbarn an«, sagt Joy. »Und frag da, ob sie ihn gesehen haben.«

Sie hören die Nachrichten aus aller Welt, die Börsenkurse. Kaum beginnt der Wetterbericht, steht Clyde auf. Wen interessiert in der Trockenzeit schon der Wetterbericht? Zehn Minuten lang wird einem erklärt, dass es am nächsten Tag wieder heiß sein und nicht regnen wird. Peter und Joy folgen Clyde ins Wohnzimmer und sehen ihm dabei zu, wie er die Nummer der nächsten Nachbarn, der Chin Lees, wählt.

»Schönen guten Abend!«, sagt Clyde, als Mr Chin Lee abnimmt. Er stimmt einen jovialen Ton an und entschuldigt sich für die späte Störung. »Wollte bloß mal hören, ob ihr wieder Wasser habt? Habt ihr mal den Hahn aufgedreht?«

Er lässt den Blick von Joy zu Peter wandern, während er Mr Chin Lee zuhört. Die Chin Lees haben einen Wassertank, und Mr Chin Lee bietet Clyde etwas von ihrem Wasser an. »Nein, nein«, sagt Clyde. »Joy hat heute Morgen gehamstert, solange noch Druck war. Aber wenn es alle ist, schicken wir Peter mit einem Eimer rüber.« Sie wollten schon auflegen, dann: »Ach, übrigens – Paul ist nicht zufällig bei euch?«

Doch Mr Chin Lee hat ihn nicht gesehen. Clyde sagt ihm, er solle sich keine Sorgen machen, Paul würde bestimmt nur in der Gegend herumstreunen und hätte darüber die Zeit vergessen.

Er versucht es beim Nachbarn ein Haus weiter, dann noch ein Haus weiter, ganz am Ende der Straße. Joy bringt ihm das Telefonbuch, und er ruft Leute in den neueren Vierteln an, obwohl er keine Ahnung hat, ob Paul mit irgendjemandem dort befreundet ist. Keiner hat ihn gesehen. Er legt auf, die drei sehen einander schweigend an.

»Soll ich ihn suchen gehen?«, fragt Peter.

»Weißt du denn, wo er sein könnte?«

»Eigentlich nicht. Früher ist er oft zum Fluss gegangen, aber ich weiß nicht, ob er das immer noch macht.«

»Du weißt es nicht?«

»Nein.«

»Und wer könnte es wissen? Ist er mit irgendjemandem hier in der Gegend befreundet?«

Peter schüttelt zögerlich den Kopf.

»Komm schon«, sagt Joy. »Vielleicht wissen die was. Mit wem?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Sag’s trotzdem.«

»Vielleicht Sando.«

»Sando?«, fragt Clyde. Der Mann heißt eigentlich ganz anders, ganz normal, aber heutzutage haben sie alle diese blöden Spitznamen.

»Ich sag doch, ich bin mir nicht sicher.«

»Aber es muss doch einen Grund geben, dass er dir einfällt. Du meinst doch den Typen mit den Dreadlocks? Der ständig mit Sonnenbrille rumläuft?«

Peter nickt.

»Und wieso glaubst du, dass er was über Paul wissen könnte?«

»Das hab ich nicht gesagt.«

»Was ist es dann? Was haben die beiden miteinander zu tun?«

»Ich weiß es nicht. Er ist mir bloß aufgefallen, morgens im Maxi-Taxi. Da tut Sando, als wären sie Freunde oder so.«

»Ach ja?«, sagt Clyde. Der Mann meint also, sie wären Freunde? Mit dem hat Paul zu tun? Der Mann ist über dreißig und macht den ganzen Tag nichts anderes, als im panyard Frauen anzuquatschen und Gras zu rauchen.

»Ich glaub nicht, dass Paul irgendwas macht«, sagt Peter schnell. »Er nimmt keine Drogen oder so, falls es das ist, was du denkst.«

»Na ja.« Clyde stellt sich bereits vor, wie er Paul unsanft nach Hause schleift. »Ich werd schon dahinterkommen, wenn er wieder da ist.« Und dieser Sando? Er wird sich diesen Nichtsnutz vorknöpfen und ihn fragen, was er mit seinem Sohn zu schaffen hat. Was er mit einem Dreizehnjährigen zu schaffen hat!

»Ich finde, ihr beiden solltet rüber in den Busch gehen und nach ihm suchen«, sagt Joy. »Peter kann dir den Weg zeigen. Und Peter könnte auch nach Paul rufen. Wenn Paul sich versteckt, wird er eher rauskommen, wenn er Peters Stimme hört.«

Clyde trommelt die Fingerspitzen gegeneinander und denkt nach. Warum sollte er Peter mitten in der Nacht mit in den Busch schleppen, nur um Paul einen Gefallen zu tun? Schlimm genug, dass überhaupt jemand losmuss, um nach ihm zu suchen, da reicht ja wohl einer! Und nach dem Einbruch und allem will er Joy auch nicht allein zu Hause lassen. »Nein. Ich gehe allein los«, sagt Clyde. »Peter, du bleibst hier bei Mummy.«

Peter holt ihm eine Taschenlampe, und Clyde zieht eine lange Hose und Schuhe an. Shorts und Schlappen sind nicht das Richtige für den Busch jenseits der Straße. Früher, als er klein war, ist er immer barfuß rübergegangen – bei Tageslicht kam man gut durch, konnte den Ameisenhaufen, scharfen Steinen, Stacheln und was es sonst so gab, ausweichen. Aber es ist lange her, dass er zuletzt da war, und außerdem – wer weiß, was nachts da unterwegs ist? Schlangen, Frösche, Agutis, die ganzen nachtaktiven Viecher oder Geister oder was auch immer. La Diablesse und Papa Bois und wie sie alle heißen. Nicht, dass er an diesen Quatsch glauben würde. Aber auch er findet, dass sich die Menschen in einem Gebiet aufhalten sollten und die Geister in einem anderen. Allein die Vorstellung, jetzt durch den dunklen Busch zu marschieren, fühlt sich nach einer Grenzüberschreitung an. Aber wie üblich bleibt ihm nichts anderes übrig. Während Clyde sich im Schlafzimmer die Schuhe zubindet, denkt er: Das ist das letzte Mal. Das letzte Mal, dass er für dieses Kind übers Stöckchen springt. Nächste Woche, wenn die Wogen sich geglättet haben, denkt Clyde, wird er sich mit dem Jungen zusammensetzen und eine klare Ansage machen: Jetzt ist Schluss. Und es ist, was, gerade mal zwei Wochen her, dass Joy beinahe umgebracht worden wäre, wegen Paul? Jetzt ist Schluss mit dem Blödsinn. Clyde wird sich entschuldigen für das, was er gesagt hat, das mit St. Ann’s. Er hat das nicht so gemeint. Er wird sagen: Ich hab immer gesagt, dass wir uns zu Hause um dich kümmern können, lieber das, als dass wir dich dahin geben und nicht wissen, was sie mit dir machen. Aber jetzt reicht’s. Du musst mit diesem Quatsch aufhören.

Zurück auf der Veranda, schaltet er die Taschenlampe ein und richtet den Lichtkegel auf die Straße vor dem Einfahrtstor: Das hohe Gras wirkt merkwürdig grün, eine Farbe, die es bei Tageslicht gar nicht gibt.

»Nimmst du Trixie mit?«, fragt Peter.

»Nein, nein. Die bleibt besser hier bei euch«, sagt Clyde. »Schließt hinter mir ab. Und wenn was ist, ruft Romesh an.«

Clyde geht die Stufen hinunter, begleitet vom tanzenden Licht der Taschenlampe und Brownie und Jab-Jab, die ihm voraustrotten. Hinter sich hört er Peter die Tür schließen und den Riegel vorschieben. Trixie sitzt immer noch vor dem Tor. Sie sieht zu ihnen: ihre Augen zwei gespenstische Scheiben in der Dunkelheit.

2

Clyde überquert die Straße, steigt über den Graben und schiebt mit den Armen das lange Gras beiseite. Vor langer Zeit gab es hier mal einen Trampelpfad: Beim Limonenbaum fing er an und führte von Baum zu Baum, sodass die Kinder versuchten, immer nur auf die Wurzeln zu treten, ohne den Boden zu berühren. Doch kaum betritt Clyde die Wildnis, fühlt er sich verloren: Nichts ist, wie er es in Erinnerung hatte. Die langen Grashalme sind im Licht der Taschenlampe silbrig-grün und so breit wie Tranchiermesser, mit ihren winzigen Haaren bleiben sie an seinem T-Shirt hängen, ständig muss er stehen bleiben und sich von ihnen befreien. Keine fünf bis zehn Meter ist er gegangen, und schon möchte er am liebsten umdrehen und sich zurück zur Straße durchkämpfen, aber er zwingt sich weiterzugehen. Er strauchelt über Baumwurzeln und Steine, leere Schneckenhäuser, knochenfarben und kinderfaustgroß. Zarte Blattspitzen kitzeln ihn am Ellbogen, scharfe Dornen im Unterholz ziehen seine Schnürsenkel auf. Er richtet den Lichtkegel nach unten, sucht nach irgendwelchen Spuren von Paul, aber er sieht nichts – nur Käfer und kleine davonhuschende Eidechsen, und die Blätter der Mimose klappen sich bei der Berührung mit ihm ein, wie alte Frauen, die die Jalousien herunterlassen, wenn ein Verrückter durch die Straßen zieht.

Das hier ist kein Ort für Paul, nicht bei Nacht. Selbst vor langer Zeit, als in Trinidad noch alles anders war, haben die Erwachsenen den Kindern eingeschärft, vorsichtig zu sein, wenn sie hierherkamen. Entflohene Häftlinge aus dem Golden-Grove-Gefängnis hatten sich hier versteckt: Zweimal hatten Clyde und seine Freunde orangefarbene Overalls gefunden, abgelegt wie Schlangenhäute, unter Laubhaufen oder halb verscharrt. Hin und wieder waren Shouter-Baptisten in ihren langen weißen Gewändern hier durchgekommen, hatten Glocken geläutet und Kerzen angezündet oder in der einen Hand ein Huhn und in der anderen eine Machete gehalten. Und dann erinnert sich Clyde noch sehr lebhaft daran, wie, als er ungefähr acht war, plötzlich eine nackte Verrückte aus dem Busch kam. Sein Vater war im Vorgarten und Clyde auf der Veranda, und diese nackte Frau kam einfach aus dem Busch spaziert und sah sehr verrückt aus mit den zerzausten Haaren und Kratzern am ganzen Körper. Sein Vater sprach sie an, wie genau, konnte Clyde nicht hören – vielleicht fragte er sie, was passiert war, oder bot ihr an, die Polizei zu rufen. Aber die Frau stand einfach nur da, splitternackt, und schüttelte den Kopf, als hätte sie Ameisen im Haar. »Spritzen Sie mich ab!«, sagte sie. Das war alles, was sie sagte: Spritzen Sie mich ab! Spritzen Sie mich ab! Und nach einer Weile drehte sie sich um und eilte die Straße hinunter.

Er muss schon vom Weg abgekommen sein, wenn es überhaupt einen gibt: Egal, wohin er sieht, da ist nichts als Busch. Er versucht, sich zur Orientierung Dinge zu merken – den niedrigen Ast, unter dem hindurch er sich bücken muss und der von Flechten und Trichterbromelien überwachsen ist, die umgestürzte Kokospalme –, hat aber keine Ahnung, wo er ist. Wenn er nicht aufpasst, denkt er, wird auch er sich verlaufen, und jemand wird nach ihm suchen müssen. Er kämpft mit einer langen Kletterpflanze, die ihn umwickelt hat, er versucht, sie sich vom Leib zu reißen, doch als er zieht, regnet es plötzlich trockene Zweige und Blätter, und kurz darauf fällt ein verrotteter Ast inklusive Termitennest herunter. Clyde rennt los, lässt die Taschenlampe fallen, wischt sich hektisch die Insekten aus dem Gesicht, von den Armen, aus den Haaren. Als er sich wieder beruhigt hat, hebt er die Taschenlampe auf und leuchtet herum. Der Boden ist kreisförmig plattgetrampelt, rundherum liegen gelbe sternförmige Blüten. Er erkennt einen Kerzenstumpf, Hühnerfedern und Stöckchen, arrangiert zu typischen Obeah-Mustern. Schnell verlässt Clyde die Lichtung, unter ihm das sanfte Knacken von brechenden großen Blättern.

»Paul!«, ruft er. »Paul! Wo bist du?«

Wütend fuchtelt er mit der Taschenlampe herum und rechnet damit, gleich Pauls Gesicht in dem seltsamen Licht zu sehen, ihn einen Baum herunterklettern zu sehen oder wo auch immer er sich versteckt. Er geht davon aus, dass der Junge Reue zeigen wird, dass es ihm leidtut, abgehauen zu sein. Er leuchtet in einen Baum nach dem anderen, bekommt seine Zweifel. Hier gibt es keine Geister, ermahnt er sich selbst, das ist alles Quatsch, reiner Aberglaube. Er spricht es laut aus: »Hier gibt es keine Geister!« Er leuchtet noch einmal alle Bäume an, dann geht er weiter.

Den Hang hinunter zum Fluss. Jetzt, in der Trockenzeit, ist das Wasser nur knöcheltief, und wenn er wollte, könnte er wahrscheinlich von einem Ufer ans andere springen. An beiden Seiten wuchert Bambus, die hohen Halme über das Wasser geneigt, treffen sie sich und bilden eine Art Zeltdach. Er geht zu dem Felsen, auf dem sie als Kinder immer gesessen haben, und ist froh, etwas gefunden zu haben, das er kennt.

»Hallo?«, ruft er. »Paul? Wo bist du?«

Er verharrt, lauscht.

»Paul?«, ruft er noch einmal. »Versteckst du dich? Komm bitte raus. Mummy stirbt vor Sorge um dich. Du kannst doch nicht im Dunklen alleine durch den Busch spazieren. Das ist gefährlich.«

Er sieht hinauf zu den hohen Ästen und stellt sich das wilde Gesicht vor, das stets hinter langen Haaren halb verborgen ist, den Haaren, die der Junge sich einfach nicht abschneiden lassen will. Tarzan nennen sie ihn deswegen. Clyde weiß nicht, ob das ein offizieller Spitzname ist – Paul »Tarzan« Deyalsingh – oder ob sie ihn nur hinter seinem Rücken so nennen.

»Ich bin nicht sauer«, ruft er, bemüht, überzeugend zu klingen. »Du kannst ruhig rauskommen. Ich bin nicht sauer. Ich schicke dich nicht nach St. Ann’s. Das war bloß ein Scherz. Und über die Party können wir auch noch mal reden.«

Er überlegt, »es tut mir leid« zu sagen, lässt es aber bleiben. Warum sollte er sagen, dass es ihm leidtut? Schließlich hatte Paul etwas falsch gemacht: Er hätte die Einbrecher nicht provozieren dürfen. Nicht einmal Joy hatte dieses Mal versucht, den Jungen in Schutz zu nehmen. Joy hatte Clyde erzählt, was passiert war. Ganz spät in der Nacht, in der Nacht des Einbruchs, wohl so um zwei, drei Uhr morgens, nachdem sie sich von allen Nachbarn verabschiedet hatten, die gekommen waren, um zu helfen, und endlich im Bett lagen. Sie lag auf der Seite, ihm zugewandt, und erzählte ihm flüsternd, was passiert war: dass die Gangster von dem Geld gewusst hatten, dass sie ganz gezielt danach gesucht hatten. »Und was hast du gesagt? Hast du irgendwas gesagt?«, fragte Clyde. »Nein, natürlich nicht. Ich hab gesagt, dass wir kein Geld haben.« Und sie erzählte Clyde, was Paul getan hatte: dass Paul sich geweigert hatte, sich auf den Boden zu legen, als der Einbrecher es ihm befahl. Dass er den Typen beschimpft hatte und Anstalten machte, ihn zu schlagen. Dass der Mann die Waffe auf ihn gerichtet hatte. In dem Moment, sagte Joy, hat sie nur noch schwarz gesehen. Sie konnte es nicht erklären, es war, als wäre die Welt um sie herum schwarz geworden, alles verschwand in totaler Schwärze. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was sie gesagt hatte, wusste nur noch, dass sie versucht hatte, sich ganz normal zu benehmen. Sie war aufgestanden, hatte sich vor Paul gestellt und ihn zurückgedrängt. Und dann hatte der Einbrecher ihr die Waffe auf die Stirn gesetzt, mit so viel Druck, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste. Joy verstummte, dann nahm sie Clydes Hand und drückte sie ganz fest. So lagen sie eine ganze Weile da und starrten die Decke an, Seite an Seite in der Dunkelheit.

Die Frösche haben ihr Konzert wieder aufgenommen. Ein Gefühl, als ob keine andere Menschenseele in der Nähe wäre. Vielleicht ist Paul hier gewesen und hat sich davongeschlichen, ohne dass Clyde es gemerkt hat. Vielleicht ist er nie hier gewesen. Clyde schnaubt. Der Junge spielt ihnen sicher nur einen Streich: Morgen taucht er wieder zu Hause auf und freut sich, dass er für Aufruhr gesorgt hat – und Clyde stolpert hier durch die Dunkelheit und sucht nach ihm! Er geht in Richtung Brücke, mit einem Stock schlägt er ständig von links nach rechts, als bahne er einen Weg. Er verschwendet hier seine Zeit. Er wird jetzt zu Romesh gehen und ihn bitten, in seinem Auto mit ihm herumzufahren und zu suchen. Eigentlich hätte Romesh ihn noch mal anrufen und seine Hilfe anbieten können – jetzt aber muss Clyde zu ihm gehen und wie ein Bittsteller bei ihm anklopfen.

Bei der Brücke klettert er zur Straße hinauf. Die Straßenbeleuchtung funktioniert hier schon seit Jahren nicht mehr – einige der Laternen sind so mit Kletterpflanzen überwuchert, dass man sie nicht mehr von den Telefonmasten unterscheiden kann –, aber er kennt die Straße gut: Busch auf beiden Seiten, kein Gehsteig, nur ein Graben, in dem regelmäßig Autos landen. Er richtet das Licht der Taschenlampe aufs Gebüsch und geht weiter.

Etwa eine halbe Meile die Straße hoch steht ein Auto auf dem Spielplatz, die Türen sperrangelweit offen, Scheinwerfer an, Musik auf voller Lautstärke. Drei, vier Männer liegen zwischen Cricketschlägern und -toren und Bier- und Colaflaschen auf dem Rasen. Er kennt das Lied – es ist von dieser Frau, dieser schwarzen Amerikanerin mit den Atomhaaren, Tina Turner. Einer der Männer singt mit und verzieht das Gesicht wie die Frau im Musikvideo. Clyde hebt zum Gruß die Hand, als er vorbeigeht. Früher hat er mal mit diesen Männern abends Cricket gespielt, aber jedes Mal, wenn das Spiel fertig war, wurden die Karten hervorgeholt, dann der Rum, dann das Geld. Er geht nicht quer über den Platz, sondern bleibt auf der Straße, den Blick fest geradeaus gerichtet, steten Schrittes, bis er die Bougainvillea Avenue erreicht.

Die Straßen in den neuen Vierteln heißen alle so blumig: Ixora Crescent, Hibiscus Drive, Bougainvillea Avenue. Als Romesh und seine Familie hierherzogen, hat Romesh immer wieder versucht, Clyde zu überreden, auch hier ein Haus zu kaufen, und Romeshs Frau Rachel hat Joy immer wieder die drei Badezimmer gezeigt, den Waschraum mit Platz für Waschmaschine und Trockner, den gefliesten Boden, der laut Joy so leicht zu fegen und zu wischen war. Aber Clyde verstand nicht ganz, wieso sie ständig mit ihrem Haus angaben, wo doch jeder wusste, dass Rachels Vater es ihnen gekauft hatte.

Vor dem ersten Haus in der Bougainvillea Avenue steht die alte Mischlingshündin bereits am Tor. Sie reckt die Schnauze und jault: ou-ou-ou-ou. Sofort fangen die anderen Hunde an zu bellen, vor jedem einzelnen Haus strahlen Flutlichter plötzlich Rasenflächen, Betoneinfahrten und hohe Tore an, hinter denen jeweils Hunde stehen und kläffen. Die Promenadenmischung hat die Ohren aufgestellt, während Clyde an ihr vorbeigeht, sie versucht, ihn zu fixieren. »Ich bin’s nur«, ruft er. Sie lässt die Ohren hängen und wedelt mit dem Schwanz.

Die Hunde auf dem nächsten Grundstück sind reinrassig – irgendwas Schickes mit orangerotem Fell und aufgerollter Rute. Sie bellen erst Clyde an, dann einander, dann die anderen Hunde in der Straße und dann wieder einander. Auf der Veranda, über der Doppelgarage, brennt Licht, Clyde hört Stimmen. Durch die Einbruchsicherung über der Veranda und die an den Eisenstäben rankenden, blühenden Kletterpflanzen kann er nicht viel sehen, aber er vermutet, dass die ganze Familie da ist: Mutter und Vater, die drei erwachsenen Kinder und der Ehemann der ältesten Tochter, Pilot bei British West Indies Airways. Die ganze Familie kann wegen ihm gratis mit der BWIA fliegen – über Weihnachten waren sie in Kanada, letzten Sommer in der Schweiz. Das Auto des Piloten steht in der Einfahrt. Clyde sieht, wie jemand aufsteht und Richtung Straße späht, Clyde winkt und ruft hallo.

Vor dem Haus von Romesh und Rachel drücken die Schäferhunde ihre Schnauzen zwischen den Gitterstäben hindurch, bellen und schnappen nach Clyde. »Ich bin’s, ihr Dussel«, erklärt er den Hunden. »Meint ihr etwa, ich will hier einbrechen, oder was?« Ihre Pupillen weiten sich, sie fixieren ihn. Er packt einen der Gitterstäbe in schnappsicherer Höhe und rüttelt fest am Tor.

Er wartet, die Hände in die Seiten gestemmt, um ihn herum Gebell und Flutlichter und Menschen, die neugierig aus ihren Fenstern sehen. Romeshs und Rachels Autos stehen im Carport, die Veranda darüber liegt im Dunklen, die Tür zum Haus ist verschlossen, aber Clyde sieht Licht im Wohnzimmer und kann J.R. Ewings Stimme im Fernsehen hören. Nebenan, bei den zwei blöden rotfelligen Hunden, steht die Frau des Hauses am Geländer ihrer Veranda.

»Wer ist da?«, ruft sie.

»Guten Abend!«, ruft er zurück. »Ich bin’s nur. Ich will zu Romesh.«

Sie dreht sich um, gibt das Gesagte an die anderen weiter und ruft ihm dann zu: »Alles in Ordnung?«

»Ja, ja, danke«, ruft er.

»Wo ist Ihr Auto?«, fragt sie. Sie muss die Frage mehrmals wiederholen, bis er sie verstanden hat. Ein paar andere Mitglieder der Pilotenfamilie kommen an die Brüstung – der Hausvater, ein kleines Mädchen im Nachthemd, ein Teenager. Eine Frau mit schimmernden Ohrhängern und Pferdeschwanz steht auf und bringt einen Stapel Teller ins Haus. Clyde weiß, was die Mutter meint: ob seit dem Einbruch alles okay ist. Er hebt zur Antwort den Daumen. Es hat keinen Zweck, nach Paul zu fragen, niemand von ihnen hat mit ihm zu tun. Er sieht, wie der Pilot aufsteht – er erkennt ihn an seiner Statur: hochgewachsen, Rundrücken. Der Pilot setzt eine Flasche Coca-Cola an und legt zum Trinken den Kopf in den Nacken. Er hält die Flasche hoch ins Licht, betrachtet ihren Boden.

Dann, endlich, erscheint Romesh an der Terrassentür und sieht hinaus. Clyde winkt. Romesh geht wieder rein und kehrt mit einem Schlüssel zurück, mit dem er die einbruchgesicherte Tür aufschließt, dann kommt er die Stufen herunter. Er steckt noch in seiner Arbeitskleidung: lange Hose und T-Shirt mit dem Firmenlogo von Rachels Vater drauf, die kurzen Ärmel sorgfältig hochgerollt, sodass das T-Shirt wie ein Unterhemd wirkt und seine Muskeln gut zu sehen sind. Romesh ist nicht besonders groß, aber er ist drahtig, Typ Kuli: Er könnte ohne Anstrengung einen Sack Mehl oder Reis schultern und in der Mittagshitze damit die Landstraße herunterlaufen. Seine leicht stolzierenden Bewegungen finden Frauen sexy, und um den Hals trägt er eine Goldkette mit einem Playboyhasenanhänger, auf dem anstelle des Hasenauges ein kleiner Diamant blitzt. Romesh kommt die Einfahrt herunter und spielt mit dem Schlüsselbund. Die Hunde patrouillieren weiter vor dem Tor, kläffen Clyde mal von hier, mal von dort an, als hofften sie, es möge sich eine Lücke im Zaun auftun.

»Wieso hat das so lange gedauert?«, fragt Clyde. Er muss schreien, um sich verständlich zu machen.

»Ich war auf dem Weg ins Bett«, sagt Romesh.

»Was?«

»Ich war auf dem Weg ins Bett! Ich muss morgen früh raus.«

»Nimm die Hunde weg«, sagt Clyde.

»Was?«

»Nimm die Hunde weg!«, schreit Clyde. »Lass mich rein, ich muss mit dir reden.« Er muss das mehrmals wiederholen, bis Romesh dann endlich die Hunde an die Kette legt und das Tor aufschließt.

Clyde folgt Romesh die Treppe hinauf und über die dunkle Veranda ins Haus. Er hatte erwartet, andere außer Romesh anzutreffen – Rachel oder irgendeinen Freund, Nachbarn oder Verwandte –, aber es ist niemand da. Die Stühle stehen ordentlich am Esstisch, die Plastiktischdecke ist abgewischt, die Gewürze stehen auf einem Set in der Mitte. Am anderen Ende des Raumes – der Raum ist mindestens zehn Meter lang und weitestgehend leer – läuft der Fernseher, der Abspann von Dallas. Gleich daneben schwenkt der Standventilator seinen Kopf von einer Seite zur anderen.

»Hast du den immer so laut?«, fragt Clyde.

Romesh dreht den Fernseher leiser und setzt sich auf eins der Sofas – sie haben drei Sofas, zwei Sessel und einen Pouf, alle mit braunem Kordsamt bezogen –, den Blick weiter auf den Bildschirm gerichtet.

»Sind Rachel und Sayeed da?«, fragt er.

»Klar.« Romesh macht eine Handbewegung Richtung Schlafzimmer. »Die sind schon im Bett. Ist spät, Mann. Ich mach jetzt aus und hau mich auch hin. J.R. ist ganz schön ausgekocht, findest du nicht? Hast du’s gesehen?«

»Nein, hab ich nicht.«

»Du hast nicht geguckt? Ach ja, stimmt, ganz vergessen, die haben ja euren Fernseher mitgenommen. Sorry. Hättest du mir was gesagt, hätte ich es für dich aufgenommen. Soll ich es nächste Woche für dich aufnehmen?«

»Ja, klar. Warum nicht? Mir macht es nichts aus, mal eine Folge zu verpassen, aber Joy guckt es sehr gerne.«

»Ich nehm’s auf. Hättest nur was sagen müssen.« Er öffnet den Schrank unter dem Fernseher, holt eine VHS-Kassette heraus und liest, was auf dem Etikett steht. »Das hier kann ich einfach überspielen.«

»Hör mal«, sagt Clyde. »Paul ist nicht nach Hause gekommen. Können wir ein bisschen mit deinem Auto rumfahren? Ich würde mich gerne mal beim Steinbruch umsehen.«

»Er ist nicht nach Hause gekommen? Aber es ist doch schon spät.«

»Ganz genau. Joy kommt um vor Sorge.«

Romesh legt die Kassette auf den Schrank neben den Fernseher und schließt die Türen. Im Fernsehen läuft Werbung für den Herrenduft Trouble. »Also, ich mach das jetzt aus«, sagt Romesh. »Und geh ins Bett.« Er drückt auf den Knopf, das Bild schrumpft zu einem Punkt zusammen und verschwindet.

»Nein, warte, ich will, dass du mitkommst. Ich hab mein Auto zu Hause stehen lassen, damit es so aussieht, als wäre ich da.«

»Du willst mein Auto? Die Schlüssel?« Romesh steht auf und stellt sich vor den Ventilator. »Mann, o Mann«, sagt er. »Diese Scheißhitze. Ich freu mich echt schon auf die Regenzeit.« Er drückt die Brust gegen das Gitter des Ventilators und hebt die Arme. Sein T-Shirt bläht sich am Rücken auf. »Aah. Schön kühl.«

»Kannst du nicht mitkommen? Nur für ’ne halbe Stunde oder so? Ich will nur eben zum Steinbruch und ein bisschen durch die Straßen fahren.«

»Vielleicht ist er ja im Nachtclub. Bist du da schon draufgekommen?« Romesh dreht sich zu Clyde um und drückt den Rücken gegen den Ventilator.

»In welchem Nachtclub?«

»In dem in Arima. Limin’ Soda. Donnerstagabends soll es da am besten sein, da wollen die ganzen Jugendlichen da rein. Hat Sayeed mir erzählt.«

»Sayeed? Aber der ist doch erst zwölf! Da darf man erst ab achtzehn rein!«

»Ja, aber die kommen da alle rein, was denkst du denn? Heutzutage? Sobald irgendwo was los ist, wollen sie alle hin. Wollten Peter und Paul heute Abend nicht zu einer Party in Port of Spain? Beim Chinesenverein?«

»Ja, kann sein.«

»Wie, kann sein?«

Clyde verzieht das Gesicht. »Na ja. Paul geht nach dieser Sache ganz bestimmt auf keine Party, das kannst du mir glauben!«

»Klar. Logisch. Du bist der Boss. Zeig ihm, wer die Hosen anhat.« Romesh nickt ein paarmal.

»Und du meinst, da ist er?«, sagt Clyde.

Wieder drückt Romesh die Brust gegen den Ventilator, wieder bläht sich das T-Shirt auf. »Höchstwahrscheinlich.«

Clyde setzt sich in einen der Sessel und greift nach den Zigaretten und Streichhölzern auf dem Couchtisch. »Darf ich?«, fragt er. »Hab meine nicht dabei.«

Romesh nickt, lässt sich auf einen Sessel fallen, wippt mit den Knien.

Clyde nimmt eine Zigarette, klemmt sie zwischen die Lippen und zündet sie mit einem Streichholz an. »Teenager!« Er wirft das Streichholz in den Aschenbecher. »Dieser Junge bringt mich noch um, Mann. Wehe, der steckt nicht in diesem Nachtclub. Wehe, der stellt gerade irgendwelchen Unfug an.« Mit den Fingernägeln streicht er die Kordrippen entlang. »Hör mal«, sagt er. »Ich wollt dich was fragen. Von wem habt ihr eure Alarmanlage?« Er nennt den Namen eines Mannes in Arima, der seit dem Einbruch versucht, ihm eine Alarmanlage zu verkaufen. »Er behauptet, er will mir einen guten Preis machen. Aber ich kenn den überhaupt nicht! Und jemand, der ins Haus kommt, um eine Alarmanlage einzubauen, geht dann ja wohl in jedes Zimmer, oder? Die sagen, sie würden Kabel verlegen, aber während sie das tun, spazieren sie durch das ganze Haus und sehen sich gründlich um – gucken in Schubladen, Schränke, unter die Matratzen, alles.«

Romesh fährt sich durchs Haar, betrachtet seine Handflächen, wischt sie an seinen Shorts ab.

»Stimmt was nicht?«, fragt Clyde.

»Ich find’s heiß. Du nicht?«

Clyde zuckt die Achseln. Romesh steht auf und geht wieder zum Ventilator. Er hält den Schwenkkopf an und dreht auf höchste Geschwindigkeit.

»Ehrlich gesagt«, fährt Clyde fort, »möchte ich niemanden einfach so in mein Haus lassen. Ich will nicht, dass da jemand rumschnüffelt. Und außerdem, wenn man erst so einen Vertrag unterschrieben hat, dann muss man jeden Monat löhnen. Dann muss man jeden Monat mit diesen Leuten reden, und jedes Mal fragen sie einen aus. Oder? Was meinst du? Von wem ist eure Alarmanlage?«

»Keine Ahnung. Kann ich dir morgen sagen.«

»Du hast keine Ahnung?«

»Rachel regelt das. Ist ein Freund ihrer Familie.«

»Ihr bezahlt also gar nichts?«

»Nö.«

»Oh.«

»Komm schon, ich will abschließen«, sagt Romesh.

Clyde drückt die Zigarette aus und steht auf. »Ich ruf dich morgen Vormittag an.«